Prolog
Dong!
Wieder stand sie auf dem kleinen Balkon der Zitadelle, deren Mauern sich an das Gebirgsmassiv klammerten, welches die Stadt zu ihren Füßen wie ein schützender Wall umgab.
Die Dächer weit unter ihr wurden geschluckt vom Schwarz der Nacht, vom schmutzigen Rauch unzähliger Kamine, vom Schatten der Wolken, die sturmgepeitscht über den Himmel zogen. Einzelne Lichtpunkte, wie Inseln in einem Meer aus Dunkelheit, zitterten im Wind und verschwanden, als Fensterläden geschlossen und Vorhänge zugezogen wurden. Die gesamte Stadt schien in Deckung zu gehen, zu verschwinden. Es war, als wöllte sie sich im Schatten des Gebirges unsichtbar machen.
Dong!
Der Glockenturm lag am anderen Ende der Stadt, er war nicht erleuchtet, doch im gelegentlich durch die Wolken fallenden Mondlicht konnte sie seine massive Gestalt ausmachen. Der schwere Klang seiner Glocken war neben dem Heulen des Windes das einzige Geräusch, das sie wahrnahm. Wieso läutete die Glocke …?
Im Turm gab es etwas. Sie musste dorthin, doch das würde unnmöglich sein, wie es immer unmöglich war. Jede Nacht stand sie hier auf diesem Balkon, sah auf die dunkle Stadt hinunter und dann hinüber zum Turm. Auch heute bewegten sich ihre Füße nicht, so sehr sie sich auch mühte. Keinen Zeh vermochte sie zu rühren, obwohl alles in ihr dorthin drängte, das Läuten sie rief und die Zeit knapp wurde.
Dong!
Beim Klang dieses dritten Glockenschlages riss sie den Kopf nach rechts, wo hinter einem Wald von schwarzen Masten tausender Schiffe das Meer lauerte. Auch dieses war sturmgepeitscht, schickte schwarze Wogen ins Hafenbecken und ließ die winzig kleinen Laternen in Kapitänskajüten und Krähennestern verlöschen.
Dong!
Für einen Moment war es still. Kein Wind, kein Meeresrauschen, kein Geräusch.
Dann flimmerte über dem Meer weit draußen ein winziger roter Punkt, blassrot, wie ein Licht, dessen Farbe ausgewaschen worden war. Schnell wurde er größer, formte sich zur Wolke, die rasend schnell um sich selbst zu kreisen begann und die Luft zum Dröhnen brachte. Immer rascher breitete sich das fahlrote Licht aus, erreichte die Schiffe, deren magere Schatten zu vibrieren begannen, bevor sie unter unheilvollem Krachen aneinander zermahlen wurden. Die Dachschindeln der Häuser schossen durch die Luft wie Gewehrkugeln, Holzkonstrukte gaben seufzend nach und barsten krachend gegeneinander, Kutschen hoben ab wie Vögel und wirbelten gegen Hauswände, während die Gassen und Straßen der Stadt rotglühend aufleuchteten. Immer lauter brüllte es, immer näher kam es -
Sie konnte sich nicht rühren. Ihr letzter Blick, bevor das rote Licht sie einschloss und einem Wirbelsturm gleich an ihr riss, galt dem Turm in der Ferne.
Dong! …
Sie schlug die Augen auf und sah den gewohnten Anblick der rußigen Holzbalken direkt über sich. Ihre Decke war zur Seite gelitten und das dünne Hemd, welches sie zum Schlafen trug, hatte sie nicht im Geringsten warmhalten können. Seufzend setzte sie sich auf und fuhr sich durch die Haare, während sie mit den klammen Zehen nach dem Bettzeug angelte.
Wieder derselbe Traum. Sie konnte ihn nicht deuten, sie wusste nicht, was er ihr sagen wollte. Doch jede Nacht kehrte er wieder und raubte ihr den Schlaf. War es die Zukunft? Ein Bild für die Gegenwart? Zeigte er die Vergangenheit? Was auch immer es war, es ließ sie nicht los. Und in ihr wuchs das Gefühl, dass es nicht nur ein Traum war. Sondern dass das Unheil wirklich kommen und alles dem Erdboden gleichmachen würde.