Es gibt 12 Antworten in diesem Thema, welches 2.766 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (4. Oktober 2021 um 22:24) ist von Myrtana222.

  • Arigatari

    Wie ein Heer aus Schaben krochen die Schaulustigen durch die Gassen Arités, zielstrebig und gierig. So viele wie nie hatten heute ihre Häuser, ihre Geschäfte und Höfe verlassen, und wie jedes Geschmeiß trieb sie nur der niederste Instinkt, das niederste Bedürfnis an. Lachen mischte sich unter die vorfreudigen Gespräche der Städter, füllte die hämische Kakophonie aus tausend Kehlen, die von den Wänden der nahestehenden Gebäude widerhallte. Gut zwei von drei Bürgern Arités strebten dem Kern der Stadt zu, dem Karpasso Plaza, wo sonst der große Markt abgehalten wurde. Der Geruch gerösteter Nüsse und kandierter Früchte lag in der Luft, wie er es sonst nur an Festtagen tat; und wahrlich, heute gab es etwas zu feiern, ein Fest, wie es seit gut dreißig Jahren nicht mehr gefeiert wurde.

    Der Kirchturm der Kathedrale des Heiligen Mez mochte der einzige Punkt der Stadt sein, von dem sich die Menschenmassen überblicken ließen. Weit warf sie ihren Schatten über den Karpasso Plaza, erhob sich wie ein mahnender Finger über das zahlreiche Gewürm der Straßen. Pünktlich zum Glockenschlag teilte sich auf einmal die Menge – und machte Platz für zwei Karren, die aus unterschiedlichen Richtungen dem Mittelpunkt der Versammlung entgegenstrebten. Klackend schlugen die Hufe der Pferde auf das aschgraue Pflaster des Plazas, und ratternd folgten ihnen die vergitterten Bretterwägen. Ein paar schmutziger Hände legte sich um die Stäbe vor dem winzigen Fenster, und in der Dunkelheit des fahrenden Gefängnisses ließen sich die Ärmel eines Büßergewandes erkennen.

    Unruhig kamen die Pferde zum Halt, Schaum aus ihren Mäulern tropfend. Allein die Scheuklappen um ihre Augen mochten verhindern, dass sie in all dem Lärm, in dem Chaos tausender Leiber nicht in Panik ausbrachen und durchdrehten. Indes wurden die Türen der Bretterwägen aufgerissen, und grob wurden die beiden Gefangenen ans Tageslicht gezerrt. Aufgebrachtes Heulen erhob sich aus der Menschenmenge, als der Gegenstand des ganzen Tumultes endlich in Sichtweite trat: ein Mann und eine Frau, beide mit rabenschwarzem Haar.

    „Sidonia!“ Blinzelnd schaute der Gefangene ihr ins Gesicht, ein mühevolles, gequältes Lächeln auf den Lippen. Nur eines seiner Augen ließ sich so weit öffnen, dass er sie anblicken konnte, das andere war zugeschwollen. Tapfer hielt sie einige Sekunden stand, bis sich Sidonias Mund zu einem verzweifelten Schluchzen verzog. Tränen rannen an ihren Wangen hinab, zogen Spuren durch den Schmutz, der von der tagelangen Gefangenschaft an ihrer Haut klebte. Auch ihr waren die Folgen der peinlichen Befragung anzusehen, schwärende Wunden bedeckten ihre Arme, wo Pechpflaster sich in ihren Körper gebrannt hatten. Ihre gebrochenen Finger hatte man ihr hinter dem Rücken zusammengebunden, und wie auch ihm hatte man ihr die Handflächen mit einem Stück Hexenholz durchstoßen. Den gesamten Prozess hatte man sie voneinander getrennt, nicht wissen lassen, was mit dem anderen geschehen war. Bei ihrem Anblick brannten auch ihm die Tränen in den Augen, denn er wusste, das hier würde einer ihrer letzten gemeinsamen Augenblicke sein.

    Wortlos riss der Maskierte neben ihm an den Fesseln um seinen Handgelenken. Flehend versuchte er seinem Henker in die Augen zu sehen, doch der Fremde wich seinem Blick aus, und alles, was er in seinen Augen lesen konnte, waren stumpfe Gleichgültigkeit. Ohne Rücksicht auf seine von Daumenschrauben malträtierten Finger schob ihn der Maskierte voran, die steinernen Stufen empor.

    Fünf Schalen aus schwarzem Marmor erhoben sich hier über die Menge, angeordnet in einem Pentagramm, dem Schutzzeichen vor dem Bösen. In den vorderen beiden war ein Stoß Holz aufgeschichtet, ein schmaler Pfahl ragte aus jedem Haufen empor. Ebenfalls aus schwarzem Marmor geschlagen kniete eine Statue inmitten des Richtplatzes, ehrergiebig, in der einen Hand eine Bulle haltend, in der anderen eine Feder. Zitternd gingen die beiden Büßer voran, erbarmungslos vorangetrieben von ihren maskierten Scharfrichtern. Erst, als sie am vordersten Punkt der Plattform standen und ihr Gesicht der Menge zugewandt hatten, ließen die Henker ihre Stricke fahren.

    „Vor den Augen des Volkes, in Achillons Namen und im Dienste unseres Königs Hewar dem Frommen verlese ich heute die Anklageschrift!“ So laut brausten der Jubel und das wüste Geschrei über den Plaza, dass sich der Büttel kaum Gehör schaffen konnte. Nach ihnen hatte er die Plattform betreten, aber erst jetzt wurden sie seiner Anwesenheit gewahr. Zu sehr hatten die abertausend Gesichter und die Schreie, die ihren Tod wünschten, ihre Aufmerksamkeit auf sich gelegt. Doch auch der Büttel schien nervös. Etwas zittrig hielt er die Enden seines Papierbogens umklammert, Schweiß stand trotz des frischen Herbstwindes auf seiner Stirn.

