An deiner Stelle

Es gibt 27 Antworten in diesem Thema, welches 7.102 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (8. Juli 2020 um 13:00) ist von RenLi.

  • Hallo zusammen

    Die Geschichte spielt in einem ländlichen Dorf in Japan, oder vielmehr in dem Kloster in der Nähe. Sie beschreibt das ebenso dramatische wie romantische Aufeinandertreffen von einem jungen Mädchen und einem Novizen des Klosters. Mehr verrate ich nicht, denn die Geschichte ist so kurz, dass jeder weitere Satz zu viel verraten würde.

    Viel Spass beim Lesen!

    An deiner Stelle (Teil 1)

    Es war verboten in der Nacht noch unterwegs zu sein. Nie zuvor hatte Aya diese Regel missachtet, doch nun stand sie mit klopfendem Herzen an der Tür und schaute durch einen schmalen Spalt nach draußen in die nächtliche Finsternis. Zwei schwankend Lichtpunkte verrieten die beiden Samurai, welche mit ihren Laternen ihre Runden durch das Dorf drehten. Ihnen wollte Aya auf keinen Fall begegnen. Sie wartete, bis die Männer um eine Ecke verschwanden und ihre leisen Stimmen nicht mehr zu hören waren.

    Aya schlüpfte nach draußen, schob die Tür leise hinter sich zu. Zum Glück befand sich das Haus ihrer Familie gleich am Waldrand; nach ein paar Schritten wurde sie bereits von den Schatten der Bäume verschluckt. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie war fest entschlossen, die Sache durchzuziehen. Im Schutz der Bäume fühlte sie sich sicherer. Trotzdem warf sie immer wieder Blicke über die Schulter, in der Angst entdeckt zu werden. Doch sie hatte keine Zeit, sich um mögliche Verfolger zu sorgen. Die Uhr tickte. Wer konnte schon sagen, wie lange ihre Mutter noch durchhalten würde! Der Gedanke an ihrer Mutter trieb Aya an, sie achtete kaum auf die Dornen, die ihre Haut zerkratzten oder die Kletten, die sich in ihrem Haar verfingen. Die Blume, sie musste sie erreichen, bevor jemand anderes sie vor ihr pflückte!

    Aya erklomm einen Hang und blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Der Arzt hatte ihr den Weg gezeigt, doch im Dunkeln war sie sich nicht mehr sicher. Aya fluchte frustriert, rannte weiter. Da bemerkte sie ein blaues, schimmerndes Licht, das zwischen den Blättern und Sträuchern hindurchsickerte.

    Das ist sie!, dachte sie erleichtert und mit neuem Mut kämpfte sie sich durch ein Dornengestrüpp, bis sie eine kleine Lichtung erreichte. Am Rand blieb sie stehen.

    Mitten auf der Wiese stand eine Blume. Das Licht des Vollmonds fing sich in ihrer Blüte, wurde in mystisch glitzerndem Blau zurückgeworfen. Der Anblick hatte etwas Heiliges. Für einen Moment vergaß Aya ganz, weshalb sie hergekommen war. Andächtig betrachtete Aya die Blume, wagte sich langsam näher zu gehen.

    Mit klopfendem Herzen kniete sie sich nieder. Ihre Hand zitterte, als sie sich nach dem zarten Hals der Blüte ausstreckte. Ihre Finger berührten den von feinen, silbern leuchtenden Haaren besetzten Stiel. Er war leicht warm. Erschrocken zuckte sie zurück – sie hatte ein Pulsieren gespürt! Wie von einem schlagenden Herzen. Aya schluckte einmal trocken und riss sich zusammen.

    Ich muss sie pflücken!, spornte sie sich selbst an. Sie ist meine letzte Chance, meine Mutter zu retten!

    Sie zog den Ärmel ihres Gewandes nach vorne, bedeckte damit ihre Finger, kniff die Augen zusammen, griff nach der Blume und riss sie mit einer schnellen Bewegung aus der Erde. Durch den Stoff hindurch fühlte sie das Pulsieren der Blume.

    Das war einfacher als gedacht, dachte sie und atmete erleichtert aus.

    So eine seltsame und gleichzeitig wunderschöne Blume hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Doch sie hatte keine Zeit zu verlieren, sie musste sie schnell zu ihrer kranken Mutter bringen.

    Als sie sich jedoch daran machte die Lichtung zu verlassen, begann der Pulsschlag der Blume plötzlich schneller zu werden. Wütend pochte er gegen Ayas Finger. Erschrocken beobachtete Aya wie die Blüte sich dunkel verfärbte und sich in ein glühendes Rot verwandelte. Sie ließ die Blume los, doch sie schien an ihrer Hand festzukleben. In dem Moment krachte etwas auf die Lichtung, keine zwei Schritte von ihr entfernt.

    Aya schrie und taumelte zurück. Ihre Hand brannte, wo die Blume sie berührte. Das Ding vor ihr richtete sich auf. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, was es war. Es war zumindest menschenähnlich, aber die Schultern waren viel zu breit, die Arme zu lang und muskulös, die Haut schwarz. Es brüllte, drehte sich zu ihr um. Rot flammende Augen starrten ihr entgegen. Aya war wie festgenagelt, konnte nicht wegsehen. Der brennende Schmerz jagte ihren Arm hinauf und weckte sie aus ihrer Lähmung. Sie drehte sich um, rannte los. Zurück in den Wald. Sie sah auf ihren Arm. Die Wurzeln der Blume hatten sich um ihren Arm geschlungen, wuchsen an ihm entlang, brannten sich wie Nesseln in ihre Haut. Schreiend versuchte sie, die Pflanze abzuschütteln, kratzte und zerrte, doch es half nichts. Aya trat in ein Loch im Boden, blieb mit dem Fuß hängen und fiel der Länge nach hin.

    Sie hörte das Monster hinter sich. Es warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, drückte sie zu Boden. Die Luft wurde aus Ayas Brustkorb gepresst und sie glaubte, ihre Rippen müssten jeden Moment brechen. Mit seinen seltsamen, klauenartigen Fingern griff das Ungetüm nach der Blume. Funken stoben, das Monster brüllte vor Schmerz und sprang zurück. Die Blume pochte, entzog Aya Kraft, um sich zur Wehr zu setzen. Aya nutzte den Moment und befreite ihren Fuß aus dem Erdloch. Sie wollte weiterrennen, doch jemand versperrte ihr den Weg. Ein Mensch. Ein Junge?

    „Weg da!“, schrie sie, doch er packte sie und drückte sie nach unten.

