Absinthe für die Lüfte

Es gibt 12 Antworten in diesem Thema, welches 4.055 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (9. August 2020 um 22:21) ist von Charon.

  • Inhaltsangabe

    Bashkim ist der unterbezahlte Chauffeur einer Magierin mit einem Alkoholproblem, Absinthe der erste Flieger für die Pariser Polizei und auf dem besten Weg Karriere zu machen. Beide Männer führen unterschiedliche Leben und verfolgen unterschiedliche Ziele, geraten aber auf der Suche nach Antworten in den gleichen Ärger. Es gibt Dinge, die man lieber nicht wissen sollte - und Fragen, die man nicht stellt. (Urban Fantasy)

    - AB 16 JAHREN


    ---╔◈╗---

    KAPITEL 1

    ---╚◈╝---

    Bashkims Nacht war endgültig im Eimer, als ein Wasserspeier auf dem Dach der nagelneuen S-Klasse Limousine seines Arbeitgebers landete. Die Hydraulik des Mercedes ächzte leidend, als die nachtschwarze Karosserie wie eine leere Coladose zerdrückt wurde. Die Karre war innerhalb einer einzigen Sekunde komplett im Arsch.

    »Hey«, sagte Bashkim. »Mein Auto.«

    Wobei es nicht wirklich sein Auto war, von dieser Luxuskarosse könnte er sich nicht einmal einen Reifen leisten, aber sein Boss würde ihn persönlich für diese Katastrophe verantwortlich machen. Madame Bonfils war selbst für eine Magierin eine echte Bitch. Glas knirschte unter seinen sauber polierten Lederschuhen, als er sich dem demolierten Fahrzeug näherte. Die Windschutzscheibe und die getönten Fenster waren nur noch eine Erinnerung.

    »Is‘ nicht meine Schuld, Kumpel.« Der Wasserspeier landete schwerfällig auf der Straße. Kaum hatte er seinen Körper von der zerbeulten Karosserie runtergewuchtet, federte der Mercedes ächzend in die Höhe. »Wer von uns hat denn hier im Halteverbot geparkt, hä? Direkt vor ner Ausfahrt, wie der letzte Arsch? So etwas nenn‘ ich Karma, Kumpel. K-a-r-m-a

    Bashkim spürte, wie er langsam aber sicher Migräne bekam. Er tastete seine Anzugshose nach dem zerbeulten Zigarettenpäckchen ab, das er stets bei sich trug. Es war ein magisches Päckchen. Egal wie oft er sich daraus auch einen leicht zerdrückten Glimmstängel fischte, es wurde niemals leer. Die einzig wunderbare Sache in dieser magischen Scheißwelt.

    »Weißt du, wem die Karre gehört?«, fragte Bashkim, während er sich eine Zigarette anzündete. Er schrie den Wasserspeier nicht an, sondern klang wie ein Mann, der lediglich nach dem Weg fragte. Bashkim war kein Choleriker. Wenn er eine Sache als Chauffeur gelernt hatte, dann war es die Nerven zu behalten. Seine Wut runterzuschlucken, wie ein halb gelutschtes Bonbon. Zudem konnte er auch gar nicht schreien. Es war nur einer ihm wohlgesonnenen Hexe zu verdanken, dass er überhaupt noch eine Stimme hatte. »Sag schon, Steinfresse. Weißt du’s?«

    Die Hinterhufe des Wasserspeiers klickten laut über den Asphalt, als das Wesen einmal um das demolierte Auto herumwanderte. Die groteske Fratze zeigte keinerlei Regung, als der Steintroll rechthaberisch verkündete:

    »Mir doch egal. Du hast hier geparkt. Nicht ich.«

    Bashkim zog kräftig an seiner Zigarette. Er starrte den Wasserspeier ausdruckslos an. Das Geschöpf starrte zurück.

    »Außerdem«, sagte der Zerstörer der neusten S-Klasse langgezogen, »habe ich eine Nachricht für dich. Express.«

    »Wusste nicht, dass der Pariser Express neuerdings so reinkracht.«

    Der Wasserspeier bleckte zwei Reihen scharfer Zähne. Er war ganz eindeutig kein Freund von schlechten Witzen. »Bashkim Krasniqi?«, fragte er förmlich. »Bitte bestätigen.«

    Bashkim zog erneut an seiner Zigarette. Langsam stieß er den Qualm durch die Nasenlöcher wieder aus.

    »Was passiert, wenn ich jetzt einfach NEIN sage?«

    »Dann breche ich dir die Beine und frage nochmal.«

    »Verstehe.«

    Wieder starrten sich Mensch und Wasserspeier an.

    »Bestätige«, sagte Bashkim schließlich. Ein kaputter Neuwagen reichte. Da bedurfte es nicht auch noch an zertrümmerten Knochen. Zudem mochte Bashkim seine Knochen. Es waren gute Knochen. Gute Beine.

    Der Wasserspeier nickte, dann stieß er ein unschönes Würgen aus. Er erbrach eine kleine Papierrolle, fest verschnürt und mit einem Siegelwachs verschlossen. »Nachricht überbracht«, sagte er und hob die Post nicht auf, sondern streckte eine steinerne Klaue aus. Bashkim musste gegen den Drang ankämpfen, seine Zigarette darauf auszudrücken.

    »Fahr zur Hölle«, sagte Bashkim tonlos und riss sich ein Haar aus seiner linken Augenbraue aus. Diesen Teil hasste er besonders bei der Postzustellung. Die meisten Menschen verwendeten ihr Kopfhaar, wobei es bestimmt genug Komiker gab, die sich an kreativeren Stellen bedienten, jedoch trug Bashkim die Haare seit Jahren auf wenige Millimeter kurzrasiert.

    »Und sag dem Absender, er soll aufhören mich zu nerven. Ich habe bald keine Augenbrauen mehr.«

    Der Wasserspeier öffnete seinen riesigen Mund und Bashkim ließ das Haar in den dunklen und steinernen Schlund fallen. Das Steinwesen schluckte. »Zustellung erfolgreich. Der Rest ist jetzt dein Problem, Kumpel. Schöne Nacht noch.«

    Mit klackenden Hufen entfernte sich der Bote und machte sich daran, die nächstgelegene Hauswand hinaufzuklettern, wobei er es sich nicht nehmen ließ, auf einem kleinen Balkon ein paar Blumentöpfe mit vertrockneten Pflanzen zu fressen. Bashkims Blick wanderte zwischen der auf dem Boden liegenden Nachricht und der zerstörten Limousine hin und her.

    Er bezweifelte stark, dass es eine schöne Nacht werden würde.

    ---

    Madame Bonfiles war wie zu erwarten nicht sonderlich begeistert.

    Wobei es unmöglich war, unter den Tonnen von Make-up irgendeine Regung zu erkennen. Generell war kaum auzumachen, was von Madame Bonfiles mehr ins Auge stach. Ihre kreischend bunte Kleidung – oder ihr verstörend buntes Gesicht. Sein Boss erinnerte Bashkim immer ein wenig an einen dieser Schmink- und Frisurköpfe, an den sich kleine und bösartige Mädchen abreagiert hatten.

    »Ein Ersatzwagen«, klagte Madame Bonfiles, kaum hatte sie ihren Hintern auf die Rückbank des vom Service zur Verfügung gestellten Leihwagen gepflanzt. »Da geht man einmal auf Spendengalas und was ist der Dank? Steinerne Faschisten, die einem den geliebten Neuwagen zerstören. Es gibt einfach zu viele Wasserspeier in dieser Stadt.«

    Bashkim sagte nichts. Ein guter Chauffeur hielt stets den Mund und wurde hinter dem Lenkrad unsichtbar.

    »Furchtbare Zeiten.« Madame Bonfiles nahm ihren Kopfschmuck ab, der beinahe an die Decke des Leihwagens stieß. Seit einigen Monaten waren ausgefallene Hüte wieder bei der Damenwelt modern. Je spitzer und ausgefallener, umso besser. »Und dann immer diese Unruhen. Alle jammern nach mehr Geld, aber keiner will mehr arbeiten. Wir haben Steinkreaturen und Goblins in der Postzustellung. Als wäre Paris nicht schon voll genug von Verrückten.«

    Bashkim fuhr ohne hinzusehen. Waren die Straßen Paris für die meisten Menschen ein einziger Alptraum, waren sie ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Zudem hatte der Notfall-Autoservice sorgsam darauf geachtet, einen Leihwagen mit einer entsprechenden Kennzeichnung zur Verfügung zu stellen. Madame Bonfiles hätte sie vermutlich alle auf der Stelle verklagt, wenn sie einen Ersatzwagen ohne ein magisches Nummernschild bekommen hätte.

    In das klapprige Auto eines Normalverdieners krachte der durchschnittliche Franzose gnadenlos rein, aber in das Auto eines Magiers? Niemals. Magier waren nicht nur magisch, sondern in der Regel besser versichert, hatten an jedem Finger zehn Anwälte und genug Zeit und Energie, sich über alles und jeden zu beschweren. Kurzum: Magier waren allesamt verfluchte Karens*.

