In diesem Thread plane ich meine Geschichte 'Nachtnebel - Der Berg der Seelen' zu erzählen. Ich habe bereits vor einigen Tagen einen Beitrag zur Welt dieser Geschichte verfasst, den ihr lesen könnt, um bereits mit etwas Vorwissen in die Geschichte einzusteigen. Der dort verfasste Inhalt hilft vor allem dabei, die Figuren und die vorgestellten Schauplätze besser einzuordnen. Spoiler für die Handlung dieser Geschichte sind im Weltenbaubeitrag nicht enthalten. Dem nachfolgenden Prolog solltet ihr aber auch - so hoffe ich - ohne das Vorwissen im Weltenbaubeitrag gut folgen können. Konstruktive Kritik etwa zu Rechtschreibung & Grammatik, Logikproblemen, überschwänglichem oder mangelndem Gebrauch verschiedener Stilmittel, u.a. ist hier ebenso gern gesehen, wie ein paar warme Worte, was euch gut gefällt, oder auch Anmerkungen dazu, worüber ihr gerne mehr erfahren wollt bzw. was so eure Erwartungen an den weiteren Verlauf der Geschichte ist. Und nun viel Spaß mit dem Prolog
Ich habe hier mal nachträglich eine Beitragsübersicht angefertigt, so könnt ihr von diesem Beitrag direkt zu den anderen Teilen der Geschichte springen:
Beiträgsübersicht
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Prolog - - - - - - - - - - - - - - [Link]
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Prolog
Wie gewohnt war Kaa-ja nach seinem späten Feierabend die Leiter zum alten Ausguck auf der Dorfmauer hinaufgestiegen, um von dort aus sein geliebtes Kemonovolk zu überblicken. Erschöpft, aber zufrieden stand der Dorfälteste an dem gesprenkelten Eisengeländer und zog das Brustband seiner dunklen Leinenjacke etwas enger, als eine kühle Brise durch sein aschgraues, weiß gesträhntes Fell fuhr. Für einen kurzen Moment schloss der alte Kemono die großen rundlichen Augen und ließ den süßlichen Duft der Dornenholzbäume jenseits der Dorfmauern in die tiefsitzenden Öffnungen seiner diamantförmigen Nase einziehen. In Erinnerungen schwelgend, entwich Kaa-ja unwillkürlich ein sehnsüchtiger Seufzer, während der geschwungene Mund seiner leicht hervorstehenden Schnauze ein schwermütiges Lächeln formte.
Die Sonne hatte sich bereits hinter die Baumkronen am westlichen Horizont geschoben und lediglich einen schwachen rötlichen Schleier am Übergang zwischen dem Wald und dem blaugrauen Abendhimmel hinterlassen. Dank der Lichtkugeln in der Nebelwand des heiligen Berges in der Ferne und dem Kerzenlicht, das aus den Fenstern der Häuser nach draußen schien, konnte Kaa-ja die Einzelheiten im Dorf noch gut erkennen. Als er den Blick langsam vom Tempel im westlichen Teil bis hin zur Schmiede im östlichen Teil des Dorfes schweifen ließ, stellte der Älteste fest, dass sich das Alltagsleben der Kemono bereits fast vollständig in ihre Häuser verlagert hatte. Draußen auf den Straßen waren nur noch einige wenige Abendspaziergänger zu sehen, sowie ein paar Wächter, die in ihren dunklen rotumrandeten Rüstungen ihre gewohnte Runde drehten. Als sie Kaa-ja dort oben auf dem Ausguck bemerkten, winkten sie dem hochgeachteten Dorfvorsteher mit ihren hand-artigen Pfoten kurz zu, was der Dorfälteste seinerseits mit einen knappen Wink erwiderte. Alles war ruhig und friedlich, so wie es sein sollte.
Bevor Kaa-ja die Gelegenheit bekam, sich Gedanken über die Planung des kommendes Tages zu machen, vernahm er hinter sich das sanfte Knarren von Holz, das beim Betreten der Leiter ertönte. Spontane Besuche waren nichts Ungewöhnliches während er hier oben verweilte, daher hatte er irgendwann begonnen, ein kleines Ratespiel daraus zu machen, sobald er die Leiter knarren hörte. Wer mochte dieses Mal ein Gespräch mit ihm suchen? Kaa-jas erster Gedanke fiel auf Li-hoi, den Sohn der Dorflehrerin mit dem sonnigen Gemüt und den weißen Flecken auf seinem fuchsfarbenen Gesicht. Er kam häufiger vorbei, in der Hoffnung Kaa-ja eine Geschichte zu einem der zahlreichen Abenteuer zu entlocken, die der Älteste während seiner Außeneinsätze mit dem Wächtertrupp in der Jugendzeit erlebt hatte.