    „Dem Ehepaar Arndt und Sidonia Perger wird, beeidigt durch Zeugen, schwerste Häresie, Hexerei, Trankmischerei und Schadzauber vorgeworfen. So will man sie Sonnenwendnachts gesehen haben, wie sie ihrer Kleidung entledigt und von Asmodos beflügelt die Ruinen der Alten aufgesucht haben. Dort sollen sie mit ihrer Sippschaft den Sabbath gefeiert haben, den Namen des dunklen Dieners anrufend. In ihren Fürbitten sollen sie den Tod des Medicus Avicenna, die Todgeburt des Säuglings der Müllerin Dorothea und den Hagelsturm erbeten haben, der über die Höfe im Vorland gezogen ist. Und wie von ihnen gefordert verstarb Avicenna, die Adern voll mit schwarzem Blut, und die Müllerin gebar ein verdorbenes, entartetes Wechselbalg, das den Sonnenaufgang nicht mehr erlebte.

    Nach Hinweisen eines treuen Bürgers konnte das Ehepaar Perger in Gewahrsam genommen und peinlich befragt werden.“ Hier stockte der Büttel, als müsste er noch einmal sicher gehen, sich nicht verlesen zu haben. „Nach vier Tagen im Gewahrsam des Scharfrichters wurden sie schließlich geständig. Zu den genannten Gräueln gaben sie zu einer Vielzahl weiterer Verbrechen ein Geständnis ab. So will sich Sidonia Perger Asmodos selbst hingegeben haben, um seine dunkle Saat in ihrem Körper keimen zu lassen. Jahrelang haben sie dem Volk Arités Pein zugefügt und es den Händen finstrer Mächte überlassen. Nur ein Urteil mag die abscheulichen Taten dieser verlorenen Seelen tilgen – und so mögen ihre Körper der Reinigung durch das Feuer übergeben werden.“

    Langsam hatte sich Sidonia auf das Podest herabsinken lassen. Ihre Beine trugen sie nicht länger. Fast blind vor Tränen sah Arndt auf seine Frau herab, selbst mit seiner Angst, seinem Zorn und seiner Hilflosigkeit kämpfen.

    „Es ist gut, Sidonia“, flüsterte er beinahe, doch seine Frau hob den Kopf. „Sie können tun, was sie wollen. Sie können lügen und morden, aber eines werden sie uns nicht mehr nehmen.“

    „Ich weiß doch“, antwortete Sidonia, als sie auf die Füße gerissen wurde. „Ich weiß.“

    Unter tosendem Jubel banden die Scharfrichter das Büßerpaar an ihren Pfahl, und in einem letzten Aufbegehren von Panik und Wut versuchte Arndt sich loszureißen. Vergebens. Höhnisch äfften ihn die Jugendlichen zu seinen Füßen nach, belustigten sich an seinen Tränen, bogen sich vor Lachen.

    Als ihre Henker schließlich die Fackeln in das Stroh unter dem Scheiterhaufen steckten, sah Arndt ein letztes Mal über die Menschenmenge, sah in die Gesichter der Bürger, von denen er genug beim Namen kannte, und ein letztes Mal erhob er seine Stimme.

    „Ich kann versprechen, dass einem jeden von euch Gerechtigkeit widerfahren wird. Jeder von euch bekommt, was er verdient. Ich verfluche euch, mein letzter Atemzug soll das Gift sein, das eure Körper zerfallen lässt. Euer Geist soll keine Ruhe finden, und jeden Morgen soll euch ein anderes Grauen begrüßen. Alles soll euch genommen werden, bis an den Tag, an dem das Wort der Wahrheit gesprochen wird.“

    Knackend fraßen sich die Flammen durch Stroh, Reißig und trockenes Holz. Arndt hatte kaum ausgesprochen, als die Hitze des Scheiterhaufens seine nackte Haut erreichte, und er schrie, als seine Kleidung und seine Haare Opfer der Flammen wurden. Wie in einem grausigen Duett der Qualen viel Sidonia in seine Schreie ein als das Feuer sie verschlang, den Geruch von sengendem Fleisch durch die Gassen und ihre Asche weit hinauf in den Himmel trug.

    Noch lange brannten die Feuer, noch lange labten sich die Menschen an dem grausigen Spektakel, aber noch sehr viel länger sollte man über das Ehepaar Perger sprechen, und über die Schatten, die über Arité fielen.

    Doch weit, weit weg von allen Flüchen, allen Scheiterhaufen, schlief ein Kind in seiner Krippe, wohl behütet und wohl bewacht. Der Flaum auf seiner Stirn zeigte bereits, dass es einmal pechschwarze Haare haben würde, und sein kleines Händchen öffnete und schloss sich in seinen unschuldigen Träumen.

    Öffnete und schloss sich.

    Magie hat etwas einzigartiges: Sie berührt alle Sinne. Sie ist wie ein Geruch, der sich nicht wirklich wahrnehmen lässt, wie Sand, der durch Fingerrillen rinnt. Sie ist ein Geschmack auf der Zunge, der sich nicht benennen lässt, und wie ein Lied, dessen Melodie einem nicht im Kopf bleiben will.
    So lernte Aer die flüchtigste aller Künste kennen: Das Weben von Zaubern, das Formen der Magie.

    Die Schatten der Magie

  • Wow. Das war heftig. Und gut! Und seeehr dark! Und ... sehr gefühlvoll. Hat mich abgeholt und mitgenommen. Danke für dieses kurze Stück bester Unterhaltung!

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hi Myrtana222 ,

    ich kann mich Tariq nur anschließen. Sehr heftig.