    »Sagen Sie mal, schlafen Sie hinter dem Lenkrad? Ich muss in zehn Minuten auf der nächsten Gala sein.« Madame Bonfiles tippte kurz auf ihrem Smartphone herum. Das klickende Geräusch ihrer langen Fingernägel kribbelte unangenehm in Bashkims Nacken. An das magische Nummernschild hatte die Männer vom Service gedacht, aber leider nicht an eine hochfahrbare Trennwand. Bashkim vermisste die ausgebaute S-Klasse jetzt schon.

    Madame Bonfiles seufzte. »Meine Güte, wie sich der Verteidigungsminister wieder aufspielt. Überall sein hässliches Gesicht in den Medien. Und dieser Schnauzer. Wo nimmt er nur diese Dreistigkeit her?«

    Bashkim setzte den Blinker, etwas, was die meisten Franzosen nicht taten und überholte einen vor ihm herfahrenden BMW. Es klingelte hinter ihm und da Telefongespräche im Auto nicht schon ätzend genug waren, stellte Madame Bonfiles ihre Anrufe aus Prinzip immer auf Lautsprecher.

    »Schatz. Darling«, seufzte Madame Bonfiles, während sie einen Lippenstift und einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche zauberte. »Wieso bist noch wach? Hat dich das Fräulein etwa noch nicht ins Bett gebracht?«

    Es knackte und raschelte in der Leitung.

    »Ich habe keine Zeit zum Schlafen«, sagte eine trotzige Kinderstimme. »Muss jagen. Vampire brauchen Blut.«

    Madame Bonfiles seufzte das Seufzen einer Mutter, die jeden Tag aufs Neue feststellen musste, dass Kinder ernsthaft nerven konnten. Sie redeten Unsinn, machten Dreck und waren laut. Zudem fingen sie an, ihren eigenen und meist sehr trotzigen Willen zu entwickeln. Ganz zu schweigen von ihrer verrückten Fantasie ...

    »Antoine, mein Schatz. Du bist kein Vampir.«

    Ein lautes Fauchen erklang. Dann ein Kreischen.

    »Mach das Licht aus, du fette Hure! Ich verbrenne!«

    Im Hintergrund war eine müde Frauenstimme zu hören, die verzweifelt versuchte den schreienden Jungen zu beruhigen. Die Frau fluchte mehrmals.

    »Antoine«, sagte Madame Bonfiles, während sie ihren Lippenstift sorgsam über die Lippen gleiten ließ. »Beißt du das Fräulein etwa wieder?«

    »Madame Bonfiles«, erklang nun die atemlose Frauenstimme laut und klar. Das Zuknallen einer Tür war zu hören. »Bitte verzeihen Sie die Störung. Antoine ist heute wieder besonders unruhig.«

    »Ich bin nicht taub, du dummes Ding. Ich habe seine Hysterie gehört. Gib ihm ein Glas Rotwein. Das beruhigt ihn.«

    Stille.

    »Madame-«

    »Nichts da. Steck einen bunten Strohhalm rein und sag ihm, dass es Blut ist. Dann trinkt er das Zeug schneller als meine verfluchte Mutter ihren Beruhigungstrank.«

    »Madame, Sie scherzen, nicht wahr?«

    »Klinge ich, als würde ich scherzen? Ich habe noch eine sehr lange Nacht vor mir und wenn ich nach Hause komme, will ich meine Ruhe haben. Im Notfall gib ihm noch ein zweites Glas. Das sollte ihn bis morgen Mittag außer Gefecht setzen.«

    »Madame, so etwas kann ich wirklich nicht -«

    Mit einem Mal verstummte die Stimme des verstörten Kindermädchens. Madame Bonfiles hatte aufgelegt.

    »Dummes Ding«, sagte sie. »Selbst keine Kinder, aber will mir ständig bei der Erziehung reinreden. So ein Neuling vom Lande. Ich hätte mir lieber jemand aus der Stadt suchen sollen. Die wissen wenigsten, wie man – meine Güte, Fahrer!«

    Bashkim hatte ruckartig bremsen müssen, als ein Peugeot ohne Vorwarnung ausgeschert und ihn knapp geschnitten hatte.

    »Mein Kindermädchen hat keine Ahnung von Kindern und mein Fahrer kann nicht fahren.« Madame Bonfiles schlug wütend ihren Spiegel zu. »Einmal mit Profis arbeiten. Nur einmal.«

    Bashkim erwiderte darauf nichts. Er vermied generell jede Unterhaltung mit seinem Boss. Der Ersatzwagen rollte mit etwas Verspätung auf den Vorplatz des prunkvollen Gebäudes, in dem Gala Nr. 2 stattfand. Trotz dieser Unpünktlichkeit, die dem Verkehr zu verschulden war, war Madame Bonfiles nicht die Einzige, die jetzt erst ankam. Aus einer weißen Limousine vor ihnen stieg ein Magier mittleren Alters aus, der von den Organisatoren überschwänglich in Empfang genommen wurden. Es folgte eine Rolls Royce, aus der ein uralter Mann und eine junge Frau stiegen. Bashkim bremste hinter der Rolls Royce, stieg aus und ging einmal um den Wagen herum, um Madame Bonfiles die Tür zu öffnen. Kaum hatte er die Hintertür geöffnet, stürmte die Magierin ungeduldig heraus.

    »Holen Sie mich in genau drei Stunden wieder ab!«, bellte Sie Bashkim zu, während sie den anderen Ankömmlingen giftige Blicke zuwarf. »Oh, und passen Sie dieses Mal besser auf das Auto auf. Wenn ich heute Nacht mit einem weiteren Ersatzwagen irgendwo vorfahren muss, verwandel ich Sie in eine Kröte.«

    Dann rauschte sie mit klackenden Absätzen davon.

    »Yo, Bashkim«, sagte der dunkelhäutige Fahrer der weißen Limousine, kaum waren die Magier im Gebäude verschwunden. »Lange nicht mehr gesehen. Wie geht’s, Kumpel?«

    »Wie immer«, antwortete Bashkim und lehnte sich leicht gegen den Leihwagen. »Du fährst wieder für den Grafen? Ich dachte, er wäre ein rassistischer Idiot?«

    Der Fahrer, Henri, lachte kurz.

    »Ist er auch, aber ein rassistischer und zugekokster Idiot. Manchmal ist er so verballert, dass er mich zweimal bezahlt. Wer bin ich denn, um zu einer doppelten Entlohnung nein sagen zu können?«

    »Gefährlich«, sagte George, ein weiterer Fahrer, der langsam näher kam. Er lockerte seine schwarze Krawatte. »Wenn der Graf kapiert, dass du ihn verarschst, dann sind deine Stunden gezählt. Es heißt, er hat seine Ex-Frau in Säure aufgelöst.«

    »Nicht so laut!«, zischte der unbekannte Fahrer, der zu der Rolls Royce gehörte. Schien wohl so, dass man den alten Ronnie ersetzt hatte. Der Neue sah aus, als hätte er erst gestern seinen Führerschein gemacht. »Diese Autos sind verzaubert. Die hören, was wir sagen.«

    »Sieh mal einer an.« Henri grinste breit. »Frischfleisch.«

    »Wo is’n Ronnie?« George musterte den Jungen mürrisch. »Krank, oder gekickt? «

    Der Junge sah aus, als würde er sich gleich übergeben. »Ich... kenne keinen Ronnie, Sir.«

    »Sir«, äffte ihn George nach. Er verschränkte die Arme vor seiner voluminösen Brust. »Hört ihn euch an. Hast du überhaupt schon Haare am Sack?«

    »Keine Sorge, Neuer.« Henri machte eine abwinkende Handbewegung. »Du gewöhnst dich schon noch an Georges liebreizende Art. Wie heißt du?«

    »Julie.«

    Die Männer sahen sich vielsagend an.

    »Ju-lie.« George machte ein Gesicht, als würde er sich den Namen wie einen viel zu trockenen Rotwein auf der Zunge zergehen lassen. »Was’n Kackname.«

    Julie sah aus, als würde er gleich weinen.

    »Ärgert ihr Deppen etwa schon wieder einen Neuen?« Eine kleine Gestalt schob sich grob zwischen Bashkim und George. Dominique war vielleicht eine kleine Frau, aber sie kompensierte ihre fehlende Größe mit jeder Menge Wut. Bashkim mochte sie.

    »Dom, ewig ist es her.« Henri verbeugte sich albern. »Männer, Anstand. Wir haben eine Lady unter uns.«

    »Ich ramme dir gleich meine Faust ladylike in den Arsch, Henri. Und du, Neuer. Hör auf zu wimmern. Fährst also den alten Dekan durch die Gegend, huh?«

    Julie nickte. »Ja, Madame. Ist heute mein erster Tag. Professor Morel ist ganz nett.«

    »Ganz nett«, schnaubte Dominique. »Pass bei dem Greis auf, Junge. Unser Ronnie hatte es nicht immer leicht mit ihm. Diese Magier glauben alle, ihre Scheiße würde nicht stinken.«

    Julie fummelte nervös an den Knöpfen seines Anzugs herum. »Ich denke, ich werde mit ihm auskommen«, sagte er. »Ich kann mir meine Pausen selbst einteilen und habe jeden zweiten Sonntag frei. Er riecht etwas streng, aber ich finde es cool, dass er mit seiner Enkelin zu einer Spendengala geht. Mein Opa hat nie irgendwas mit mir unternommen.«

    Kurz herrschte Stille.

