Es gibt 119 Antworten in diesem Thema, welches 16.220 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (14. April 2024 um 09:36) ist von Jennagon.

  • Unglücklich schaute Nelli Trevor nach. Sie verfluchte diesen dämlichen Pirat, der sich als sein Vater herausgestellt hatte. Hätte sie gewusst, was diese miese Kröte seinem Sohn zu sagen gehabt hatte, sie hätte einem Gespräch niemals zugestimmt. Nun fühlte sie sich als Medium benutzt und schuldig, weil es dennoch ihr Mund gewesen war, der diese Sachen ausgesprochen hatte. Die Alte hatte gehofft, Trevor helfen zu können, ihm eine Möglichkeit zu geben, sich von seiner Vergangenheit zu verabschieden. Dass diese ihn belastet hatte, war mehr als offensichtlich gewesen. Nun hoffte sie einfach, nicht noch mehr Wunden aufgerissen zu haben.

    Ihre Hände vergruben sich im Sand und sie atmete tief durch um ihre Wut über Johnny und sich selbst zu zügeln. Sie hätte es besser wissen müssen, sie hatte doch so viele Jahre Erfahrung. Langsam atmete sie ein und wieder aus. Sie ließ ihre drei Reisebegleiter viel zu nah an sich ran, sie fühlte sich für jeden von ihnen verantwortlich – selbst Edmund!

    Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal solche Gefühle für Menschen entwickelt hatte, ihr letzter Lehrling war schon mindestens fünfzig Jahre her. Das arme Mädchen hatte sie damals aus einer Hütte im Welt gerettet, in der sieben Wüstlinge sie gefangen gehalten hatten um sie dann an einen adligen Lüstling zu verschachern. Das Mädchen hatte gerade mal zwölf Sommer gezählt und schon so traurige Augen gehabt, dass es Nelli das Herz gebrochen hatte. Sie hatte sie kurzfristig betäubt um sie dann zu sich zu nehmen und auszubilden. Hübsch war die kleine gewesen mit ihrem pechschwarzen Haar. Später hatte die Heilerin dann erfahren, welche Geschichte der Adlige und die Wüstlinge erzählt hatten, doch darüber hatte sie nur lachen können. Das junge Mädchen war zu einer stolzen und selbstbewussten Frau heran gewachsen und war als Hexe und Heilerin völlig glücklich gewesen.

    Nelli...Ist alles in Ordnung?“ erklang eine Stimme neben ihr und ließ sie zusammen zucken. Esthers besorgter Blick lag auf ihr und hinter ihr warf Edmund ihr misstrauische Blicke zu.

    Ja, alles in Ordnung, schätze ich“, erwiderte sie beruhigend und winkte ab, wobei ihr Blick aber dennoch in Richtung von Trevors Gestalt glitt, die schon fast im Dschungel verschwunden war.

    Habt ihr euch gestritten?“ fragte die Magierin, die Nellis Blick gefolgt war. Die alte Heilerin seufzte leise und schüttelte den Kopf.

    Nicht wir beide. Ich habe Trevor die Möglichkeit gegeben, mit dem Geist seines Vaters zu sprechen. Das ist wohl etwas aus dem Ruder gelaufen“, erklärte sie und erntete dafür nur ein amüsiertes Schnauben von Edmund, während Esther sie mit hochgezogenen Augenbrauen anschaute.

    Du kannst mit Geistern reden?“ fragte die junge Frau noch mal nach und Nelli nickte. Manchmal vergaß sie, dass das für die meisten nicht so selbstverständlich war, wie es seit je her für sie gewesen war.

    Ich glaube, du musst aus der Sonne, Hexe. In deinem Kopf läuft noch irgendwas durcheinander“, kam es von Edmund und er schüttelte den Kopf. Die Alte verdrehte die Augen. Manchmal fragte sie sich wirklich, warum sie sich auch Sorgen um den Händlersohn machte.

    Nicht viel schlimmer, als in deinem, Söhnchen“, brummte sie und streckte ihre Finger, die sich im Sand verkrampft hatten. Esther sah hingegen eher so aus, als ob sie diese Nachricht nicht wirklich überraschen würde, eher als ob sie so etwas erwartet hätte.

    Interessant...“ murmelte sie nur und schaute erneut zu Trevors Silhouette.

    Keine Sorge, er kommt wieder. Er braucht nur ein bisschen Zeit“, merkte Nelli noch beruhigend an und hoffte, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen. Aber sie glaubte auch nicht, dass der junge Formwandler sie im Stich lassen würde, nicht nachdem er sie so vor seinem Vater verteidigt hatte.

    Also wo ist denn das Segel, was geflickt werden muss?“ lenkte sie schließlich das Gespräch in eine völlig andere Richtung. Sie musste jetzt etwas tun, um sich nicht mehr ganz so nutzlos vorzukommen. So sehr sie es auch mochte, sich um andere zu kümmern, umso mehr hasste sie es, wenn sie selbst diejenige war, die umsorgt werden musste.