    Schon wieder schlug sie auf dem feuchten Waldboden auf. Sie hob benommen den Kopf. Das Monster kam auf allen Vieren angerannt. Der Junge streifte seine Kapuze ab, ein geschorener Kopf kam zum Vorschein. Er gehörte also zum Kloster! Wollte auch er die Blume haben?

    Er legte die Hände aneinander, murmelte ein Mantra. Das Monster wurde von einem hellen Lichtstrahl zurückgeworfen. Es prallte gegen den Stamm eines Baumes, der gefährlich krachte, als wolle er gleich brechen. Der Junge betete weiter und Schlingpflanzen wuchsen schlängelnd aus der Erde, wickelten sich um das Monster, fesselten es an den Baumstamm.

    Aya hatte genug gesehen, sie sollte verschwinden. Doch sie konnte nicht aufstehen. Erst jetzt bemerkte sie die Schlingen, die sich auch um ihre Glieder gewunden hatten. Sie versuchte, sich zu befreien, doch es war unmöglich. Inzwischen hatte der Junge sich dem Monster bis auf Armeslänge genähert. Ein geheimnisvolles Leuchten ging von seiner Haut aus, während er seine Gebetskette durch die Finger gleiten ließ, noch immer murmelnd. Das Monster schrie, warf sich hin und her. Es musste unerträgliche Schmerzen leiden.

    Aya zerrte an den Fesseln. So wollte sie nicht enden! Doch der Junge war nicht ihre dringlichste Sorge. Die Wurzeln hatten nun ihren Hals erreicht. Wie feine Nadeln bohrten sich die Wurzeln in ihre Haut, drangen tiefer und tiefer in sie ein. Die Blume leuchtete verräterisch, dann wurde Aya schwarz vor den Augen.

    (P.S. Falls jemandem die Geschichte bekannt vorkommt: Ich hab die Kurzversion davon mal im Schreibwettbewerb ^^verwendet.)

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    4 Mal editiert, zuletzt von RenLi (22. Juni 2020 um 20:37)

  • Hey RenLi,

    ja, ein schönes Geschichtchen, an das ich mich sogar noch erinnern konnte. Ayas Weg durch den dunklen Wald und ihre Suche nach der Blume hast du sehr schön beschrieben, wie ich finde. Auch, wie sie die Blume findet und sich schließlich dazu durchringt, sie zu pflücken mit der positiven Absicht, ihre Mutter retten zu wollen.

    Das Ende hatte ich allerdings anders in Erinnerung. Ich finde, es endet sehr abrupt und könnte für meinen Geschmack noch zwei oder drei Sätzchen länger sein...:hmm:

    Vielleicht ist das aber auch ein gutes Anzeichen für eine gelungene Kurzgeschichte, dass man sich als Leser tausend Dinge überlegt, was denn da jetzt genau passiert ist und was es mit dem allen auf sich hat.

    Da ich kein ausgewiesener Experte für Kurzgeschichten bin, will ich dieses Urteil lieber anderen Lesern überlassen ... :)

    Ach ja, ich habe hier noch ein bisschen Kleinkram, über den ich beim Lesen gestolpert bin. Vielleicht magst du mal gucken:

    Spoiler anzeigen

    Doch sie hatte keine Zeit, sich um mögliche Verfolger zu sorgen. Sie durfte keine Zeit verlieren!

    keine Ahnung, ob es von dir beabsichtigt war..hier bin ich kurz hängen geblieben

    Doch sie hatte keine Zeit zu verlieren, sie musste sie schnell zu ihrer kranken Mutter bringen.

    hier erwähnst du es nochmal ^^... vielleicht einfach: doch sie musste sich beeilen...oder sie dufte nicht länger warten....(irgendwie so)

    Wütend pochte er gegen Ayas Finger. Erschrocken beobachtete Aya

    das zweite Aya würde ich durch ein "sie" ersetzen.

    Das war einfacher als gedacht, dachte sie und atmete erleichtert aus.

    vielleicht: kam es ihr in den Sinn...oder: das war einfacher, als erwartet, dachte sie.... :hmm:

    Die Wurzeln hatten nun ihren Hals erreicht. Wie feine Nadeln bohrten sich die Wurzeln in ihre Haut, drangen tiefer und tiefer in sie ein.

    bohrten sie sich in ihre Haut...(?) So kannst du 2x Wurzeln vermeiden.

    LG,

    Rainbow

    p.s.:

    (P.S. Falls jemandem die Geschichte bekannt vorkommt: Ich hab die Kurzversion davon mal im Foren-Award verwendet.)

    Das war bestimmt der Schreibwettbewerb und nicht der Award, oder? :)

  • Ich kannte dieses Geschichte nicht und als Kurzgeschichte ist es sehr gelungen finde ich.:love:

  • Ohh, was für ein schöner Schreibstil, ein richtiges Kleinod. Man ist sofort gut in die Atmosphäre eingetaucht. Das "Monster" erschien für meinen Geschmack ein bisschen zu plötzlich, und auch das Ende fand ich zu abrupt. Und letzten Endes... wer ist denn nun plötzlich Marisa? Ich dachte, sie heißt Aya?

    Wie feine Nadeln bohrten sich die Wurzeln in ihre Haut, drangen tiefer und tiefer in sie ein. Die Blume leuchtete verräterisch, dann wurde Marisa schwarz vor den Augen.

    Ich hoffe, es geht noch weiter!

    LG

    Stadtnymphe

    Was ich schreibe: Eden

  • Hallo zusammen

    Danke für die Rückmeldungen! Voll cool, dass ihr die Geschichte gelesen habt!!

    Aber es gibt da wohl ein Missverständnis ^^ Das oben ist erst der erste Teil. Ganz so kurz, hab ich die Sache doch nicht hingekriegt. Hab das nun gekennzeichnet.

    Rainbow Du hast das richtig in Erinnerung. :) es geht noch weiter. Danke für die Korrekturen, hab ich eingefügt. Und cool, liest du mit!

    Stadtnymphe Da sieht man, was passiert, wenn man den Namen während der Produktion ändert ^^ In einer älteren Version hiess sie Marisa, das hat sich da eingeschlichen.

    @Drachenlady2001 Ich hoffe, du liest noch weiter. :D

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    Rumi

  • RenLi

    Okay, da bin ich erleichtert ^^

    So ganz wollte ich mich mit dem schnellen Ende nicht anfreunden. Gut, dass du jetzt dazugeschrieben hast, dass es mehrere Teile gibt, das beugt zumindest Missverständnissen vor.

    Freue mich auf jeden Fall zu erfahren wie es weitergeht... war gerade so schön spannend :gamer:

    Und witzig-die Sache mit dem Namen am Schluss war mir noch nicht mal aufgefallen. Wahrscheinlich, weil ich so enttäuscht war, dass die Geschichte schon zu Ende sein sollte. :rofl:

  • Wow, dieser Schreibstil=O

    Er zieht einen richtig in den Bann und kreiert eine wirklich schöne Atmosphäre.