    Den Anfang habe ich zweimal lesen müssen, da ich nicht recht wusste, wie ich das doch sehr komplexe Worldbuilding auf den ersten Blick einordne. Du nutzt sehr wenig Raum und dafür viele Beschreibungen, und zunächst war ich unsicher, in welche Richtung es geht. Dafür sorgten auch die Begriffe der fremden Sprache. Der Hexen-Kontext hat mich das Ganze dann aber in Richtung Renaissance einordnen lassen. Interessant fand ich, dass der gesamte erste Abschnitt im Prinzip auktorial, aber passiv erzählt wird, einen Erzähler bekommen wir nicht zu Gesicht, er weiß aber trotzdem alles (und hält bis zum Ende durch). Speaking of: Das Ende war noch beeindruckender als der tragische Tod des Paares, denn nun weiß man nicht, ob die "Vorwürfe" eventuell doch "gerechtfertigt" waren, sprich, haben sie nun doch Magisches bewirkt oder nicht. Das Kind der beiden könnte ja auch rein sterblich sein, aber trotzdem mit einem Hass auf das Establishment aufwachsen und sich an den Hexenjägern rächen o.ä. ?(

    Sehr schön auch, dass du historische Details, wie etwa die konkreten Foltermethoden, mit eingeflochten hast. Sehr einprägsam zu lesen. Danke!

    LG

    Stadtnymphe

    Was ich schreibe: Eden

  • Hi Myrtana222,

    ich hab den Beitrag ebenfalls sehr genossen. Man merkt sofort, dass du Erfahrung hast, solche Texte zu schreiben. Die Erzählung ist sehr präzise und gut vorstellbar. Das Ende ist ein starker teaser. Sprachlich / erzählerisch ist das auf einem hohen Niveau, sodass ich da nicht wirklich was anmerken kann. Falls du Interesse an inhaltlichen Anmerkungen haben solltest, findest du sie hier:

    Anmerkungen

    Nach Hinweisen eines treuen Bürgers konnte das Ehepaar Perger in Gewahrsam genommen und peinlich befragt werden

    Ich nehme mal an, dieser Prozess orientiert sich an historischen "Hexen"-Prozessen. Ohne das nochmal explizit recherchiert zu haben, meine ich, dass diese Prozesse zwar eine ziemliche farce waren, allerdings trotzdem sehr stark bemüht waren, den Anschein eines sauberen Verfahrens zu erwecken. Dazu würde z.B. auch gehören, dass die Identität der Zeugen genannt wird. Falls du das hier auch so machen wolltest, könntest du für den treuen Bürger einfach einen Namen ergänzen.

    Ich verfluche euch, mein letzter Atemzug soll das Gift sein, das eure Körper zerfallen läss

    Noch lange brannten die Feuer, noch lange labten sich die Menschen an dem grausigen Spektakel, aber noch sehr viel länger sollte man über das Ehepaar Perger sprechen, und über die Schatten, die über Arité fielen

    Was ich hier sehr passend fände, wäre eine (unmittelbare) Reaktion des Publikums. Die Szene muss ja sehr beeindruckend wirken: das Paar wird beschuldigt, mit mutmaßlich Statans-ähnlichen Geschöpfen im Bunde zu sein und verflucht anschließend mit dem letzten Atemzug die Menge.

    • Offizieller Beitrag

    Wie ein Heer aus Schaben krochen die Schaulustigen durch die Gassen Arités, zielstrebig und gierig.

    Ah cool xD
    Ich war vor kurzem im Krankenhaus und habe mir dort über mehrere Tage Informationn zur Hexenverfolgung und co reingezogen. ICh finde ddas Thema sehr interessant und deswegen hatte es auch nicht lang gedauert, bis du mich gefesselt hast :P

    Mich hält aber auch noch die Frage, warum es ein Fest war, welches seit 30 Jahren nicht mehr gefeiert wurde. Ist dies etwa der Anfang einer neuen Hexenverbrennungsära oder war man schon sehr lange auf edr Suche nach genau DIESEN Hexen? Was machte diese Verbrennung so besonders gegenüber den anderen? GIbt es überhaupt andere und das ist da gar nicht so an der Tagesordnung?
    Ich bin gespannt :D

  • Wunderbarer Text. Er reißt mit und... ich gebs zu, er macht Hunger auf mehr. Ein wenig klingt er wie ein Prolog zu etwas größerem. Und ein wenig klingt er wie ein Epilog von etwas Größerem... Es sind meist die kleinen Dinge "dazwischen", die fesseln...

    klugschnack-modus

    Wie in einem grausigen Duett der Qualen viel fiel Sidonia in seine Schreie ein (Komma) als das Feuer sie verschlang,

    Der Unterschied zwischen dem, was Du bist und dem, was Du sein möchtest, liegt in dem, was Du tust.
    -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
    Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest?

  • ow. Das war heftig. Und gut! Und seeehr dark! Und ... sehr gefühlvoll. Hat mich abgeholt und mitgenommen. Danke für dieses kurze Stück bester Unterhaltung!

    Vielen Dank, freut mich, dass dir der Einstieg gefallen hat!

    Ah cool xD
    Ich war vor kurzem im Krankenhaus und habe mir dort über mehrere Tage Informationn zur Hexenverfolgung und co reingezogen. ICh finde ddas Thema sehr interessant und deswegen hatte es auch nicht lang gedauert, bis du mich gefesselt hast

    Ich bin auch mehr oder minder über das Thema gestolpert. Ich hatte in einem Spiel zum ersten Mal von den Waldensern gehört, und dann kam da noch kürzlich eine Netflixserie, die die Hexenverfolgung in den USA thematisiert hat, das hat mich dann ein wenig beschäftigt. Zu nah an den historischen Hexenverfolgungen möchte ich dann aber nicht bleiben, ich stehle mir gerade nur aus der Realität zusammen, was mir gefällt.

    Starker Text, da geht man richtig mit. Super geschrieben.

    Danke, freut mich!

    Den Anfang habe ich zweimal lesen müssen, da ich nicht recht wusste, wie ich das doch sehr komplexe Worldbuilding auf den ersten Blick einordne. Du nutzt sehr wenig Raum und dafür viele Beschreibungen, und zunächst war ich unsicher, in welche Richtung es geht. Dafür sorgten auch die Begriffe der fremden Sprache.

    Ich versuche, nach dem Prolog etwas eingängiger zu schreiben. Ich hatte jetzt leider eine etwas längere Schreibpause und hatte schon vorher etwas den Hang, ein bisschen uneingängig zu schreiben. Aber ich bleib dran.

