Es gibt 48 Antworten in diesem Thema, welches 10.675 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (6. Februar 2022 um 17:33) ist von Kiddel Fee.

  • Prolog

    Dong!
    Wieder stand sie auf dem kleinen Balkon der Zitadelle, deren Mauern sich an das Gebirgsmassiv klammerten, welches die Stadt zu ihren Füßen wie ein schützender Wall umgab.
    Die Dächer weit unter ihr wurden geschluckt vom Schwarz der Nacht, vom schmutzigen Rauch unzähliger Kamine, vom Schatten der Wolken, die sturmgepeitscht über den Himmel zogen. Einzelne Lichtpunkte, wie Inseln in einem Meer aus Dunkelheit, zitterten im Wind und verschwanden, als Fensterläden geschlossen und Vorhänge zugezogen wurden. Die gesamte Stadt schien in Deckung zu gehen, zu verschwinden. Es war, als wöllte sie sich im Schatten des Gebirges unsichtbar machen.
    Dong!
    Der Glockenturm lag am anderen Ende der Stadt, er war nicht erleuchtet, doch im gelegentlich durch die Wolken fallenden Mondlicht konnte sie seine massive Gestalt ausmachen. Der schwere Klang seiner Glocken war neben dem Heulen des Windes das einzige Geräusch, das sie wahrnahm. Wieso läutete die Glocke …?
    Im Turm gab es etwas. Sie musste dorthin, doch das würde unnmöglich sein, wie es immer unmöglich war. Jede Nacht stand sie hier auf diesem Balkon, sah auf die dunkle Stadt hinunter und dann hinüber zum Turm. Auch heute bewegten sich ihre Füße nicht, so sehr sie sich auch mühte. Keinen Zeh vermochte sie zu rühren, obwohl alles in ihr dorthin drängte, das Läuten sie rief und die Zeit knapp wurde.
    Dong!
    Beim Klang dieses dritten Glockenschlages riss sie den Kopf nach rechts, wo hinter einem Wald von schwarzen Masten tausender Schiffe das Meer lauerte. Auch dieses war sturmgepeitscht, schickte schwarze Wogen ins Hafenbecken und ließ die winzig kleinen Laternen in Kapitänskajüten und Krähennestern verlöschen.
    Dong!
    Für einen Moment war es still. Kein Wind, kein Meeresrauschen, kein Geräusch.
    Dann flimmerte über dem Meer weit draußen ein winziger roter Punkt, blassrot, wie ein Licht, dessen Farbe ausgewaschen worden war. Schnell wurde er größer, formte sich zur Wolke, die rasend schnell um sich selbst zu kreisen begann und die Luft zum Dröhnen brachte. Immer rascher breitete sich das fahlrote Licht aus, erreichte die Schiffe, deren magere Schatten zu vibrieren begannen, bevor sie unter unheilvollem Krachen aneinander zermahlen wurden. Die Dachschindeln der Häuser schossen durch die Luft wie Gewehrkugeln, Holzkonstrukte gaben seufzend nach und barsten krachend gegeneinander, Kutschen hoben ab wie Vögel und wirbelten gegen Hauswände, während die Gassen und Straßen der Stadt rotglühend aufleuchteten. Immer lauter brüllte es, immer näher kam es -
    Sie konnte sich nicht rühren. Ihr letzter Blick, bevor das rote Licht sie einschloss und einem Wirbelsturm gleich an ihr riss, galt dem Turm in der Ferne.
    Dong!

    Sie schlug die Augen auf und sah den gewohnten Anblick der rußigen Holzbalken direkt über sich. Ihre Decke war zur Seite gelitten und das dünne Hemd, welches sie zum Schlafen trug, hatte sie nicht im Geringsten warmhalten können. Seufzend setzte sie sich auf und fuhr sich durch die Haare, während sie mit den klammen Zehen nach dem Bettzeug angelte.
    Wieder derselbe Traum. Sie konnte ihn nicht deuten, sie wusste nicht, was er ihr sagen wollte. Doch jede Nacht kehrte er wieder und raubte ihr den Schlaf. War es die Zukunft? Ein Bild für die Gegenwart? Zeigte er die Vergangenheit? Was auch immer es war, es ließ sie nicht los. Und in ihr wuchs das Gefühl, dass es nicht nur ein Traum war. Sondern dass das Unheil wirklich kommen und alles dem Erdboden gleichmachen würde.

  • Okay ... das ist ein Traum, den man nicht wirklich träumen will. Ich wäre ein nervliches Wrack, wenn ich den bereits mehrmals gehabt hätte. :threeeyes:

    Aber davon mal abgesehen - es ist eine tolle Art, Interesse beim Leser zu wecken (hat zumindest bei mir funktioniert) und zugleich eine Örtlichkeit zu beschreiben. Denn irgendetwas sagt mir, dass sie Bilder sieht, die eintreffen werden. An einem Ort, der real existiert. Wahrscheinlich sogar der, an dem sie sich aufhält.

    Bin gespannt, was du daraus machst. :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hallo Kiddel Fee ,

    aus meiner (wenig erfahrenen) Sicht ein ziemlich perfekter Auftakt. Ich finde die Atmosphäre des Traums ist sehr gut rüber gekommen. Ich konnte mir jedes Detail der Stadt im Sturm gut vorstellen.