    Mitten auf der Wiese stand eine Blume. Das Licht des Vollmonds fing sich in ihrer Blüte, wurde in mystisch glitzerndem Blau zurückgeworfen.

    Kein komplizierter Satzbau, aber dennoch sehr poetisch. :thumbsup:

  • Hallo zusammen

    Ich fühle mich geehrt! *Höfischer Knicks* Danke fürs Lesen!!

    Dann kommt da mal der nächste Teil:

    An deiner Stelle (Teil 2)

    Aya schreckte hoch. Wo war sie? Ihr Körper schmerzte, vor allem der Nacken. Sie musste in einer unglaublich schrecklichen Position geschlafen haben. Doch sie lag in einem weichen Bett. Aber nicht in ihrem eigenen. Sie schreckte hoch, als die Erinnerung an letzte Nacht sie wieder einholte. Panisch schaute sie auf ihren Arm, doch da war nichts. Keine Wurzeln, die daran hochkletterten und sich in ihr Fleisch gruben.

    „Du bist wach“, hörte sie eine ausdruckslose Stimme unweit von ihr.

    Sie schaute hoch. Da an der Wand stand der Junge. Er hatte die Kapuze wieder hochgezogen, doch sie war sich sicher, dass er es war. Instinktiv schob sie sich weiter weg von ihm.

    „Was soll das?!“, fuhr sie ihn an. „Wo bin ich hier?“

    „Wir sind im Kloster“, antwortete er gelassen, doch seine Augen funkelten wachsam unter der Kapuze hervor.

    „Hast du mich hergebracht? Lass mich nach Hause gehen“, verlangte Aya.

    „Es tut mir leid, aber du musst noch bleiben- zu deiner eigenen Sicherheit.“

    „Wie soll das denn zu meiner Sicherheit sein?“, entrüstete sich Aya. „Ich muss nach Hause! Und wo ist die Blume!? Ich hab sie zuerst gesehen, gib sie mir zurück!“

    Sie erinnerte sich zwar nicht gerne an das schreckliche Ding, aber immerhin war diese Blume ihre einzige Hoffnung!

    „Du weißt nicht, wovon du da redest“, erwiderte er bemerkenswert ruhig. „Die Blume hätte nie in deinen Besitz geraten sollen. Ein Dorfmädchen wie du solltest eigentlich gar nicht von ihrer Existenz wissen.“ Sein Blick bohrte sich in den ihren. „Wie hast du von der Blume erfahren?“

    „Das geht dich gar nichts an“, antwortete sie schnippisch.

    „Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich da eingelassen hast!“, zischte er. Also war er doch etwas in Rage. Seine blauen, klaren Augen erinnerten sie an das Leuchten der Blume.

    „Auf was denn?“, fragte sie eingeschnappt. „Du willst mir doch nur Angst einjagen.“

    „Das geht nur die Leute vom Kloster etwas an.“ Er schaute sie abweisend an, sie verschränkte trotzig die Arme.

    „Erklär es mir“, forderte sie ihn auf. „Schließlich passiert es nicht alle Tage, dass man von einem Monster angegriffen und von einer Blume verspeist wird.“ Ihr schauderte es, als sie daran dachte, doch der Junge machte keine Anstalten, ihr mehr zu verraten. Stumm blieb er stehen und musterte sie noch immer.

    „Wenn du mir nicht erzählst, warum ich hier festgehalten werde, dann sehe ich auch keinen Grund, länger zu bleiben“, setzte sie von Neuem an und machte Anstalten, sich von dem Bett zu erheben. Sie glaubte nicht wirklich daran, dass sie auch nur drei Schritte weit kommen würde, aber sie musste es zumindest versuchen. Nach allem konnte sie nun nicht einfach aufgeben!

    Er seufzte und trat auf sie zu. Bildete sie es sich nur ein, oder hatte er eben tatsächlich leicht gelächelt?

    „Nun gut, machen wir einen Tausch“, schlug er vor. „Du sagst mir, wer dir von der Blume erzählt hat und ich sage dir, was es damit auf sich hat.“

    Das klang gerecht. Sobald sie mehr Informationen hatte, konnte sie immer noch einen Fluchtversuch planen.

    „Aber du beginnst“, forderte sie.

    Einen Moment lang musterte er sie abschätzend. Dann seufzte er wieder und strich mit den Fingern über seine Gebetsschnur. Augenblicklich verkrampfte sich Aya. Sie hatte gesehen, was er damit anrichten konnte. Ihre Reaktion schien ihm nicht entgangen zu sein, denn er ließ seine Hand sinken.

    „Keine Sorge, es wird dir nichts geschehen“, versprach er. „Also gut, es kann nicht schaden, wenn ich beginne. Hör gut zu.“ Sie nickte und er begann zu erzählen: „Die Blume wächst nur alle einhundert Jahre, genau an der Stelle, an welcher du sie gefunden hast.“

    Das war ihr nichts Neues, so viel hatte sie bereits in Erfahrung bringen können.

    Er fuhr fort: „Unten im Klosterhof steht ein sehr alter, mächtiger Baum. Er ist das Herzstück des Klosters, denn er verbindet die Erde mit dem Himmel, dem Reich der Götter. Ohne ihn wären all unsere Gebete bedeutungslos.

    Die Mönche behaupten, er sei bereits über eintausend Jahre alt. Doch immer nach genau hundert Jahren beginnt der Baum abzusterben. Die Blume ist nur aus dem einen Grund da, um dem Baum neues Leben zu geben.“

    Das konnte nicht wahr sein. Der Arzt hatte ihr etwas ganz anderes erzählt!

    „Du lügst!“, brachte sie heraus.

    „Was? Warum sollte -“

    Brennender Schmerz schoss ihr in die Beine, sodass sie jäh aufschrie. Sie warf die Bettdecke beiseite und starrte entsetzt auf die Wurzeln, die aus ihrer Haut sprossen.

    „Mach es weg!“

    Der Junge stand bereits über ihr und presste seine Gebetskette auf ihre Brust, murmelte wieder die Worte in der Sprache der Götter. Der Schmerz ließ nach. Die Wurzeln zogen sich zurück. Zurück blieben nur ihre Beine, jedenfalls dem Anschein nach.

    „Alles in Ordnung?“, fragte er, sichtlich erschöpft. Glitzernde Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

    „Natürlich“, antwortete sie bissig und schob ihn grob weg von sich. „Was war das gerade? Ich dachte, ihr hättet dieses Ding an euch genommen!“

    „Ich habe dir doch gesagt, es sei zu deiner eigenen Sicherheit, dass du hier bist.“

    „Erklär es mir!“, schrie sie hysterisch.