    Ich nehme mal an, dieser Prozess orientiert sich an historischen "Hexen"-Prozessen. Ohne das nochmal explizit recherchiert zu haben, meine ich, dass diese Prozesse zwar eine ziemliche farce waren, allerdings trotzdem sehr stark bemüht waren, den Anschein eines sauberen Verfahrens zu erwecken. Dazu würde z.B. auch gehören, dass die Identität der Zeugen genannt wird. Falls du das hier auch so machen wolltest, könntest du für den treuen Bürger einfach einen Namen ergänzen.

    Ich hab mir überlegt, einen Namen zu nennen, aber die Anzeige einer Hexe erfolgte damals tatsächlich anonym, und ich glaube, das macht auch Sinn. So musste ein Denunziant nicht fürchten, dass man Rache an ihm nimmt oder er selbst während der peinlichen Befragung als Mitherätiker verraten wird. Den Inquisitoren war immer wichtig, weitere Namen aus einem Angeklagten herauszupressen, und was bietet sich denn besser an als seinen Todesboten mit ins Grab zu nehmen.

    Paradoxerweise durfte das Geständnis nicht unter Folter abgerungen werden - das war ein Punkt, in dem die Inquisitoren den Anschein erwecken wollten, einen sauberen Prozess zu führen. Das wurde aber einfach umgangen, indem den "Hexen" nach einer Foltersession einfach gesagt wurde, dass sie genau dasselbe wieder erwartet, wenn sie nicht gestehen.

    Wunderbarer Text. Er reißt mit und... ich gebs zu, er macht Hunger auf mehr. Ein wenig klingt er wie ein Prolog zu etwas größerem. Und ein wenig klingt er wie ein Epilog von etwas Größerem... Es sind meist die kleinen Dinge "dazwischen", die fesseln...

    Danke, und auch vielen Dank noch für die Korrekturen!

    Kapitel 1: Der Junge der Lügen


    Und so lernte Arigatari in einem Fremden Haus das Laufen, ohne die stützende Hand seines wahren Vaters, und auch die ersten Worte, die über seine Lippen kamen, erreichten nie das Ohr seiner Mutter. Doch trotzdem wuchs der Junge nicht allein auf, wenn auch im Unwissenden gelassen, denn seine neuen Eltern wachten über ihn, als wäre er die Frucht ihrer Körper. Katzen schliefen mit ihm in der kleinen Krippe, der er schon so furchtbar schnell entwachsen war, und mit neugierigen Augen erkundete er die Wälder, in denen er mit seinen Freunden die wildesten Abenteuer bestritt.

    „Dunkel ist dein Arigatari, das muss man schon sagen, Heinrich.“ Nachdenklich sah der Tischler des kleinen Walddorfes der Kinderschaar nach, die einfach nur mit Stöcken im Schlamm stocherten und dabei so ernst dreinsah, als retteten sie die Welt. „Als hätte ihm die ganze Kohle die Haare schwarz gefärbt.“

    „Muss wohl so sein“, brummte der Köhler Heinrich. Nachdenklich sah er seinem geheimen Ziehsohn hinterher, die von der Arbeit verfärbten Hände über ein Geländer lehnend. Ja, er und seine Frau hatten beide dunkles Haar, doch weit weg von dem Arigataris.

    „Und nen ungewöhnlichen Namen habt Ihr euch da rausgesucht, aber na ja …“

    „Alt, nicht ungewöhnlich“, unterbrach ihn Heinrich. Tief steckte er die Nase in seinen hölzernen Bierkrug, als wolle er seine Grimmigkeit darin verbergen. Natürlich, die Leute redeten, und sie redeten viel Schwachsinn, wenn sie nichts Besseres zu tun hatten. Trotzdem hatten sie ihre Nasen nicht in Angelegenheiten zu stecken, die sie nichts anging. Außerdem hasste er Gerede.

    „Wenn du meinst“, sagte der Tischler, fuhr dann jedoch in einem versöhnlichen Ton fort. „Unsere Buben verstehen sich gut, aber das passt ja auch. Beide ihre Väter arbeiten mit Holz, der eine macht schöne Dinge daraus, der andere Dinge mit Macht.“

    „Wenn du meinst“, entgegnete der Köhler patzig. Wieder nur Gerede. In einem letzten Zug trank Heinrich den Krug aus, ließ ihn an einem Finger in der Luft baumeln.

    „Du bist ganz schön wortkarg geworden, mein Guter. Was lastet dir denn auf der Seele?“

    „Hm. Petrissa geht’s nicht so gut.“ Warum er sich jetzt dem nervigen Nachbarn anvertraute, wusste Heinrich selbst nicht. Wahrscheinlich wollte er dem Tischler nur keinen Grund mehr geben, noch weiter zu graben.

    „Ist sie krank?“

    „Nein.“ Missmutig sah Heinrich in seinen Krug, doch nur ein dünner Tropfen rann an der Seite entlang. „Ist nur wieder nix geworden mit nem zweiten Quälgeist von der Sorte.“ Dabei deutete der Köhler auf den wilden Haufen spielender Kinder.

    „Geht doch einmal zu einem Medicus. Es heißt, solche Leiden sind für sie längst kein Problem mehr. Nach Arité ist es keine Weltreise, und dort tummeln sich schließlich die besten Ärzte des Landes.

    „Pff“, schnaubte der Köhler verächtlich. „Nach Arité bekommen mich keine 10 Pferde.“

    „Wegen dem Fluch? Es heißt, es träfe niemanden von Außerhalb.“

    „Nein. Ich hab meine Gründe.“ Brummend richtete sich Heinrich auf, ließ die Wirbel in seinem Rücken knacken. „Ich muss dann wieder. Der Meiler ruft.“

    „Überleg dir das doch noch“, rief ihm der Tischler nach. „Das Dorf steht auch noch, wenn du eine Weile weg bist, und allzu teuer wird das Ganze schon nicht sein!“

    „Jaja.“ Abwinkend trottete Heinrich von dannen. So sehr ihn das Geschwätz seines Nachbarn ärgerte, hatte es ihn doch zum Grübeln gebracht. Auch wenn er sich nicht wirklich viel Hoffnung machte.

