Vorwort & Triggerwarnungen
Dies hier ist eine Geschichte, welche im kreativen Wahn über wenige Tage hinweg entstanden ist - und mich nicht mehr loslassen möchte. Mir ging es zum Zeitpunkt der Entstehung nicht sonderlich gut, wie vermutlich allen, die sich erst nach Jahren mit einer psychischen Krankheit Hilfe holen. "Mücke und der Elfendieb" ist somit die finsterste Geschichte, die ich je geschrieben habe. Ich mag es schaurig und düster, aber hier habe ich mich völlig ausgelebt und die Monster im Kopf aus meinen Gedanken gezerrt und ihnen Namen, Gesichter und Rollen gegeben.
Daher fasst dies bitte als eine Warnung auf. Es wird düster und es werden Themen vorkommen, die für den ein oder anderen Leser belastend sein können. Es werden Themen wie Missbrauch, Krieg, Angstzustände, Tod, Drogen- und Alkoholmissbrauch und bipolare affektive Störung behandelt. Ich versuche, jedes dieser Themen mit der Ernsthaftigkeit und dem Respekt zu behandeln, den sie verdienen und den man ihnen leider schon viel zu lange schuldig ist.
Wer auch immer du bist, lieber Leser, passe auf dich auf. Egal wo, egal wann - und ganz egal wie dunkel und endlos der Tunnel auch sein mag, in dem du verloren gegangen bist, Monster haben Ohren, damit du sie anschreien, sie verfluchen und schlussendlich vertreiben kannst.
Eure
Naduschka
P R O L O G
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»To die would be an awfully big adventure«
(Peter Pan)
Original von James Matthew Barrie
1860-1937
☙•❧
Er war kein Angsthase.
Ganz egal, was diese Blödmänner auch sagten. Fero fürchtete sich nicht. Niemals, wirklich nie, aber diese verfluchte Stadt machte ihn nervös. Berlin war groß, fremd und so endlos grau. Selbst die bunten Lichter, mit denen sich die unzähligen Bars wie männliche Pfauen aufplusterten und präsentierten, vertrieben nie ganz diese Leere, die wie Nebel über dem Asphalt hing. Fero hasste die Oberwelt.
Er bevorzugte die alten Tunnel unter der Stadt, dort, wo der Himmel endlich war und Erwachsene keinen Zutritt hatten. Dort, wo es keine Großen gab. Keine Regeln. Keine Verbote, die scheinbar nur für Kinder galten. Die Hände tief in den Tachen seiner ausgeblichenen Jeans vergraben, summte Fero eine zusammenhangslose Melodie. Er summte immer, wenn er unter freiem Himmel war. Das war die einzige gute Sache an der verdammten Oberwelt. Hier stiegen die Melodien gen Himmel empor und verteilten sich, vom Wind getragen bis ans andere Ende der Welt. Musik wurde hier vergessen. Wie die meisten Geräusche erzeugten die gesummten Melodien kein Echo, sondern wurde einfach weggeweht. Unten in den Tunneln war Musik gefährlich, die Dunkelheit hatte Augen und vor allem Ohren und man wusste nie, wer einem gerade zuhörte.
Zwischen Asphaltboden und schwarzer Unendlichkeit summte Fero seine Einsamkeit hinweg. Einsamkeit war in Ordnung. Einsam und verloren fühlte sich jeder mal und es hatte nichts mit Angst zu tun. Mit Einsamkeit kannte sich Fero aus. Wenn er eine Sache in den Tunneln gelernt hatte, neben dem Umgang mit dem Messer und die Tatsache, dass jedes Geräusch einen umbringen konnte, dann war es, dass man sich sogar in einer eng zusammengerauften Bande alleine fühlte.
Nur noch zwei Straßen, dachte er. Er summte noch ein wenig lauter. Ein wenig schneller. Nur noch zwei Straßen, dann bin ich weg von diesem beschissenen Himmel ohne Ende.