An diesem Abend allerdings war es Juu-ka, der zehnjährige Sohn des Handwerksmeisters, der in seinem kindlichen Elan die Leiter hinauftapste und schwungvoll von der letzten Leitersprosse auf die etwas tiefer gelegene Aussichtsplattform hüpfte. Dank seiner Arbeit als Dorfoberhaupt kannte Kaa-ja sowohl den Namen jedes einzelnen Bewohners im Dorf, als auch die Dinge, die sie für gewöhnlich am meisten beschäftigten. So ließ Kaa-ja nicht lange auf sich warten, bis er seinen Besucher freundlich begrüßte und mit einer einladenden Geste zu sich bat.
"Guten Abend, Juu-ka. Was führt dich zu mir? Brauchst du wieder einen Rat was die Schule angeht?"
Der kleine Kemono mit dem hellen braunen Fell unter der luftigen Baumwollkleidung schenkte Kaa-ja ein warmes Lächeln und trat seiner Einladung folgend zu ihm ans Geländer heran. "Hallo Kaa-ja, was für ein wunderschöner Abend, nicht wahr? In der Schule läuft im Moment alles richtig gut. Heute wollte ich dir einfach nur etwas Gesellschaft hier oben leisten." Juu-kas langer dünner Schwanz senkte sich jetzt entspannt auf die glatt polierten Holzlatten.
Kaa-ja legte den linken Arm großväterlich um Juu-kas Schulter, zog ihn ein bisschen näher an sich heran und richtete seinen Blick langsam wieder auf das Dorf. "Das ist schön. Dann bleib schön fleißig, sodass du später einmal in die Fußstapfen deines Vaters treten kannst."
Juu-ka lächelte dem Ältesten verlegen zu. "Mal schauen. Ich werd' mir Mühe geben."
Für einen Moment verweilten die beiden Kemono in stiller Harmonie und lauschten dem Zirpen der Mauergrillen, die sich an den Krümelfrüchten der Kletterpflanzen unterhalb des Ausgucks verköstigten.
Schließlich hob Kaa-ja seine rechte Pfote und richtete den Zeigefinger auf den riesigen Berg, der hinter dem nahezu unerkundeten und womöglich unüberwindbaren Käferwald bis hoch in den Himmel ragte. "Schau doch, wie kräftig die Seelen auf dem Nachtnebel heute wieder strahlen."
Kaa-jas junger Besucher folgte dem Fingerzeig des Ältesten und sah über das Dorf hinweg auf die breite Nebelwand, die den Berg vom Fuße aus bis weit in die Höhe umschloss. "Als Großvater gestorben ist, hat Papa gesagt, dass die Seelen der toten Kemono dorthin reisen, um über ihre Enkelkinder zu wachen. Das stimmt doch, oder?" Juu-ka blickte den Dorfvorsteher erwartungsvoll mit seinen großen rotbraunen Katzenaugen an.
Der Älteste nahm den Arm langsam wieder von Juu-kas Schulter herunter und stützte sich mit seinen Unterarmen auf das kühle Eisengeländer ab. "Ja, da hat dein Papa ganz recht. Wenn immer ein Kemono alt wird und ihn der Lebensgeist verlässt, dann fährt seine Seele aus seinem Körper und begibt sich zum Nachtnebel. Von dort aus beschützt er dann seine Enkelkinder, aber auch all die anderen Kemono in unserem Dorf. Kaa-ja machte eine kurze Pause und fuhr dann fort. "Zwanzig Jahre lang verweilt eine Seele dort und sorgt in dieser Zeit für gutes Wetter, reiche Ernten und viel Gesundheit. Danach wird sie dann zum Dank für ihren Schutz vom großen Kitsune ins Himmelreich eingelassen und..."
"...lebt dort auf ewig im Paradies." beendete Juu-ka den Satz mit einem frechen Grinsen.
Der Kemonojunge mit dem cremefarbenen Zottelhaar zwischen den großen spitz zulaufenden Ohrmuscheln lehnte sich jetzt ebenfalls über das Geländer und sah wehmütig auf die mehrere Dutzend Lichtkugeln, die ihm aus der Ferne wie die Sterne am Himmel vorkommen mussten. "Wie es Großvater wohl gerade geht?"
Der Älteste zeigte dem jungen Kemono ein warmes Lächeln. "Wahrscheinlich sieht er uns gerade zu und erfreut sich daran, wie sein Enkel zu einem prächtigen Kemono heranwächst."
Juu-ka erwiderte Kaa-jas Lächeln für einen Moment, beäugte ihn dann aber mit einer gewissen Verunsicherung. "Sag mal, Kaa-ja. Wir beide... werden auch dorthin wandern, wenn wir sterben, oder?"
Kaa-ja löste seine Arme wieder vom Geländer, legte die rechte Pfote auf Juu-kas Kopf und fuhr ihm mit den rosafarbigen Noppen an seinen Fingern sanft durch das Haar. "Ja, auch du und ich. Aber bis dahin wird noch eine ganze Weile Zeit vergehen. Du hast schließlich noch dein ganzes Leben vor dir. Bei mir ist das wohl ein bisschen anders." Der Älteste lachte bei diesen Worten müde.