    Die Sonne war bereits untergegangen, als Heinrich nach Hause zurückkehrte. Noch bevor er die Türe öffnete, begrüßte ihn das fröhliche Schnattern seines Zöglings.

    „Und Seph meinte, er hätte einen Bahkauv gesehen! Die andern meinten er lügt oder es war nur ein alter Hund, aber dann haben wir Spuren gefunden, die in den Wald geführt haben, und die waren ganz sicher nicht von einem Hund, deshalb sind wir ihnen gefolgt! Wir haben sicher drei Stunden alles abgesucht, aber da war dann nichts, und dann …“

    Hell lachte Petrissa auf, aber noch lauter als von ihren Lippen strahlte es aus ihren Augen; die Augen, an deren Rändern sich schon erste Krähenfüße zeigten. Es war einer der Momente wie dieser, der Heinrich noch immer die Knie weich werden ließ. Sie sah noch immer jung aus, aber sie waren es beide nicht mehr. Viel Zeit, um noch ein eigenes Kind zu bekommen, blieb ihnen nicht. „Jetzt hol doch erst mal wieder Luft!“

    In jenem Moment bemerkten ihn die beiden, und das Lächeln seiner Frau verbreiterte sich, schaffte es irgendwie, um den sanften Schwung ihrer Nase zu spielen. „Macht der Meiler wieder Ärger?“

    „Er brennt zu schnell. Der Wind aus dem Osten facht die Glut zu stark an. Musste sichergehen, dass wir bald nicht nur einen Haufen Asche zum Öffnen haben.“ Seufzend ließ sich Heinrich auf einen Stuhl nieder, während Petrissa ihm Eintopf in eine Schüssel schöpfte, so selbstverständlich, dass er nicht erst darum bitten musste. „Aber bald bin ich damit nicht mehr alleine, nicht wahr? Schließlich ist der zweite Mann im Haus schon fast sieben!“

    Etwas schüchtern nickte Arigatari. „Ja, noch achtunddreißig Tage.“ So ernst sahen die dunklen Augen unter noch dunklerem Haar zu ihm auf. In seiner Gegenwart schrumpfte der sonst so lebhafte Bengel zu diesem wortkargen, leisen Zwerg zusammen. So ganz hatte Heinrich nie verstanden wieso. Schließlich verdrosch er ihn nicht, wie es viele andere Väter taten. Aber schlussendlich musste er mit seinem langen Bart und dem breiten Kreuz doch einschüchternd auf den Burschen wirken. Dabei liebte er ihn, von ganzen Herzen – und ja, das war sogar er bereit, sich einzugestehen. Er glaubte nicht, dass er ihn noch mehr lieben könnte, wenn er seinen eigenen Lenden entsprungen wäre. Schließlich hatte er auch seine Eltern geliebt.

    „Pass auf, bevor du dich versiehst, schwingst du die Axt genau so wie dein alter Herr. Dann machen wir so viel Kohle, dass sogar die Schmiede in Issix ihre Essen damit befeuern.“ Jetzt trat wieder ein Funkeln in die Augen des Jungen, wie immer, wenn es um die Welt da draußen ging. Dabei wusste Heinrich so gut wie kein anderer, warum es nirgends einen sichereren Ort für seinen Zögling gab als hier.

    „Gehen wir denn dann auch nach Issix? Seph war letzten Monat mit seinem Vater dort, und er hat dort einen Affen in einem Käfig gesehen und Menschen von weit her in fremder Kleidung, die ganz komisch sprechen …“

    „Ja, ja, wir gehen dann auch irgendwann mal nach Issix auf den großen Markt und bringen deiner Mutter eine schöne Bahne Stoff mit, damit sie sich ein neues Kleid nähen kann. Aber erst, wenn wir unseren ersten Meiler zusammen angezündet haben!“

    Entschlossen nickte Arigatari. „Das wird nicht lange dauern. Ich lerne schnell.“

    „Ich hab keine Zweifel daran, mein Junge.“ Heinrich lachte in einem plötzlichen Anflug von Heiterkeit auf. „Aber jetzt ist es schon ganz schön spät, oder? Mach dich fertig fürs Bett, dann sind die achtunddreißig Tage auch sehr viel schneller vorbei.“

    Zögerlich sah der Junge zu seiner Mutter, aber auch die schüttelte nur entschuldigend mit dem Kopf. „Da hat er leider recht. Du wirst morgen früh aufstehen müssen, wenn du dem Bahkauv noch begegnen willst.“

    Erschrocken riss Arigatari seine Augen auf. „Aber nicht alleine!“

    „Jetzt geh schon! Du fällst ja schon fast um vor Müdigkeit!“ Schmunzelnd sah Petrissa ihrem Zögling nach, als er widerwillig brummend in der Dunkelheit des Hauses verschwand. Doch dann schmolz ihr Lächeln dahin.

    „Du willst ihn also immer noch hierbehalten? Einen Köhler aus ihm machen?“

    „Was ist so schlimm daran, ein Köhler zu sein?“ Feige versteckte sich Heinrich hinter einem vollen Löffel Eintopf, bevor er seine Antwort gab. Dies war eines der Gespräche, die sich lange im Voraus ankündigten, hinterhältig schwelten wie ein Kohlemeiler, der dann doch in Flammen ausbrach.