    • Offizieller Beitrag

    Trevor betrat den Dschungel. Er hatte gar keine Ahnung, wohin er laufen sollte oder wollte. Das Einzige, was er wusste, war, dass er irgendwo Ruhe finden wollte. Ein Sturm tobte in seinem Kopf, den er so noch nie zuvor verspürt hatte. Nicht nur, dass sein Kapitän, nein Vater, ihn jahrelang belogen hatte … Johnny hatte ihn gehalten wie ein wildes Tier, das er nur von der Leine gelassen hatte, wenn es anscheinend zu seinem Vorteil gewesen war. Nun dachte der tote Seebär, dass Trevor ohne ihn anscheinend vollkommen außer Kontrolle geraten würde. Mürbe lehnte er sich an einen Baum und rutschte auf den Boden. Seine offenen Handflächen ruhten auf seinen angewinkelten Knien, und er betrachtete sie ausgiebig. Ja, es klebte Blut an diesen Händen, aber er hatte nie grundlos getötet. Die oftmals übertriebene Art diente nur dazu, ihm andere Schläger, Mörder oder Piraten vom Hals zu halten, aber er hatte sich nie zu ihnen gezählt. Hätte so jemand eine junge Frau vor einer Entführung bewahrt? Vermutlich nicht. Trevor schloss seine Augen und hob seinen Kopf Richtung Baumkronen. Vielleicht war er etwas zwischen ihnen, denn als Held würde er sich auch nicht bezeichnen. Etliche Kämpfe passierten sein inneres Auge, und unfreiwillig warf er seine Stirn in Falten. Eines musste er zugeben: Es lag ihm tatsächlich im Blut!
    Aber musste das etwas Schlechtes sein? Sein Vater hatte sich gegen das Leben eines Formwandlers entschieden. Trevor kannte das Leben von ihnen nicht und er hatte auch nicht vor, ein Leben wie sie zu führen. Aber vielleicht konnte er den Teil akzeptieren, der seinen neuen Freunden und ihm weiterhelfen würde. Er war nun mal der Einzige unter ihnen, der Kampferfahrung vorweisen konnte. Dafür konnte er nicht zaubern oder Tränke brauen.
    Plötzlich spürte Trevor einen Wassertropfen in seinem Gesicht und er öffnete daraufhin seine Augen wieder. Dunkle Wolken waren aufgezogen und Donnergrollen war zu vernehmen.
    Hoffentlich ziehen sich die anderen ins Schiff zurück!
    Kaum waren die ersten Tropfen gefallen, schienen die Wolken aufzureißen und ein starker Regen setzte ein. Der ganze Dschungel trommelte, und Trevor blieb sitzen. Wasser lief ihm am Gesicht hinunter, das er nur gelegentlich mit seiner Hand von seinem Kinn wischte.
    „… und du hast das Gefühl, die Magierin fühlt sich allein mit dir wohl?“, hallte es in Trevors Kopf wider. „Wenn das in ihren Kreisen herauskommen würde, würde diese junge Frau vollständig ihr Ansehen verlieren.“ Das waren Sätze, gegen die sich Trevor nicht wehren konnte. Taten, für die es keine wirkliche Entschuldigung gab. Er konnte solch einen Vorfall nur für sich behalten und hoffen, dass es andere ebenso taten. Er war nicht hochgeboren, aber das hatte er sich nicht ausgesucht. Niemand konnte sich aussuchen, als was oder wer er zur Welt kam. Dennoch bestimmte die Welt den Platz eines jeden. Jemand wie er wurde nicht plötzlich geachtet. Das Einzige, was ihm übrigblieb, war, dass er gefürchtet wurde. So war es zumindest in seiner bisherigen Welt gewesen. Piraten brauchten nicht nur ein loyales Gefolge, sie brauchten auch einen Ruf, der ihre Schiffe beschützte. Trevor war sich im Klaren darüber, dass er nie wieder ein Pirat sein wollte. Dennoch galt für ihn wahrscheinlich das gleiche. Wenn er die kleine Gruppe beschützen wollte, dann ging das nicht mit Geld oder einem Gefolge. Es ging nur darüber, wer er war und was er konnte. Er musste damit ins Reine kommen. Er musste sich entscheiden! Trevor hatte immer versucht, der gute Kerl zu sein. So zu sein, wie seine Mutter ihn haben wollte. Danach hatte er versucht, so zu sein, wie Johnny ihn haben wollte. Vielleicht musste damit Schluss sein. Es war an der Zeit, herauszufinden, wie er sein wollte. Edmund, Nelli und Esther waren immerhin bisher nicht schreiend vor ihm weggelaufen. Und Esther hatte ihm den Dolch zurückgegeben. Würde sie in seiner Nähe Todesängste ausstehen, hätte sie ihm wohl kaum eine Waffe in die Hand gedrückt. Jetzt war ihm offenbart worden, dass er noch viel mehr konnte, als geschickt eine Waffe zu schwingen. Über das Ausmaß seiner Fähigkeiten war er sich nicht bewusst, aber er würde es auch nicht herausfinden, wenn er hier sitzenblieb.
    Trevor rappelte sich auf und schaute sich durchnässt um. Der Baum, an dem er gelehnt hatte, war vom Stamm her gerade so breit, dass er als einer der Pfosten für das Gerüst herhalten konnte. Davon brauchten sie ein paar. Gut war, dass ihm keiner zusah. Zur Sicherheit schaute er sich aber noch einmal um. Danach stemmte er sich gegen den Baum und begann, zu drücken. Mit aller Kraft versuchte er, den Baum umzuwerfen, aber es geschah … nichts. Durch den Regen wurde die Rinde rutschig, was es nicht einfacherer machte.
    Von wegen stärker ….
    Trevor konnte von dieser Stärke nichts spüren. Er hing wie jeder andere Sterbliche an dem Baum. Aus der Ferne würde es jeder wahrscheinlich für eine innige Umarmung halten.

