Hallo zusammen
Die Geschichte spielt in einem ländlichen Dorf in Japan, oder vielmehr in dem Kloster in der Nähe. Sie beschreibt das ebenso dramatische wie romantische Aufeinandertreffen von einem jungen Mädchen und einem Novizen des Klosters. Mehr verrate ich nicht, denn die Geschichte ist so kurz, dass jeder weitere Satz zu viel verraten würde.
Viel Spass beim Lesen!
An deiner Stelle (Teil 1)
Es war verboten in der Nacht noch unterwegs zu sein. Nie zuvor hatte Aya diese Regel missachtet, doch nun stand sie mit klopfendem Herzen an der Tür und schaute durch einen schmalen Spalt nach draußen in die nächtliche Finsternis. Zwei schwankend Lichtpunkte verrieten die beiden Samurai, welche mit ihren Laternen ihre Runden durch das Dorf drehten. Ihnen wollte Aya auf keinen Fall begegnen. Sie wartete, bis die Männer um eine Ecke verschwanden und ihre leisen Stimmen nicht mehr zu hören waren.
Aya schlüpfte nach draußen, schob die Tür leise hinter sich zu. Zum Glück befand sich das Haus ihrer Familie gleich am Waldrand; nach ein paar Schritten wurde sie bereits von den Schatten der Bäume verschluckt. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie war fest entschlossen, die Sache durchzuziehen. Im Schutz der Bäume fühlte sie sich sicherer. Trotzdem warf sie immer wieder Blicke über die Schulter, in der Angst entdeckt zu werden. Doch sie hatte keine Zeit, sich um mögliche Verfolger zu sorgen. Die Uhr tickte. Wer konnte schon sagen, wie lange ihre Mutter noch durchhalten würde! Der Gedanke an ihrer Mutter trieb Aya an, sie achtete kaum auf die Dornen, die ihre Haut zerkratzten oder die Kletten, die sich in ihrem Haar verfingen. Die Blume, sie musste sie erreichen, bevor jemand anderes sie vor ihr pflückte!
Aya erklomm einen Hang und blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Der Arzt hatte ihr den Weg gezeigt, doch im Dunkeln war sie sich nicht mehr sicher. Aya fluchte frustriert, rannte weiter. Da bemerkte sie ein blaues, schimmerndes Licht, das zwischen den Blättern und Sträuchern hindurchsickerte.
Das ist sie!, dachte sie erleichtert und mit neuem Mut kämpfte sie sich durch ein Dornengestrüpp, bis sie eine kleine Lichtung erreichte. Am Rand blieb sie stehen.
Mitten auf der Wiese stand eine Blume. Das Licht des Vollmonds fing sich in ihrer Blüte, wurde in mystisch glitzerndem Blau zurückgeworfen. Der Anblick hatte etwas Heiliges. Für einen Moment vergaß Aya ganz, weshalb sie hergekommen war. Andächtig betrachtete Aya die Blume, wagte sich langsam näher zu gehen.
Mit klopfendem Herzen kniete sie sich nieder. Ihre Hand zitterte, als sie sich nach dem zarten Hals der Blüte ausstreckte. Ihre Finger berührten den von feinen, silbern leuchtenden Haaren besetzten Stiel. Er war leicht warm. Erschrocken zuckte sie zurück – sie hatte ein Pulsieren gespürt! Wie von einem schlagenden Herzen. Aya schluckte einmal trocken und riss sich zusammen.
Ich muss sie pflücken!, spornte sie sich selbst an. Sie ist meine letzte Chance, meine Mutter zu retten!
Sie zog den Ärmel ihres Gewandes nach vorne, bedeckte damit ihre Finger, kniff die Augen zusammen, griff nach der Blume und riss sie mit einer schnellen Bewegung aus der Erde. Durch den Stoff hindurch fühlte sie das Pulsieren der Blume.
Das war einfacher als gedacht, dachte sie und atmete erleichtert aus.
So eine seltsame und gleichzeitig wunderschöne Blume hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Doch sie hatte keine Zeit zu verlieren, sie musste sie schnell zu ihrer kranken Mutter bringen.