    Über eine Stelle bin ich gestolpert, ist aber wirklich ein Detail:

    Zitat

    Einzelne Lichtpunkte, wie Inseln in einem Meer aus Dunkelheit, zitterten im Wind

    Der Ursprung der Lichtpunkte ist doch die Beleuchtung in den Häusern, oder habe ich das falsch verstanden? Warum zittern die im Wind? Oder sind das Laternen / Kerzen o.ä. deren Flammen im Wind flackern?

  • Vielen Dank, Tariq und Novize!

    Zitat

    Einzelne Lichtpunkte, wie Inseln in einem Meer aus Dunkelheit, zitterten im Wind

    Der Ursprung der Lichtpunkte ist doch die Beleuchtung in den Häusern, oder habe ich das falsch verstanden? Warum zittern die im Wind? Oder sind das Laternen / Kerzen o.ä. deren Flammen im Wind flackern?

    Das ist Beleuchtung in und an Häusern, richtig. Da wir uns in einem Mittelaltersetting befinden, was zugegeben durch diesen Prolog noch nicht ganz offenbar wird, besteht diese aus Fackeln und Kerzen:)

  • Kapitel 1

    Die beiden Gestalten in ihren dunklen Umhängen bewegten sich rasch durch die nächtlichen Straßen. Ihre Schritte wurden geschluckt von dem Lärm aus Tavernen und Bordellen, vom Gesang betrunkener Zecher, die grölend über das Pflaster torkelten, von Musik aus den weit geöffneten Fenstern in den oberen Stockwerken der großen Handwerkshäuser.
    Es war ein lauer Sommerabend und das Leben pulsierte. Die Düfte von gesottenen Speisen mischten sich mit den schweren, süßlichen Wolken diverser Parfüms, Menschen aßen, soffen, tanzten und verspielten ihre Habe bei Kartentunieren gegen dreiste Betrüger. Selbst die Stadtgarde, schneidig in ihrer Uniform in Tiefblau und Silber schien angesichts solcher Lebenslust ein Auge zuzudrücken und ließ die meisten Trunkenbolde großzügig ziehen.
    Als die beiden die Rückseite des bekannten Gasthauses “Zum tanzenden Fass” ansteuerten, legte der Größere warnend die Hand auf die Schulter seines Begleiters. “Das halte ich für keine gute Idee. Wir bringen uns so schon in Teufels Küche, weil dein Onkel dir Hausarrest erteilt hat. Jetzt einen Ort aufzusuchen, wo sich heute die ganze Stadt zu tummeln scheint und dich jeder erkennen könnte, grenzt an Selbstmord.”
    ”Das hatten wir doch schon, Ced”, entgegnete der andere leise, ohne sich umzusehen.”Ich brauche es. Einmal muss ich heraus aus meinem Käfig und leben. Wenn nicht heute, wann dann? ” Beiläufig strich er über die Kapuze des Umhangs. “Wer sollte mich schon erkennen - niemand weiß, wie ich aussehe. Und diejenigen, die es wissen, kommen nicht hierher.”
    Cedric schüttelte seufzend den Kopf. “Das wird nicht gutgehen.”
    Sein Freund lachte, es klang übermütig. “ Du bist ein unverbesserlicher Schwarzseher.”
    “Ich nenne es vernünftig, aber vielen Dank.”
    “Ein Bier, Ced. Ich lade dich ein.”
    “Das ist das Mindeste, wenn ich hier meinen Kopf für dich hinhalte. Du weißt, wen der Zorn des Alten trifft, sollte er hiervon erfahren.”
    Der Jüngere lächelte entschuldigend, dann wandte er sich um und ging an der von Weinlaub überwucherten Hauswand entlang Richtung Platz zur Pforte des Gasthauses.
    In der Milde der Sommernacht saßen viele Gäste draußen, palaverten und lachten. Pfeifenrauch schwebte über den Tischen, dann und wann von einer sachten Brise auseinander getrieben. Die beiden Schankmädge, beide Hände voller Bierkrüge, bahnten sich sicheren Schrittes einen Weg durch das Getümmel und wichen dabei geschickt den grabschenden Händen der Säufer aus.