    Drei Stunden später … hing Trevor immer noch am gleichen Baum. Mittlerweile war es dunkel geworden. Er sah kaum die eigene Hand vor Augen. Schwer atmend hing er mit der Schulter am Stamm und das Mistding hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Sein Haarband hatte er irgendwo verloren, sodass ihm sein langes, dunkles Haar am Rücken und im Gesicht klebte. Zumindest hatte es aufgehört zu regnen, und es war schwül geworden. Trevor konnte nicht mehr unterscheiden, ob er geschwitzt oder nassgeregnet war. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.
    „So funktioniert das nicht!“, sprach er zu sich selbst und richtete sich auf. „Ich weiß ja nicht, was du für eine Stärke gemeint hast, aber allem Anschein nach besitze ich sie nicht!“
    Anstatt auf Trevor herumzuhacken, hätte Johnny ihm lieber genau beschreiben sollen, wie er sie nutzen konnte. Geister … Der Formwandler war also genauso hilfreich wie vorher. Sie würden mühselig jeden einzelnen Baum fällen und an den Strand transportieren müssen. Trevor war sich bewusst, dass das Tage, wenn nicht Wochen, dauern konnte. Wütend schlug er deswegen gegen den Baum, woraufhin ein Stück Rinde abplatzte. Überrascht zog Trevor die Brauen hoch und kniff die Augen zusammen. Im wenigen Licht des Mondes, der durch das Blätterdach schien, erkannte er seine die kahle Stelle des Baumes und die Delle, die er ins Holz gehauen hatte. „Wut …“, erinnerte er sich. Johnny sagte, dass Wut sein Antrieb war. Aber wie sollte er diese kontrollieren? Wütend zu sein war wie Lachen. Das geschah einfach.
    Werd wütend, Trevor …
    Während er versuchte, sich einen Weg auszudenken, wütend zu werden, sammelte er lange Lianen, die er zu einem dicken Tau verband. Wütend zu werden, konnte nicht so schwer sein. Oder? Er rief sich alle Beschimpfungen sind Gedächtnis, die man ihm jemals gegen den Kopf geworfen hatte, band das eine Ende des Taus währenddessen um sich und ging zum Baum zurück. Das andere Ende band er um den schmalen Baum. Und das so weit oben, dass er davon ausging, den Baum umziehen zu können. Als alles fertig war, startete er einen neuen Versuch. Trevor zog und zog. Dabei dachte er daran, wie Johnny ihn als außer Kontrolle geratenes Etwas beschrieben hatte. Dass er ein Nichts war. Und was soll man sagen? Es half! Er merkte, wie der Baum ein bisschen nachgab und sich in seine Richtung neigte. Aber bevor Trevor einen Erfolg verbuchen konnte, riss das Seil.
    „So eine verfickte Scheiße!“, brüllte er. „Wie soll Mann hier Bäume fällen?“
    „Mit einer Axt?“, hakte seine innere Stimme trocken nach. Natürlich, aber die lag im Lager. Aber Trevor musste zugeben, dass die Lösung vielleicht nicht war, einen Baum umzuziehen, sondern sie erstmal herkömmlich zu fällen. Er konnte danach aber versuchen, mehr als einen gleichzeitig aus dem Dschungel zu ziehen. Edmund konnte sie immerhin auch entasten, während Trevor welche zum Strand brachte. Diese Erkenntnis war schlau, aber trotzdem nervte Trevor der Baum. Der würde bei Tageslicht als erstes fallen, so viel stand fest.
    Apropos Tageslicht … Kaum hatte sich Trevor damit abgefunden, dass er Bäume fällen musste wie ein Normalsterblicher, bemerkte er den rosafarbenen Himmel. Doch bevor er zurückging, wollte er zunächst den Schweiß loswerden. Also lief er erstmal zum Strand, von wo aus er das Schiff sehen konnte. Dort angekommen, streifte er sich das Hemd vom Körper, das an ihm hing wie eine zweite Haut. Danach waren seine Stiefel dran, die er im Sand liegen ließ. Das Hemd tauchte er kurzerhand unter Wasser, rang es aus und warf es dann zu den Stiefeln. Die Hose war auch schmutzig, aber nach all den Vorwürfen seines Vaters, wollte er vermeiden, nackt gesehen zu werden. Ihm persönlich war das ja egal, aber wenn die Obrigkeiten schon bei einem Kuss einer anderen Person den Rang und Namen absprachen … Was geschah dann, wenn Trevor nackt herumlief?
    Sie können sich umdrehen, scheiß drauf!
    Trevor knurrte. Es waren Damen anwesend. Da war es wohl falsch, sich wie die Axt im Wald zu benehmen. Nörgelnd lief er ins Wasser und das samt Hose. Im hüfthohen Wasser versuchte er, etwas die Moosflecken abzureiben, was aber nicht einfach war. Deshalb schaute er sich um, zog die Hose zumindest unter Wasser aus und rieb den Stoff vehement gegeneinander. Das tat er so lange, bis die Flecken auf dem dunklen Stoff verblassten.
    Geht doch …
    Zufrieden mit seiner Arbeit knäulte er die Hose zusammen und warf sie an den Strand. Er warf sie … AN DEN STRAND! Das klatschende Geräusch seiner Hand gegen die Stirn vertrieb die Möwen in der Nähe.
    „Ich bin das nicht gewohnt!“, rechtfertigte er sich vor sich selbst. Was sollte man tun? Aus einem Gossenkind machte niemand binnen weniger Tage einen Gentleman. Aber noch war niemand wach, wie es schien. Deshalb wusch sich Trevor zunächst und hoffte das Beste.