    „Beruhige dich.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Wir haben versucht, die Blume von deiner Hand zu trennen, doch sie hat sich in deinen Körper zurückgezogen.“

    Was sollte das bedeuten? Sie schaute auf ihre Hände. Sie war immer noch da drin. Es grauste ihr vor sich selbst. Es war ihr, als wäre das gar nicht mehr ihr Körper, als wäre er verschmutzt.

    „Kann man sie wieder rausnehmen?“, fragte sie zittrig.

    „Das versuchen die Älteren herauszufinden. Sie haben zuversichtlich ausgesehen“, sagte er mit beruhigender Stimme. „Das sind weise Männer, sie werden wissen, was zu tun ist.“

    Sorgte er sich wirklich um sie? Oder war er nur an der Blume interessiert?

    „Und was kann ich jetzt machen?“

    „Bleib einfach hier. Wir können dir helfen. Es ist meine Aufgabe, auf dich aufzupassen. Und ich verspreche dir, ich werde dich keinen Augenblick aus den Augen lassen.“

    Er klang so ernst. Das machte ihr noch mehr Angst.

    „Ich muss zurück, zu meiner Mutter“, sagte sie flehend.

    Er antwortete nichts, sah sie nur an. Es war klar, dass er sie nicht würde gehen lassen. War nun alles vergebens gewesen? Warum hatte sie sich das dann überhaupt angetan? Nun wünschte sie sich, sie hätte die Blume nie angefasst.

    „Sie ist krank“, erzählte sie niedergeschlagen. „Deshalb habe ich die Blume gepflückt. Der Arzt hat gesagt, dass die Blume sie retten kann.“

    Sie ließ den Kopf hängen, schaute wieder auf ihre Hände. Waren sie anders als sonst? Schon befürchtete sie, Wurzeln draus hervorsprießen zu sehen.

    „Er hat gesagt, ich dürfe niemandem davon erzählen.“

    „Der Arzt des Dorfes? Woher weiß er von der Blume?“, fragte der Junge misstrauisch.

    „Ich weiß es nicht, ich habe nicht weiter gefragt. Schließlich ist er Arzt, er wird wohl wissen, was er tut.“

    „Wir kümmern uns um deine Mutter, du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen. Unsere Mittel sind besser als die eines kleinen Dorfarztes“, versprach der Junge unvermittelt.

    „Wann?“, wollte sie wissen. Konnte sie ihm trauen? Warum sollte er ihr helfen? Aber womöglich war dies der einzige Weg, wie ihre Mutter noch gesund werden konnte. „Es geht ihr wirklich nicht gut. Und nun bin ich nicht einmal bei ihr, um sie zu pflegen.“

    „Sobald wie möglich“, versicherte er und sie konnte keine Lüge in seinen Worten entdecken. „Vater Kenzo sollte bald zurück sein, dann werde ich ihm von deiner Mutter erzählen. Bis dahin solltest du dich ausruhen.“

    Sie nickte, schaute noch immer auf ihre Hände. Als er nähertrat sah sie auf. Er zögerte, schien sich nicht sicher zu sein, was er tun sollte.

    „Schließ die Augen“, forderte er sie auf. „Ich werde versuchen, die Blume etwas zu beruhigen, damit sie nicht mehr…“

    Sie zögerte, doch was blieb ihr anderes übrig? Aya schloss die Augen, versuchte ruhig zu atmen. Sie spürte, dass er ganz sanft die Hand auf ihren Kopf legte. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Sie lächelte ein wenig. Ihr Körper schien wieder mehr ihr eigener zu sein.

    „Danke“, murmelte sie und öffnete die Augen. Zu ihrer Überraschung hob er die Hand und strich eine Strähne ihres langen Haares aus ihrem Gesicht.

    „Ich passe auf dich auf“, sagte er leise, dann trat er ans Fenster. „Schau, da unten siehst du den Baum.“

    Sie drehte sich zum Fenster um, schaute auf den Klosterhof hinunter. Er war kreisrund und acht schmale Pfade führten in die Mitte, in welcher ein großer Baum stand. Er sah tatsächlich aus, als wäre er bereits abgestorben. Keine Blätter hingen an den schwarzgrauen Ästen.

    „Könnt ihr ihn wirklich noch retten?“

    „Wenn wir die Blume bis in drei Tagen wieder aus deinem Körper hinausbekommen können…“

    Es klopfte an der Tür...

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
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    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • RenLi

    Uahhh...wie gruselig die Vorstellung, dass da so ein komisches Planzending in einem steckt und darauf lauert, wie wild herauszuwachsen :panik:

    Was für ein Glück, dass der Junge aus dem Kloster sie rechtzeitig aufgesammelt hat. Aber irgendwie habe ich so das Gefühl, dass die Sache kein gutes Ende nehmen wird. Ich glaube so langsam, mich erinnern zu können, worauf es hinausläuft, aber ich verrate mal nix.

    In jedem Fall hast du schöne Ideen verarbeitet. Der Baum, der als Verbindung zum Himmel und den Göttern dient und die Blume, die ihn alle hundert Jahre mit neuem Leben speist. Nur blöd, dass die Blume nun in Aya steckt. :hmm:

    Bin gespannt auf das Ende :gamer:...

    p.s.: Du solltest definitiv öfter Kurzgeschichten schreiben!

  • An deiner Stelle (Teil 3)

    Es klopfte an der Tür. Aya zuckte zusammen, zog die Decke schützend bis ans Kinn hoch. Zwei Männer traten ein, in dunkle Mönchsroben gehüllt. Sie verbeugten sich. Auch sie nickte mit dem Kopf.

    „Willkommen, meine Liebe“, grüßte der ältere Herr. „Es ist rar eine weibliche Gestalt in unseren Räumlichkeiten unterbringen zu dürfen.“

    Er zwinkerte schelmisch. Sofort löste sich ihre Anspannung, sie ließ die Decke etwas sinken.

    „Auch wenn die Umstände wohl etwas verwirrend sind“, fügte er an. „Mein Name ist Kenzo, ich hoffe unser Novize hat sich anständig verhalten?“

    Sie warf dem Jungen einen nervösen Blick zu. Er stand schweigend da, das Gesicht ohne Regung.

    „Ja, alles in Ordnung“, sagte sie und erinnerte sich daran, dass sie sich noch nicht vorgestellt hatte. „Mein Name ist Aya. Ich wohne unten im Dorf.“

    Vater Kenzo nickte.