    Cedric folgte Rory durch die von zwei Fackeln erleuchtete Eingangstür und lief in eine Wand aus warmer, biergeschwängerter Luft. Obwohl es drinnen nicht einmal ansatzweise so voll war wie draußen, roch der Raum nach Zwiebeln, ungewaschenen Leibern und dem billigen Veilchenduft, der allen Huren dieser Stadt zu eigen zu sein schien. Es war eine völlig unvertraute Note, doch die beiden Freunde konnte sie nicht abschrecken.
    Hinter der hölzernen Theke trocknete der fette Wirt die verbeulten Zinnteller ab, während seine kleinen Schweinsäuglein durch den Raum huschten und sämtliche Gäste genau musterten. Auf seiner Glatze glänzte der Schweiß und beiläufig fuhr er sich mit dem Tuch über die nasse Stirn, bevor er wieder den Teller wienerte.
    Cedric beschloss spontan, das Essen ausfallen zu lassen.
    Während sein Begleiter einen kleinen Tisch in der hinteren Ecke des Gastraums für sie beide in Anspruch nahm, fing er eine der Bedienungen ab und bestellte zwei Bier in sauberen Humpen. Er stellte sicher, dass die Frau seinen angeekelten Blick in Richtung des Wirtes gesehen und richtig gedeutet hatte, dann ließ er sich ebenfalls auf der grob gezimmerten Holzbank nieder und sah sich unauffällig um.
    Auf einem Podest in der anderen Ecke des holzverkleideten Raumes tanzten zwei leichtbekleidete Mädchen zu heiterer Musik von Flöte, Fidel und Trommel. Die bunten Butzenscheiben reflektierten das Licht der einsamen Kerzen auf den Tischen. Deftige Gerichte dampften auf dunklen Holztellern und in zinnernen Schüsseln. Das “tanzende Fass” schien stadtbekannt, man sah hier alle Arten von Menschen.
    Die Schankmagd, eine kleine Frau Mitte zwanzig mit aschblonden Zöpfen unter der speckigen Haube, erschien mit zwei Krügen, aus denen es verheißungsvoll schäumte.
    Schweigend leerten sie diese, dann lehnte sich Cedric zurück und betrachtete seinen Freund. Dessen Gesicht war im schummrigen Licht des Gastraumes und unter der Kapuze kaum zu erkennen und so, wie er den Kopf hielt, konnte man glauben, er wäre krank oder zumindest betrunken. Doch der Schein trog, wie üblich. Cedric sagte nichts, weil er genau wusste, dass Rory den Gesprächen der anderen Besucher lauschte, und behielt stattdessen die Tür im Auge. Nur falls jemand auftauchen sollte, der ihre Tarnung blitzschnell durchschauen konnte.
    “Ist bei euch noch frei, Jungs?” Noch während die Worte durch die tabakrauchgeschwängerte Luft drangen, schob sich bereits ein stämmiger, fahlblonder Mann mit aufgedunsenem Gesicht neben Cedric und hüllte ihn in eine Wolke aus Schnapsdunst. “Seht aus, als könntet Ihr ‘n paar Schlucke vertragen! Hey, Schätzchen, eine Runde für mich und meine Freunde hier!”, brüllte er, als eine der beiden Schankmägde gerade zum Tresen zurückkam.
    Rory hob kaum merklich den Kopf, seine Augen blitzten.
    Sein neuer Tischgefährte sah es nicht, er kratzte sich das stoppelige Kinn. “Wo drückt denn der Schuh, Kumpel?”, wandte er sich an Cedric. “Ihr sitzt so abseits … wollt ihr eure Ruhe? Oder seid ihr nicht von hier?” Das ging jetzt an Cedrics Begleiter.

  • Hey Kiddel Fee

    Du verstehst es wirklich gut eine Atmosphäre zu zeichnen – Respekt. Die Erzählung reiht sich gut an deinen Prolog an, in dem man sich die Szene ja auch sehr schön bildlich und atmosphärisch vorstellen konnte. Die Geschichte ist finde ich schon auf sehr hohem Niveau geschrieben, aber vielleicht ist mein Auge auch noch nicht so geschult für die Kritik.

    Während sein Begleiter einen kleinen Tisch in der hinteren Ecke des Gastraums für sie beide in Anspruch nahm, fing er eine der Bedienungen ab und bestellte zwei Bier in sauberen Humpen. Er stellte sicher, dass die Frau seinen angeekelten Blick in Richtung des Wirtes gesehen und richtig gedeutet hatte, dann ließ er sich ebenfalls auf der grob gezimmerten Holzbank nieder und sah sich unauffällig um

    Also das würde ich mich im echten Leben nicht trauen, sonst gibt’s einen „besonderen Gruß“ aus der Küche :D

    Ich finde das Verhalten deiner Charaktere sehr konsequent beschrieben. Man merkt z.B. an mehreren Stellen, dass die beiden nicht oft in solchen Etablissements unterwegs sind. Mit Rory scheint etwas besonders zu ein, was sehr dezent angedeutet wird.

    Was ich jetzt höchstens machen könnte ist auf diesem hohen Niveau etwas klug zu scheißen. Wenn du dir das antun willst, voila:

    Spoiler anzeigen
    Zitat von Kiddel Fee

    eine Wand aus warmer, biergeschwängerter Luft

    Zitat von Kiddel Fee

    Noch während die Worte durch die tabakrauchgeschwängerte Luft drang

    Macht es vielleicht Sinn „tabakrauchgeschwängert“ anders zu umschreiben? Doppelt schwanger ist ja bekanntlich schwierig ;)


  • Kiddel Fee

    Aus meiner Sicht reiht sich der Part nahtlos an den super geschriebenen Prolog an, obwohl ich nichts von diesem im neuen Text wiederfinden kann. Doch das stört mich kein bisschen. :)

    Ich finde interessant, wie du vom Beschreiben der nächtlichen Szene (auktorial) zu Cedric wechselst. Aus dessen Sicht zeigst du uns, wie es in der Taverne aussieht und zugeht. Gefällt mir!

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    • Offizieller Beitrag

    Hi Kiddel Fee

    Du hast eine neue Geschichte angefangen? :D

    Den Anfang fand ich interessant :hmm: der Traum MUSS ja mehr sein, wenn schon der Titel nach dem Sturm benannt ist XD

    Die Schilderungen fand ich gut. Mir kam nur eine Frage, die sich aber vielleicht auch später noch klärt. Die Stadt in ihrem Traum ... war das auch IHRE Stadt?

    :hmm:

  • Novize , Tariq , schön, dass ihr dranbleibt!

    Novize, du hast natürlich recht, die Luft ist eindeutig ZU schwanger:)

    Etiam , ja, mich hats halt so geritten und ich habe keine Lust, Elemental jetzt auf Fehler abzugrasen:D

    Da mach ich lieber was anderes, bevor dieses andere dann wieder weggeflogen ist:rolleyes:

    Mir kam nur eine Frage, die sich aber vielleicht auch später noch klärt. Die Stadt in ihrem Traum ... war das auch IHRE Stadt?

