Inhaltsangabe
Bashkim ist der unterbezahlte Chauffeur einer Magierin mit einem Alkoholproblem, Absinthe der erste Flieger für die Pariser Polizei und auf dem besten Weg Karriere zu machen. Beide Männer führen unterschiedliche Leben und verfolgen unterschiedliche Ziele, geraten aber auf der Suche nach Antworten in den gleichen Ärger. Es gibt Dinge, die man lieber nicht wissen sollte - und Fragen, die man nicht stellt. (Urban Fantasy)
- AB 16 JAHREN
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KAPITEL 1
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Bashkims Nacht war endgültig im Eimer, als ein Wasserspeier auf dem Dach der nagelneuen S-Klasse Limousine seines Arbeitgebers landete. Die Hydraulik des Mercedes ächzte leidend, als die nachtschwarze Karosserie wie eine leere Coladose zerdrückt wurde. Die Karre war innerhalb einer einzigen Sekunde komplett im Arsch.
»Hey«, sagte Bashkim. »Mein Auto.«
Wobei es nicht wirklich sein Auto war, von dieser Luxuskarosse könnte er sich nicht einmal einen Reifen leisten, aber sein Boss würde ihn persönlich für diese Katastrophe verantwortlich machen. Madame Bonfils war selbst für eine Magierin eine echte Bitch. Glas knirschte unter seinen sauber polierten Lederschuhen, als er sich dem demolierten Fahrzeug näherte. Die Windschutzscheibe und die getönten Fenster waren nur noch eine Erinnerung.
»Is‘ nicht meine Schuld, Kumpel.« Der Wasserspeier landete schwerfällig auf der Straße. Kaum hatte er seinen Körper von der zerbeulten Karosserie runtergewuchtet, federte der Mercedes ächzend in die Höhe. »Wer von uns hat denn hier im Halteverbot geparkt, hä? Direkt vor ner Ausfahrt, wie der letzte Arsch? So etwas nenn‘ ich Karma, Kumpel. K-a-r-m-a.«
Bashkim spürte, wie er langsam aber sicher Migräne bekam. Er tastete seine Anzugshose nach dem zerbeulten Zigarettenpäckchen ab, das er stets bei sich trug. Es war ein magisches Päckchen. Egal wie oft er sich daraus auch einen leicht zerdrückten Glimmstängel fischte, es wurde niemals leer. Die einzig wunderbare Sache in dieser magischen Scheißwelt.
»Weißt du, wem die Karre gehört?«, fragte Bashkim, während er sich eine Zigarette anzündete. Er schrie den Wasserspeier nicht an, sondern klang wie ein Mann, der lediglich nach dem Weg fragte. Bashkim war kein Choleriker. Wenn er eine Sache als Chauffeur gelernt hatte, dann war es die Nerven zu behalten. Seine Wut runterzuschlucken, wie ein halb gelutschtes Bonbon. Zudem konnte er auch gar nicht schreien. Es war nur einer ihm wohlgesonnenen Hexe zu verdanken, dass er überhaupt noch eine Stimme hatte. »Sag schon, Steinfresse. Weißt du’s?«
Die Hinterhufe des Wasserspeiers klickten laut über den Asphalt, als das Wesen einmal um das demolierte Auto herumwanderte. Die groteske Fratze zeigte keinerlei Regung, als der Steintroll rechthaberisch verkündete:
»Mir doch egal. Du hast hier geparkt. Nicht ich.«
Bashkim zog kräftig an seiner Zigarette. Er starrte den Wasserspeier ausdruckslos an. Das Geschöpf starrte zurück.
»Außerdem«, sagte der Zerstörer der neusten S-Klasse langgezogen, »habe ich eine Nachricht für dich. Express.«
»Wusste nicht, dass der Pariser Express neuerdings so reinkracht.«
Der Wasserspeier bleckte zwei Reihen scharfer Zähne. Er war ganz eindeutig kein Freund von schlechten Witzen. »Bashkim Krasniqi?«, fragte er förmlich. »Bitte bestätigen.«
Bashkim zog erneut an seiner Zigarette. Langsam stieß er den Qualm durch die Nasenlöcher wieder aus.