  • Trevor war schon eine viel zu lange Zeit verschwunden, bemerkte Esther. Er war die ganze Nacht über nicht aufgetaucht und das bereitete ihr Sorgen. Also raffte sie sich irgendwann auf und ging in die Richtung, in der sie ihn hatte verschwinden sehen. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass Nelli und Edmund blieben. Sie mussten dem Formwandler nicht unbedingt zu dritt auf die Nerven gehen. Es reichte schon, wenn sie ihn wieder einmal belästigte.

    Eine Weile ging sie am Strand entlang und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab, sah immer mal in den Wald hinein, vermied es allerdings, seinen Namen zu rufen. Bestimmt war er nicht weit gelaufen.

    Plötzlich gewahrte sie in etwas Entfernung ein dunkles Bündel im Sand und als sie näher kam, konnte sie Trevors Stiefel erkennen und das Knäuel stellte sich als seine Kleidung heraus.

    Ganz ohne ihr Zutun suchte sie die Wasseroberfläche nach Trevor ab.

    Sie fand ihn nach kurzer Zeit, hüfttief im Wasser und mit dem Rücken zu ihr stehend. Er schob sich gerade seine nassen Haare mit beiden Händen zurück, als wäre er gerade erst von unter Wasser aufgetaucht.

    Sie wollte ihrem ersten Impuls folgen, sich umdrehen und wieder gehen, aber sie blieb. Wie erstarrt blickte sie auf seinen Rücken, der von zahlreichen größeren und kleineren Narben gezeichnet war. Was er wohl schon durchmachen musste?

    Bisher hatte sie es entschieden gemieden, Trevor oder einen der anderen Seemänner länger als notwendig anzusehen.

    Es ziemte sich einfach nicht!

    Jetzt aber, stellte sie fest, dass sie den Formwandler ganz unverhohlen und neugierig musterte.

    Sie konnte nicht verkennen, dass Trevor ein attraktiver Mann war und vermutlich würden ihm viele Frauen zu Füßen liegen. Auch konnte sie nicht abstreiten, dass sie während des Kusses und einige Zeit danach ein gewisses … Hochgefühl verspürt hatte. Doch das erwartete Kribbeln in ihrem Körper blieb aus.

    Sie senkte den Blick und schob unschlüssig mit der Stiefelspitze etwas Sand umher, bevor sie schließlich etwas Mut zusammenfasste.

    Mit vor der Brust verschränkten Armen drehte sie sich ein wenig zur Seite und sah in den Himmel hinauf. „Trevor?!“, rief sie und wartete auf eine Reaktion.

    „Aye …?“, kam es dann von ihm. Die Überraschung in seiner Stimme war deutlich zu hören.

    Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sich herumdrehte und sich über das Gesicht wischte.

    Sie bemerkte, dass sie ihm beinahe wieder das Gesicht zugedreht hatte, weshalb sie sich nur noch ein wenig weiter abwandte und sammelte. „Ich wollte nur schauen, ob bei dir alles in Ordnung ist“, sagte sie laut und scharrte erneut mit dem Fuß im Sand umher.

    Die Antwort ließ nicht auf sich warten. „Aye … alles in Ordnung! Ich … brauchte nur einen Moment!“

    Esther nickte nachdenklich. Das war wohl mehr als verständlich. Es kam immerhin nicht jeden Tag vor, dass man mit einem Verstorbenen Kontakt aufnehmen und mit ihm sprechen konnte.

    Sie begriff, dass Trevor die Geste vermutlich nicht sehen konnte. „Ich gehe dann wieder zu den anderen zurück“, meinte sie deshalb.

    Sie wollte sich schon wieder gänzlich abwenden und gehen, als Trevor doch noch einmal das Wort an sie richtete. „E … Esther?“, hörte sie ihn unsicher fragen.

    Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn abwartend an. „Ja?“

    „Hast du Angst vor mir?“, wollte er wissen

    Die Frage ließ sie den Kopf schief legen und die Stirn runzeln. Wie kam er auf den Gedanken? Sicherlich hatte Trevor eine Seite an sich gezeigt, die sie erschreckte, aber konnte sie da gleich von Angst sprechen? Bisher hatte es nur einen Menschen gegeben, vor dem sie sich wirklich fürchtete …

    Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Nein“, antwortete sie schlicht. Wenn, dann verspürte sie in genau diesem Augenblick nur ein gewisses Unbehagen. Und das lag lediglich an der Kleidung, die er eben nicht trug.

    Er nickte verstehend. „Gut, das ist gut“, meinte er. „Mein Vater behauptete das. Dass ich dir Angst machen würde …“

    Esther blickte kurz auf den Kleiderstapel vor sich und überlegte, was sie ihm sagen konnte. Unrecht hatte sein Vater nicht gänzlich. Bei dem Gedanken daran, was geschehen war, lief ihr noch immer ein kalter Schauer über den Rücken. Dennoch war Trevor ihr so etwas wie ein Freund geworden, jemand, auf den sie sich verlassen konnte.