    „Für dich? Nichts. Und für mich auch nichts. Aber du weißt, dass das nicht seine Bestimmung ist. Du weißt, wer er ist, und seine Eltern waren nunmal keine Köhler!“

    „Ich habe versprochen, mich um ihn zu kümmern, und das ist unsere einzige Verpflichtung. Er soll leben, und keine andere Aufgabe hat man uns zugeteilt. Er muss es nicht sein, er muss nur Kinder bekommen können, das Los muss nicht ihn treffen.“

    „Und du glaubst wirklich, dass du ihn vor seinem eigenen Schicksal verstecken kannst? Glaubst du, all das hier wird ewig gut gehen?“

    Aufgebracht schlug Heinrich mit seiner leeren Schüssel auf den Tisch. „Bisher hat es gut funktioniert, oder etwa nicht? Verdammt nochmal Petrissa, er ist so klein! Welche Last willst du ihm auf die Schultern laden? Er hat es verdient zu leben, wie jeder andere Junge auch. Das alles, das geht ihn nichts an, er hat sich das nicht rausgesucht, ihn hat niemand gefragt!“

    „Er wird nicht ewig dein kleiner Junge bleiben, Heinrich!“ Entschlossen verschränkte Petrissa ihre Arme, trat näher an ihren Ehemann heran. „Du wirst nicht alles vor ihm verheimlichen können. Er wird Fragen stellen. Und wer weiß, vielleicht wird noch der Tag kommen, an dem er auch hier nicht mehr sicher ist.“

    Tief atmete Heinrich ein, um dann lange und gedehnt auszuatmen, in sich zusammenzufallen wie ein ausgequetschter Blasebalg. „Ich habe Angst um ihn, ganz schreckliche Angst.“ Mit gerunzelter Stirn sah er zu seiner Frau auf, die jetzt unerbittlich über ihm stand. „Wer kümmert sich denn um uns, wenn wir einmal alt sind? Wer macht die Kohle, wer repariert das Haus, wer sorgt dafür, dass die Speisekammer voll ist?“

    „Wir sind nicht auf ihn angewiesen. Er ist auf uns angewiesen. Wir werden großzügig entlohnt dafür, dass wir in auch noch aufwachsen sehen dürfen, für ihn da sein dürfen. Vergiss nicht, wer er ist. Irgendwann wird jemand kommen, und dann werden wir ihn ziehen lassen müssen.“

    „Wir müssen gar nichts. Sollen sie kommen, sie werden mit leeren Händen wieder gehen.“

    „Du bist ein sturer alter Bock, Heinrich. Wie kann man nur so sein wie du?“ Sanft legte Petrissa ihre Hände an seine Wangen, küsste ihn. „Wie wäre es denn, wenn wir aufhören würden uns zu streiten und uns lieber darum kümmern, diesem Erben das Leben zu schenken, den du dir so wünschst?“

    Brummend mimte Heinrich noch den Gekränkten, bevor sein Brummen schließlich in ein zustimmendes Kichern umschlug. „Ich glaube, da werden wir uns einig.“

    Magie hat etwas einzigartiges: Sie berührt alle Sinne. Sie ist wie ein Geruch, der sich nicht wirklich wahrnehmen lässt, wie Sand, der durch Fingerrillen rinnt. Sie ist ein Geschmack auf der Zunge, der sich nicht benennen lässt, und wie ein Lied, dessen Melodie einem nicht im Kopf bleiben will.
    So lernte Aer die flüchtigste aller Künste kennen: Das Weben von Zaubern, das Formen der Magie.

    Die Schatten der Magie

  • Hi Myrtana222 !

    Also erstmal hatte ich im Prolog nicht gepeilt, dass es noch weitergeht. Der hätte locker auch als nachdenkliche Kurzgeschichte durchgehen können. Aber umso besser. Das erste Kapitel gibt mir ziemlich starke Der-Junge-ist-auserwählt-weiß-es-nur-nicht-Vibes wie bei Harry Potter, nur halt auf mittelalterlich. Vom Stil her finde ich, dass es an den Prolog, der durchaus einmaliger gestaltet ist, nicht ganz ran kommt. Hier haben wir nun eine Szenerie, die vom Erzählstil her nicht mehr so heraussticht.

    Probleme hatte ich auch am Anfang, den richtigen Erzähler zuzuordnen. Dass hier nun Heinrich als der personale Erzähler fungiert, konnte ich erst nach einiger Zeit herauslesen, besonders, weil dieser "Tischler" so ganz nebenbei eingeflochten und schon als bekannt vorausgesetzt wird; so dachte ich einen Moment, wir hätten wieder den auktorialen Erzähler. Das wurde dann später aber klarer.

    Sehr authentisch finde ich, dass Arigatari erstmal ganz konkret angibt, wie alt er ist. Das erlebe ich bei Kindern in dem Alter oft.

    Und noch Kleinigkeiten, die mir auffielen:

    Spoiler anzeigen
    Zitat


    Und so lernte Arigatari in einem Fremden Haus das Laufen

    *fremden

    Zitat


    kleinen Walddorfes der Kinderschaar

    *Kinderschar

    Zitat


    Nachdenklich sah er seinem geheimen Ziehsohn

    Mit "Nachdenklich..." fängst du kurz vorher auch schon einen Satz an.

    Zitat


    „Ist nur wieder nix geworden mit nem zweiten Quälgeist von der Sorte.

    Heinrich scheint ja ziemlich offen zu sein :D Also, wenn mir jemand auf die Nerven ginge, würde ich nicht mit meinen Problemen rausrücken - er fragt sich ja dann selbst auch wieso -, denn das ist ja dann so ziemlich der Garant, dass die Nervensäge weiterredet... :P

    Zitat


    Wir werden großzügig entlohnt dafür, dass wir in auch noch aufwachsen sehen dürfen

    *ihn

    (Sie werden belohnt, ihn aufwachsen sehen zu dürfen? Hört sich geheimnisvoll an und ich hoffe, du spielst damit nicht nur auf die damals geltende "Rentenversicherung" durch Nachwuchs an :P)


    Hoffe, das hilft dir. :)

    Und um nicht negativ zu enden: Gefällt mir gut, was du schreibst! Gerne weiter.

    LG

    Stadtnymphe

    Was ich schreibe: Eden

    Einmal editiert, zuletzt von Stadtnymphe (3. September 2021 um 09:35)

    • Offizieller Beitrag

    Und so lernte Arigatari in einem Fremden Haus das Laufen, ohne die stützende Hand seines wahren Vaters, und auch die ersten Worte, die über seine Lippen kamen, erreichten nie das Ohr seiner Mutter.

    ok, der Anfang ist solide, aber klassisch, würde ich behaupten.