    »Junge«, sagte Henri langsam. »Das ist nicht seine Enkelin.«

    Auf Julies Gesicht brachen gleich mehrere Welten und Dynastien zusammen. »Aber...«, der junge Mann suchte fassungslos nach Worten. »Er ist so... und sie ist so...«

    »Was beschwerst du dich?«, fragte George. »Wenn’s gut für dich läuft, legst du die Kleine in null Komma nichts hinten auf der Rückbank flach. So junge Frauen langweilen sich schnell mit ihren alten Säcken.«

    Julie wurde knallrot.

    »Armes Baby.« Dominique warf dem Jungen einen Flachmann zu. »Trink. Bis die da drin fertig sind, bist du längst wieder nüchtern.«

    Bashkim rauchte schweigend, während sich die anderen Chauffeure über ihren Alltag unterhielten und sah gen Nachthimmel. Es hieß, nirgendwo würden die Sterne so hell leuchten wie über Paris. Absoluter Bullshit, da der Himmel über dieser Stadt ebenso trostlos war wie der ganze Rest. Paris war ein von Menschen erschaffenes Monster.

    »Ich schlaf eine Runde«, verabschiedete er sich knapp bei den anderen Fahrern. »Man sieht sich.«

    »Don’t be a stranger«, sagte Henri. »Machs gut, Kumpel.«

    Die Lichter im Auto gingen an, kaum hatte Bashkim die Tür geöffnet und sich auf den Fahrersitz fallen lassen. Er kramte kurz im Handschuhfach, dann zog er die Papierrolle heraus. Mürrisch betrachtete er das Siegel.

    Wieso kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?

    Das Siegel brach wie das Rückgrat einer unglücklichen Fee. Bashkim kannte die ausladende und hektische Handschrift nur zu gut. Die Nachricht war kurz und in Albanisch verfasst.

    Junge,

    komm schnell. Wir haben nicht viel Zeit. Die Spuren sind frisch.

    K.

    Bashkim rollte die Nachricht wieder zusammen und schob sie in die Tasche seines Sakkos. Seine Finger trommelten eine unruhige Melodie auf das Lenkrad. Normalerweise ignorierte Bashkim diese Form von Post, aber die Worte klangen dringend. Zudem war es der zwölfte Brief innerhalb von einem Monat. Dieser alte Spinner war vielleicht einsam und verrückt, aber seine Hartnäckigkeit hatte ein völlig neues Level erreicht. Was, wenn der Alte tatsächlich eine Spur hatte? Wenn sich nach all den Jahren tatsächlich etwas regte?

    Bashkim atmete tief ein und aus, wobei er den obersten Knopf seines Hemds öffnete und über die darunterliegende Haut rieb. Die Narbe war kaum zu fühlen, was er allein der Hexe in Dragash zu verdanken hatte. Was, wenn plötzlich alles, was Bashkim jemals haben wollte, wieder in greifbare Nähe rückte?

    Blödsinn, dachte der vom Leben abgestumpfte Teil in ihm. Du bist inzwischen 36, Mann. Hast weder Familie, noch eine eigene Wohnung. Du haust in einer Pension mit Tagesmiete. Lass es sein. Scheiß drauf. Passiert ist passiert. Vorbei ist vorbei.

    Doch der jugendliche Teil in ihm regte sich. Zorn und Wut vermischten sich zu einer unfassbaren Energie. Auf was wartest du?, drängte die nervige Stimme. Auf ein beschissenes Wunder? Der Alte ist vielleicht nicht ganz klar im Kopf, aber er ist ein Magier. Einer, der echt noch was drauf hat. Ohne ihn wärst du damals verreckt.

    Bashkim schaltete die Innenbeleuchtung im Wagen aus und saß einige Momente reglos in der Dunkelheit. Er sah durch die Windschutzscheibe zu der Gruppe Fahrer, die sich gegen die weiße Limousine gelehnt immer noch unterhielten. Der Neue kippte hektisch den Flachmann. Vermutlich war George wieder auf den Krieg zu sprechen gekommen. Er hatte eigentlich kein anderes Thema mehr, seit sein jüngerer Bruder eingezogen worden und irgendwo in Zentralafrika verschwunden war.

    Na los, drängte die Stimme. Starte den Motor und drücke auf’s Gas. Du könntest in knapp vierzig Minuten bei ihm sein. Wenn du es kurz hältst, bist du pünktlich wieder hier um Madame Kotzbrocken abzuholen. Die anderen Fahrer werden schon ihren Mund halten. Eine Hand wäscht die andere.

    »Halte den Mund«, sagte Bashkim leise zu sich selbst. »Halte einfach deine Scheißfresse.«

    Doch die Stimme wurde immer drängender. Immer lauter. Schließlich hielt es Bashkim nicht mehr aus.

    Er startete den Motor.

    ---------

    Anmerkungen:

    *"Karen/s": Ein von der englischen Meme-Kultur geprägter (abwertender) Begriff für eine Frau, die meist als Kundin im Service- oder Einzelhandelbereich auf Vergütungen und Rechte beharrt, die in den meisten Fällen das übliche oder angemessene Maß weit übersteigen. "Karens" werden häufig mit der "can-I-speak-to-your-manager"-Frisur in Verbindung gebracht und drohen gerne damit, irgendwen zu verklagen.

    Einmal editiert, zuletzt von N. Kalinina (7. August 2020 um 20:20)

  • Wie schön, N. Kalinina ist zurück!:hail:

    Natürlich musste ich mich sofort auf deinen Text stürzen. Dein amüsanter, herrlich direkter Schreibstil hat sich nicht geändert. Im Vergleich zur Halbmondlinge-Geschichte ist er etwas weniger vulgär, finde ich aber gut so.

    Den Klappentext musste ich mehrmals lesen - einige Formulierungen finde ich leicht unglücklich:

    Bashkim ist der unterbezahlte Chauffeur für eine Magierin mit einem Alkoholproblem,

    Ich würde ändern: *einer Magierin mit Alkoholproblem

    Das macht es prägnanter und knackiger.

    der erste Flieger

    Hier verstehe ich nicht, was du meinst? Ist er ein Pilot?

    Kommen wir nun zum Plot!

    Ich werfe dir hier mal ein paar Perlen in den Schlamm:

    Direkt vor ne’r Ausfahrt,

    ner

    Die Windschutzscheibe und die getönten Fenster waren nur noch eine Erinnerung.

    Das ist wirklich schön formuliert!^^

    »Sag schon, Steinfresse. Weißt du’s?«

    Die steinernen Hinterhufe des Wasserspeiers klickten laut über den Asphalt,

    Hier wiederholt sich, dass der Wasserspeier offenbar aus Stein besteht. Würde ich daher bei "die steinernen Hinterhufe" weglassen und möglicherweise ein anderes beschreibendes Adjektiv einfügen.

    stellte Madame Bonfiles ihre Anrufe aus Prinzip immer auf Lautsprecher.

    »Schatz. Darling«, seufzte Madame Bonfiles,

    Auch ist mir aufgefallen, dass du die gute Dame häufig bei ihrem Namen nennst, und das mehrmals hintereinander. Ein Personalpronomen oder eine Umschreibung ("Die Magierin") könnte Abhilfe schaffen. Generell - die Dame ist ja wirklich gruselig! Erst wollte ich anmerken, dass ihr Sohn doch unmöglich seine Gouvernante eine "Hure" nennen könnte, kann er - bei dieser Art von Erziehung - aber doch. :wein:

    Das Siegel brach wie das Rückgrat einer unglücklichen Fee.

    Ein besonderes Kleinod, das ich einfach nur hervorheben wollte, weil es so toll ist!

    Bashkim rollte die Nachricht wieder zusammen und schob sie in die Tasche seines Sakos.

    *Sakkos

    Auf was wartest du?, drängte die nervige Stimme.

    Ich würde hier formulieren: "Worauf wartest du?" Klingt eleganter.

    Anmerken wollte ich nur noch, dass ich erst spät gepeilt habe, dass das Setting Paris ist. Da Bashkim Chauffeur ist, würde es sich, um mehr Realität reinzubringen, anbieten, ein paar Pariser Straßen, Arrondissements, Sehenswürdigkeiten oder anderes zu erwähnen, an denen er vorbeifährt. So bekommt auch der Leser schneller ein Gefühl, wo die Geschichte spielt. Außerdem macht es den Job deines Protagonisten realistischer.

    Bashkim selbst konnte man ja jetzt in Grundzügen schon kennenlernen. Ich mag es, dass du einzelne Ausschnitte seines Charakters und Aussehens mitten in der Handlung preisgibst. Trotzdem würde ich mir noch ein bisschen mehr wünschen, zu erfahren wie er aussieht etc. Aber vielleicht kommt das ja im nächsten Abschnitt?

    Würde mich über mehr freuen! Abo ist jedenfalls gesetzt.