    :hmm:

    Gute Frage8)stay tuned^^

  • “Rerys!” entgegnete Rory knapp, jedoch mit deutlichem Dialekt aus der fernen Grenzstadt. Cedric grinste in sich hinein.
    “Ah, Rerys!” Ihr neuer Saufkumpan machte eine weit ausladende Bewegung und wäre beinahe von der Bank gestürzt. Offenbar war dieser Tavernenbesuch nicht sein erster heute und er hatte schon einiges intus. “Ich hatte mal ‘n Mädel aus Rerys. Dralle Biene, mit einem Arsch wie ein Pferd - “
    Bierkrüge wurden auf die Tischplatte gestellt und ersparten ihnen weitere farbenfrohe Beschreibungen.
    “Ich bin übrigens Hal”, fuhr der Spender des zweiten Getränkes fort. “Habt euch nen guten Tag ausgesucht für euren Besuch, Freunde. Nen guten Tag.” Er leerte den Krug in einem Zug und wischte sich ruckartig den Schaum von dem hellen Flaum über seinen wulstigen Lippen.
    “Tatsächlich?”, entgegnete Cedric und legte eine ausreichend große Menge Neugier in dieses eine Wort.
    “Jawoll, meine Herren! Wir trinken auf das Wohl unseres Prinzen Eneas! Morgen wird er sechzehn Jahre alt und kehrt dann in das Schloss seiner Ahnen zurück. Nur noch eine kurze Weile, bis er den Thron seines Vaters übernehmen und dieses Land endlich wieder in die Blüte führen wird!”
    “Ich trinke auf seine Gesundheit!”, antwortete Cedric höflich und nahm einen Schluck. Den Rest schob er dem herüberschielenden Hal hin.
    Dankbar griff dieser zu. Unter dem rhythmischen Gluckern wechselte Cedric einen weiteren Blick mit Rory und erntete ein kaum merkliches Nicken.
    Eine rasche Geste zur Schankmagd hinüber stellte sicher, dass für Hals Nachschub gesorgt war. Dann lehnte sich Cedric leicht nach vorn.
    “Verzeih, Kamerad. Aber ich hatte auf unserer Reise hierher nicht den Eindruck, dass es schlecht steht bei euch!”
    “Pfah!” Hal setzte den Krug gerade noch rechtzeitig ab, bevor er vor Empörung prustete, trotzdem flogen Schaumfetzen auf die schmuddelige Tischplatte. Dann stützte er sich auf den rechten Ellenbogen und hielt Cedric den erhobenen Zeigefinger vors Gesicht.
    “Auf der Hauptstraße, ja. Da legt der Regent wert drauf. Soll ja alles gut aussehen.”
    Wieder ein kräftiger Schluck, dann war der Krug leer.
    Beiläufig reichte Rory sein unberührtes Bier an den Einheimischen, der sich dankbar darauf stürzte und dann zu reden begann.
    “Der Regent, das sach ich euch. Ein Scheisskerl. Korrupt, grausam und ungerecht. Das ganze Gegenteil seiner wundervollen Schwester, Königin Cynthea. Die is leider viel zu früh gestorben. Müsst ihr in Rerys auch mitgekriegt haben.”
    Cedric nickte zustimmend. “Ist aber schon eine ganze Weile her, oder?”
    “Zu lange!”, sinnierte Hal und starrte in seinen Krug. “Bei der Geburt verstorben. Soll passieren, nicht? Merkwürdige Geschichte allerdings, merkwürdige Sachen …”
    Neue Bierkrüge wurden gebracht. Rasch nahm sie Cedric der Bedienung ab und stellte sie zu ihrem Tischkameraden. “Merkwürdige Sachen? Was meinst du?”
    “Erst sind die beiden älteren Prinzessinen an irgendeiner Seuche verreckt. Schlimm war das. Mussten verbrannt werden, ging alles ganz schnell, keiner wusste was Genaues. Dann der Jagdunfall des Königs . Zuletzt verblutet die Königin im Kindbett und das Kind stirbt ebenfalls. ”
    “Mann, das ist ja furchtbar.” Cedric schüttelte den Kopf, während er Bier nachschenkte. Dieser Hal erwies sich als eine Goldgrube. Trotzdem galt es, vorsichtig zu sein. Alkohol löste die Zunge schnell und wenn sie nicht achtgaben…
    Rory schwieg.
    “Ja, furchtbar.” Hal griff nach Krug Nummer fünf und schien dabei unsicher, ob er wütend brüllen oder in Tränen ausbrechen sollte. “Und die Leute zerreißen sich das Maul. Verständlich, nicht wahr?”
    “Nun, das sind - doch recht viele Ereignisse auf einmal”, erwiderte Cedric unbestimmt.
    “Ja, sstimmt wohl.” Ihr Saufkumpan stierte in seinen Krug. “Nur der Prinz is übrig. Weil der nich hier war. Da kam Effed nich ran. Ist bei irgendeinem Lord zur Ausbildung. Sicher besser für ihn gewesen, vielleicht lebt er deswegen noch.”
    “Das klingt, als würdest du euren Regenten verdächtigen, seine Schwester und deren ganze Familie umgebracht zu haben.” Rory hatte so leise gesprochen, dass es fast nicht zu hören gewesen war, doch die Worte schienen einen Weg in Hals alkoholgeschwängerte Gedanken gefunden zu haben.
    Langsam drehte der Trinker den Kopf und blickte Rory aus leeren Augen an. “Du hast recht, Bübchen. Das tue ich.” Er stemmte den letzten Krug, als schwänge er einen Schmiedehammer. Dann erhob er sich und kam schwankend zum Stehen. “Das tue ich!”, brüllte er auf einmal los und spuckte die Hälfte seines Getränkes auf die ohnehin schon verschmutzte Tischplatte. “Effed is ein elendes Schwein! Alle wissen es!”
    Schlagartig herrschte Ruhe im Gastraum. Alle sahen den Torkelnden mit dem schütternden Haar und der kräftig roten Gesichtfarbe an, der ungeachtet vom Unrat auf der Tischplatte nach dem nächstbesten Krug griff. “Auf Prinz Eneas! Wenn er seinen Onkel überlebt - “ die schrille Stimme überschlug sich, Hal machte eine halbe Drehung und stürzte beinahe - “wenn er seinen Onkel überlebt, wird es endlisch wieder einen guten Könich - “ Seine Miene wechselte mit einem Schlag von Rot nach Weiß und er kotzte mitten auf den Boden.