Als sie sich jedoch daran machte die Lichtung zu verlassen, begann der Pulsschlag der Blume plötzlich schneller zu werden. Wütend pochte er gegen Ayas Finger. Erschrocken beobachtete Aya wie die Blüte sich dunkel verfärbte und sich in ein glühendes Rot verwandelte. Sie ließ die Blume los, doch sie schien an ihrer Hand festzukleben. In dem Moment krachte etwas auf die Lichtung, keine zwei Schritte von ihr entfernt.
Aya schrie und taumelte zurück. Ihre Hand brannte, wo die Blume sie berührte. Das Ding vor ihr richtete sich auf. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, was es war. Es war zumindest menschenähnlich, aber die Schultern waren viel zu breit, die Arme zu lang und muskulös, die Haut schwarz. Es brüllte, drehte sich zu ihr um. Rot flammende Augen starrten ihr entgegen. Aya war wie festgenagelt, konnte nicht wegsehen. Der brennende Schmerz jagte ihren Arm hinauf und weckte sie aus ihrer Lähmung. Sie drehte sich um, rannte los. Zurück in den Wald. Sie sah auf ihren Arm. Die Wurzeln der Blume hatten sich um ihren Arm geschlungen, wuchsen an ihm entlang, brannten sich wie Nesseln in ihre Haut. Schreiend versuchte sie, die Pflanze abzuschütteln, kratzte und zerrte, doch es half nichts. Aya trat in ein Loch im Boden, blieb mit dem Fuß hängen und fiel der Länge nach hin.
Sie hörte das Monster hinter sich. Es warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, drückte sie zu Boden. Die Luft wurde aus Ayas Brustkorb gepresst und sie glaubte, ihre Rippen müssten jeden Moment brechen. Mit seinen seltsamen, klauenartigen Fingern griff das Ungetüm nach der Blume. Funken stoben, das Monster brüllte vor Schmerz und sprang zurück. Die Blume pochte, entzog Aya Kraft, um sich zur Wehr zu setzen. Aya nutzte den Moment und befreite ihren Fuß aus dem Erdloch. Sie wollte weiterrennen, doch jemand versperrte ihr den Weg. Ein Mensch. Ein Junge?
„Weg da!“, schrie sie, doch er packte sie und drückte sie nach unten.
Schon wieder schlug sie auf dem feuchten Waldboden auf. Sie hob benommen den Kopf. Das Monster kam auf allen Vieren angerannt. Der Junge streifte seine Kapuze ab, ein geschorener Kopf kam zum Vorschein. Er gehörte also zum Kloster! Wollte auch er die Blume haben?
Er legte die Hände aneinander, murmelte ein Mantra. Das Monster wurde von einem hellen Lichtstrahl zurückgeworfen. Es prallte gegen den Stamm eines Baumes, der gefährlich krachte, als wolle er gleich brechen. Der Junge betete weiter und Schlingpflanzen wuchsen schlängelnd aus der Erde, wickelten sich um das Monster, fesselten es an den Baumstamm.
Aya hatte genug gesehen, sie sollte verschwinden. Doch sie konnte nicht aufstehen. Erst jetzt bemerkte sie die Schlingen, die sich auch um ihre Glieder gewunden hatten. Sie versuchte, sich zu befreien, doch es war unmöglich. Inzwischen hatte der Junge sich dem Monster bis auf Armeslänge genähert. Ein geheimnisvolles Leuchten ging von seiner Haut aus, während er seine Gebetskette durch die Finger gleiten ließ, noch immer murmelnd. Das Monster schrie, warf sich hin und her. Es musste unerträgliche Schmerzen leiden.
Aya zerrte an den Fesseln. So wollte sie nicht enden! Doch der Junge war nicht ihre dringlichste Sorge. Die Wurzeln hatten nun ihren Hals erreicht. Wie feine Nadeln bohrten sich die Wurzeln in ihre Haut, drangen tiefer und tiefer in sie ein. Die Blume leuchtete verräterisch, dann wurde Aya schwarz vor den Augen.
(P.S. Falls jemandem die Geschichte bekannt vorkommt: Ich hab die Kurzversion davon mal im Schreibwettbewerb verwendet.)