    LG

    Stadtnymphe

    Was ich schreibe: Eden

  • Hallo N. Kalinina ,

    da sind ja schöne derbe Formulierungen dabei, sehr erfrischend. :D

    Irgendwie gefällt mir Madame Bonfils, sie ist mir aufgrund ihrer unsympathischen Art doch irgendwie sympathisch, zumindest passt ihre Rolle gut mit ihrer Beschreibung zusammen.

    Hier noch ein paar Anmerkungen zum Text:

    Spoiler anzeigen

    »Hey«, sagte Bashkim. »Mein Auto.«

    Wobei es nicht wirklich sein Auto war, von dieser Luxuskarosse könnte er sich nicht einmal einen Reifen leisten, aber sein Boss würde ihn persönlich für diese Katastrophe verantwortlich machen.

    Ich würde ja noch mehr sagen als nur Hey, mein Auto. Ist für mich etwas zu wenig, trotz der nachfolgenden Beschreibungen, dass er nicht laut werden kann und auch gelernt hat, sich nicht all zu sehr aufzuregen.

    Wenn er eine Sache als Chauffeur gelernt hatte, dann war es die Nerven zu behalten.

    Für mich passt er zweite Teil vom Satz nicht so ganz, müsste da nicht Bezug zur "Sache" genommen werden? Also z.B. so: Wenn er eine Sache als Chauffeur gelernt hatte, dann die, dass er die Nerven behalten musste. :?:

    »Sag schon, Steinfresse. Weißt du’s?«

    Die steinernen Hinterhufe des Wasserspeiers klickten laut über den Asphalt, als das Wesen einmal um das demolierte Auto herumwanderte. Die groteske Fratze zeigte keinerlei Regung, als der Steintroll rechthaberisch verkündete:

    Okay, er ist aus Stein. ;)

    Magier waren allesamt verfluchte Karens*.

    Wenn das eine Abwertende Bezeichnung für Frauen ist, kann sie dann direkt übertragen werden und alle meinen, also auch Männer?

    An das magische Nummernschild hatten die Männer vom Service gedacht

    »Mach das Licht aus, du fette Hure! Ich verbrenne!«

    Sehr schön, besser kann man es nicht formulieren und bei der Mutter auch kein Wunder. :D

    und sah gen Nachthimmel

    Ich finde das liest sich hier etwas unschön, warum nicht einfach "und sah in den Nachthimmel"?

    Junge,

    komm schnell. Wir haben nicht viel Zeit. Die Spuren sind frisch.

    K.

    Soll das so formatiert sein? Sieht etwas merkwürdig aus, aber naja in E-Mails ist es ja genauso.

    Ansonsten würde ich bei manchen Äußerungen den Satz eher durch ein ! statt einem . beenden, das verstärkt die Wirkung noch etwas mehr, finde ich. Ach und anfangs ist mir gar nicht direkt aufgefallen, dass sich Bashkims und Madame Bonfils im Auto befinden und durch Paris fahren. Hier würde ich die Situation auflockern und so Dinge einwerfen wie:

    - als Baskims in die Straße [hier Name einfügen] einbog

    - heute nahm er die Straße X, da um diese Zeit auf Y mit noch mehr Verkehr zu rechnen ist

    Irgendwie sowas, damit man es noch mehr merkt und Baskims eventuell auch seine Fähigkeiten als guter Fahrer besser ausspielen kann.

    Beste Grüße

    Charon

    • Offizieller Beitrag

    Bashkims Nacht war endgültig im Eimer, als ein Wasserspeier auf dem Dach der nagelneuen S-Klasse Limousine seines Arbeitgebers landete.

    Das war ja mal eine Ganze Menge.

    Also was ich gut finde ist, es wurde recht schnell geklärt, dass die normale Welt von den Magiern weiß. Ich hab immer Probleme damit, wenn ich erst mal drei Kapitel sowas annehmen muss und nicht genau weiß, wie das in dieser Welt geregelt ist ^^;

    Die Idee mit dem Gargoyle hat mir gut gefallen. Wie er als Bote funktioniert und nachher ein Haar von seinem Empfänger brauch.

    Die Magierin auf seiner Rückbank stattdessen hat mir gar nicht gefallen xD Aber ich denke mal, das ist so gewollt :P Trotzdem war ich glücklich, als sie weg war. Stand jetzt, hoffe ich aber nicht, dass sie ein großes wiederkehrendes Element ist :hmm: Aber vielleicht ändert sich das ja noch.
    Gerettet hat es dann die Bande von Chauffeuren. Die Gruppendynamik gefiel mir sehr gut. Auch fand ich irgendwie die Idee cool, dass diese Charaktere, die sonst immer nur Nebenrollen bekleiden, hier die Hauptrollen spielen könnten.
    Aber das steht zu diesem Zeitpunkt natürlich alles noch in den Sternen und das waren nur die ersten Gedanken, die ich mir diesbezüglich gemacht habe. Also, bis demnächst^^

  • Heyho N. Kalinina

    Da bist Du also wieder hier. Freut mich ungemein, ich liebe Deine Art des Schreiben. Wie's Stadtnymphe schon angemerkt hat: Gleicher rotziger Stil wie schon bei den Halbmondlingen.

    Mein Vulgaritätslevel kommt auch mit groberer Sprache klar, aber das hier ist ja irgendwo was anderes, Neues. Geht für mich aber mit dem gleichen Grinsen im Gesicht los.

    Ein nachrichtenüberbringender Gargoyle mit Türsteherslang. Cool.

    Auf Absinthe, "dem ersten Flieger der Pariser Polizei" und seine Rolle bin ich jetzt schon gespannt. Und den ominösen "K" lerne ich ja hoffentlich im nächsten Absatz auch noch kennen.

    Es folgte eine Rolls Royce

    Da hakt aber was - dachte erst, es wäre ein Schreibfehler. Du wiederholst das jedoch. Das Auto "Rolls Royce" ist männlich. Lediglich die Kühlerfigur

    "Spirit of Ecstasy" später im Volksmund als "Emily" bekannt, geniesst den weiblichen Artikel.

    Spoiler anzeigen

    Sonst gab's ausser den üblichen Flüchtigkeitsfehlern für mich bisher nichts zu meckern.

    :thumbup::thumbup::thumbup:

  • Stadtnymphe Danke dir! Du bist ein Schatz. Du hast genau die Punkte erwähnt, die mich selbst in den leichten Wahnsinn getrieben haben - oder Fehler, die ich immer und immer wieder mache, egal, wie sehr ich sie analysiere und versuche zu verbessern.

    Hier verstehe ich nicht, was du meinst? Ist er ein Pilot?

    Öhem. Ja. Nein. Jaein? Indirekt. Wird (hoffentlich) klarer im nächsten Kapitel.

    Anmerken wollte ich nur noch, dass ich erst spät gepeilt habe, dass das Setting Paris ist. Da Bashkim Chauffeur ist, würde es sich, um mehr Realität reinzubringen, anbieten, ein paar Pariser Straßen, Arrondissements, Sehenswürdigkeiten oder anderes zu erwähnen, an denen er vorbeifährt. So bekommt auch der Leser schneller ein Gefühl, wo die Geschichte spielt. Außerdem macht es den Job deines Protagonisten realistischer.

    Ich liebe Straßennamen. Die Stimmung. Die Gegend. Man will sich gerade bei Urban Fantasy einfühlen. Ich selbst mag Paris witzigerweise gar nicht mal so sehr, aber die Geschichte hatte mich während einer Schulung dort irgendwie eingeholt. Bezüglich der Arrondissements - die tauchen noch auf. Keine Sorge. Und jaaa, sie werden alle etwas durch den Dreck gezogen *hust*. Aber wäre ja sonst langweilig.

    Danke dir nochmals für deine wunderbaren Gedanken und Hinweise :thumbup:

    Herzliche Grüße

    Naduschka


    Charon Vielen lieben Dank! Deine Anmerkungen waren fabelhaft und sehr hilfreich.

    Soll das so formatiert sein? Sieht etwas merkwürdig aus, aber naja in E-Mails ist es ja genauso.

    Tatsächlich - ja. Aber es sieht im Forum ehrlich gesagt sehr besch*** - hust - bescheiden aus. Ich schreibe und denke gerne rein im "Goldenen Schnitt" (anhaltender Schaden von meinem Job bei einem Verlag) und formatiere dementsprechend. Das Ergebnis ist wie hier leider für den Leser nicht optimal. Somit DANKE dir für den Anstoß. Wird geändert :)

    Okay, er ist aus Stein.

    Urgh, ich weiß. Frag mich nicht, wieso mir das auch nach der dritten Kontrolle nicht aufgefallen ist. Das hätte mich quasi fauchend anspringen müssen. Schande über mein Haupt O_O


    Ich finde das liest sich hier etwas unschön, warum nicht einfach "und sah in den Nachthimmel"?

    "in den Nachthimmel" ist für mich ungewohnt. Man kann ja nicht IN den Himmel schauen - sondern "gen". Also in die Richtung. Kenne ich vom Verlag ehrlich gesagt auch nur so. Schau mir das aber nochmals an, da ich verstehe, was du meinst. Der Satz ist generell nicht sehr glatt.