    Angewidert starrten die Menschen ihn an, wie er auf allen vieren kauerte, und tuschelten aufgeregt miteinander. Man rutschte näher an die Wand, weg von diesem hirnlosen Säufer, der mit seinem haltlosen Gerede eine Gefahr darstellte.
    Cedric erhob sich rasch, ohne zu eilig zu wirken und zählte dem Wirt zwei Goldstücke auf den Tresen. Noch während der dicke Glatzkopf das Geld verstaute, verriet ein kühler Zug, dass die Tür geöffnet worden war und immer noch offen stand.
    Ein Trupp Gardisten drängte herein, zwei verharrten mit gekreuzten Piken neben der Tür, vier weitere verteilten sich rasch zwischen dem immer noch leise schimpfenden Hal und den Gästen, der Hauptmann hingegen trat mitten vor den Betrunkenen.
    “Was ist hier los?”
    Die plötzliche Stille drückte in den Ohren. Einige Frauen hatten erschrocken die Hand vor den Mund geschlagen, halb versteckt hinter den Rücken ihrer Begleiter. Keiner wagte es, zu sprechen.
    “Du!” Der Hauptmann stieß Hal mit der Stiefelspitze an, worauf hin dieser bedenklich schwankte. “Ich habe gehört, dass du deine Meinung von unserem edlen Regenten ziemlich laut herausposaunt hast.” Der Stiefel traf Hals Nase mit voller Wucht, Blut spritzte und Hal stürzte mit einem schrillen Jaulen auf die Knie.
    “Majestätsbeleidigung ist ein schweres Verbrechen, dass hier nicht geduldet wird.”
    Hal starrte keuchend zu dem schwer gerüsteten Mann hinauf. “Effed is keine Majestät. Er is ‘n Mörder, ‘n verdammter Mörder. Alle wissen es. Alle.”
    Wieder trat der Stiefel zu und dieses Mal fiel Hal in die Lache auf dem Boden und stand nicht wieder auf.
    Cedric schob sich wie zufällig vor Rory, doch der Jüngere machte keine Anstalten, panisch aufzuspringen oder eine andere Torheit zu begehen.
    Betont langsam zog der Hauptmann den Dolch aus der Scheide am Gürtel.
    “Ihr ”, die Klinge wies auf die Menge im Gastraum, die angstvoll den Atem anhielt, “habt mit euren Ohren vernommen, was gesprochen wurde. Verleumderische Worte, böse Lügen. Vergesst sie. Streicht sie aus euren Gedanken. Falls nicht, wird euch die selbe Strafe treffen wie dieses Lästermaul hier.”
    Auf ein kaum wahrnehmbares Zeichen traten zwei der Soldaten zu Hal, einer riss seine Arme nach hinten, der andere packte seinen Kopf. Er gab einen protestierenden Laut von sich, der in einen jammervollen Schmerzenschrei umschlug, als die Wache hinter ihm das Knie zwischen die Schulterblätter rammte. Gleichzeitig landeten behandschuhte Finger direkt unter Hals Ohren und zwangen ihn unerbittlich, den Mund zu öffnen.
    Cedric trat instinktiv zurück und dabei Rory auf den Fuß. Er wagte nicht, den Kopf zu drehen und seinen Freund anzusehen, aus Angst die Aufmerksamkeit der Wache auf sich zu lenken. Gleichzeitig ahnte er, dass Rory hinsehen würde, weil der Jüngere es als seine Pflicht sah - und weil diese Bestrafung mehr ans Licht brachte, als das bierselige Gestammel von Hal.
    Der Hauptmann nahm ein kleines Metallinstrument aus seiner Gürteltasche und dann ging alles ganz schnell. Eine blitzende Klinge, ein schrilles Quieken, dass rasch in dumpfes Gurgeln umschlug, dann krachte Hals Körper auf die Seite und der Boden unter seinem Kopf färbte sich dunkelrot.
    Mitleidlos sah die Garde auf ihn herab, dann warf der Hauptmann beiläufig die abgeschnittene Zunge in die Blutlache und drehte sich wieder zu den anderen herum.
    Alle standen wie erstarrt, manche hatten eine ebenso gefährlich blasse Farbe angenommen wie der gerade verblutende Hal, doch keiner wagte es, in Ohnmacht zu fallen.
    Sorgfältig darauf bedacht, nicht in den Schmutz am Boden zu treten, schritt der Hauptmann zum Wirt hinüber und zählte ihm Geld auf den Tisch. “Für Euer Ungemach, guter Mann. Einen angenehmen Abend noch.”
    Die Soldaten polterten hinaus, ohne sich um den verstummten Mann am Boden zu kümmern. Erst als die Tür zukrachte, begannen die Gäste sich wieder zu regen. Ein Zischen und Flüstern sprang von einer Person zur anderen wie ein Feuer von Dach zu Dach. Doch keiner wagte es, zu Hal zu gehen und ihm zu helfen - oder aber festzustellen, dass er verblutet war.
    Auch die Musikanten hielten sich ängstlich an ihren Instrumenten fest. Auf der Stirn des fetten Wirtes hatten sich weitere Schweißtropfen gebildet. Die Tatsache, dass eine Straftat samt daraus resultierender Hinrichtung in seinem Etablissement stattgefunden hatte, musste sämtlichen Anwesenden auf den Magen und damit auf den Geldbeutel schlagen.
    Schon kamen ein, zwei Mutige, einen großen Bogen um die Blutlache am Boden schlagend, zum Tresen und wollten zahlen.
    Cedric spürte einen fragenden Stoß an die Schulter und schüttelte leicht den Kopf. “Wir warten noch etwas”, murmelte er. “Wenn wir sofort gehen, könnte das Aufsehen erregen.”
    Er ließ noch weitere fünf Gäste ihre Zeche bezahlen, bevor er sich in Bewegung setzte und im Hinausgehen der scheinbar zu Eis gewordenen Schankmagd noch einen Silbertaler zusteckte.