»Was passiert, wenn ich jetzt einfach NEIN sage?«
»Dann breche ich dir die Beine und frage nochmal.«
»Verstehe.«
Wieder starrten sich Mensch und Wasserspeier an.
»Bestätige«, sagte Bashkim schließlich. Ein kaputter Neuwagen reichte. Da bedurfte es nicht auch noch an zertrümmerten Knochen. Zudem mochte Bashkim seine Knochen. Es waren gute Knochen. Gute Beine.
Der Wasserspeier nickte, dann stieß er ein unschönes Würgen aus. Er erbrach eine kleine Papierrolle, fest verschnürt und mit einem Siegelwachs verschlossen. »Nachricht überbracht«, sagte er und hob die Post nicht auf, sondern streckte eine steinerne Klaue aus. Bashkim musste gegen den Drang ankämpfen, seine Zigarette darauf auszudrücken.
»Fahr zur Hölle«, sagte Bashkim tonlos und riss sich ein Haar aus seiner linken Augenbraue aus. Diesen Teil hasste er besonders bei der Postzustellung. Die meisten Menschen verwendeten ihr Kopfhaar, wobei es bestimmt genug Komiker gab, die sich an kreativeren Stellen bedienten, jedoch trug Bashkim die Haare seit Jahren auf wenige Millimeter kurzrasiert.
»Und sag dem Absender, er soll aufhören mich zu nerven. Ich habe bald keine Augenbrauen mehr.«
Der Wasserspeier öffnete seinen riesigen Mund und Bashkim ließ das Haar in den dunklen und steinernen Schlund fallen. Das Steinwesen schluckte. »Zustellung erfolgreich. Der Rest ist jetzt dein Problem, Kumpel. Schöne Nacht noch.«
Mit klackenden Hufen entfernte sich der Bote und machte sich daran, die nächstgelegene Hauswand hinaufzuklettern, wobei er es sich nicht nehmen ließ, auf einem kleinen Balkon ein paar Blumentöpfe mit vertrockneten Pflanzen zu fressen. Bashkims Blick wanderte zwischen der auf dem Boden liegenden Nachricht und der zerstörten Limousine hin und her.
Er bezweifelte stark, dass es eine schöne Nacht werden würde.
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Madame Bonfiles war wie zu erwarten nicht sonderlich begeistert.
Wobei es unmöglich war, unter den Tonnen von Make-up irgendeine Regung zu erkennen. Generell war kaum auzumachen, was von Madame Bonfiles mehr ins Auge stach. Ihre kreischend bunte Kleidung – oder ihr verstörend buntes Gesicht. Sein Boss erinnerte Bashkim immer ein wenig an einen dieser Schmink- und Frisurköpfe, an den sich kleine und bösartige Mädchen abreagiert hatten.
»Ein Ersatzwagen«, klagte Madame Bonfiles, kaum hatte sie ihren Hintern auf die Rückbank des vom Service zur Verfügung gestellten Leihwagen gepflanzt. »Da geht man einmal auf Spendengalas und was ist der Dank? Steinerne Faschisten, die einem den geliebten Neuwagen zerstören. Es gibt einfach zu viele Wasserspeier in dieser Stadt.«
Bashkim sagte nichts. Ein guter Chauffeur hielt stets den Mund und wurde hinter dem Lenkrad unsichtbar.