Juu-ka wirkte dagegen ziemlich besorgt bei diesen Worten und zerrte ängstlich an Kaa-jas Ärmel. "Ich möchte aber nicht, dass du uns bald verlässt. Versprich mir, dass du noch eine lange Zeit bei uns bleibst, Kaa-ja."
Der Älteste schüttelte sorglos den Kopf und strahlte dabei eine unbeschwerte Fröhlichkeit aus, so als würden noch viele schöne Jahre auf ihn warten. "Ha ha, natürlich, Juu-ka, natürlich."
Juu-kas Sorgenfalten verharrten noch einen kurzen Augenblick auf seiner Stirn, bevor sie von einem zuversichtlichen Nicken abgelöst wurden.
Kaa-ja fiel nun auf, dass es mittlerweile spürbar kälter geworden war. "Sag mal Juu-ka, solltest du nicht allmählich schlafen gehen? Es ist schon spät."
Doch Juu-ka ging einfach über Kaa-jas letzte Bemerkung hinweg und kam stattdessen wieder auf den Nachtnebel zurück. "Warum ist es uns eigentlich verboten, die Seelen unserer Vorfahren dort drüben zu besuchen? Das habe ich nie verstanden."
Der Älteste wirkte jetzt wieder etwas schwermütig. "Nun ja. Das ist so eine Sache... Wenn du genau hinsiehst, dann kannst du am Fuße des Nachtnebels eine dünne rote Linie vor der Nebelschicht erkennen..." Er wartete kurz, bis er Juu-ka knapp nicken sah. "...In der Schule hast du sicher schon gelernt, dass diese Linie eine endlos lange Kette von roten Lampions ist, deren Feuer auf sonderbare Weise niemals erlischt. Diese Kette ist sozusagen die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Seelen. Wir leben hier auf dieser Seite und die Seelen leben dort auf der anderen Seite. Und das muss auch so bleiben, denn sonst gerät das Gleichgewicht des Lebens durcheinander und die Seelen werden unruhig."
Juu-ka runzelte seine Stirn bei diesen Worten, die sein kindlicher Frohsinn offenbar nicht einzuordnen wusste. "Das verstehe ich nicht. Wie könnte Großvater unruhig werden, wenn ich ihn besuche?"
Kaa-ja zupfte nachdenklich an seinem struppigen Kinn. "Nun, wie erkläre ich dir das am besten...? Weißt du, dein Großvater hat dich immer noch sehr lieb und beschützt dich mit ganzem Herzen. Aber Seelen existieren nach ihren ganz eigenen Gesetzen und besitzen keine Sinneswahrnehmung mehr, um zu hören, zu sehen oder zu riechen. Kemono, die den Berg betreten, würden die Seelen lediglich als Bedrohung für das Gleichgewicht des Lebens wahrnehmen und sie dazu verleiten, schlimme Dinge anzurichten um das Gleichgewicht wiederherzustellen."
Juu-ka schien kurzzeitig in den Erinnerungen an seine Großeltern zu versinken und schüttelte dann irritiert den Kopf. "Großvater würde mich als Bedrohung wahrnehmen? Obwohl er mich doch beschützen will? Das ergibt doch alles keinen Sinn."
Kaa-ja sah Juu-ka verständnisvoll und mit der Geduld eines alten Mannes an und versuchte es noch einmal mit etwas anderen Worten. "Nun, Juu-ka. Ich kann mir vorstellen, dass das kompliziert für dich klingt. Die Seelen denken zwar an uns und lieben uns alle, aber wenn sich ihnen jemand nähert, dann erkennen sie uns einfach nicht. Ganz egal, wie liebevoll unsere Beziehung zu ihnen zu Lebzeiten war. Sie verspüren einzig die Präsenz von Lebensenergie und die bedroht ihre eigene Existenz. Damit sie also auf dem Berg friedlich leben und uns ihren Schutz bieten können können, bleiben wir hier in unserem Dorf und allen geht es gut."
Juu-ka machte nicht den Eindruck, als hätte er die Worte des Ältesten in seiner ganzen Tragweite begriffen, allerdings war sich Kaa-ja sicher, dass Juu-kas großes Vertrauen in ihn ausreichte, damit der Berg ein Tabu für den kleinen Kemono bleiben würde. Juu-ka antwortete schließlich ein wenig niedergeschlagen mit einem schwachen 'Achso...'.
Kaa-ja fuhr seine Pfote ein weiteres Mal durch das volle Haar des jungen Kemono und schenkte ihm, so hoffte er zumindest, ein aufmunterndes Lächeln. "Nun lass uns allmählich gehen. Deine Eltern warten sicher schon auf dich."