    Sie seufzte und sah ihm schließlich wieder ins Gesicht. „Du solltest nicht so viel Wert auf die Worte eines Toten legen, weißt du …“

    Trevor wischte sich über das Gesicht. „Er hat zumindest keinen Grund, mich zu belügen. Ihm kann es egal sein …“

    Sie zögerte kurz. „Ich habe auch keinen Grund, dich anzulügen. Wenn ich Angst vor dir hätte, wäre ich jetzt nicht hier.“

    „So meinte ich das nicht. Also nicht so, dass du mich belügen würdest. Ich glaube sogar, du gehörst zu einen der ehrlichsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Das, was auf dem Schiff geschehen ist … ist nicht das, was ich bin. Nicht gänzlich. Ich wollte das nur klarstellen, bevor alle anfangen, mit scharfen Gegenständen unter den Kopfkissen zu schlafen.“

    Sie brauchte einen Moment, um Trevors Worte zu begreifen. Was sollte das? Er hatte doch schon mehrfach bewiesen, dass er nicht nur töten oder verletzen konnte … Gingen ihm die Worte seines Vaters tatsächlich so nahe? Andererseits … Wie würde sie selber reagieren, wenn sie so etwas von ihrer Mutter hören würde …

    „Trevor …“, begann sie, um Zeit zu schinden. „Du solltest wissen, dass ich dir vertraue … vielleicht hilft dir das ein wenig …“ Sie wusste nicht, was sie ihm noch sagen konnte, also trat sie schließlich den Rückzug an. „Ich lasse dich dann wieder allein …“ Eigentlich wollte sie noch sagen, dass sie sich wünschte, dass er mit ins Lager kam. Aber sie ließ das unausgesprochen.

    Ohne auf ein weiteres Wort des Formwandlers zu warten, ging sie in Richtung des Lagers zurück, darum bemüht, den Blick nach vorne zu richten. Irgendwann verlor sie den Kampf gegen ihre Neugier, wobei sie sich einredete, dass sie nur wissen wollte, ob Trevor ihr folgte, und sah über ihre Schulter zu ihm zurück. In diesem Moment machte der Formwandler die letzten Schritte aus dem Wasser und griff nach seiner Kleidung.

    Augenblicklich spürte sie Hitze auf ihrem Gesicht und mit einem Ruck wandte sie sich wieder um und stapfte entschlossen weiter.

    Am Lager angekommen, musterten Nelli und Edmund sie abwartend.

    „Ich habe Trevor gefunden“, meinte sie, bevor irgendeiner auf die Idee kam, ihr eine Frage zu stellen. „Schätze, er ist auch gleich hier …“

    Sie ignorierte Edmunds hochgezogenen Augenbrauen sowie Nellis verschmitztes Grinsen und räumte ihren Schlafplatz auf.

    • Offizieller Beitrag

    Trevor war nach dem Gespräch mit Esther ins Lager zurückgekehrt. Nelli wollte noch einmal zu einer Entschuldigung ansetzen, aber der Formwandler wiegelte dies gleich ab. Nelli traf immerhin wirklich keine Schuld. Er legte der Alten seine Hand auf die Schulter und lächelte sie an. „Vergiss es einfach. Das werde ich auch tun.“

    Nelli musterte ihn sichtlich besorgt, zuckte aber schließlich mit den Schultern. „Wenn du meinst, Bursche.“

    „Übrigens …“, kam von Edmund aus der anderen Richtung. „… dein Vater bleibt auf der Insel. An Bord dulde ich keine Geister!“

    Trevor begann zu lachen. Das war ihm auch am liebsten. Und er war froh, dass Edmund keine Fragen stellte. Der Händlersohn hatte bereits die Zeichnung für das Gerüst in der Hand, auf die Trevor einen Blick warf. Beide waren sich einig, dass es Zeit wurde, von der Insel zu verschwinden.

    Die paar Seile, die sie gefunden hatten, würden sie noch brauchen, deswegen warf er den Frauen einen Blick zu. „Wir brauchen lange Seile!“, meinte Trevor dann. „Am besten ist, wir nutzen, was der Dschungel hergibt! Ihr könnt Lianen sammeln und sie zu langen Seilen drehen. Damit ziehen Edmund und ich dann das Holz aus dem Dschungel!“

    „Das machen wir, Junge“, bestätigte Nelli.

    Esther nickte, und Trevor kam nicht umhin, ihre roten Wangen zu bemerken. Erstaunt zog er die Brauen hoch.

    „Vielleicht solltest du erstmal eine Weile aus der Sonne, bevor dein Gesicht verbrennt“, schlug er Esther vor.

    „Das kommt nicht von der Sonne …“, antwortete Nelli kichernd.

    „Mir geht es gut!“, erwiderte Esther und schaute die Alte von der Seite an.

    Trevor zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte sie nicht ausreichend getrunken oder Ähnliches.

    Räuspernd stand Edmund neben Trevor und erhob seinen Finger. „Sehe ich aus, als würde ich bei dieser Hitze Holz aus dem Dschungel ziehen?“

    Trevor rollte mit seinen Augen.

    „Du kannst auch gerne den Frauen bei der Seilherstellung helfen, wenn das dem edlen Herrn genehmer ist?!“, murrte Nelli.

    Esther sah Edmund derweil an. „Ihr wollt doch auch von der Insel runter. Also solltet Ihr vielleicht mitanpacken“, ergänzte sie.

    Trevor hob schlichtend seine Hände, bevor die Frauen Edmund noch als Galionsfigur ans Schiff binden würden. „So meinte ich das auch gar nicht. Die schweren Sachen übernehme ich! Allerdings kann Edmund bereits andere Bäume fällen, während ich die Gefällten zusammentrage, festbinde und dann hierherbringe.“

    „In welcher Welt ist Bäume zu fällen eine leichte Arbeit?“, wollte Edmund wissen.

    Aber auf diese Diskussion ließ sich Trevor nicht ein. Ein bisschen würde der Händlersohn schon schwitzen müssen. Und wenn Trevor die Gesichter der Damen betrachtete, würde er das spätestens, wenn er mit ihnen ging.