    Wenn das eine Abwertende Bezeichnung für Frauen ist, kann sie dann direkt übertragen werden und alle meinen, also auch Männer?

    Ja, Karen wird zwar gerne für "Frauen" verwendet, aber ist (meiner Meinung nach) absolut geschlechtsneutral. Es gibt auch sehr viele männliche "Karens" :D

    Hier würde ich die Situation auflockern und so Dinge einwerfen wie:

    - als Baskims in die Straße [hier Name einfügen] einbog

    - heute nahm er die Straße X, da um diese Zeit auf Y mit noch mehr Verkehr zu rechnen ist

    Irgendwie sowas, damit man es noch mehr merkt und Baskims eventuell auch seine Fähigkeiten als guter Fahrer besser ausspielen kann.

    Ohja, wir alle lieben die Erwähnung von Straßennamen (wobei es Stephen King gerne übertreibt...) und wollen Details der Stadt. Tatsächlich erwähne ich Straßen immer etwas später, nach dem Prolog, Vorspiel - nach dem leichten Gleiten in das wirkliche Geschehen.

    Ich danke dir von Herzen für deine inspirierenden Worte.

    Liebe Grüße

    Naduschka

  • Etiam - Tausend Dank für deine glorreichen Worte :)

    Also was ich gut finde ist, es wurde recht schnell geklärt, dass die normale Welt von den Magiern weiß. Ich hab immer Probleme damit, wenn ich erst mal drei Kapitel sowas annehmen muss und nicht genau weiß, wie das in dieser Welt geregelt ist ^^;

    The struggle is real, man. Bei manchen Autoren ist es verzeihlich. Cornelia Funke, zum Beispiel. Die führt einen langsam, aber mit viel Liebe in ihre Welten ein. Hohlbein kratzt da schon eher mal an meinen Nerven. Gefühlt 1000 Seiten Prolog - aber man weiß immer noch nicht viel mehr. Dafür ist der Überraschungsmoment stets auf seiner Seite.

    Es heißt ja immer "show - don't tell", aber hin und wieder darf man auch mal auf's Gas treten.

    Die Magierin auf seiner Rückbank stattdessen hat mir gar nicht gefallen xD Aber ich denke mal, das ist so gewollt :P Trotzdem war ich glücklich, als sie weg war. Stand jetzt, hoffe ich aber nicht, dass sie ein großes wiederkehrendes Element ist :hmm: Aber vielleicht ändert sich das ja noch.

    Mir sind aus Prinzip gerade die "unsympathischen" Figuren irgendwie sympathisch. Die lieben und ständig lächelnden Nebenfiguren, die einfach nur da sind, um nett auszusehen, gehen mir gerade bei der YA Literatur auf den Geist. Es braucht auch das ein oder andere Ar***loch, meiner Meinung nach :D

    Liebe Grüße

    Naduschka

  • Der Wanderer Mensch, vielen Dank, du!

    Ein nachrichtenüberbringender Gargoyle mit Türsteherslang. Cool.

    Diese Idee kam mir an einem Samstagmorgen , als ich aus dem Küchenfenster einen Streit zwischen einem genervten Postboten und einem immer lauter werdenden Anwohner im Innenhof beobachten konnte. Der Empfänger lehnte mehrmals wütend ein Enschreiben ab, aber der Postbote hatte scheinbar einen echt miesen Tag - und ging hoch wie eine Wasserstoffbombe.

    "Alter, ey! Ich bringe jeden Tag für dich Einschreiben. Bekomme mal dein LEBEN geregelt, ey! Und jetzt nimm den Scheiß an, ich schwör!"

    Dazu beschäftigt mich schon länger die Frage - wie kommen unsere Postboten überhaupt in den Hausflur an die Briefkästen für das Vorderhaus? Und wie kommen sie in den Innenhof zu den Hinterhäusern? Klingeln sie sich durch? Unwahrscheinlich, hier macht nie irgendwer die Tür auf. Magie? Die einzig logische Erklärung für mich.

    "Spirit of Ecstasy" später im Volksmund als "Emily" bekannt, geniesst den weiblichen Artikel.

    Recht hast du. Ist mir untergegangen und wird umgehend korrigiert :thumbup:

    Danke dir für deine genialen Worte. War wie immer ein Vergnügen.

    Herzliche Grüße,

    Naduschka

  • ---╔◈╗---

    KAPITEL 2

    ---╚◈╝---

    Absinthe Lefebvre schwitzte unter seinem zu engen Anzug.

    Der Stoff kratzte unangenehm und er fühlte sich wie ein Vogel in einem viel zu kleinen Käfig. Niemand hatte ihm gesagt, dass Polizisten neuerdings Anzüge tragen mussten. Detektive vielleicht, aber ganz sicher nicht die Laufburschen der Gendarmerie nationale. Männer wie Absinthe wurden dafür bezahlt, dass sie in schweren Stiefeln und einer klassischen Uniform für Recht und Ordnung sorgten, während die Bürger sorglos ihrem Alltag nachgingen. Niemand hatte ihm auch nur einen Hinweis gegeben, dass es neuerdings zur Ausbildung gehörte, dass man auf Veranstaltungen auftauchen und den direkten Kontakt mit der Oberschicht pflegen musste. Generell hatte Absinthe das Gefühl, dass er irgendwas verpasst hatte. In dem einen Moment war er noch ein einfacher Kadett auf dem Land gewesen und im nächsten Augenblick repräsentierte er die Polizei auf einer Pariser Gala, deren Säle voller magischer Minister und wichtigen Personen fast aus allen Nähten platzten. Seine Nerven lagen blank.

    »Hören Sie gefälligst auf sich am Sack zu kratzen, Lefebvre.«

    Die scharfe Zurechtweisung kam von links, dort, wo Absinthes direkter Vorgesetzter stand und die Besucher der Gala mürrisch musterte. Capitaine Hugo Martinez war ein Mann Anfang vierzig, mit Augenringen bis zum Kinn und einer No-Bullshit-Lebensphilosophie. Er war dafür berüchtigt erst zu schießen, dann zu fragen. Er passte ebenso wenig wie Absinthe hierher.

    »Es juckt«, verteidigte sich Absinthe und schob seine Hände in die Taschen seiner Anzughose, um sich vom Kratzen abzuhalten. Die Hose drückte im Schritt und der Hemdstoff scheuerte über seinen empfindlichen Rücken. »Kann ich nicht wenigstens das Hemd ausziehen? Meine Haut muss atmen, Capitaine.«

    Martinez sah ihn ausdruckslos an.

    »Schon gut, hab verstanden.« Absinthe trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Auch wenn der Empfangssaal nahezu majestätisch in seiner Größe war, machten ihn die festen Wände nervös. »Kein Striptease auf einer internationalen Gala. Verstanden.«

    Der Capitaine ignorierte ihn und schien jeden Gast bis auf die Knochen zu durchleuchten. »Das hier gefällt mir nicht«, knurrte er und sah auf seine Armbanduhr. Es war eine dieser verzauberten Modelle, die nicht nur die aktuelle Uhrzeit anzeigten, sondern auch die genaue Ankunft von verabredeten Personen - oder um wie viel Stunden sie sich verspäteten. Diese Dinger waren der letzte Schrei bei den Stadtleuten und hatten die berühmte "Pariser Unpünktlichkeit" in ganz neue Sphären katapultiert. »Die Bonnets hätten bereits vor einer Stunde hier eintreffen müssen.«

    »Vielleicht ist die Uhr kaputt?« Absinthe nutzte die kurze Unachtsamkeit von Capitaine Martinez und kratzte sich hysterisch im Schritt und am Rücken. Er verharrte in der Bewegung, als sein Chef den Blick von seiner Uhr nahm und ihn mürrisch anstarrte.

    »Diese Dinger gehen nicht einfach so kaputt, Lefebvre. Die Magie in diesem Uhrwerk reicht aus, um die halbe Stadt mit magischer Energie zu versorgen. Vier Monatslöhne hat mich dieser Spaß gekostet. Und nehmen Sie endlich die Finger vom Sack, verdammt nochmal!«

    Absinthe verzog das Gesicht. »Dieser Anzug macht mich fertig, Capitaine.«

    »Dann hätten Sie sich rechtzeitig um ein passenderes Modell kümmern sollen. Sie sehen aus wie ein Bräutigam, den man in seinen alten Sonntagsanzug gesteckt hat. Nehmen Sie Haltung an.«

    Die zu enge und kurze Hose war nicht einmal Absinthes Hauptproblem. Niemand achtete groß auf seine ungebügelte Stoffhose, in der er Hochwasser hatte. Die meisten Blicke der Gäste blieben auf seiner Brusthöhe hängen – oder viel mehr auf dem, was aus seinem Rücken wuchs.

    »Na endlich!«, donnerte Martinez und setzte sich in Bewegung. Er steuerte erhobenen Hauptes auf den Eingang zu, dort, wo gerade ein älteres Paar eintraf. Absinthe folgte seinem Capitaine, wobei er darauf achten musste, niemanden umzustoßen oder irgendwas umzuwerfen. Veranstaltungen waren kein guter Ort für seinesgleichen. Es gab in diesen Hallen einfach zu wenig Platz.