    „Schön, dich bei uns zu haben. Was hast du bereits von Sora gehört?“

    Das verunsicherte sie. Sie wusste nicht, ob sie ihn in Schwierigkeiten brachte, wenn sie die Wahrheit sagte. Sie warf ihm einen Blick zu, doch er schaute sie nicht an.

    „Nicht viel“, sagte sie deshalb ausweichend. „Dass es besser für mich ist, hier zu bleiben.“

    Wieder nickte Vater Kenzo.

    „Und kannst du das tun? Wir versprechen, uns gut um dich zu kümmern, bis du wieder nach Hause zurückkannst.“

    Der Mönch schien nett zu sein, also fasste sie Mut und sagte: „Vater, meine Mutter ist schwer krank. Deshalb wollte ich die Blume holen, um sie wieder gesund zu machen.“

    „Was für ein interessanter Gedanke.“ Er lächelte und drehte sich zur Tür. „Haruma.“

    Ein junger Novize öffnete die Tür und trat mit einer Verbeugung ein.

    „Schick den Arzt ins Dorf hinunter. Er soll sich um Ayas Mutter kümmern.“

    Haruma nickte und trat wieder hinaus.

    „Wird sie gesund werden?“, fragte Aya hoffnungsvoll.

    „Unser Arzt ist sehr erfahren. Allerdings sind unsere Kräfte durch den bedauerlichen Zustand des heiligen Baumes etwas eingeschränkt. Nach seiner Erneuerung wird es ihm sicherlich möglich sein, deiner Mutter zu helfen.“

    Erleichterung breitete sich in ihr aus. Anscheinend hatte der Novize ihr die Wahrheit erzählt.

    „Danke, Vater!“ Tränen traten ihr in die Augen.

    „Keine Sorge. Du wirst bald wieder bei ihr sein können.“

    Wie zuvor der Junge legte nun auch er ihr eine seiner Hände auf den Kopf. Wohlige Ruhe breitete sich in ihr aus.

    „Schlaf nun.“

    Als Aya erwachte, fühlte sie sich ausgeruht. Sie setzte sich auf. Wo war er? Er hatte gesagt, er würde bei ihr bleiben. Sie blickte sich im Zimmer um und entdeckte ihn in einem Stuhl sitzend. Er schlief.

    Sora.

    Neugierig betrachtete sie sein schlafendes Gesicht. Es war das erste Mal, dass sie einen der Novizen nicht nur aus der Ferne sah. Normalerweise hielten sie sich im Hintergrund, verbargen sich in ihren dunklen Gewändern und hinter einem Wall aus Stein, der keine Gefühlsregung erahnen ließ. Auch Sora schien da keine Ausnahme zu sein, oder doch?

    Als hätte er ihren Blick gespürt, öffnete er seine Augen. Er setzte sich gerade hin, warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Dann winkelte er die Beine an, bis er im Lotussitz auf dem Stuhl saß, faltete die Hände in seinem Schoss und schloss wieder die Augen. Mit einem Gesicht aus Stein.

    Sie beobachtete ihn. Was wohl gerade in ihm vorging? Wenn er so dasaß, auf einem Stuhl, der ganz offensichtlich nicht fürs Meditieren gedacht war. So leise wie möglich stand sie auf, schlich näher. Hörte er sie? Oder war er in sich selbst versunken? Sie streckte die Hand aus, verharrte, als ihre Finger nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt waren. Seine Lider flogen auf und sein Blick bohrte sich in den ihren. Erschrocken ließ sie die Hand sinken. Sie setzte sich auf das Bett zurück.

    „Was würdest du tun, wenn du nur noch einen Tag zu leben hättest?“, fragte er unvermittelt in die Stille hinein.

    Aya überlegte. Wie er wohl auf so eine Frage kam?

    „Ich würde diesen Tag mit meiner Mutter und meinen Geschwistern verbringen wollen. Außerdem ich würde in den Wald gehen. Zwischen den Bäumen fühle ich mich wohl.“

    Sie sah ihn erwartungsvoll an. Er hatte seinen Blick starr auf die Wand gerichtet.

    „Und du?“

    „Ich würde wohl nichts anderes tun als sonst auch. Ich würde die Arbeiten erledigen, die mir aufgetragen werden. Ich würde hier in diesem Zimmer sitzen und dir beim Schlafen zusehen.“ Ayas Herz machte einen Satz. Hatte er sie etwa auch beobachtet? Sein Gesicht war unverändert geblieben.

    „Oder ich würde den ganzen Tag in der Schreinhalle sitzen und meditieren.“

    Ayas Magen knurrte. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Ihrem Hunger nach zu schließen musste es eine Ewigkeit her sein, dass sie zuletzt etwas gegessen hatte. Sie wusste nicht einmal, seit wie langer Zeit sie schon hier in diesem Zimmer war.

    „Lass uns etwas essen gehen“, schlug er vor und erhob sich mit einer fließenden Bewegung.

    „Wirklich? Ich darf das Zimmer verlassen?“

    „Du bist keine Gefangene. Solange du bei mir bleibst, ist alles in Ordnung“, versprach er und hielt ihr die Tür in den Flur hinaus auf.

    Im Speiseraum herrschte gerade Hochbetrieb, als sie eintraten. Aya war überrascht wie lebendig es hier zu und her ging. Überall wurde geredet, sogar wild gestikulierend saßen die Mönche beisammen. Auch Kinder trollten sich zwischen den Bänken, allesamt in die dunkelgrauen Roben des Klosters gehüllt.

    Unsicher stand sie im Eingang. Ein Mönch drängte sich an ihr vorbei, warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. Eine Frau im Mönchskloster musste einem Skandal gleichkommen. Wie sollte sie sich verhalten? Sie hörte bereits Getuschel und Köpfe wandten sich in ihre Richtung. Sora legte ihr eine Hand auf die Schulter. Dass dies ein viel größerer Skandal bedeutete, konnte sie nicht wissen.

    „Dort drüben ist die Küche.“ Er schob sie leicht in die richtige Richtung. Mit gesenktem Kopf durchquerte sie den Raum, dicht hinter ihr ging Sora.

    „Wo ist denn deine stolze Haltung von vorhin geblieben?“, flüsterte er ihr ins Ohr.

    Trotzig richtete sie sich auf.

    „Die ist wohl im Gemurmel deiner Freunde untergegangen“, entgegnete sie und betrat die Klosterküche. Hier duftete es nach Reis und Gemüse. Ein kleiner Mönch stand an einem Topf und blickte ihnen gutmütig entgegen.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • RenLi Es ist weiterhin eine sehr, sehr schöne Geschichte. Dein Schreibstil ist engenehm zu lesen für mich und ich habe sofort Bilder vor Augen, als würde die Geschichte wie ein innerliche Film ablaufen.