    Trevor legte sein Hemd ins Lager. Die Hitze würde sicherlich auch ihm zu schaffen machen, und das Hemd zerreißen wollte er auch nicht, wenn er die Stämme hinter sich herzog.

    Er schnappte sich die Axt, ein paar Stofffetzen und Edmund am Kragen dessen Hemdes und zog ihn kurzerhand hinter sich her.

    Nelli und Esther verschwanden derweil im Dschungel, um sich direkt an die Seile zu machen.

    „Was soll das?“, beschwerte sich Edmund und richtete seine Kleidung, nachdem Trevor ihn losgelassen hatte.

    „Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht doch noch Seile flechten gehst!“

    „Ich werde keine Bäume fällen!“, wiederholte Edmund und ging Trevor nach.

    „Und wie du das wirst!“, widersprach der Formwandler ernst. Trevor wusste nicht für was, aber schaden konnte Edmund das Wissen darüber nicht. Wenn der Händlersohn mit der Arbeit nicht nachkam, konnte er ihm immer noch helfen.

    An einigen Bäumen zeigte Trevor Edmund, wie man Bäume fällte. Dass die Fallkerbe wichtig war, und er den Baum nicht komplett bis zur Kerbe durchhacken sollte. Die Bruchkante sollte stehenbleiben, damit der Baum nicht doch noch unkontrolliert umfiel. Trevor würde dann am Seil den Baum kontrolliert umziehen. So war auch sichergestellt, dass sich Edmund aus der Gefahrenzone begeben konnte.

    Edmund schien genervt und nicht wirklich zuzuhören.

    Trevor war klar, dass der Händlersohn solche Arbeiten nicht gewohnt war. Er bekam das Gefühl, es mit einem trotzigen Schiffsjungen zutun zu haben. Das half ihnen aber auf der Insel nicht weiter. Wenn Trevor all diese Arbeiten alleine erledigen musste, würde es noch länger dauern, von der Insel herunterzukommen. „Ich hoffe, du hast zugehört“, fuhr Trevor fort. „Wenn nicht, brauchst du dir vielleicht über harte Arbeit alsbald keine Sorgen mehr zu machen.“

    „Jaja“, erwiderte Edmund und winkte ab.

    Trevor reichte ihm die Axt und betrachtete die gefällten Bäume. Diese hatten sie bereits entastet, sodass der Formwandler sie direkt zum Lager bringen konnte. Nur … Konnte er diese Stämme wirklich einfach anheben, um sie am Strand zu stapeln?

    Trevor begab sich zum unteren Ende des Stammes und versuchte, ihn anzuheben. Wie ein Kind an einem zu schweren Stein hing er an dem Ende und schaffte es nicht. Immer wieder setzte er an, aber das Holz bewegte sich keinen fingerbreit.

    Urplötzlich hörte Trevor ein Lachen aus Edmunds Richtung, der den Anblick des Formwandlers anscheinend mehr als amüsant fand. „Schön, wenn es dich amüsiert …“, presste Trevor zwischen seinen Zähne empor, während er immer noch versuchte, den Stamm anzuheben.

    „Was genau versuchst du da?“, wollte Edmund wissen.

    „Ich versuche, den Baumstamm hochzuheben!“

    „Klappt wohl nicht ganz“, kam spöttisch zurück.

    „Das Gleiche könnte ich über deine Fällarbeiten sagen …“, antwortete Trevor.

    „Ich habe noch nicht mal angefangen …“

    Trevor stöhnte. Irgendwie hätte ihm das klar sein müssen. „Dann fang an!“, befahl er.

    „Ich nehme keine Befehle von einem Piraten entgegen!“ Edmund griff aber trotzdem nach der Axt.

    Trevor knirschte mit seinen Zähnen. „Hör auf, dich wie ein reiches Kind zu benehmen, das man zwingt, seine eigenen Räumlichkeiten zu säubern! Wir arbeiten hier alle zusammen am gleichen Ziel!“

    „Was ist dein Problem? Ich habe die blöde Axt doch genommen! Wag es nochmal mich als Kind zu bezeichnen, und du kannst deine blöden Bäume allein fällen!“

    „Ich. Habe. Kein. Problem!“, maulte Trevor, hob den Stamm an, allerdings so schwungvoll, dass er rotierend aus dem Dschungel katapultiert wurde. Sichtlich überrascht starrte der Formwandler dem Stück Holz nach, das im Sand zum Erliegen kam. „Geht doch!“, stieß Trevor danach erfreut aus und wandte sich Edmund zu. „Mach ruhig weiter!“

    Edmund sah Trevor blinzelnd an. „Womit?“

    „Mich wütend zu machen. So scheint es zu funktionieren.“

    „Funktioniert was?“

    „Die Stärke eines Formwandlers hervorzurufen. Oder was glaubst du, warum ich einen halben Baum anheben konnte? Das ist das, was mein Vater mir unbedingt ausrichten wollte … Dass ein Formwandler mehr kann, als andere Menschen nachzumachen …“

    „Aha. Dein Vater.“ Edmund verdrehte die Augen, hob die Axt an und wandte sich einem Baum zu. „Der Geist ...“, fuhr Edmund spöttisch fort und schlug mit der Axt zu. „Ihr seid doch alle nicht mehr zurechnungsfähig! Diese schräge Alte belügt dich mit irgendwelchem Klamauk, und du glaubst ihr den Schwachsinn auch noch!“ Die Axt verkeilte sich im Baum, und Edmund versuchte sie herauszuziehen, indem er seinen Fuß gegen den Stamm stemmte.