»Furchtbare Zeiten.« Madame Bonfiles nahm ihren Kopfschmuck ab, der beinahe an die Decke des Leihwagens stieß. Seit einigen Monaten waren ausgefallene Hüte wieder bei der Damenwelt modern. Je spitzer und ausgefallener, umso besser. »Und dann immer diese Unruhen. Alle jammern nach mehr Geld, aber keiner will mehr arbeiten. Wir haben Steinkreaturen und Goblins in der Postzustellung. Als wäre Paris nicht schon voll genug von Verrückten.«
Bashkim fuhr ohne hinzusehen. Waren die Straßen Paris für die meisten Menschen ein einziger Alptraum, waren sie ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Zudem hatte der Notfall-Autoservice sorgsam darauf geachtet, einen Leihwagen mit einer entsprechenden Kennzeichnung zur Verfügung zu stellen. Madame Bonfiles hätte sie vermutlich alle auf der Stelle verklagt, wenn sie einen Ersatzwagen ohne ein magisches Nummernschild bekommen hätte.
In das klapprige Auto eines Normalverdieners krachte der durchschnittliche Franzose gnadenlos rein, aber in das Auto eines Magiers? Niemals. Magier waren nicht nur magisch, sondern in der Regel besser versichert, hatten an jedem Finger zehn Anwälte und genug Zeit und Energie, sich über alles und jeden zu beschweren. Kurzum: Magier waren allesamt verfluchte Karens*.
»Sagen Sie mal, schlafen Sie hinter dem Lenkrad? Ich muss in zehn Minuten auf der nächsten Gala sein.« Madame Bonfiles tippte kurz auf ihrem Smartphone herum. Das klickende Geräusch ihrer langen Fingernägel kribbelte unangenehm in Bashkims Nacken. An das magische Nummernschild hatte die Männer vom Service gedacht, aber leider nicht an eine hochfahrbare Trennwand. Bashkim vermisste die ausgebaute S-Klasse jetzt schon.
Madame Bonfiles seufzte. »Meine Güte, wie sich der Verteidigungsminister wieder aufspielt. Überall sein hässliches Gesicht in den Medien. Und dieser Schnauzer. Wo nimmt er nur diese Dreistigkeit her?«
Bashkim setzte den Blinker, etwas, was die meisten Franzosen nicht taten und überholte einen vor ihm herfahrenden BMW. Es klingelte hinter ihm und da Telefongespräche im Auto nicht schon ätzend genug waren, stellte Madame Bonfiles ihre Anrufe aus Prinzip immer auf Lautsprecher.
»Schatz. Darling«, seufzte Madame Bonfiles, während sie einen Lippenstift und einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche zauberte. »Wieso bist noch wach? Hat dich das Fräulein etwa noch nicht ins Bett gebracht?«
Es knackte und raschelte in der Leitung.
»Ich habe keine Zeit zum Schlafen«, sagte eine trotzige Kinderstimme. »Muss jagen. Vampire brauchen Blut.«
Madame Bonfiles seufzte das Seufzen einer Mutter, die jeden Tag aufs Neue feststellen musste, dass Kinder ernsthaft nerven konnten. Sie redeten Unsinn, machten Dreck und waren laut. Zudem fingen sie an, ihren eigenen und meist sehr trotzigen Willen zu entwickeln. Ganz zu schweigen von ihrer verrückten Fantasie ...
»Antoine, mein Schatz. Du bist kein Vampir.«
Ein lautes Fauchen erklang. Dann ein Kreischen.
»Mach das Licht aus, du fette Hure! Ich verbrenne!«
Im Hintergrund war eine müde Frauenstimme zu hören, die verzweifelt versuchte den schreienden Jungen zu beruhigen. Die Frau fluchte mehrmals.
»Antoine«, sagte Madame Bonfiles, während sie ihren Lippenstift sorgsam über die Lippen gleiten ließ. »Beißt du das Fräulein etwa wieder?«
»Madame Bonfiles«, erklang nun die atemlose Frauenstimme laut und klar. Das Zuknallen einer Tür war zu hören. »Bitte verzeihen Sie die Störung. Antoine ist heute wieder besonders unruhig.«
»Ich bin nicht taub, du dummes Ding. Ich habe seine Hysterie gehört. Gib ihm ein Glas Rotwein. Das beruhigt ihn.«
Stille.