    Einzige Anmerkung, Der Baum. Da er einen Mittelpunkt der Geschichte werden soll (So kam es mir vor) hätte ich ihn in der Passage am Fenster ruhig mehr bedeutung beigemessen. Vielleicht auch ein erstes Mittleid von Aya und zum ersten mal die Frage was sie machen soll. Mutter oder Baum, wem gibt sie die Blume?

    Das war das einzige was mir ein klein wenig darin gefehlt hat. Da Sora sie gefragt hat, nach ihrem Letzten Tag und was sie machen würde, hat mir ein leichte Gänsehaut verpasst. Ich bin jetzt erst Recht neugirig wie es weiter geht.

    Mach bitte weiter so. :thumbsup:

  • Hey RenLi,

    die Szene zwischen Aya und Sora hast du schön beschrieben. Die beiden sind schon ein ungleiches Paar und trotzdem spürt man, dass sie etwas verbindet. ^^

    Auch die Atmosphäre in dem Kloster hast du gut eingefangen. Ich kann mir schon vorstellen, dass es Aya unbehaglich zumute sein muss, als einzige Frau an diesem Ort.

    Die Frage, was sie tun würde, wenn sie nur noch einen Tag zu leben hätte, ist hoffentlich rein hypothetischer Natur :hmm: ... hab ein bisschen Bammel vor dem Ende ;(

    Hier noch ein kleines Fehlerchen, über das ich gestolpert bin:

    Außerdem ich würde in den Wald gehen. Zwischen den Bäumen fühle ich mich wohl.“

    Außerdem würde ich...

    LG,

    Rainbow

  • Hallo zusammen


    @Drachenlady2001 Hab mir deine Anmerkung mit dem Baum mal notiert. Stimmt, da hab ich ein paar Gefühle von Aya wohl ausgelassen. Ich schau bei der nächsten Überarbeitung, ob ich das noch reinnehme. :thumbsup:

    Rainbow Hab ich überarbeitet :D Wie gut, dass du dich ans Ende nicht mehr erinnern kannst :evil::saint: Ich mag Dramatik :D

    An deiner Stelle (Teil 4)

    Ein kleiner Mönch stand an einem Topf und blickte ihnen gutmütig entgegen.

    „Die werte Dame ist also aufgewacht, wie ich sehe“, sagte er mit einem Schmunzeln.

    „Hast du etwas von Yuuma gehört, Osamu?“, fragte Sora mit ernster Miene.

    Der Koch verneinte schweigend.

    „Du solltest dich in Geduld üben und essen, mein Junge“, sagte Osamu und schöpfte eine große Kelle voll Reis und Gemüse in zwei Holzschalen. „Das Schicksal wird sich erfüllen, so war es immer.“

    Sora nahm die Schalen entgegen. Aya warf einen nervösen Blick über die Schulter. Wollte er wirklich da draußen essen? Doch noch bevor sie etwas dagegen einwenden konnte, war Sora ihr bereits vorausgegangen und hatte den Speiseraum wieder betreten. Sie kniff den Mund zusammen und folgte ihm.

    Aufrecht, ermahnte sie sich, doch sie fühlte sich nicht halb so mutig wie sie es sich gewünscht hätte.

    Sora trat an einen Tisch in der Ecke. Sofort rückten zwei Novizen etwas zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Sora stellte ihre Schale neben seine, sodass sie zwischen ihm und der Wand saß. Ob er gemerkt hatte, dass es ihr nicht wohl war, hier zu sein? Aber hätten sie dann nicht auch im Zimmer essen können? Sie setzte sich.

    „Iss“, forderte Sora sie auf.

    Sie wurde nicht schlau aus ihm. In einem Moment konnte er warmherzig und freundlich sein und im nächsten schon wieder kühl und abweisend. Die anderen Novizen aßen schweigend und mit gesenkten Köpfen. Wahrscheinlich war es ihnen unangenehm, eine Frau am selben Tisch zu haben. Aya versuchte, die anderen zu ignorieren und konzentrierte sich auf ihr Essen, wie Sora es ihr gesagt hatte.

    „Mach mal Platz“, rief eine raue Stimme und Aya blickte scheu auf. Ein großgewachsener Mönch drängte sich gegenüber von Sora auf die Bank.

    „Hast auch schon besser ausgesehen“, stellte der Neuankömmling fest und fixierte Sora mit seinem Blick.

    „Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Masao“, entgegnete Sora trocken.

    „Höflichkeit ist eine Tugend, die gerne unterschätzt wird“, meinte Masao unberührt und begann sich sein Essen in den Mund zu schaufeln.

    „Das könntest du dir selbst ebenso sagen“, konterte der Novize.

    Aya verfolgte das Gespräch mit Erstaunen und vergaß darüber einen Moment lang ihre eigene Situation. Sie hatte sich das Zusammenleben im Kloster ganz anders vorgestellt. Wer hätte gedacht, dass hinter den verschlossenen und strengen Mönchen tatsächlich Menschen mit allen Facetten von Gefühlen steckten?

    „Sind wir nicht alle Spiegel unserer selbst?“ Masao grinste herausfordernd. „Hast du dir bereits eine Abschiedsrede überlegt, Sora?“

    Soras Augen verengten sich. „Es gibt nichts zu sagen. Der Schicksalsfaden wird weitergesponnen, Zeit vergeht.“

    Aya erinnerte sich, dass der Koch etwas Ähnliches gesagt hatte.

    Was ist das Schicksal?, fragte sie sich. Sind wir alle einem gewissen Schicksal ausgeliefert?

    „Du bist so unnahbar wie immer. Nun, da der Baum zu seinem Ende kommt, hätte ich gedacht, das würde sich vielleicht ändern. Aber vielleicht überraschst du uns ja alle noch.“

    „Das reicht.“ Einer der Novizen hatte sich erhoben. „Dein Verhalten ist unwürdig.“

    „Spricht man so zu einem Älteren?“, fragte Masao gelassen.

    Die Anspannung am Tisch war merklich zu spüren und Aya wünschte sich in ihr Zimmer zurück. Oder nach Hause. Eigentlich sollte sie am Bett ihrer Mutter sitzen und über sie wachen und nicht hier in einem Kloster, in welchem sie ganz offensichtlich nichts zu suchen hatte.

    „Du hast dein Essen noch kaum angerührt, Aya.“

    Sie zuckte zusammen, als ihr Name so unerwartet genannt wurde. Sora sah sie forschend an.

    „Tut mir leid“, murmelte sie verlegen. Nun waren die Blicke der am Tisch Sitzenden plötzlich auf sie gerichtet. Verärgert stellte sie fest, dass ihre Hand leicht zitterte, als sie den Löffel anhob, um einen Bissen zum Mund zu führen.

