Der Stolz der grünen Drachen
Das erste Wort das Zilla sprach war eine Lüge.
„Bäh!“, rief der winzige Drachenwelpe. Ihre Klauen waren in die Wolle eines Schafbocks gestemmt, der mehr als doppelt so viel wog wie sie selbst. Blut und Wollfetzen klebten an ihrer Schnauzte und die silbrig blauen Augen verengten sich voller Ekel. Ihre beiden Brüder, die sie eben noch um ihren Anteil an der Mahlzeit bedrängt hatten, wichen zurück. Nie zuvor hatten sie ein so merkwürdiges Tier gesehen. Der erste der abdrehte, um stattdessen an der Beute vom Vortag zu nagen, war Troy. Brisk dagegen blieb noch und zog Luft durch seine Nüstern ein. Aber als er sah wie verzweifelt seine Schwester ihr Maul in einem Moos Büchel rieb um den Geschmack los zu werden, trottete auch er davon. Er kletterte über die Nest-Wand aus Knochen und Lehm und huschte über die feuchten Waldboden davon, um irgendwo, weit entfernt von den anderen, einen Brocken Fleisch auszugraben, den er dort für schlechte Zeiten gelagert hatte.
Der frische Kadaver gehörte nun ihr allein. Die letzten verstreuten Sonnenstrahlen des Tages brachen durch das Blätterdacht hinein und bedeckten ihre schillernden grünen Schuppen mit Licht-Tupfen. Zilla hörte kurz auf zu fressen und schüttelten sich, den Blick nachdenklich in die Baumkronen erhoben. Etwas stimmte nicht. Es war schleichend passiert über viele Wochen hinweg, weswegen sie es nicht gleich bemerkt hatte, aber dieser Tag war kürzer gewesen als der letzte. Würde die Sonne irgendwann gar nicht mehr aufgehen? War der große, glühende Ball am Himmel beschädigt?
Sie blickte herab auf den Schafsbock und zupfte mit den Krallen ein Bündel Fließ heraus. Die Fasern waren lang und gekräuselt. Es fühlte sich viel wärmer an als ihr Bett aus Blättern und Zweigen. Sie schob ihre Schnauze in die Biss-Wunde und löste um das Loch herum geschickt die Haut vom Fleisch ab. Es war mühsam, weil sie das kostbare neue Polster-Material nicht beschädigen wollte. Und sie wusste dass sie das Fleisch nun doch würde teilen müssen, wenn ihre Brüder zurück kamen und sahen was sie getan hatte. Aber es erschien ihr in diesem Moment das Wichtigste auf der ganzen Welt.
Ihre Mutter war eine gute Jägerin. Sie hatten niemals lange hungern müssen. Aber vor der Kälte schützen konnte die mächtige, grüne Drachin sie nicht. Zilla neidete oft die warmen Körper der anderen Tiere wenn sich die Kühle der Nacht über den flüsternden Dschungel legte und ihre Glieder und Sehnen steif wurden bis ihr jede Bewegung schwer fiel. Sie schob das Schafsfell zu einem Bündel zusammen, nahm es behutsam zwischen die Zähne und tapste zu ihrer Ecke des Nestes zurück. Sie breitete es in ihrer Schlafkuhle aus und legte sich prüfend hinein. Es war noch feucht vom Blut des Tieres aber wenn es erst einmal getrocknet war würde sie weich liegen und besser geschützt sein als je zuvor.
Sie legte ihren Kopf in der weißen Wollen nieder und zählte ihre Sammlung von bunten Feder und silbernen Fischschuppen. Als sie zufrieden feststellte dass nichts fehlte schob sie alle ihre Schätze mit einer flinken Klauenbewegung unter ihre neue Decke wo es alles vor neugierigen Blicken sicher war.
Als der Mond gerade aufging tauchte der riesige Kopf ihrer Mutter über ihr auf. Sie hielt Troy im Nacken fest, der sich wohl weiter von Zuhause entfernt hatte als ihr lieb gewesen war und auch Brisk kraxelte hastig zurück ins Gelege, während die alte Drachin ihre Kinder zusammen schob und damit begann alte Knochen und andere verwendende Beutereste aus dem Nest zu entfernen. Ihre raue Zunge zog sich über den Rücken ihrer Tochter. „Mein kleines Juwel glänzt ja gar nicht mehr.“ Trällerte sie in einer albernen, gespielt-bestürzten Tonlage.
Mit der Geduld eines Berges säuberte sie Zilla von dem Schafsblut und pflückte, mit denselben Klauen die Bäume aus der Erde reißen konnten Zecken ab, die sich unter ihren Schuppen festgebissen hatten. Als die Abend-Routine abgeschlossen war schlang sie ihren Körper schützend um das Konstrukt aus Knochen und Lehm und deckte es sanft mit einer ihrer ledernen Schwingen ab.