    Trevor stemmte unterdessen seine Arme in die Hüfte. „Sie hat nicht gelogen. Der Geist war Johnny, der sich als mein Vater herausgestellt hat. Er wusste Sachen, die ich keinem von euch erzählt habe. Wie den Vorfall von der Rosalie. Das war etwas zwischen ihm und mir. Oma mag viele Talente haben, aber das hätte sie nicht wissen können.“ Trevor lachte. „Und nach allem, was wir durchgestanden haben, zweifelst du an ein paar Geistern? Und das ich den Baum gerade zum Strand geworfen habe, erscheint mir auch ziemlich echt.“

    „Was weiß denn ich?! Nur, dass ich auf einer verfluchten Insel mit verfluchter Hitze und einer Hand voll Spinnern festsitze, die nicht mehr alle beisammen haben! Ihr seid alle komplett wahnsinnig! Ich kann wahrscheinlich froh sein, wenn ich das überlebe und nicht ende wie der Steuermann!“

    Edmund schien mit allem überfordert zu sein, aber anstatt innerlich das Verhalten zu entschuldigen, nutzte Trevor die gefallenen Anschuldigungen. Er ging zum nächsten Baum, umfasste das Gefühl, das die Worte ihn ihm auslösten und hob langsam den Baumstamm an. Und diesmal gelang es ihm auf Anhieb. Trevor platzierte ihn auf seiner Schulter, balancierte ihn aus und lief damit zum Rand des Dschungels. Hier ließ er ihn fallen und kehrte zu den anderen zurück. Mit jedem Mal, den er einen Baumstamm hochhob, wurden sie leichter. Er beachtete Edmund nicht. Sprach zu ihm kein Wort, damit er dieses Gefühl in sich nicht losließ.

    Er befürchtet, zu enden wie der Steuermann …

    Wir sind ein Haufen Spinner? Dann ist er unser König!

    Er durfte die Wut nicht verebben lassen. Deshalb musste er aufhören, sich durch Gedanken noch selbst zum Lachen zu bringen. Trevor schulterte den letzten Baumstamm, den Edmund gefällt und entastet hatte und ging zum Strand.

    „Hier sind die …“, hörte er plötzlich eine Stimme neben sich und wandte sich dieser überrascht zu. Ein spitzer Schrei folgte und er sah, wie sich Esther unter dem Stamm durchduckte.

    Trevor ließ sofort das Holz über seinen Rücken auf den Boden fallen, wo es hinter ihm im Sand landete. Direkt vor den anderen Holzstämmen, die er bereits hier platziert hatte. „Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen. Alles in Ordnung?“

    „Ja … alles in Ordnung, denke ich …“, antwortete sie mit zittriger Stimme und streifte sich eine Haarsträhne zurück. „Hier sind die Seile.“

    „Danke …“ Trevor musterte sie. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich musste mich nur konzentrieren und hatte anscheinend alles andere ausgeblendet.“ Er begann umgehend, die Baumstämme zusammenzubinden, sodass sie ein großes Paket ergaben.

    „Es ist ja nichts passiert“, erwiderte sie und musterte die Baumstämme. „War das nicht anstrengend? Die Stämme müssten doch schwer sein?“

    Trevor nickte. „Sind sie auch. Zumindest, wenn ich nicht … konzentriert genug bin. Aber Formwandler können anscheinend mehr, als die Form anderer Menschen anzunehmen. Das ist das, was mein Vater mir eigentlich in unserer Situation sagen wollte.“ Und wiederholte somit, was er bereits Edmund gesagt hatte.

    Esther sah Trevor an. „Scheinen nützliche Fähigkeiten zu sein.“

    „So nützlich wie sie sein können, wenn man nicht als richtiger Formwandler erzogen wurde, weil der eigene Vater einem nicht vertraute. Aber ja, etwas mehr Muskelkraft schadet uns wohl nicht.“ Er legte sich die Seile zurecht, die er nutzen wollte, um die Stämme zu ziehen. Sie sollten in etwas Entfernung seine Brust überkreuzen. Ähnlich wie bei einem Kaltblut, das eigentlich für solche Arbeiten genutzt wurde. Aber Trevor ging nicht davon aus, irgendwo auf der Insel ein Lastentier zu finden.

    Die junge Magierin dachte anscheinend nach. „Das tut mir leid mit deinem Vater.“ Sie zögerte etwas, bevor sie weitersprach. „Falls du Hilfe brauchst oder mit jemanden reden willst … Ich höre dir zu.“

    Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein zaghaftes Lächeln ab, das bei Trevor Stirnrunzeln verursachte.

    Sie muss verschwinden! Sie ist viel zu nett! So kann ich meine Fähigkeiten vergessen! Vor allem, wenn sie mich anlächelt wie einen verletzten Hundewelpen.

    Das Gefühl, das er vorher umklammert hatte, war gänzlich verschwunden und während er Esther ansah, konnte er es auch nicht in sich finden.

    Im gleichen Moment kam Edmund mit geschulterter Axt aus dem Wald. „Ich glaube, ihr beiden solltet endlich mal zur Sache kommen, das kann man sich ja nicht anschauen …“, sprach der Händlersohn im Vorbeigehen.

    „Bitte was?“, entglitt es Trevor, der dabei war, sich die Seile umzulegen und die Stofffetzen zwischen seiner Haut und den Seilen zu platzieren. Hatte er was nicht mitbekommen?

    „Was meint er?“, murmelte Esther neben Trevor ebenso unwissend.