    Was mir aufgefallen ist, sit dass Arigatari genau wusste wie viel Tage es noch dauert bis zu seinem Geburtstag. Er scheint den Tag ja schon sehnlichst zu erwarten ... oder eben nicht. Wobei dieser Wille, nach Dingen außerhalb von zuhause schon für ein freudiges erwarten spricht.

    Auch wenn es im Text einfach so abgewunken wird, so rätsel ich trotzdem mit dem Namen des Jungen. "Arigatari" ... Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass du diesen nicht umsonst so gewählt hast. Die Geschichte trägt auch den Namen. Klar, sowas kommt öfters vor, aber ich halte hier mal die Augen offen, ob dazu noch was kommt.

    Mehr kann ich noch nicht sagen, ist aber auch erst der Anfang. Mal schauen, was noch kommt.

  • Ich habe den Prolog und den ersten Teil gelesen. Schön mal wieder was von dir zu haben. ^^

    Viel lässt sich noch nicht dazu sagen, nur, dass der Prolog sehe spannend klingt und man sich fragt, was es mit allem auf sich hat. Ich mag es, ohne großartige Informationen in eine Welt geworfen zu werden.

    Und die Fähigkeit, Figuren mit nur wenigen Worten samt werden zu lassen, hast du auch nicht verlernt 😂

    Ansonsten wirkt der Beginn bisher sehr klassisch, aber wer dich kennt, weiß, dass das nicht zu sagen hat. :whistling:

    Gruß

    Kye



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

  • Vielen Dank für eure Antworten, ich kam die letzte Zeit leider viel weniger zum Schreiben als ich gedacht habe. Der nächste Part ist aber fertig:

    Fast schon schleichend kam der Herbst, und er stahl die warmen Tage, nahm sie an sich und erstickte sie in Regenschauern und trübem Morgennebel. Die Bauern im Südwesten hatten längst Gerste und Weizen von den Feldern geholt, Bluthänflinge und Stieglitze pickten eifrig auf, was von den Erntehelfern übriggelassen wurde. Überall im Land bereiteten die Gemeinden den Erntedank vor –

    Nur in Ethlon nicht, nicht in Ethlon, wo der junge Arigatari sein Leben in Verborgenheit führen musste, denn die Menschen in Ethlon waren Nachkommen alter Völker. Völker, die noch wussten, welche wahren Hintergründe die Feste aus grauer Vorzeit hatten. Niemandem in dem Dörfchen im Wald wäre es eingefallen, das Haus am Tage des dreißigsten Scheddings ohne Maske und Verkleidung zu verlassen. Keiner dort wäre so dumm gewesen, nicht bereits am frühen Morgen eine kleine Opfergabe an der Pforte des Friedhofs abzulegen, denn sie alle wussten, dass an jenem Tage die Schleier dünn waren, die die Vielwelten voneinander trennten.

    Fremde waren rund um diesen Feiertag, dem Scheddach, nicht gerne gesehen. Die ganz Alten erzählten oft noch von den Tagen, an denen der Scheddach wie viele alte Feste verboten und grausam geahndet worden war. Scheiterfest verballhornte das Stadtvolk damals jenen heiligen Abend, höhnisch, denn nicht selten erhellten Scheiterhaufen jene längst vergangenen Nächte.

    Doch nicht immer ließ sich vermeiden, dass ein Fremder in die Vorbereitung des Totenfestes platzte, besonders nicht, wenn es ein so hartnäckiger Fremder war wie Pater Antonius. Schon als junger Priester hatte sich Antonius dem Seelenheil der Dörfler verschrieben, die am Rande der östlichen Wildnis ihr gottloses Dasein fristen mussten. Einmal im Monat besuchte er die zahlreichen kleinen Dörfer, blieb jeweils für drei Tage, um dann zum nächsten weiterzumarschieren. Die Ethloner duldeten ihn – immerhin wollte niemand den Unmut der Kirche auf sich ziehen, die noch immer mit argwöhnischem Auge auf das Landvolk blickte. Und außerdem brachte der Pater ein Gut mit, dass unter den einfachen Handwerkern und Bauern selten war – Bildung.

    „Überleg noch einmal, Arigatari. Du hast zwölf Säcke Kohle.“ Mit einem Holzstab ritzte Antonius zwölf Striche in die kleine Wachstafel, die vor dem Jungen lag. „Drei verkaufst du an den Schmied, zwei an den Glasbläser. Wie viele hast du dann noch?“ Mit hochgezogener Augenbraue lehnte sich der Priester vor, sodass er fast auf Augenhöhe mit dem Jungen war. „Und denk nicht mal dran, deine Finger zu benutzen!“

    Etwas schüchtern flatterte der Blick des Jungen zwischen den Augen des Priesters und dem Wachstäfelchen hin und her. „S-sieben?“

    „Mmh. So ganz überzeugt klingst du aber noch nicht. Was denkt ihr denn?“ Dabei sah sich Antonius in der kleinen Scheune um, die ihm als Schulhaus diente. Vier weitere Jungen saßen dort an niedrigen Tischen, alle zwischen sechs und zehn Jahren alt.

    „Ich glaub, er hat nicht recht!“ Mit den Beinen schaukelnd kratzte Seph, der Sohn des Tischlers, auf seinem Wachstäfelchen herum. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal nachgerechnet, Seph dachte nie viel nach, sondern tat einfach, was ihm gerade einfiel. Nicht so wie Arigatari, der über alles grübelte, vor allem Angst hatte, nie der Anführer sein durfte. Manchmal war Arigatari neidisch auf Seph, aber Seph ließ ihn auch immer mitspielen, und wenn irgendetwas lustiges oder aufregendes geschah, war meist Seph der Mittelpunkt des Ganzen.

    „Nein, er hat recht. Sieben Säcke bleiben übrig.“ Eher gelangweilt stützte Tiu sein Kinn auf seiner Hand ab. Dabei hatte der Müllersohn nicht mal Striche auf seiner Wachstafel gemacht. Eigentlich konnte er bereits alles, was ihnen Pater Antonius im Matheunterricht beibrachte, aber Tiu nutzte wohl jede Gelegenheit, der schweren Arbeit in der Mühle für ein paar Stunden zu entkommen.