    „Du hast Recht, wir sollten Essen. Wer weiß, was der morgige Tag bringen wird“, stellte Masao fest. „Setz dich“, fügte er an den Novizen hinzu, welcher sich ohne Widerworte wieder auf die Bank niederließ und sich seiner Schale zuwandte.

    Den Rest des Mahles verbrachten sie schweigend. Als Sora sich erhob, sah Masao zu ihm auf. „Schau zu, dass du uns nicht enttäuschst. Hundert Jahre sind eine lange Zeit“, bemerkte er.

    Soras Miene war hart und sein Blick von einer Eiseskälte erfüllt, die Aya eine Gänsehaut verursachte.

    „Ich kenne meine Aufgabe, Masao“, sagte er und wandte sich ab.

    Aya musste sich beeilen, um mit seinem forschen Schritt mithalten zu können. Sie hätte ihn gerne gefragt, worum es in dem Gespräch gerade gegangen war, doch sie getraute sich nicht. Es schien ihr, als hätte er eine undurchdringliche Mauer aus Eis um sich herum aufgebaut, durch die nichts und niemand zu dringen vermochte. Mit einem unguten Gefühl im Bauch marschierte sie hinter ihm her, bis sie schließlich wieder vor ihrer Kammer standen. Wieder hielt er ihr die Tür auf und sie trottete gehorsam hinein.

    „Schlaf“, wies er sie an.

    Überrascht blickte sie ihn an.

    „Ich bin nicht müde“, entgegnete sie.

    Er trat auf sie zu und hob eine Hand. Unsicher wich sie ein Stück zurück. Da wurde sein Blick weicher.

    „Du musst viel Schlafen, die Blume entzieht dir Kraft. Dein Körper ist zu schwach, sie in sich zu tragen.“

    Sie musste zugeben, dass sie sich erschöpft fühlte. Außerdem brannten ihre Augen und ihre Glieder schmerzten unangenehm.

    Dabei habe ich gerade erst geschlafen.

    „Erzählst du mir mehr über den Baum? Wie verbindet er den Himmel mit der Erde?“, fragte sie, um ihn abzulenken.

    Er trat zurück und setzte sich wieder mit untergeschlagenen Beinen auf den Stuhl.

    „Ich erzähle dir, wenn du dich hinlegst“, verlangte er.

    Wieder ein Tausch, dachte sie und legte sich folgsam auf das Bett, dann schaute sie ihn erwartungsvoll an. Kaum merklich huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

    „Der Legende zufolge wurde der Baum vom Gott des Mondes geschaffen. Er soll sich vor unzähligen Jahren in eine Sterbliche verliebt haben. Sie war eine einfache Frau, die zufrieden mit ihrem Mann und ihren Kindern auf einem kleinen Hof gelebt hat. Der Mondgott hat sich ihr in Menschengestalt genähert, um sie zu verführen, doch sie wollte sich nicht von ihrem Mann trennen. So hat der Gott ihn und die Kinder umgebracht“, erzählte Sora.

    „Ist das nicht ungerecht?“, fragte Aya.

    „Die Götter gehen ihre eigenen Wege.“

    Aya schlug schuldbewusst ihre Augen nieder.

    Ich sollte nicht an den Göttern zweifeln, schalt sie sich.

    „Entschuldige. Erzählst du weiter?“, fragte sie hoffnungsvoll.

    Es war schön, ihm zuzuhören. Wenn er erzählte, wurde sein Gesicht weicher, außerdem gab ihr dies einen Grund, ihn anzusehen. Seine Augen hatten einen Glanz, der sei verzauberte und sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick zu seinen fein geschwungenen Lippen wanderte. Wie er wohl wäre, wenn er als normaler Junge in ihrem Dorf aufgewachsen wäre?

    Sora fuhr fort: „Die Frau hat zu den Göttern gefleht, ihr ihren Gatten und die Kinder zurückzubringen. Da erschien der Mondgott vor ihr, in seiner wahren Gestalt. Er hat ihr einen Tauschhandel vorgeschlagen. Wenn sie ihr Dasein bis in alle Ewigkeiten den Göttern widmen würde, so würde er ihre Kinder wieder zum Leben erwecken. Sie willigte ein und er verwandelte sie in den heiligen Baum, der noch heute unten im Klosterhof steht.“

    „Das ist doch grauenhaft!“, entfuhr es Aya. „Soll das etwa gerecht sein?“

    Sie hatte sich eigentlich zurückhalten wollen, doch die Art und Weise wie der Gott des Mondes diese Menschenfrau behandelt hatte, erschien ihr einfach zu grausam.

    Sora legte einen Finger an die Lippen.

    „Die Götter haben gute Ohren“, ermahnte er sie.

    Erschrocken schaute sie sich um, als könne auf einmal eine Gottheit neben ihr auftauchen, um sie ebenfalls in einen Baum zu verwandeln.

    „Der Mondgott hat sein Versprechen gehalten und die Kinder wieder zurückgebracht. Sie haben neben dem Baum einen Schrein errichtet und sich um diese heilige Stätte gekümmert. Daraus ist später das Kloster entstanden. Durch die Verehrung des Baumes können wir in Kontakt mit der Götterwelt treten. Ohne ihn wäre dies nicht möglich. Und alle hundert Jahre wird der Pakt mit dem Mondgott erneuert, mit Hilfe der Blume, die du gefunden hast.“

    „Wird sie wieder rauskommen?“, fragte Aya verunsichert.

    „Nicht, wenn du nun eine Weile schläfst.“

    Tatsächlich spürte sie ein seltsames Kribbeln in ihrem Körper. Sie nickte, doch sie glaubte nicht, dass sie würde einschlafen können. Nicht nach allem, was passiert war. Da trat Sora neben sie ans Bett, legte ihr die Hand auf die Stirn und kurz darauf glitt sie auch schon über in die Welt des Schlafes.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hey RenLi,

    das war gelungen! :thumbsup:

    Die Situation am Ess-Tisch und die seltsamen Andeutungen, die da gemacht wurden...ich kann Ayas Verwirrung förmlich spüren und nachempfinden.

    Mir gefällt die Geschichte rund um den Mondgott sehr gut und auch, wie Sora das Ganze erzählt, ohne Partei zu ergreifen oder das Verhalten des Gottes zu verurteilen. Er ist so herrlich charakterisiert... irgendwie unnahbar auf der einen Seite aber auch fürsorglich und sanft auf der anderen.