  • Das sind ziemlich viel sehr interessante Infos, Kiddel Fee, und ich finde, du hast eine richtige gut geeignete Variante gewählt, um sie uns zu verklickern, ohne den Erklärbär hier zu bemühen. :D

    Super gemacht, Cedric, Kneipengespräche, gut geölte noch dazu, sind ein sprudelnder Quell an Informationen. :thumbup:

    Ein Zischen und Flüstern sprang von einer Person zur anderen wie ein Feuer von Dach zu Dach.

    Das gefällt mir sehr gut, ein toller Vergleich!

    Doch keiner wagte es, zu Hal zu gehen und ihm zu helfen - oder aber festzustellen, dass er verblutet war.

    Raue Sitten und nachvollziehbares Verhalten bei den Kneipengästen :/

    Bin gespannt, ob die beiden unbehelligt rauskommen. Zumindest hat sich der Ausflug gelohnt. Kann weitergehen. :D

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

    • Offizieller Beitrag

    Die beiden Gestalten in ihren dunklen Umhängen bewegten sich rasch durch die nächtlichen Straßen. Ihre Schritte wurden geschluckt von dem Lärm aus Tavernen und Bordellen, vom Gesang betrunkener Zecher, die grölend über das Pflaster torkelten, von Musik aus den weit geöffneten Fenstern in den oberen Stockwerken der großen Handwerkshäuser.

    Auch in dem Part ist noch nicht viel passiert. Aber mir gefallen deine Beschreibungen am Anfang.
    Es werden zwar ein paar kleine Andeutungen gemacht (Die zwei können sich wohl nicht so frei bewegen wie sie wollten. Sie sind besonders achtsam...) aber etwas daraus ablesen kann ich noch nicht. Der Part ging halt viel auf die Atmosphäre außer und innerhalb der Stube ein. Das ist dir gelungen.

  • Kiddel Fee

    eine sehr eindrucksvolle Szene. Ich finde auch die Gewaltdarstellung in der Schocker-Szene gelungen, weil du nicht übertrieben hast und dem Leser trotzdem ein Schauer über den Rücken gelaufen ist. Wie auch in den vorherigen Teilen ist die Szene so gut dargestellt, dass man sich fast jedes Detail vor dem inneren Auge vorstellen kann. Hier meine Anmerkungen:

    Spoiler anzeigen
    Zitat von Kiddel Fee

    Dieser Hal erwies sich als eine Goldgrube.

    Hier hatte ich den Eindruck, dass Cedrik und Rory gezielt auf der Suche nach Informationen sind und habe es nicht ganz mit der Info am Anfang der Szene in Einklang bringen können, die darauf hin deutete, dass sie nur ein Bisschen unter Leute kommen wollten.

    Zitat von Kiddel Fee

    Ein Trupp Gardisten drängte herein

    Zitat von Kiddel Fee

    “Ich habe gehört, dass du deine Meinung von unserem edlen Regenten ziemlich laut herausposaunt hast.”

    Hier habe ich mich gefragt, wie die Gardisten so schnell gerufen werden konnten und bereits informiert waren, was passiert ist. Realistischer hätte ich es gefunden, wenn entweder etwas mehr Zeit vergangen wäre oder einige Soldaten bereits IN der Taverne gewesen wären – so ähnlich wie in der Kneipen-Szene von Inglourious Basterds

    Zitat von Kiddel Fee

    doch keiner wagte es, in Ohnmacht zu fallen.

    Kann man das steuern? :D Wie wäre es mit: doch keiner wagte es einen Laut von sich zu geben …oder so ähnlich

  • vielen Dank, ihr alle!

    Novize , ich habe eine (ziemlich kranke) Vorliebe für Brutales in meinen Stories:evilgrin:

    Hier hatte ich den Eindruck, dass Cedrik und Rory gezielt auf der Suche nach Informationen sind und habe es nicht ganz mit der Info am Anfang der Szene in Einklang bringen können, die darauf hin deutete, dass sie nur ein Bisschen unter Leute kommen wollten.