    „Der Meister hat gesprochen! Sieben ist richtig. Glaube etwas mehr an dich, Arigatari. Du weißt, wie man seinen Kopf benutzt, also lerne auch, wie man den Mund aufmacht!“

    Schweigend nickte der Junge und erntete dafür ein Stirnrunzeln des Paters. „Ich glaube, wir werden uns nach dem Unterricht noch ein wenig unterhalten müssen. Für heute ist auch genug. Morgen werde ich euch aus dem Almanach der Weisen vorlesen. Übt Zuhause, was ihr heute gelernt habt! Vergesst nicht: Ein Handwerker, der nicht rechnen kann, wird ständig übers Ohr gehauen. Verstanden?“ Nach einem letzten prüfenden Blick in die Gesichter der Kinder nickte Antonius, und beinahe gleichzeitig sprangen die Jungen auf, rannten aus der Scheune, den Unterricht längst vergessen und den Kopf bei dem Schabernack, der sich am späten Nachmittag noch anstellen ließ. Nur Arigatari blieb sitzen. Jeder einzelne von ihnen würde lügen, wenn er behaupten würde, nicht gern in den Unterricht des Paters zu gehen, doch Mathematik hatte keinen hohen Stand in den Herzen der Kinder. Wie Arigatari mochten sie es viel mehr, wenn der Pater aus dem Almanach vorlas, dem heiligen Buch der Kirche. Für einen Moment gelang es dem Köhlersohn dem immergleichen Alltag des kleinen Walddorfs zu entfliehen, sich in den Helden-und Heiligengeschichten zu verlieren, die an so fernen, so fremden Orten spielten. Auch wenn die Erwachsenen die aufgedrängte religiöse Erziehung nur ungern sahen.

    „Ja dann, Arigatari.“ Die Ärmel der Priesterkutte stießen Arigatari fast ins Gesicht, als der Pater seine Arme verschränkte. „Was ist einundzwanzig minus neun?“

    Unverständlich sah Arigartai in Antonius Gesicht. „Ich dachte, der Unterricht ist vorbei!“

    „Ist er auch. Beantworte bitte meine Frage. Was ist einundzwanzig minus neun?“

    „Zwölf!“

    „Fünfzehn plus 8?“

    „Dreiundzwanzig.“

    „Du hast sechs Körbe und in jedem davon liegen acht Steine, wie viele Steine hast du?“

    „ Ich … achtundvierzig Steine?“

    Antonius seufzte. „Das war alles korrekt, und du hast weder deine Finger gebraucht noch deine Wachstafel. An der letzten Aufgabe wären sogar viele deiner Mitschüler, die vor dir begonnen haben, gescheitert. Und trotzdem sitzt du hier im Unterricht und tust so, als würdest du mit den einfachsten Aufgaben kämpfen. Das lässt eigentlich nur zwei Schlüsse zu.“ Langsam wich Antonius etwas von dem kleinen Tisch zurück, hinter dem sein Schüler zu einem kleinen Häuflein Elend zusammengeschrumpft war. „Entweder, die Anwesenheit der anderen macht dich so nervös, dass du keinen klaren Gedanken mehr gefasst bekommst, und das glaube ich nicht. Oder aber du stellst dich absichtlich dumm an.“

    „Sie mögen es nicht, wenn jemand besser ist im Rechnen als sie“, gab Arigatari klein bei. „Ich darf ja nicht mal am Scheddach auf die Nachtweihe, wie ein Kleinkind. Ich will ihnen nur keinen Grund geben, mich zu hassen.“

    Bei dem Namen des ketzerischen Feiertages zuckte der Pater kurz zusammen, und vielleicht dauerte es auch deshalb eine Weile, bis er die richtigen Worte fand. „Dass hier der Scheddach gefeiert wird ist ein ganz anderes Problem. Aber hör mir zu, Arrigatari. Es gehört zum Leben dazu, dass man anderen die Stirn bieten muss. Du kannst dich nicht jedes Mal verkriechen, wenn jemand Streit sucht. Du kannst dich nicht immer klein machen, wenn ein anderer in deinem Schatten steht. Manchmal musst du eben auch deinen eigenen Kopf haben.“

    „Dann meinst du also, ich soll einfach auf die Nachtweihe gehen?“ Erschrocken geweitete Augen blickten zu Antonius empor, der vehement den Kopf schüttelte.

    „Nein! Nein, Arigatari, das meinte ich damit nicht. Du musst aufhören dich dumm zu stellen. Glaubst du denn, du kannst ewig so tun als könntest du nichts? Das wird dir auf Dauer mehr Schwierigkeiten bereiten, als du auf dieser Weise aus dem Weg gehst.“

    Grübelnd starrte Arigatari auf sein Wachstäfelchen hinab, bevor er schließlich nickte. „Ja. Ich hab‘ verstanden.“

    „Gut. Dann darfst du jetzt gehen. Wir sehen uns morgen wieder.“

    Arigatari nahm heute nicht den direkten Weg nach Hause. Zu sehr verdichtete sich ein Gedanke in seinem Kopf, als dass er nicht noch einen Umweg zum Dorfweiher und zu dem Bänkchen unter den Fichten gemacht hätte.

    Auch in der Nacht kroch ihm dieser Gedanke durch den Schädel, reifte, bis er dann Früchte trug, kurz bevor er seine Augen schloss.

    Ja, der Pater hatte recht. Es war Zeit, dass er mal jemandem die Stirn bot.


    Magie hat etwas einzigartiges: Sie berührt alle Sinne. Sie ist wie ein Geruch, der sich nicht wirklich wahrnehmen lässt, wie Sand, der durch Fingerrillen rinnt. Sie ist ein Geschmack auf der Zunge, der sich nicht benennen lässt, und wie ein Lied, dessen Melodie einem nicht im Kopf bleiben will.
    So lernte Aer die flüchtigste aller Künste kennen: Das Weben von Zaubern, das Formen der Magie.

    Die Schatten der Magie