Arigatari
Wie ein Heer aus Schaben krochen die Schaulustigen durch die Gassen Arités, zielstrebig und gierig. So viele wie nie hatten heute ihre Häuser, ihre Geschäfte und Höfe verlassen, und wie jedes Geschmeiß trieb sie nur der niederste Instinkt, das niederste Bedürfnis an. Lachen mischte sich unter die vorfreudigen Gespräche der Städter, füllte die hämische Kakophonie aus tausend Kehlen, die von den Wänden der nahestehenden Gebäude widerhallte. Gut zwei von drei Bürgern Arités strebten dem Kern der Stadt zu, dem Karpasso Plaza, wo sonst der große Markt abgehalten wurde. Der Geruch gerösteter Nüsse und kandierter Früchte lag in der Luft, wie er es sonst nur an Festtagen tat; und wahrlich, heute gab es etwas zu feiern, ein Fest, wie es seit gut dreißig Jahren nicht mehr gefeiert wurde.
Der Kirchturm der Kathedrale des Heiligen Mez mochte der einzige Punkt der Stadt sein, von dem sich die Menschenmassen überblicken ließen. Weit warf sie ihren Schatten über den Karpasso Plaza, erhob sich wie ein mahnender Finger über das zahlreiche Gewürm der Straßen. Pünktlich zum Glockenschlag teilte sich auf einmal die Menge – und machte Platz für zwei Karren, die aus unterschiedlichen Richtungen dem Mittelpunkt der Versammlung entgegenstrebten. Klackend schlugen die Hufe der Pferde auf das aschgraue Pflaster des Plazas, und ratternd folgten ihnen die vergitterten Bretterwägen. Ein paar schmutziger Hände legte sich um die Stäbe vor dem winzigen Fenster, und in der Dunkelheit des fahrenden Gefängnisses ließen sich die Ärmel eines Büßergewandes erkennen.
Unruhig kamen die Pferde zum Halt, Schaum aus ihren Mäulern tropfend. Allein die Scheuklappen um ihre Augen mochten verhindern, dass sie in all dem Lärm, in dem Chaos tausender Leiber nicht in Panik ausbrachen und durchdrehten. Indes wurden die Türen der Bretterwägen aufgerissen, und grob wurden die beiden Gefangenen ans Tageslicht gezerrt. Aufgebrachtes Heulen erhob sich aus der Menschenmenge, als der Gegenstand des ganzen Tumultes endlich in Sichtweite trat: ein Mann und eine Frau, beide mit rabenschwarzem Haar.
„Sidonia!“ Blinzelnd schaute der Gefangene ihr ins Gesicht, ein mühevolles, gequältes Lächeln auf den Lippen. Nur eines seiner Augen ließ sich so weit öffnen, dass er sie anblicken konnte, das andere war zugeschwollen. Tapfer hielt sie einige Sekunden stand, bis sich Sidonias Mund zu einem verzweifelten Schluchzen verzog. Tränen rannen an ihren Wangen hinab, zogen Spuren durch den Schmutz, der von der tagelangen Gefangenschaft an ihrer Haut klebte. Auch ihr waren die Folgen der peinlichen Befragung anzusehen, schwärende Wunden bedeckten ihre Arme, wo Pechpflaster sich in ihren Körper gebrannt hatten. Ihre gebrochenen Finger hatte man ihr hinter dem Rücken zusammengebunden, und wie auch ihm hatte man ihr die Handflächen mit einem Stück Hexenholz durchstoßen. Den gesamten Prozess hatte man sie voneinander getrennt, nicht wissen lassen, was mit dem anderen geschehen war. Bei ihrem Anblick brannten auch ihm die Tränen in den Augen, denn er wusste, das hier würde einer ihrer letzten gemeinsamen Augenblicke sein.
Wortlos riss der Maskierte neben ihm an den Fesseln um seinen Handgelenken. Flehend versuchte er seinem Henker in die Augen zu sehen, doch der Fremde wich seinem Blick aus, und alles, was er in seinen Augen lesen konnte, waren stumpfe Gleichgültigkeit. Ohne Rücksicht auf seine von Daumenschrauben malträtierten Finger schob ihn der Maskierte voran, die steinernen Stufen empor.
Fünf Schalen aus schwarzem Marmor erhoben sich hier über die Menge, angeordnet in einem Pentagramm, dem Schutzzeichen vor dem Bösen. In den vorderen beiden war ein Stoß Holz aufgeschichtet, ein schmaler Pfahl ragte aus jedem Haufen empor. Ebenfalls aus schwarzem Marmor geschlagen kniete eine Statue inmitten des Richtplatzes, ehrergiebig, in der einen Hand eine Bulle haltend, in der anderen eine Feder. Zitternd gingen die beiden Büßer voran, erbarmungslos vorangetrieben von ihren maskierten Scharfrichtern. Erst, als sie am vordersten Punkt der Plattform standen und ihr Gesicht der Menge zugewandt hatten, ließen die Henker ihre Stricke fahren.