»Madame-«
»Nichts da. Steck einen bunten Strohhalm rein und sag ihm, dass es Blut ist. Dann trinkt er das Zeug schneller als meine verfluchte Mutter ihren Beruhigungstrank.«
»Madame, Sie scherzen, nicht wahr?«
»Klinge ich, als würde ich scherzen? Ich habe noch eine sehr lange Nacht vor mir und wenn ich nach Hause komme, will ich meine Ruhe haben. Im Notfall gib ihm noch ein zweites Glas. Das sollte ihn bis morgen Mittag außer Gefecht setzen.«
»Madame, so etwas kann ich wirklich nicht -«
Mit einem Mal verstummte die Stimme des verstörten Kindermädchens. Madame Bonfiles hatte aufgelegt.
»Dummes Ding«, sagte sie. »Selbst keine Kinder, aber will mir ständig bei der Erziehung reinreden. So ein Neuling vom Lande. Ich hätte mir lieber jemand aus der Stadt suchen sollen. Die wissen wenigsten, wie man – meine Güte, Fahrer!«
Bashkim hatte ruckartig bremsen müssen, als ein Peugeot ohne Vorwarnung ausgeschert und ihn knapp geschnitten hatte.
»Mein Kindermädchen hat keine Ahnung von Kindern und mein Fahrer kann nicht fahren.« Madame Bonfiles schlug wütend ihren Spiegel zu. »Einmal mit Profis arbeiten. Nur einmal.«
Bashkim erwiderte darauf nichts. Er vermied generell jede Unterhaltung mit seinem Boss. Der Ersatzwagen rollte mit etwas Verspätung auf den Vorplatz des prunkvollen Gebäudes, in dem Gala Nr. 2 stattfand. Trotz dieser Unpünktlichkeit, die dem Verkehr zu verschulden war, war Madame Bonfiles nicht die Einzige, die jetzt erst ankam. Aus einer weißen Limousine vor ihnen stieg ein Magier mittleren Alters aus, der von den Organisatoren überschwänglich in Empfang genommen wurden. Es folgte eine Rolls Royce, aus der ein uralter Mann und eine junge Frau stiegen. Bashkim bremste hinter der Rolls Royce, stieg aus und ging einmal um den Wagen herum, um Madame Bonfiles die Tür zu öffnen. Kaum hatte er die Hintertür geöffnet, stürmte die Magierin ungeduldig heraus.
»Holen Sie mich in genau drei Stunden wieder ab!«, bellte Sie Bashkim zu, während sie den anderen Ankömmlingen giftige Blicke zuwarf. »Oh, und passen Sie dieses Mal besser auf das Auto auf. Wenn ich heute Nacht mit einem weiteren Ersatzwagen irgendwo vorfahren muss, verwandel ich Sie in eine Kröte.«
Dann rauschte sie mit klackenden Absätzen davon.
»Yo, Bashkim«, sagte der dunkelhäutige Fahrer der weißen Limousine, kaum waren die Magier im Gebäude verschwunden. »Lange nicht mehr gesehen. Wie geht’s, Kumpel?«
»Wie immer«, antwortete Bashkim und lehnte sich leicht gegen den Leihwagen. »Du fährst wieder für den Grafen? Ich dachte, er wäre ein rassistischer Idiot?«
Der Fahrer, Henri, lachte kurz.