    Zwei Leute, zwei Ziele:Daber später mehr dazu^^

    Hier habe ich mich gefragt, wie die Gardisten so schnell gerufen werden konnten und bereits informiert waren, was passiert ist.

    Sehr aufmerksam! Da hast du recht, da muss ich noch mal drüber gehen!

    • Offizieller Beitrag

    “Rerys!” entgegnete Rory knapp, jedoch mit deutlichem Dialekt aus der fernen Grenzstadt. Cedric grinste in sich hinein.

    okay, wir kriegen erste Informationen.

    natürlich sehr viel über die Königsfamilie. Auch wenn das wohl den Plot im groben zeichnen könnte haben mich die zwei Jungs mehr interessiert. Sie scheinen Informationen sammeln zu wollen. Aus welchen Gründen weiß ich noch nicht. Bevor die Gardisten rein kamen, habe ich sogar vermutet, ob sie nicht selbst auf der Suche nach Leuten wie Hal sein würden und diese dann verpfeifen. Quasi im Dienste ihrer Majestät :P Wäre auch interessant geworden xD
    Das Ende ist zumindest das Selbe. Hal ist wohl hinüber. Da die beiden aber Augenscheinlcih zu den Guten gehören bin ich gespannt darauf, wie das Thema der Verarbeitung bei den beiden angegangen wird. Ich weiß nicht, wie es den anderen Lesern geht. Aber wenn ich ihn so mit Alkohol vollgepumpt hätte, käme ich mir wohl schuldig vor :hmm:


    Naja, ich bin mal gespannt auf den Prinzen und wie sehr er eingebunden wird bzw. wie viel wir von ihm sehen werden. Auch der Grund, warum er nicht im Königreich war interessiert mich :hmm: Aber das kommt vermutlich noch alles.

  • Etiam , danke!

    Naja, ich bin mal gespannt auf den Prinzen und wie sehr er eingebunden wird bzw. wie viel wir von ihm sehen werden. Auch der Grund, warum er nicht im Königreich war interessiert mich :hmm: Aber das kommt vermutlich noch alles.

    Recht hast du, ich kann ja nicht im ersten Kapitel alles verraten. :)

    Aber wenn ich ihn so mit Alkohol vollgepumpt hätte, käme ich mir wohl schuldig vor

    mal sehen...ich als Autor komme mir auf jeden Fall mies vor, aber ich wusste ja auch , worauf es hinaus läuft:blush:

  • Kapitel 2

    Cedric verlor keine Zeit. Als Rory hinter ihm aus der Tür trat, dirigierte er seinen jungen Freund ohne große Worte weg von dem erleuchteten Platz, an dessen Rand sich das Wirtshaus und andere Etablissements von zweifelhaften Ruf drängten. Auch Gäste, die hinter ihnen aus der Schenke kamen, schienen es plötzlich sehr eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Die Tische leerten sich, die Musik war verstummt und die Spaziergänger schlugen einen großen Bogen um das Gebäude, als könnten sie durch dessen Wände hindurch den toten Hal in seinem Blut auf dem Boden liegen sehen …
    Entschlossen bog Cedric in die hinteren Gassen des Vergnügungsviertels ein. Jeden Gedanken an den Saufkumpan von eben verbot er sich. Erst musste er sicher gehen, dass ihnen niemand folgte.
    Die Sommernacht, die eben noch angenehm gewesen war, schien nun plötzlich drückend schwer. Der Himmel wurde von unruhigem Wetterleuchten erhellt und als die beiden Männer schließlich aus der Häuserfront traten und die hüfthohe Flussmauer erreichten, fielen Mückenschwärme über sie her.
    Rory war Cedric schweigend gefolgt und auch jetzt lehnte er sich ohne ein Wort über die massiven Steine der Uferbegrenzung und blickte in das dunkle Wasser. Die Peyta floss hier ruhig und träge vorbei, schmutzig von all den Abfällen, welche die Stadtbewohner einfach in den Fluss gaben. Wahrlich kein erquickender Anblick, jetzt mitten in der Nacht erst Recht nicht.
    Doch Cedric ließ Rory den Moment. Er wusste, dass sein Freund einen Augenblick brauchen würde, um das eben Gesehene zu verarbeiten. Ihm selbst würde Hal keine schlaflose Nacht bereiten. Der Mann hatte sich bereits angetrunken zu ihnen gesellt und dann einfach immer weiter gemacht. Sicher, der Nachschub war durch seine Hand sichergestellt worden. Aber er hatte weder ahnen können, dass sich Hal lebensmüde um Kopf und Kragen und Zunge redete noch war er verantwortlich dafür. Einzig und allein die Grausamkeit der Soldaten - die doch recht plötzlich in der Tür gestanden hatten, wenn er so darüber nachdachte - hatte einen bitteren Geschmack in seinem Mund und ein flaues Gefühl in der Magengegend hinterlassen.
    Er wedelte die aufdringlichen Mücken beiseite und trat zu Rory. “Gehts?”
    Der Jüngere atmete tief durch und stützte die Unterarme auf die schartigen Steine. “Alles gut.” Für ein paar Sekunden starrte er noch zum anderen Ufer hinüber, wo die Hafengebäude wie ein großer schwarzer Klotz hinter den Stegen kauerten. Dann drehte er sich herum, lehnte sich mit verschränkten Armen an die Mauer und musterte Cedric. “Was denkst du?”
    Cedric trat neben ihn, damit nicht jeder zufällig passierende Städter ihr Gespräch mitbekommen konnte. Es war zwar niemand zu sehen, doch Cedrics Gedanken bargen ähnliches Potenzial wie Hals betrunkenes Gebrüll und er hatte keine Lust, sich in noch größere Schwierigkeiten zu begeben. “Der Mann hat einiges bestätigt, was du bereits vermutet hast.”
    “Glaubst du, er hat die Wahrheit gesagt?” Rorys Miene war undurchdringlich, er ließ sich nicht anmerken, was er über das Erlebte dachte.
    “Das spielt keine Rolle. Es zeigt, dass es diese Gerüchte tatsächlich gibt. Und dass sie beim normalen Bürger angekommen sind, egal, was dein Onkel dir erzählt hat. Niemand wird genau sagen können, wie viele Menschen ebenso denken wie Hal - der Regent hat die gesamte Familie seiner Schwester aus dem Weg geschafft, um selber an die Macht zu kommen.” Prüfend blickte Cedric aus den Augenwinkeln zu Rory hinüber, doch der sah wieder zum Fluss hinab und schien zu überlegen. “Hör mal, mein Freund, es ist heiß, jeden Moment kann es anfangen zu regnen und das Risiko, dass unsere Abwesenheit bemerkt wird, steigt immer mehr. Was hälst du davon, zurückzugehen? Unser Heimweg wird anstrengend genug!”
    Sein Freund nickte. “Bitte sag mir, dass du weißt, wo es langgeht.”
    “Keine Sorge.” Cedric lächelte kurz. Er hatte befürchtet, dass Rory beim Ausbruch aus der Residenz mit den Gedanken bereits bei dem gewesen war, was sie zu erfahren suchten, und deswegen umso genauer auf ihre Umgebung geachtet. “Ich fürchte trotzdem, dass wir einer Patrouille in die Arme laufen werden. Irgendwie scheint die Stadt auf einmal höchst wachsam zu sein. Wir sollten uns wirklich beeilen und hoffen, dass uns niemand sieht.”
    Seine letzten Worte gingen in einem dröhnenden Donnerschlag unter und wie zur Bestätigung von Cedrics düsteren Worten öffnete der Himmel seine Schleusen.