    Mal sehen, was der nächste Tag so bringt...ich glaube so langsam, mich erinnern zu können. ;(

    Seine Augen hatten einen Glanz, der sei verzauberte und sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick zu seinen fein geschwungenen Lippen wanderte.

    sie

    LG,

    Rainbow

  • RenLi Ich möchte mich Rainbow s Worten anschließen.

    Nur beim Lesen bin ich hier drüber gestolpert. Mag an mein Verständniss liegen

    Ich sollte nicht an den Göttern zweifeln, schalt sie sich.

    Mit dem Wort kann ich nichts anfangen. Ist das ein anderes Wort für sich selber rügen oder sowas in der Art?

    Es ist gemein, das alle anderen schon wissen was passieren wollen und an Sora scheinbar zweifeln. Und Aya möchte wohl auch nicht wissen was auf sie zukommt und ist mit den anderen Gegebenheiten völlig abgelenkt.
    Aber ich bekomme jetzt schon eine Gänsehaut, wenn ich mir vorstelle wie es weiter geht nach der Geschichte.

    Mach weiter so. :D

  • Hallo zusammen


    Danke fürs Lesen! Das war schon der 2. letzte Teil. Als nächstes kommt der Schluss. Ich dachte, "schelten" sei ein deutsches Wort. Da ich aus der Schweiz komme, schleichen sich bei mir manchmal schweizerdeutsche Wörter ein :blush: gut möglich, dass ich da was reingeschmuggelt habe.

    Oh, wie ich die Dramatik liebe :D Deshalb gefällt mir die Geschichte auch. Drama und Geheimniskrämerei...

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    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Gefaellt mir von der Stimmung ganz gut - ab und an wuerde ich mir ein bisschen mehr Beschreibung und Details wuenschen (wie schaut denn das Kloster aus? Wie sieht die Landschaft um das Dorf aus?), aber ueber weite Strecken liest es sich sehr angenehm - ab und an sind schoene Szenen drin die die Erwartung etwas brechen, etwa die Frage was man tun wuerde wenn man noch einen Tag haette.

    Hier ein paar Dinge die mir noch aufgefallen sind:


    Die Blume pochte, entzog Aya Kraft, um sich zur Wehr zu setzen

    Finde ich an der Stelle zu reflektiert - Aya bekommt vielleicht mit dass sie sich schwach fuehlt, aber dass sie in der Szene - in der sie ja panisch ist - noch rausbekommt warum die Blume ihr Kraft entzieht, das finde ich zu genau erklaert.

    Er legte die Hände aneinander, murmelte ein Mantra.

    Ich bin mir fast sicher dass es im Stil des Genres ein Sutra sein sollte (normalerweise werden die gegen Daemonen rezitiert und gelten als effektiv weil es die Worte Buddha's sind) - ein Mantra ist eine (oft bedeutungslose) Phrase die als Meditationshilfe immer wieder und wieder gesprochen wird um den Kopf leer zu bekommen.

    Ein Dorfmädchen wie du solltest eigentlich gar nicht von ihrer Existenz wissen.

    Ist aber bei einer leuchtenden Pflanze im Wald irgendwie auch schwer geheim zu halten, oder?

    Die Blume wächst nur alle einhundert Jahre, genau an der Stelle, an welcher du sie gefunden hast.

    Okay, das wirft fuer mich jetzt die Frage auf - wenn die Blume so essentiell fuer's Kloster ist weil der Baum sie braucht, und wenn sie so selten blueht - warum ist dann nur ein Novize vor Ort der sie noch nicht mal ordentlich bewacht, statt dass die Moenche da zwei Wochen im Wald campen, des wichtigen Ereignisses wegen?

    Irgendwie ignorieren sie das zentrale Ereignis im Klosterleben voellig...

    Vater Kenzo nickte.

    Ich wuerde denken dass 'Vater' eher in westliche Klostergemeinschaften gehoert - Zen-Moenche reden eigentlich eher von 'Meister' oder 'Lehrer' (Sensei haette ich im Original vermutet...)

    Verärgert stellte sie fest, dass ihre Hand leicht zitterte, als sie den Löffel anhob, um einen Bissen zum Mund zu führen.

    In Japan nimmt man sehr selten Loeffel, und wenn dann eher nur fuer Suppe - Reis wird mit Staebchen gegessen.

    Ich dachte, "schelten" sei ein deutsches Wort.

    Ist es auch - ich kenn' das schon auch. Es ist ein bisschen altertuemlich, kommt aber viel in Grimm's Maerchen vor - spezifisch schweizerisch ist das nicht.:)

    Okay, dann sehen wir mal wie Du die Geschichte aufloest...

  • Hi Thorsten

    Uii, ganz viele tolle Anmerkungen! Dank, das ist super :D Ich werd den Unterschied zwischen Mantra und Sutra nochmals googeln, damit ich die Worte besser einsetzen kann.

    Und klar, Stäbchen, dass ich das vergessen habe. Bin allzu leicht in eigene Gewohnheiten verfallen.

    Aber von vorne:

    Genau, dass die Blume ihr Kraft entzieht, um sich zur Wehr zu setzen, das versteht Aya kaum. Ich finde die Information allerdings für die Lesenden wichtig, deshalb hab ich das reingenommen. Es gibt in Büchern ja oft Anmerkungen, die über das Wissen der Hauptfigur hinausgehen. Ich schreibe zwar oft so nahe an den Personen dran, dass auch die Lesenden nur mitbekommen, was die Figur im Buch mitbekommt, aber das bringt immer wieder ein paar Schwierigkeiten mit sich. Deshlab versuche ich, einen etwas distanzierteren Schreibstil zu entwickeln...

    Deine wohl tiefgreifenste Bemerkung: warum schlagen die Mönche da kein Camp auf, wo die Blume wächst? Das hab ich mir zugegebener Massen selbst noch nicht erklären können. Sicher ist, dass die Blume nicht immer an demselben Ort wächst. Vielleicht kann man nur kurz vor ihrem Erblühen herausfinden - durch Meditation oder etwas ähnlichem - wo die Blume in jener Vollmondnacht erblühen wird. Das heisst, die Mönche verteilen sich in der Region, um möglichst schnell vor Ort zu sein. Das würde erklären, warum Sora als Einziger da ist. Aber dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand Aya sagen konnte, wo sie die Blume finden kann. Tja, da muss ich nochmals drüber. Für Aya ist es uninteressant, aber für den Sinn der Geschichte natürlich wichtig.

    Klaro, aus Vater wird Meister oder Sensei. Da bin ich wohl in meiner anderen Geschichte hängen geblieben...

    Und zum Schluss noch danke für die "Schelte"-Erklärung. :D Ich lasse sie also drin.

    Ich hoff, dir gefällt der Schluss.

    Lg, RenLi

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi