Wolfsblut (Teil 1 von 3)
Vor diesem Tag hatte er sich sein ganzes Leben gefürchtet. Denn heute würde er sterben.
Umständlich half ihm seine Mutter, das uralte Schwert an seinem Gürtel zu befestigen. Wozu der Umstand? Es würde ihm nichts nützen. Ihre Tränen begannen zu fließen. Diese starke, gefasste Frau weinen zu sehen, berührte ihn tief. Ein weiterer Stich in die Wunde, die ihn schon die ganze letzte Nacht hatte wachliegen lassen. Die ihm seit Wochen wie ein Dorn immer etwas tiefer in den Eingeweiden bohrte.
Er hatte den Tod immer vor sich gesehen, hatte gewusst, dass er keinen Tag älter als 18 werden würde. Aber er hatte den Gedanken vor sich hergeschoben. Hatte versucht, ihn nicht zu denken.
Die Sonne dieses Tages eben aufgehen zu sehen, die sich schamhaft hinter Wolken versteckte, zeigte ihm deutlich, dass es nun kein Entrinnen mehr gab.
Angst wallte in ihm auf. Kalt und unbarmherzig kroch sie in seine Glieder und wand sich wie eine Schlange um seine Brust, die ihn ersticken wollte.
Es war ein uraltes Ritual, dass alle Söhne der drei Dörfer in ihrem 18. Jahr am Mittsommertag in die Dunkelhöhle gehen und dort die Nacht verbringen mussten. Die Wölfe holten fast alle, stets kehrten nur zwei oder drei ins Dorf zurück. Doch Rick wusste, dass er nicht zu den Rückkehrern gehören würde. Denn er war ein Wolfskind - bereits sein Vater und dessen Vater waren bei diesem Ritual gestorben.
Seine Mutter band sich ihre Kette mit dem grün schimmernden Smaragd ab und legte sie ihrem Sohn um den Hals. Sein Vater hatte ihr diese Kette geschenkt, in seiner Todesnacht.
Grausam schnell flog der Tag an ihm vorbei, schon fand er sich in einer Reihe mit den anderen jungen Männern auf dem Weg zur Höhle wieder. Der Himmel über ihnen grollte und donnerte, aus dem Verbotenen Wald hörte er das frohlockende Jaulen und Heulen der mörderischen Wölfe, die sich wohl ebenfalls gerade auf den Weg dorthin machten, in Erwartung ihres alljährlichen Festmahles.
Rick war mit dem ständigen Hecheln und Knurren aufgewachsen, das jeder der Dorfbewohner hörte, der zu nah am Wolfswald vorbeiging. Er und seine Kameraden hatten Witze darüber gemacht oder es in den Nächten wie ein niemals verklingendes Wiegenlied wahrgenommen. Es mussten hunderte, vielleicht sogar tausende Wölfe in diesen Wäldern leben. Oft sah er ihre Schatten, sah ihre roten Augen wie ein Meer aus Glühwürmchen zwischen den Bäumen glühen. Manchmal hetzten sie in großen Gruppen durch das Gestrüpp, dann knacksten die Äste und kreischten die Vögel, es klang, als rollte eine Lawine aus einstürzenden Bäumen auf das Dorf zu. Die Bewohner hüteten sich, jemals einen Fuß in das Revier der grausamen Räuber zu setzen. Feuerholz holten sie nur aus bestimmten Gegenden, welche ihnen durch Zeichen freigegeben wurden. Die Wölfe überfielen nie einen Dörfler, der ihre Regeln beachtete. Dafür garantierte das Opfer, das sie ihnen in der Mittsommernacht brachten.
Riesenhaft tauchte die Höhle vor ihnen auf. Ihr Eingang öffnete sich wie das Maul eines Drachen. Deshalb also trugen sie die Fackeln, deren Flammen erleuchteten ihnen den Weg, als sie nun in die steinerne Grotte hineinstiegen.
Die Fackeln erlöschen um Mitternacht, erinnerte er sich an die gespenstische Stimme seiner Mutter, wenn sie ihm von jener Nacht erzählte, als sie sich in die Höhle schlich, um seinen Vater zu treffen. Versuch, vorher zu verschwinden. Wenn die Glocke zwölfmal schlägt, ist es zu spät. Dann kommen die Wölfe.
Eine schmale Treppe führte den dunklen Gang hinunter. Rick fühlte seine Beine nicht, welche die Stufen von allein herunterstaksten.
Unten erreichten sie ein hölzernes Portal, zwei Torflügel mit darauf eingeschnitzten Wolfsköpfen. Die beiden Dorfältesten standen davor. Ihre Gesichter flackerten bleich im unsteten Licht der Fackeln. Tabor hielt eine Rede. Rick verstand kaum etwas, er stand zu weit hinten in der langen Schlange aus schlaksigen jungen Männern. Worte wie Mut und Pflicht flogen über die Köpfe seiner Altersgenossen. Danach begrüßte er alle 22 Jungen mit Namen. Nein, es war keine Ehre: Er prüfte, ob sie vollzählig erschienen waren und sich keiner drückte. Die Kontrolle schien zufriedenstellend, er nickte ihnen zu.
