Ängstlich wirft Rena einen schnellen Blick in die Gasse hinter Ihr, um sich zu vergewissern, dass ihr niemand folgt. Der Atem ging schnell und das kleine Herz schlug ihr bis zum Hals. Es war schon schwierig genug gewesen, diesen einen Kanten Brot zu ergattern. Die Älteren ihrer kleinen Bande hatten wahre Horrorgeschichten erzählt, von denen, die der Stadtwache beim Betteln oder Stehlen in die Hände gefallen waren. Schläge, Tritte oder eine Nacht im Rattenloch waren noch die harmlosen Dinge. Die Geschichten, vor denen es ihr immer am meisten gegruselt hatte, handelte von den schwarzen Brüdern und Schwestern, zu denen die Soldaten manche Kinder brachten. Das kleine, hagere Mädchen mit den roten, zerzausten Haaren, wollte nicht herausfinden, was die Männer mit ihr anstellen würden, wenn sie sie erwischten.
Das alles nur wegen eines Stück Gebäcks, dass der Bäcker ohnehin in die Feuerglut hatte werfen wollen. Wenigstens würde sie heute Abend nicht mit knurrendem Magen unter ihre alte Decke kriechen müssen.
Krampfhaft umfasst sie die wertvolle Beute, während sie durch die schmalen Gassen der großen Stadt schleicht. Die Zeit ist diesmal auf ihrer Seite. Der schmale Sichelmond steht noch tief am Himmel und dunkle drohende Gewitterwolken ziehen am Horizont auf. Die wenigen Leute, die noch unterwegs waren, beeilen sich ein festes Dach über den Kopf zu bekommen, bevor das Unwetter losbricht. Vermutlich würde niemand von dem kleinen schmutzigen Mädchen in den zerschlissenen Kleidern Notiz nehmen.
Ein unachtsamer Tritt bringt Rena ins Stolpern. Reflexartig rudert sie mit den Armen und das Brot droht in den Dreck der Straße zu fallen. Schützend zieht sie es an den Körper und kracht mit ihrer Schulter hart auf den staubigen Boden. Nur mit Mühe unterdrück sie einen Schrei. Tränen schießen ihr in die Augen, während ihre rauen Finger das Brot an ihren Leib pressen. Haddad würde es ihr nicht verzeihen, wenn sie auch noch die letzte Beute, die sie hatte ergattern können, verlieren würde. Wie denn auch, wenn sie nichts zu dem ärmlichen Leben der Gruppe beitragen konnte. Sie rappelt sich auf und läuft weiter.
Endlich taucht das schützende Versteck vor ihr auf. Ein heruntergekommenes, halb verfallenes Haus über dessen Eingang noch „Schutzhaus der königlichen Stadt Sonnenfels“ in verwitterten Lettern geschrieben stand.
Doch die Zeiten als es Menschen wie ihr und ihren Freunden Schutz bot, sind längst vergangen. Kurz nach dem Fall des Reiches und der Übernahme hatte man eben jene die im Reich als Schutzbedürftig galten, aus dem Haus getrieben. Lange bevor Rena und Haddad in dieser Ruine einen Unterschlupf fanden. Wahrscheinlich war Rena zu dieser Zeit noch gar nicht geboren. Keines der Straßenkinder hatte den Alltag in diesem Haus erlebt.
Wenn man den Blick durch den Eingangsbereich schweifen ließ, sah man den hellen Fleck, wo einst das Schwarze Brett hing. Man konnte von diesem Fleck aus, nahezu alle Bereiche des einstigen Schutzhauses sehen. Die Schlafsäle, die Essensbereiche und auch die Quartiere jener, die sich um die Schutzbedürftigen gekümmert hatten. Hinterm Schutzhaus gab es einen geschützten Hof und natürlich eine Werkstatt. Denn auch wenn die Armen und Ausgestoßenen hier ein Obdach und eine warme Suppe erhielten, so mussten sie für das bisschen, was sie bekamen, arbeiten.
Von der einstigen Einrichtung des Schutzhauses war nicht viel übriggeblieben. Vieles war gestohlen, manches einfach nur sinnlos zerstört worden. Seit Rena mit Haddad und den anderen Kindern in diesem Haus Unterschlupf gefunden hatte, versuchten sie den zerstörten Möbeln wenigsten noch einen letzten Sinn zu geben und damit ein Feuer im Kamin am Brennen zu halten. Meistens hatte sie sich für das ehemalige Büro des Leiters entschieden. Es war kleiner als die anderen Räume und somit leichter zu beheizen. Zu dem befand es sich im hinteren und somit der Straße abgewandten Bereich des Gebäudes. Sie erwarteten zwar keine Kontrolle durch die königliche Garde, aber die Kinder wollten auch nichts riskieren und ihr kleines Versteck offenbaren.
„Da bist du ja endlich“ schnauzte Haddad, der Anführer ihrer Gemeinschaft, sie an. Er war verärgert, das sah sie in seinem Gesicht und Rena zuckte zusammen. Seit kurzem war er leicht reizbar und das bekam derjenige, der ihn verärgerte, auch zu spüren.
„Ich habe ein paar Umwege genommen.“ sagte sie kleinlaut und senkte den Kopf. „Ich wollte doch niemanden hierherführen.“
Schließlich waren sie auch nur eine Bande von Bettlern und Dieben. Zumindest in den Augen der Obrigkeit und der königlichen Garde.
„Und, hast du wenigstens etwas dabei?“ fragte er und Rena streckte ihm die Hände mit dem Brot entgegen, das sie bis eben noch unter ihrem Kleid versteckt gehalten hatte.
„Ich habe mich nicht getraut, mehr vom Bäcker zu nehmen.“ murmelte sie.
„Na wir werden die Nacht wohl überleben.“ grummelte Haddad. Rena schloss gequält die Augen.
„Ich werde auf meinen Anteil verzichten.“ antwortete sie kleinlaut, auch wenn ihr Magen laut knurrend dagegen protestierte.
Haddad streichelte ihr sanft über das Haar. Erst als sie die Augen wieder öffnete und zu ihm aufblickte, hörte sie seine weiche Stimme.
„Ist schon in Ordnung. Das hast du gut gemacht Rena.“
Er brach ein gutes Stück Brot ab und gab es ihr, bevor sie sich zu den anderen gesellten.