„Vor den Augen des Volkes, in Achillons Namen und im Dienste unseres Königs Hewar dem Frommen verlese ich heute die Anklageschrift!“ So laut brausten der Jubel und das wüste Geschrei über den Plaza, dass sich der Büttel kaum Gehör schaffen konnte. Nach ihnen hatte er die Plattform betreten, aber erst jetzt wurden sie seiner Anwesenheit gewahr. Zu sehr hatten die abertausend Gesichter und die Schreie, die ihren Tod wünschten, ihre Aufmerksamkeit auf sich gelegt. Doch auch der Büttel schien nervös. Etwas zittrig hielt er die Enden seines Papierbogens umklammert, Schweiß stand trotz des frischen Herbstwindes auf seiner Stirn.
„Dem Ehepaar Arndt und Sidonia Perger wird, beeidigt durch Zeugen, schwerste Häresie, Hexerei, Trankmischerei und Schadzauber vorgeworfen. So will man sie Sonnenwendnachts gesehen haben, wie sie ihrer Kleidung entledigt und von Asmodos beflügelt die Ruinen der Alten aufgesucht haben. Dort sollen sie mit ihrer Sippschaft den Sabbath gefeiert haben, den Namen des dunklen Dieners anrufend. In ihren Fürbitten sollen sie den Tod des Medicus Avicenna, die Todgeburt des Säuglings der Müllerin Dorothea und den Hagelsturm erbeten haben, der über die Höfe im Vorland gezogen ist. Und wie von ihnen gefordert verstarb Avicenna, die Adern voll mit schwarzem Blut, und die Müllerin gebar ein verdorbenes, entartetes Wechselbalg, das den Sonnenaufgang nicht mehr erlebte.
Nach Hinweisen eines treuen Bürgers konnte das Ehepaar Perger in Gewahrsam genommen und peinlich befragt werden.“ Hier stockte der Büttel, als müsste er noch einmal sicher gehen, sich nicht verlesen zu haben. „Nach vier Tagen im Gewahrsam des Scharfrichters wurden sie schließlich geständig. Zu den genannten Gräueln gaben sie zu einer Vielzahl weiterer Verbrechen ein Geständnis ab. So will sich Sidonia Perger Asmodos selbst hingegeben haben, um seine dunkle Saat in ihrem Körper keimen zu lassen. Jahrelang haben sie dem Volk Arités Pein zugefügt und es den Händen finstrer Mächte überlassen. Nur ein Urteil mag die abscheulichen Taten dieser verlorenen Seelen tilgen – und so mögen ihre Körper der Reinigung durch das Feuer übergeben werden.“
Langsam hatte sich Sidonia auf das Podest herabsinken lassen. Ihre Beine trugen sie nicht länger. Fast blind vor Tränen sah Arndt auf seine Frau herab, selbst mit seiner Angst, seinem Zorn und seiner Hilflosigkeit kämpfen.
„Es ist gut, Sidonia“, flüsterte er beinahe, doch seine Frau hob den Kopf. „Sie können tun, was sie wollen. Sie können lügen und morden, aber eines werden sie uns nicht mehr nehmen.“
„Ich weiß doch“, antwortete Sidonia, als sie auf die Füße gerissen wurde. „Ich weiß.“
Unter tosendem Jubel banden die Scharfrichter das Büßerpaar an ihren Pfahl, und in einem letzten Aufbegehren von Panik und Wut versuchte Arndt sich loszureißen. Vergebens. Höhnisch äfften ihn die Jugendlichen zu seinen Füßen nach, belustigten sich an seinen Tränen, bogen sich vor Lachen.
Als ihre Henker schließlich die Fackeln in das Stroh unter dem Scheiterhaufen steckten, sah Arndt ein letztes Mal über die Menschenmenge, sah in die Gesichter der Bürger, von denen er genug beim Namen kannte, und ein letztes Mal erhob er seine Stimme.
„Ich kann versprechen, dass einem jeden von euch Gerechtigkeit widerfahren wird. Jeder von euch bekommt, was er verdient. Ich verfluche euch, mein letzter Atemzug soll das Gift sein, das eure Körper zerfallen lässt. Euer Geist soll keine Ruhe finden, und jeden Morgen soll euch ein anderes Grauen begrüßen. Alles soll euch genommen werden, bis an den Tag, an dem das Wort der Wahrheit gesprochen wird.“
Knackend fraßen sich die Flammen durch Stroh, Reißig und trockenes Holz. Arndt hatte kaum ausgesprochen, als die Hitze des Scheiterhaufens seine nackte Haut erreichte, und er schrie, als seine Kleidung und seine Haare Opfer der Flammen wurden. Wie in einem grausigen Duett der Qualen viel Sidonia in seine Schreie ein als das Feuer sie verschlang, den Geruch von sengendem Fleisch durch die Gassen und ihre Asche weit hinauf in den Himmel trug.
Noch lange brannten die Feuer, noch lange labten sich die Menschen an dem grausigen Spektakel, aber noch sehr viel länger sollte man über das Ehepaar Perger sprechen, und über die Schatten, die über Arité fielen.
Doch weit, weit weg von allen Flüchen, allen Scheiterhaufen, schlief ein Kind in seiner Krippe, wohl behütet und wohl bewacht. Der Flaum auf seiner Stirn zeigte bereits, dass es einmal pechschwarze Haare haben würde, und sein kleines Händchen öffnete und schloss sich in seinen unschuldigen Träumen.
Öffnete und schloss sich.