    »Sie sind zu spät, Bonnet«, begrüßte Martinez die zwei Magier, denen gerade von geübten Dienern die Mäntel und Stöcke abgenommen wurden, während bullige Leibwächter ihnen aufmerksam dabei zusahen. »Was ist passiert, Minister? Meine Uhr irrt sich sonst nie.«

    Monsieur Bonnet war ein korpulenter Mann mit einem ausladenden Schnauzer, während seine Frau farblos und mager mit dem Hintergrund verschmolz. Gerüchten zufolge lag ihre Unterernährung an einem Fluch, den niemand aufzuheben mochte. Absinthe jedoch war sich ziemlich sicher, dass Madame Bonnet an einer klassischen Essstörung litt. Die meisten Magier hatten einen Knacks weg.

    »Martinez, wie immer präzise zur Stelle.« Der Verteidigungsminister grinste breit. »Ah, und das muss der vielversprechende Flieger vom Land sein. Oder soll ich eher sagen unsere neue Luftwaffe?« Monsieur Bonnet lachte dröhnend über seinen eigenen Witz. »Aber genug gescherzt, meine Herrschaften. Kommen Sie, da wartet eine Gala auf meine Teilnahme. Reden wir unterwegs.«

    Monsieur Bonnet hatte einen erstaunlich schnellen Schritt für einen so voluminösen Mann. Seine Frau tippelte tapfer neben ihm her, den Blick dabei glasig auf Absinthes Rückenpartie gerichtet.

    »Sie reisen zu leichtfertig.« Capitaine Martinez war kein Mann, der schnell aufgab. Er sah sich aufmerksam um, während er dem Minister folgte. Für ihn war jeder Besucher ein potenzieller Attentäter. »Nur vier Leibwächter? Der Minister für Kunst und Kultur ist mit einer halben Leibgarde angereist.«

    »Ach, beruhigen Sie sich.« Monsieur Bonnet winkte ab und griff sich beim Vorbeigehen ein Glas Champagner von einem Tablett. Er zwinkerte Absinthe zu. »Ich mach diesen Job schon seit vielen Jahren. Ich habe mehr Schutzzauber auf mir, als das verdammte Louvre.«

    Sie stiegen die weitläufige Treppe zu dem Hauptsaal hinauf, wo sich bereits die meisten Magier eingefunden hatten. Absinthe entdeckte fast doppelt so viele Schutzpatronen, die in unterschiedlichen Gestalten herumwuselten. Die meisten hatten die Erscheinung eines Vogels oder einer Katze gewählt, andere hingegen bewiesen eigensinnigen Humor und präsentierten sich in den Körpern von historischen Figuren. Napoleon persönlich folgte einer hochgewachsenen Frau im roten Cocktailkleid, die Hand spöttisch unter den Mantel gesteckt und den Hut schief auf dem Kopf. Ein junger Magier hatte Marilyn Monroe auf dem Schoß sitzen, sichtlich mit sich und der Welt zufrieden.

    »Naiver Idiot«, knurrte Martinez, der die blonde Sexikone ebenfalls bemerkt hatte. »In dem Alter denken die meisten Magier mit dem Schwanz und wundern sich dann, wenn er ihnen abgebissen wird. Dieser Patron frisst ihn mit Haut und Haaren, wenn er nicht aufpasst.«

    Absinthe hatte Mühe sich auf die Worte seines Vorgesetzten zu konzentrieren, da er permanent Gästen ausweichen musste. Er blieb zudem mehrmals irgendwo hängen und warf fast einen herumhetzenden Kellner um.

    »Du bist ein Panzer auf zwei Beinen, was?« Monsieur Bonnet schlug Absinthe fest auf die linke Schulter. Er grinste breit. »Kein Wunder, bei diesen Dingern auf deinem Rücken. Martinez, wo her ist der Bursche nochmal?«

    »Bretagne«, sagte Martinez knapp und musterte aufmerksam den Saal. Er hatte ihn bereits mehrmals überprüft, aber er überließ nichts dem Zufall. »Winziges Dorf direkt an der Steinküste.«

    »Ach du meine Güte!« Monsieur Bonnet legte Absinthe einen Arm um den Hals, als wären sie alte Trinkkumpanen aus der Kaserne. »Vom Arsch der Welt nach Paris. Sicher eine spannende Geschichte, die du mir mal erzählen musst, Junge.«

    Aber ganz eindeutig nicht heute, denn der Verteidigungsminister wurde schlagartig ernst, kaum waren sie an ihrem zugewiesenen Tisch angekommen. Sämtliche Tischgenossen waren bereits da.

    »Monsieur Bonnet«, sagte ein schlanker und hochgewachsener Mann kühl. Er trug einen giftgrünen Hut und eine gelbe Fliege. »Na, was macht der Krieg?«

    »Monsieur Leroy«, giftete Bonnet zurück. »Was machen die Staatsschulden?«

    Leroy lächelte das Lächeln eines Mannes, der ohne zu zögern Gift unter das Essen seiner Kollegen mischte, sobald er die Gelegenheit dazu bekam. »Ach, die Schulden wachsen und gedeihen. Sie wissen ja, wie das ist. Da spart man wie verrückt – und prompt fangen die Kollegen mal wieder einen Krieg an. Neue U-Boote? Sie müssen sich Ihrer Sache ja ganz sicher sein.«

    Bonnets Schnurrbart zitterte vor Wut. »Es ist nicht 'meine' Sache, Leroy. Es ist Frankreichs Verteidigung gegen die Amerikaner.«

    Leroy legte den Kopf schief und blinzelte mehrmals. »Oh!«, sagte er gespielt überrascht. »Jetzt wird mir alles klar. Wir verteidigen uns, natürlich! Wieso haben Sie das nicht gleich gesagt? Kann ja so ein dummer Münzwächter wie ich nicht wissen. Jetzt machen diese ganzen Truppen in Zentralafrika auf einmal Sinn.«

    »Sparen Sie sich Ihre giftigen Kommentare. Es geht hier um die Verteidigung und Rettung des ältesten Boden der Welt, Sie Narr. Diese magische Energie ist die letzte Quelle auf diesem verdammten Planeten.«

    »Ach?« Leroy legte den Kopf schief. »Und ich dachte, hier sterben einfach nur sinnlos Lebewesen.«

    Entsetzte Stille herrschte am Tisch, die nur von einem Gong unterbrochen wurde.

    »Oh, hört nur!« Eine Magierin mit aufwendiger Hochsteckfrisur fächerte sich eifrig Luft zu. Sie klang hörbar erleichtert. »Die Ansprache beginnt.«

    In der Halle kehrte Ruhe ein, als sich sämtliche Gäste auf ihre Plätze verzogen, gut eingedeckt mit Champagner und Kaviar und in Richtung der prunkvollen Bühne schauten, wo unter tosendem Applaus die Gastgeberin ins Scheinwerferlicht trat. Absinthe ließ sich neben seinem Capitaine nieder, wobei er steif und unbequem dasaß. Im Gegensatz zu den anderen Gästen konnte er sich nicht lässig gegen den Stuhl lehnen. Die Rückenlehne war definitiv für Lebewesen kreiert worden, denen nichts aus dem Rücken wuchs. Trotz der unbequemen Lage starrte Absinthe krampfhaft nach vorne.

    Dort stand sie, in Fleisch und Blut. Bisher hatte er Mademoiselle Roux nur von Werbeplakaten und aus dem Fernsehen gekannt. Ihr Gesicht lächelte von unzähligen Verpackungen und Werbetafeln. Jeder kannten ihren Werbeslogan für das Militär. Zusammen. Gemeinsam. Stark.

    Obwohl Absinthe die Militärlaufbahn eingeschlagen hatte, hielt er nicht sonderlich viel von Propaganda. Scheiß auf Ehre und Stolz, pflegte sein Vater zu predigen. Magier haben vielleicht eine Karriere vor sich, aber wir anderen picken lediglich die Krume von dem auf, was sie bei ihren Festen unter'n Tisch fallen lassen. Patriotischer Blödsinn ist was für reiche Fettärsche, Kiddo.

    Der Applaus verstummte, als Mademoiselle Roux mehrmals in die Menge gewunken und in die Kameras gelächelt hatte. Das Mikro erwachte knackend zum Leben. »Meine Damen und Herren, welch eine Ehre, dass Sie heute Nacht so vielzählig erschienen sind.« Mademoiselle Roux strahlte in den Saal. Ihre Zähne leuchteten perlenweiß im hellen Scheinwerferlicht. Ihr Goldschmuck funkelte wie tausend Sonnen. »Ich weiß, dass die Zeiten hart sind, daher ist es eine Freude, dass so viele von uns unseren tapferen Frauen und Männern da draußen gedenken.«

    Applaus brach aus, wobei niemand wirklich zuhörte. Die meisten Magier schienen einfach nur zu klatschen, weil es irgendein anderer tat. Man hing mit dem Gesicht über vollbeladenen Tellern und kippte Rotwein wie Wasser. Nur die Presse hörte aufmerksam zu.