Man konnte dem Himmel nicht trauen. Von dort kam nur Ärger, ganz egal, ob es Regen oder Bomben waren. Fero hasste beides. Die eine Kacksache machte ihn permanent krank, ließ die Welt nass und feucht und die Knochen kalt werden, und die andere Kacksache hatte seine Heimat zerstört. Fero hörte auf zu summen, als er sich mit zitternden Fingern eine selbstgebaute Zigarette anzündete. Es war eine schöne Zigarette. Nicht so ein armseliges und schiefes Ding, wie sie Pips immer rauchte. Fero war ein echter Zauberer, was den Umgang mit Tabak und Papier anging. Er war ein geschickter Junge mit geschickten Fingern. Manchmal, wenn er in der Nacht an seiner üblichen Wand lehnte und auf Kundschaft wartete, baute Fero kleine Frösche und Kraniche aus altem Kaugummipapier. Es waren schöne Tiere, sauber gefaltet und glattgezogen und könnte man von Origami leben, wäre Fero der reichste Junge auf der Welt. Er würde nie wieder andere Menschen anfassen müssen. Die Zigarette glühte wie ein kleines Leuchtfeuer in der Dunkelheit, als er kräftig an ihr zog.
Nur noch zwei Straßen ...
Das Summen setzte wieder ein. Nur kam die Melodie nicht aus Feros Mund, sondern strich unangenehm über seinen Nacken. Er fluchte, als er sich vor Schreck an der Zigarette verbrannte und wirbelte in einer einzigen Bewegung herum, die Zigarette in der einen Hand, in der anderen sein hektisch gezücktes Springmesser. Da war niemand. Die Straße war leer, weit und breit kein Lebewesen in Sicht. Und dennoch spürte er, dass er nicht alleine war. Etwas war hier, ganz in seiner Nähe.
»Komm raus, du Arschloch!«
Fero stocherte mit dem Messer in die Luft. Beine gespreizt. Brust aufgeplustert. Angriff war die beste Verteidigung und ein verlorener Junge kannte keine Angst. Wer hat Angst vor den Schatten der Nacht? NIEMAND! Und wenn sie kommen? DANN KÄMPFEN WIR! Feros Herzschlag hämmerte hart gegen seinen Brustkorb. Seine Finger waren schwitzig und glitten ohne wirklichen Halt über das abgegriffene Messer. Er lauschte angestrengt, während er sich umsah.
Das Summen setzte wieder ein. Leise und beruhigend. Der eben noch bis an die Haarspitzen angespannte Junge ließ schlaff das Messer sinken. Ein Gefühl von Geborgenheit durchströmte ihn. Von Liebe. Diese Stimme. Diese Melodie. Fero kannte diese Melodie, auch wenn er nicht wusste woher. Aber was spielte es schon für eine Rolle? Die Hauptsache war, dass er ihr vertrauen konnte. Dieser Melodie konnte man folgen. Sie beschützte einen, wie ein Regenmantel den Körper vor der herabstürzenden Nässe. Alles würde gut werden, das spürte Fero ganz genau. Jeder Nerv seines Körpers vibrierte wie die Saiten einer Harfe, die sanft angezupft wurden.
Die Melodie war so unfassbar vertraut, so zart, so schön und Fero hatte das Gefühl vor Freude zu sterben. So klang pures Glück. Hoffnung. Ein Happy End. Er musste nie wieder hungern. Nie wieder Männer mit leeren Augen anfassen und sich auch nie wieder für ein paar lausige Scheine anfassen lassen. Niemand konnte ihm je wieder etwas anhaben. Keine Erwachsenen. Keine Schatten und Lauscher in den Tunneln. Kein endloser Himmel. All das versprach ihm die Melodie und Fero bewegte sich wie in Trance.
Er lachte, glücklich und so laut, wie er schon seit Jahren nicht mehr gelacht hatte. Er streckte beide Hände nach dem Summen aus. Nach all dieser Liebe.
Die Melodie verstummte.