»Ist er auch, aber ein rassistischer und zugekokster Idiot. Manchmal ist er so verballert, dass er mich zweimal bezahlt. Wer bin ich denn, um zu einer doppelten Entlohnung nein sagen zu können?«
»Gefährlich«, sagte George, ein weiterer Fahrer, der langsam näher kam. Er lockerte seine schwarze Krawatte. »Wenn der Graf kapiert, dass du ihn verarschst, dann sind deine Stunden gezählt. Es heißt, er hat seine Ex-Frau in Säure aufgelöst.«
»Nicht so laut!«, zischte der unbekannte Fahrer, der zu der Rolls Royce gehörte. Schien wohl so, dass man den alten Ronnie ersetzt hatte. Der Neue sah aus, als hätte er erst gestern seinen Führerschein gemacht. »Diese Autos sind verzaubert. Die hören, was wir sagen.«
»Sieh mal einer an.« Henri grinste breit. »Frischfleisch.«
»Wo is’n Ronnie?« George musterte den Jungen mürrisch. »Krank, oder gekickt? «
Der Junge sah aus, als würde er sich gleich übergeben. »Ich... kenne keinen Ronnie, Sir.«
»Sir«, äffte ihn George nach. Er verschränkte die Arme vor seiner voluminösen Brust. »Hört ihn euch an. Hast du überhaupt schon Haare am Sack?«
»Keine Sorge, Neuer.« Henri machte eine abwinkende Handbewegung. »Du gewöhnst dich schon noch an Georges liebreizende Art. Wie heißt du?«
»Julie.«
Die Männer sahen sich vielsagend an.
»Ju-lie.« George machte ein Gesicht, als würde er sich den Namen wie einen viel zu trockenen Rotwein auf der Zunge zergehen lassen. »Was’n Kackname.«
Julie sah aus, als würde er gleich weinen.
»Ärgert ihr Deppen etwa schon wieder einen Neuen?« Eine kleine Gestalt schob sich grob zwischen Bashkim und George. Dominique war vielleicht eine kleine Frau, aber sie kompensierte ihre fehlende Größe mit jeder Menge Wut. Bashkim mochte sie.
»Dom, ewig ist es her.« Henri verbeugte sich albern. »Männer, Anstand. Wir haben eine Lady unter uns.«
»Ich ramme dir gleich meine Faust ladylike in den Arsch, Henri. Und du, Neuer. Hör auf zu wimmern. Fährst also den alten Dekan durch die Gegend, huh?«
Julie nickte. »Ja, Madame. Ist heute mein erster Tag. Professor Morel ist ganz nett.«
»Ganz nett«, schnaubte Dominique. »Pass bei dem Greis auf, Junge. Unser Ronnie hatte es nicht immer leicht mit ihm. Diese Magier glauben alle, ihre Scheiße würde nicht stinken.«
Julie fummelte nervös an den Knöpfen seines Anzugs herum. »Ich denke, ich werde mit ihm auskommen«, sagte er. »Ich kann mir meine Pausen selbst einteilen und habe jeden zweiten Sonntag frei. Er riecht etwas streng, aber ich finde es cool, dass er mit seiner Enkelin zu einer Spendengala geht. Mein Opa hat nie irgendwas mit mir unternommen.«
Kurz herrschte Stille.
»Junge«, sagte Henri langsam. »Das ist nicht seine Enkelin.«
Auf Julies Gesicht brachen gleich mehrere Welten und Dynastien zusammen. »Aber...«, der junge Mann suchte fassungslos nach Worten. »Er ist so... und sie ist so...«
»Was beschwerst du dich?«, fragte George. »Wenn’s gut für dich läuft, legst du die Kleine in null Komma nichts hinten auf der Rückbank flach. So junge Frauen langweilen sich schnell mit ihren alten Säcken.«
Julie wurde knallrot.
»Armes Baby.« Dominique warf dem Jungen einen Flachmann zu. »Trink. Bis die da drin fertig sind, bist du längst wieder nüchtern.«
Bashkim rauchte schweigend, während sich die anderen Chauffeure über ihren Alltag unterhielten und sah gen Nachthimmel. Es hieß, nirgendwo würden die Sterne so hell leuchten wie über Paris. Absoluter Bullshit, da der Himmel über dieser Stadt ebenso trostlos war wie der ganze Rest. Paris war ein von Menschen erschaffenes Monster.