Nun öffneten sich die Torflügel weit und grelles blaues Licht strahlte ihnen entgegen. Rick überkam der Impuls abzuhauen. Sollten sie sich freiwillig wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen? Doch da stieß ihn schon jemand von hinten an und schob ihn nach vorn. War er der einzige, der an Flucht dachte? Unerbittlich rempelten sie ihn, drückten ihn vorwärts. Seine Knie waren so weich, dass sie unter dem Gewicht seines Körpers zusammenzusacken drohten. Schon befand er sich innerhalb der Torflügel – und war hindurch. Das Echo ihrer Schritte hallte in dem endlos hohen Gewölbe über und neben den Jungen wider. Hinter ihnen fielen die Tore dumpf und fatal hallend ins Schloss.
In seiner Vorstellung hatte er erwartet, in einer Grotte voller Wölfe zu landen, doch der Raum glich einem Saal mit hoher Decke und kein Vierbeiner war in Sicht. Eine vorsichtige Erleichterung ließ ihn aufatmen. Das blaue Licht überall erzeugte eine eigenartige Stimmung, die Gesichter seiner Freunde sahen fremd und gespenstisch aus, aber offenbar würden sie zunächst unter sich bleiben. So hatte es ihm auch seine Mutter erzählt. Erst um Mitternacht würde die Gefahr über sie hereinbrechen.
„Und jetzt? Ziehen wir unsere Waffen und erwarten sie?“, hörte er irgendwo aus der Menge der Kameraden eine verzerrte Stimme. Eng aneinandergedrängt standen sie im Eingangsbereich, geblendet von den unruhigen Flammen ihrer Fackeln, die sie in Eisenringen an der Wand abstellten. Im Saal war es hell genug, blaue Sterne an der Decke warfen phosphoreszierendes Licht in alle Ecken.
„Noch vier Stunden bis Mitternacht“, erwiderte ein anderer.
Von irgendwo erklangen Leiern und ein leiser Gesang. Vielleicht von Geistern, Rick konnte weder Sänger noch Musikanten sehen. An der gegenüberliegenden Wand entdeckte er einen langgestreckten Tisch, auf welchem ein Bankett mit dampfendem Fleisch, Broten und Salaten aufgebaut war. Seitlich davon standen Weinfässer, die bereits angezapft waren. Neben diesen erblickte Rick reglose Gestalten.
„Ein Geisterbankett“, hörte er eine Stimme neben sich, „schaut mal die Statuen da hinten! Oder sind die lebendig?“
„Wir müssen nur Dornröschen finden und sie wachküssen, dann erwecken wir das ganze verhexte Schloss zum Leben“, bemerkte ein Kamerad vor ihm. Einige lachten verhalten.
„Da kommt sie schon!“ Das klang lauter. Ricks Blicke folgten dem ausgestreckten Arm seines Nachbarn.
Tatsächlich öffnete sich nun eine Tür auf der anderen Seite und etwa zwei Dutzend Mädchen in langen, wallenden Ballkleidern huschten in den Saal hinein. Das seltsame Licht ließ sie wie blaue Feen aussehen. In fieberhafter Erregung musterte Rick ihre Gestalten, huschte von einer zur anderen.
Sie war dabei. Jay, sein heimlicher Schwarm. Sein Blut begann zu pulsieren und eine bohrende Unruhe breitete sich in ihm aus. Warum musste ausgerechnet sie herkommen? Es würde alles noch schwerer machen.
Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass die Mädchen kommen würden. Bis kurz vor Mitternacht würden sie bleiben. Von einem Wolfsblut geschwängert zu werden war die größte Ehre, die solch eine junge Frau erringen konnte. Es war außerdem für die Dörfer sehr notwendig, denn aufgrund der jährlichen Opferfeste lebten nur wenig erwachsene Männer im Dorf. Die meisten starben in ihrem 18. Lebensjahr ... so wie es Rick bevorstand.
Sollte er wirklich die letzten vier Stunden seines Lebens damit verbringen, sich um ein Mädchen zu bemühen, das sich angesichts der überwältigenden Konkurrenz sowieso für einen anderen entscheiden würde?
Unerbittlich spürte er die Augenblicke davonrinnen und sah den kargen Rest verbleibenden Lebens an sich vorbeiwandern.
Zwei Möglichkeiten, tickte es in seinem Kopf. Entweder findest du einen Ausgang aus der Höhle oder du musst die Wölfe besiegen.
Das Schwert seines Vaters, das er an seinem Gürtel trug, hatte nach dessen Todesnacht nicht etwa blutüberströmt im Körper einer Bestie gesteckt. Nein: Es hatte in diesem Saal gelegen. In einer langen Reihe neben den Waffen seiner Schicksalsgenossen. So als hätten die Besitzer dieser Schwerter und Äxte, anstatt zu kämpfen, diese lieber fein säuberlich der Größe nach nebeneinander gelegt, wie in einem Museum.