    »Wir alle waren erschüttert, als uns der Feind vor wenigen Tagen äußerst hart traf.« Mademoiselle Roux verzog theatralisch das Gesicht. »Aber umso schöner ist die Kunde, dass wir Kamerun weitgehend erobern und einen großen Teil des magischen Bodens vor dem Feind sichern konnten.«

    Erneut tosender Applaus. Eine Dame am Tisch gähnte hinter ihrem Fächer, ein älterer Mann war sichtlich eingenickt. Jemand berührte Absinthe leicht am Arm.

    »Tun sie weh?« Madame Bonnet schenkte der Ansprache auf der Bühne keine Beachtung. Sie hatte sich etwas zu Absinthe rübergebeugt und sprach so leise, dass er sie kaum hören konnte. »Die Flügel. Tun sie weh?«

    Absinthe schüttelte den Kopf. »Nein, Madame.«

    Madame Bonnets glasiger Blick war unangenehm. Ihre Gesichtshaut schien so dünn wie Papier, welches bis zum Zerreißen über zu breite Wangenknochen gespannt wurde. Absinthe hatte mit Untoten Kontakt gehabt, die gesünder ausgehen hatten.

    »Ich wollte schon immer mal an die Küste«, sagte Madame Bonnet. Ihr farbloser Blick glitt von Absinthe in unbekannte Ferne. »Stimmt es, dass dein Volk Häuser bis in den Himmel baut?«

    »Türme«, sagte Absinthe und rutschte nervös auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Ihm lief kalter Schweiß die Wirbelsäule entlang. »Wir... äh... bauen Türme. Aus Stoff und Holz.«

    »Genug von diesem Weiberklatsch!«, zischte ihm Capitaine Martinez scharf zu. Er hatte natürlich jedes Wort mitgehört. Augen wie ein Adler, Ohren wie ein Luchs. »Konzentrieren Sie sich, Lefebvre.«

    Absinthe schenkte Madame Bonnet ein entschuldigendes Lächeln, jedoch beachtete ihn die magere Frau längst nicht mehr. Ihr Blick hing irgendwo in der Luft, der farblose Mund leicht geöffnet. Sie war mit den Gedanken in ihrer eigenen Welt. Auf der Bühne beendete Mademoiselle Roux ihre Rede damit, dass sie noch einmal die Tapferkeit all derer lobte, die bei dem hinterhältigen Anschlag des Feindes ums Leben gekommen waren. Eine genaue Zahl nannte sie nicht, aber Absinthe kannte dieses Spielchen. Sie nannten nie genaue Zahlen. Weder die Magier, noch die Zeitungen. Wenn auf den Titelblättern von tapferer Gegenwehr berichtet wurde, wusste jeder Kadett, dass die eigenen Leute abgeschlachtet worden waren. Wenn man von Heldentaten sprach, gab es mehr Verluste auf der Feindesseite, als auf der eigenen. Alles in allem war es ein Teufelskreis. Mademoiselle Roux stieg winkend von der Bühne, um geschmeidig durch die Reihen der Gäste zu schlendern, die nun eifrig Kellner herbeiwinkten, um Nachschlag an Essen und Alkohol zu verlangen.

    »Welch eine Rede!« Monsieur Bonnet schlug hart auf den Tisch, während er einem verdutzten Kellner das gesamte Tablett mit den gut gefüllten Champagnergläsern aus den Händen riss. Es ging glücklicherweise nichts zu Bruch. »Diese Frau weiß, wie man das Volk bei Laune hält.«

    Leroy verdrehte die Augen. »Ich bitte Sie, Bonnet. Wie lange glauben Sie, wird diese Masche noch ziehen? Das Volk wird unruhig. Es wurden in der letzten Nacht wie viele Demonstrationen zerschlagen? Zehn? Elf? Und das allein in den Vororten der Stadt.«

    »Die Gendarmerie hat alles im Griff.« Monsieur Bonnet leerte das erste Glas mit einem einzigen Zug. »Wir haben die besten Männer für diese Art von lästiger Lappalie.«

    »Lästiger Lappalie«, echote Leroy. Er musterte nun Capitaine Martinez aufmerksam. »Hören Sie das, Capitaine? Alles nur eine Lappalie. Wie viele Ihrer Frauen und Männer wurden letzte Nacht im Einsatz verletzt?«

    Martinez verzog keine Miene, als er tonlos antwortete. »Ich spreche nicht über interne Angelegenheiten der Polizei, Monsieur.«

    Leroy schnaubte. »Sie haben Ihre Männer gut im Griff, Bonnet. Sogar ne’n Flieger haben Sie in die Stadt geholt. Der erste geflügelte Polizist Paris. Vor siebzig Jahren haben wir sie noch wie Ausgestoßene an die Küstenregion verbannt, jetzt flehen wir sie auf Knien an erneut für uns zu fliegen. Wir haben die Hälfte der Flieger vor Jahren in Albanien verloren.«

    »Dieser Krieg war schrecklich«, klagte die Dame mit der Hochsteckfrisur. Sie deutete mit dem Fächer auf Absinthe. »Tapfere Flieger sind in diesem furchtbaren Land gestorben. Und für was? Für angespannte Abkommen und unzuverlässige Gastarbeiter.«

    »Jeder Krieg ist schrecklich«, sagte Leroy. »Reden Sie lieber über Dinge, von denen Sie eine Ahnung haben, Madame Garcia. Über die neuste Mode, oder so.«

    »Monsieur Leroy!« Bonnet schlug erneut auf den Tisch. »Zügeln Sie Ihre Zunge. Madame Garcia, verzeihen Sie dem Wächter der Münze. Er ist heute äußerst gestresst.«

    Leroy hob beide Augenbrauen. »Ich bin nicht gestresst«, sagte er. »Ich bin nur diese endlosen Kriege Leid. Wir haben kein Geld. Die Kassen sind leer. Das magische EU-Parlament gewährt uns keinen Cent mehr.«

    »Dann haben Sie einfach nur schlecht verhandelt«, knurrte Bonnet. »Dieser Krieg betrifft nicht nur uns, sondern ganz Europa. Diese Überseefatzken wollen uns den Weg zum magischen Urboden abschneiden. Das darf sich Europa nicht gefallen lassen!«

    »Und die Russen machen auch Druck«, mischte sich Madame Garcia ein. »Habe ich in der Zeitung gelesen. Jeder weiß, dass sie die besten Nekromanten haben. Sie würden uns mit einer Armee aus Toten überrennen.«

    Leroy sah aus, als würde er die Dame am liebsten hier und jetzt mit beiden Händen am Hals packen, jedoch wurde die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Neuankömmling gelenkt.

    »Oh, der Minister persönlich!« Mademoiselle Roux war nun an ihrem Tisch angekommen und verteilte eifrig Küsse auf die Wangen der Damen und ein strahlendes Lächeln an die Männer. »Und wen haben wir da? Das muss einer der neuen Flieger aus der Bretagne sein.«

    Absinthe schoss vom Stuhl hoch und salutierte zackig.

    »Meine Güte!« Mademoiselle Roux lachte. »Schaut euch den Burschen mal an. Ich wusste ja, dass diese Flieger groß sind, aber diese Kraft! Wie viel Kilo können Sie im Flug befördern?«

    Absinthe salutierte erneut. »Mein eigenes Körpergewicht, Mademoiselle. Plus zwanzig Kilo Rucksack, Munition und Verbandskasten.«

    Mademoiselle Roux pfiff langgezogen. »Unfassbar! Mit Männern wie Ihnen gewinnen wir diesen Krieg. Wie groß ist Ihre Flügelspannweite?«

    Absinthe schluckte nervös. Er hatte plötzlich zu viel Spucke im Mund. »Verzeihen Sie?«

    »Ihre Spannweite. Na los, seien Sie nicht schüchtern. Zeigen Sie uns, aus was unsere zukünftigen Nationalhelden gemacht sind.«

    Absinthe warf seinem Capitaine einen hektischen Blick zu. Martinez sah nicht sonderlich begeistert aus, was er zwar nie tat, aber dieser grimmige Blick verhieß nichts Gutes. Mürrisch nickte er. »Sie haben die Mademoiselle gehört, Lefebvre. Präsentieren Sie die Flügel.«

    Es war zwischen den Tischen nicht sonderlich viel Platz, aber das Theater am Tisch des Verteidigungsministers war den Gästen nicht entgangen. Eifrig wurde für den Flieger Platz gemacht.

    »Er soll fliegen!«, rief eine junge Frau in einem smaragdgrünen Anzug und frecher Kurzhaarfrisur. »Oh, lasst ihn fliegen!«

    »Hoch mit ihm!«, stimmte ein älterer Magier zu. »Ab in die Luft!«

    »Er soll einen Salto schlagen!«

    »Sturzflug! Ich will einen Sturzflug sehen!«

    »Er soll meiner gestörten Ex-Frau auf das Auto scheißen! Wie eine Taube!«

    Gelächter brach aus. Absinthe zögerte einen Moment, da die Blicke und der Lärm ihn nervös machten. Zuhause an der Küste war es nie so laut gewesen. Nicht einmal in der Kaserne, in der er die meiste Zeit seiner Ausbildung verbracht hatte, hatte ein solcher Krach geherrscht. Er stolperte etwas zurück.