»Ich schlaf eine Runde«, verabschiedete er sich knapp bei den anderen Fahrern. »Man sieht sich.«
»Don’t be a stranger«, sagte Henri. »Machs gut, Kumpel.«
Die Lichter im Auto gingen an, kaum hatte Bashkim die Tür geöffnet und sich auf den Fahrersitz fallen lassen. Er kramte kurz im Handschuhfach, dann zog er die Papierrolle heraus. Mürrisch betrachtete er das Siegel.
Wieso kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Das Siegel brach wie das Rückgrat einer unglücklichen Fee. Bashkim kannte die ausladende und hektische Handschrift nur zu gut. Die Nachricht war kurz und in Albanisch verfasst.
Junge,
komm schnell. Wir haben nicht viel Zeit. Die Spuren sind frisch.
K.
Bashkim rollte die Nachricht wieder zusammen und schob sie in die Tasche seines Sakkos. Seine Finger trommelten eine unruhige Melodie auf das Lenkrad. Normalerweise ignorierte Bashkim diese Form von Post, aber die Worte klangen dringend. Zudem war es der zwölfte Brief innerhalb von einem Monat. Dieser alte Spinner war vielleicht einsam und verrückt, aber seine Hartnäckigkeit hatte ein völlig neues Level erreicht. Was, wenn der Alte tatsächlich eine Spur hatte? Wenn sich nach all den Jahren tatsächlich etwas regte?
Bashkim atmete tief ein und aus, wobei er den obersten Knopf seines Hemds öffnete und über die darunterliegende Haut rieb. Die Narbe war kaum zu fühlen, was er allein der Hexe in Dragash zu verdanken hatte. Was, wenn plötzlich alles, was Bashkim jemals haben wollte, wieder in greifbare Nähe rückte?
Blödsinn, dachte der vom Leben abgestumpfte Teil in ihm. Du bist inzwischen 36, Mann. Hast weder Familie, noch eine eigene Wohnung. Du haust in einer Pension mit Tagesmiete. Lass es sein. Scheiß drauf. Passiert ist passiert. Vorbei ist vorbei.
Doch der jugendliche Teil in ihm regte sich. Zorn und Wut vermischten sich zu einer unfassbaren Energie. Auf was wartest du?, drängte die nervige Stimme. Auf ein beschissenes Wunder? Der Alte ist vielleicht nicht ganz klar im Kopf, aber er ist ein Magier. Einer, der echt noch was drauf hat. Ohne ihn wärst du damals verreckt.
Bashkim schaltete die Innenbeleuchtung im Wagen aus und saß einige Momente reglos in der Dunkelheit. Er sah durch die Windschutzscheibe zu der Gruppe Fahrer, die sich gegen die weiße Limousine gelehnt immer noch unterhielten. Der Neue kippte hektisch den Flachmann. Vermutlich war George wieder auf den Krieg zu sprechen gekommen. Er hatte eigentlich kein anderes Thema mehr, seit sein jüngerer Bruder eingezogen worden und irgendwo in Zentralafrika verschwunden war.
Na los, drängte die Stimme. Starte den Motor und drücke auf’s Gas. Du könntest in knapp vierzig Minuten bei ihm sein. Wenn du es kurz hältst, bist du pünktlich wieder hier um Madame Kotzbrocken abzuholen. Die anderen Fahrer werden schon ihren Mund halten. Eine Hand wäscht die andere.
»Halte den Mund«, sagte Bashkim leise zu sich selbst. »Halte einfach deine Scheißfresse.«
Doch die Stimme wurde immer drängender. Immer lauter. Schließlich hielt es Bashkim nicht mehr aus.
Er startete den Motor.
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Anmerkungen:
*"Karen/s": Ein von der englischen Meme-Kultur geprägter (abwertender) Begriff für eine Frau, die meist als Kundin im Service- oder Einzelhandelbereich auf Vergütungen und Rechte beharrt, die in den meisten Fällen das übliche oder angemessene Maß weit übersteigen. "Karens" werden häufig mit der "can-I-speak-to-your-manager"-Frisur in Verbindung gebracht und drohen gerne damit, irgendwen zu verklagen.