  • Du baust die Atmosphäre gekonnt auf und fütterst den Leser schon direkt am Anfang mit vielen interessanten Infos! Ich frage mich, was Cedric und Rory da im Schilde führen. Vielleicht sind sie Freunde vom Prinzen? Ich könnte mir sogar vorstellen, dass Rory der Prinz under Cover ist, der vor seiner ofiziellen Rückkkehr schonmal die Lage auskundschaften will. Würde ja vielleicht zu seiner weltfremdheit passen. :hmm:

    nur eine Sache ist mir in einem der ersten Posts aufgefallen:

    Es war, als wöllte sie sich im Schatten des Gebirges unsichtbar machen.

    Bitte sag mir, wenn ich falsch liege, aber die Form wöllte gibt es mMn nicht. es wäre wohl Konjunktiv I mit wolle ?(

    Spring - und lass dir auf dem Weg nach unten Flügel wachsen ~R.B

    Sometimes you have to be your own hero.

  • Hallo, Ondine und willkommen bei meiner Story! Schön, dass auch Du ins Rätselraten einsteigen willst :)


    nur eine Sache ist mir in einem der ersten Posts aufgefallen:

    Es war, als wöllte sie sich im Schatten des Gebirges unsichtbar machen.

    Bitte sag mir, wenn ich falsch liege, aber die Form wöllte gibt es mMn nicht. es wäre wohl Konjunktiv I mit wolle ?(

    Da muss ich selber noch mal gucken :schiefguck:Danke!

  • Nice - Es geht weiter! :thumbsup:

    Die bedrückte Stimmung nach dem Vorfall kommt sehr gut rüber. Hier ein paar kleinere Anmerkungen:

    Spoiler anzeigen
    Zitat von Kiddel Fee

    Etablissements von zweifelhaften Ruf

    Etablissements von zweifelhaftem Ruf

    Zitat von Kiddel Fee

    als die beiden Männer schließlich aus der Häuserfront traten und die hüfthohe Flussmauer erreichten, fielen Mückenschwärme über sie her.

    Rory war Cedric schweigend gefolgt und auch jetzt lehnte er sich ohne ein Wort über die massiven Steine der Uferbegrenzung und blickte in das dunkle Wasser.

    Also ich würde mich ganz schnell weg vom Fluss bewegen, wenn Mückenschwärme über mich herfielen :D

    Zitat von Kiddel Fee

    Aber er hatte weder ahnen können, dass sich Hal lebensmüde um Kopf und Kragen und Zunge redete noch war er verantwortlich dafür. Einzig und allein die Grausamkeit der Soldaten - die doch recht plötzlich in der Tür gestanden hatten, wenn er so darüber nachdachte - hatte einen bitteren Geschmack in seinem Mund und ein flaues Gefühl in der Magengegend hinterlassen.

    Nüchtern betrachtet eine einleuchtende Logik. Aber würden Menschen nach einem solchen Erlebnis tatsächlich so denken? Ich vermute das täten nur sehr abgebrühte Menschen – alle anderen würden sich – denke ich – trotzdem Vorwürfe machen. Das müsste man ggf. beim Charakter-building von Cedric beachten.

    Zitat von Kiddel Fee

    Was hälst du davon, zurückzugehen?

    Was hältst du davon, zurückzugehen?