    »Ruhig!«, donnerte Mademoiselle Roux. Sie schenkte Absinthe ihr strahlendes Lächeln. »Wir machen den jungen Flieger nervös.«

    Absinthe atmete tief ein, versicherte sich kurz, dass auch wirklich genug Platz war – und faltete langsam die möglichst eng angelegten Flügel auseinander.

    »Meine Güte!« Mademoiselle Roux strahlte wie ein Kind an Weihnachten. »Ein großer Bursche mit doppelt so großen Flügeln! Kommen Sie, kommen Sie! Presse, macht ein Foto!« Ehe sich Absinthe versah, wurde er von der Gastgeberin fest an sich gepresst, während ein Blitzlichtgewitter über ihn hereinbrach. »Unser Held von morgen!«, rief Mademoiselle Roux und schnappte sich wahllos ein Glas Champagner vom Tisch. Der eigentliche Besitzer, der gerade danach greifen wollte, verzog leidend das Gesicht. »Auf unseren Sieg!«

    Hunderte Stimmen wiederholten den Trinkspruch, dann brach Applaus aus.

    Absinthe bekam Kopfschmerzen.

  • Ahh, jetzt weiß ich, was du mit "Flieger" meintest!

    Es geht unterhaltsam und amüsant weiter. Offensichtlich ist Magie wirklich nichts Ungewöhnliches in deinem Europa, wenn es sogar für Kriege etc. verwendet wird. Die Einblicke ins politische Geschehen fand ich interessant, aber noch etwas zu oberflächlich. Als Politiker könnte man noch mehr fachsimpeln, vielleicht ein paar Begriffe aus dem Fach einstreuen und so mehr das Gefühl erwecken, dass es sich wirklich um Politiker handelt! Bisher kratzen die Dialoge der Magier, die wirklich spritzig gelungen sind, diesbezüglich für mich etwas an der Oberfläche. Damit meine ich nicht, dass ich den Grund für diesen Krieg genauer erklärt haben will, sondern vielleicht mehr Details gestreut werden könnten.

    Toll für den Spannungsbogen fand ich, dass zunächst immer nur angesprochen wurde, dass Absinthe irgendwas auf seinem Rücken hat. Der Leser denkt sich natürlich gleich, dass es Flügel sein könnten; dass diese Vorstellung aber nicht direkt aufgelöst wird, ist eine schöne Leseerfahrung.

    Absinthe finde ich bisher einen interessanten Charakter. Ein bisschen ambivalent vielleicht: Am Anfang ist er noch recht selbstsicher und nervt seinen Chef mit Fragen, von denen er schon weiß, wie die Antwort lautet. Aber im Kreuzfeuer der begeisterten Magierschaft wird er dann nervös. Sowieso erinnert mich sein Karrieresprung von der Bretagne nach Paris ein bisschen an D'Artagnan! ^^ Ich hätte gern erfahren, wie alt er ist, um ihn irgendwie einordnen zu können.

    Hier noch zwei klitzekleine Sachen:

    die gesünder ausgehen hatten.

    *ausgesehen

    Sogar ne’n Flieger

    *nen

    (Da dieses Fehlerchen schon im ersten Teil kam, wird sich das vielleicht fortsetzen. Ich empfehle einfach die Suchen-und-Ersetzen-Funktion.;))

    Liebe Grüße!

    Stadtnymphe

    Und PS:

    »Hoch mit ihm!«, stimmte ein älterer Magier zu. »Ab in die Luft!«

    »Er soll einen Salto schlagen!«

    »Sturzflug! Ich will einen Sturzflug sehen!«

    »Er soll meiner gestörten Ex-Frau auf das Auto scheißen! Wie eine Taube!«

    Das finde ich eine sehr glaubhafte Reaktion. Die Leute wollen, dass ihr neuer Polizistensuperheld fliegt - hätte ich nicht anders reagiert!

    Was ich schreibe: Eden

    • Offizieller Beitrag

    Es heißt ja immer "show - don't tell", aber hin und wieder darf man auch mal auf's Gas treten.

    Ja, das stimmt. Show ist prinzipiel besser (meiner Meinung nach), aber es entschleunigst halt auch. Und deswegen vielleciht nicht IMMER die beste Wahl

    Außerdem kann auch gut eingebautes Tell funktionieren. Welches dem Leser halt nicht direkt ins Gesicht geballert wird ^^;

    Es braucht auch das ein oder andere Ar***loch, meiner Meinung nach

    Ich unterscheide da nochmal zwischen Arschloch und unsympath :hmm: Ein paar, deiner Chaufeure waren jetzt auch nicht die zuckersüßen Lollipopdudes. Trotzdem fand ic diese wiederum sympathisch. Und in meiner LIste der Lieblingschars, tummeln sich eh einige Arschlöcher :D Also daran hat es nicht gelegen. ^^

    Jetzt aber erst mal zum neuen PArt.

    Absinthe Lefebvre schwitzte unter seinem zu engen Anzug.

    Ok. Also an sich fand ich den Part gut. Besonders das Ende hat mir gefallen. Auch haben wir einen TItelreveal in diesem Part. Naja, so halb ^^; Aber der Namensgebende Absinthe wurde uns vorgestellt. Mit ihm hatte ich zu Anfang allerdings meine Probleme. Es wurde erst sehr spät erwähnt, das er Flügel auf dem Rücken hat. Immer wieder wurde über das, was auch immer da rauswächst auf seinem Rücken geredet. Und ich hatte schon Flügel im Verdacht, wurde aber immer von meinen Gednken unterbrochen, ob ich nicht etwas verpasst hätte.

    Weiter geht das Ganze, weil ich nicht weiß, was genau ist Absinthe denn nu eigentlich? Eine Art Engel? EIn Gargoyle? :hmm: Was ganz anderes? Ich hab die ganze Zeit versucht das irgendwie herauszulesen, aber das hab ich nicht geschafft, sry.

    Allgemein, war der Part mal ganz andesr, als der zuvor und es hätte eine ganz neue Geschichte sein können :D Das ist nicht negativ gemeint. Ist einfach nur eine Feststellung. Außerdem sehen wir hier ja auch aus einem gänzlich anderem BLickwinkel, als zuvor.

    Das Gerede über den Krieg zeichnet uns die Welt mal in einem größeren Spielraum ab und wir bekommen einen etwas weiteren Überblick über das Geschehen, und worum es in Zukunft vielleicht gehen könnte.

    So, kommen wir nun zum Ende, das mir gut gefallen hat. Zum einen fand ich den Auftritt von Frau Roux (ja, ich wollt jetzt nicht nachgucken, wie das französische Wort geschrieben wird xD). Und dann zum Schluss noch eine Szene, die das ganze für mich nochmal stark aufgewertet hat. Manchmal sind es halt so kleine Sachen :D

    Und zwar geht es um die Gäste, die nachher einfach Sätze reinwerfen, wenn Absinthe sich präsentieren soll.

    Es wurde vorher ein bisschen angedeutet, dass die "Flieger" nicht immer so "beliebt" bei den Leuten waren. Und ich fand es interessant, wie am Anfang noch ein normaler Wunsch geäußert wurde, dieses dann langsam ins lächerliche geriet, und Absinthe schon fast zum Zirkusclown degradierte. Das karikatiert (ist das ein Wort?) auch gleichzeitig sehr gut diese dekadente Magiergeselschaft.

    Besonders, als der Typ meinte er solle auf das Auto seiner Ex kacken, da hatte ich ein bissche Sorge um unseren Prota. Ich hatte die befürchung, dass das ganze nun abdriftet und er gänzlich zur Lachnummer verkommt.

    So oder so, ihm scheint es wohl nicht so gefallen zu haben ^^;

    Mir dagegen schon.

  • Heyho N. Kalinina

    Ich habe den Abschnitt einfach mal sacken lassen. Und sehr genossen. Schreibfehler hab' nicht finden können ausser einem, aber den lasse ich unkommentiert...soll sich wer anders drum kümmern.^^^^^^

    Was ich jedoch sehr vermisse ist eine Fortsetzung von den "Halbmondlingen".

  • Geht ja direkt sehr schön weiter N. Kalinina .

    er fühlte sich wie ein Vogel in einem viel zu kleinen Käfig

    Anfangs dachte ich noch, dass das lediglich für das Bild der Enge gut ist. Aber:

    oder viel mehr auf dem, was aus seinem Rücken wuchs.

    Sehr schön geschrieben, ein Bild, das irgendwie der Wahrheit entspricht. :thumbsup:

    »Habe ich in der Zeitung gelesen. Jeder weiß, dass sie die besten Nekromanten haben. Sie würden uns mit einer Armee aus Toten überrennen.«

    Uh Nekromanten, na das finde ich ja schon aus persönlichen und auch recht aktuellen Gründen spannend. :thumbup:

    (Wobei sich mir da die Frage stellt, wenn sie das so problemlos könnten, warum machen sie das nicht schon längst?)