    „Sowas staut sich an. Ist sicher nicht gesund. Kein Wunder neigst du zur Gewalttätigkeit.“

    Trevor fiel metaphorisch das Kinn in den Sand. Er starrte Edmund an, der sich anscheinend auf den Rückweg begab.

    Unterdessen spannte Trevor die Seile. „Ich staue dir gleich was …“, antwortete er und sah abwechselnd von Esther zu Edmund.

    Die Gräfin schien nicht wirklich zu verstehen, was der Händlersohn da von sich gab. Also, entweder wollte sie es nicht verstehen oder tat es nicht.

    „Was? Hat die Gräfin dir eine Abfuhr gegeben?“ Edmund klopfte Trevor grinsend auf die Schulter. „Armer kleiner Pirat. Das wird schon noch.“

    Trevor schnappte nach Edmund, aber dieser sprang lachend zur Seite und bedachte den Formwandler mit einem mitleidigem Blick. Trevor begann, sich in Bewegung zu setzen, vor allem, weil er Edmund an den Kragen wollte. „Dir ist klar, dass du die Gräfin beleidigst und nicht mich …“

    „Ich beleidige niemanden. Ich gebe nur den Ratschlag. Wo bietet sich das besser an, als auf einer einsamen Insel.“

    „Ich kann dir versichern, dass es da nichts gibt, das einen Ratschlag bedarf! Vor allem nicht von dir“, äußerte Trevor und zog die Stämme hinter sich her.

    Edmund grinste weiter. „Ja, offenbar. So viele Ratschläge kann man dir gar nicht geben, wie du sie bräuchtest.“

    „So viele gleich … Da bin ich wahnsinnig gespannt …“, nuschelte Trevor hörbar sarkastisch. Spürbar lastete das Gewicht auf seiner Brust, aber er ignorierte es gekonnt.

    „Wo soll ich anfangen?“

    „Wie wäre es mit dem gravierendsten Punkt?“, schlug Trevor schwer atmend vor, während sich alle seine Muskeln anspannten.

    „Der gravierendste Punkt? Bitte! Es wäre sicherlich hilfreich, keine Baumstämme durch die Gegend zu tragen als wären es Zahnstocher! Das ist nicht normal! Oder Leute zu morden wie ein völlig Gestörter! Da will ich gar nicht wissen, was du mit dem jemanden machst, mit dem du vögelst!“

    „Derjenigen!“, blökte Trevor. „Wenn überhaupt wäre es eine Frau!“

    „Von mir aus! Aber oh Wunder, auch Frauen finden es nicht gerade erheiternd, wenn vor ihren Augen ein Schädel zu Mus geschlagen oder aufgespießt wird! Du bist völlig übergeschnappt!“

    Trevor schwieg erstmal. Dem Punkt konnte er wohl kaum widersprechen. Allerdings waren Frauen bei solchen Dingen auch seltener dabei. Zumindest sollten sie das nicht sein. Dass es in ihrer Situation anders gekommen war, dafür konnte Trevor nichts. Zum Thema Beischlaf war das auch unerheblich. Nelli war Trevor ein paar Tage zu alt und mehr eine Großmutter. Und Esther? Allein daran einen Gedanken zu verschwenden, wäre völlig unnütz gewesen. Trevor musste zugeben, dass bei Esthers Anblick sicherlich einige Männer mit dem Gedanken des Umwerbens spielten, aber … Für Trevor war das Aussehen einer Frau zwar nicht unwichtig, was Esther aber vielmehr von vielen anderen unterschied, war ihr guter Charakter. Hilfsbereit, besorgt. Das hatte Trevor bisher selten am eigenen Leib erfahren. Das änderte aber nichts daran, dass die Gräfin für Männer wie ihn unerreichbar war. In seinem Fall konnte er höchstens eine Obdachlose beeindrucken. Und die waren nicht dafür bekannt, sonderlich ansehnlich noch höflich zu sein.

    Konzentration!

    Er konnte den Lagerplatz bereits sehen. Er musste nur noch ein Stück durchhalten. Hinzu kam, dass er den Schwindel unterdrücken musste, der sich allmählich in sein Bewusstsein kämpfte. Schwere Lasten zu tragen war alles andere als leicht auf Dauer. „Noch mehr so weise Ratschläge?“, presste er hervor und zog weiter.

    „Eigentlich schon. Aber ich habe auch keine Lust mehr weiterhin Atem an jemanden zu verschwenden, der es sowieso nicht wert ist. Ein dreckiger Pirat, der einem in den Rücken fällt! Ich hätte dich damals in dem Käfig lassen sollen. Im Nachhinein war der Käfig sogar gut, um alle um dich herum vor dir zu schützen ... Du beschützt niemanden vor Gefahren, du bist die Gefahr!“

    Trevor blieb stehen und hob die rechte Augenbraue. „Echt jetzt?“, fragte er und atmete ein paarmal tief durch. Wenn er sich genauer umsah, reichten die paar Meter zum Schiff und Lager aus. Er befreite sich von den Seilen und fuhr sich über sein Gesicht. Seine Sicht war bereits verschwommen und er brauchte eindeutig eine Pause. Die acht Holzstämme, die er zum Schiff gebracht hatte, waren fürs Erste genug. Später ging es sicherlich wieder. „Du hättest vielleicht beim Thema Frauen bleiben sollen“, sprach Trevor weiter, als ihm mehr Atem zu Verfügung stand.

    Edmund seufzte. „Heißt das, ich darf aufhören, dich wütend zu machen? Ich habe nämlich keine Lust mehr.“

    Trevor nickte. „Ich habe auch keine Lust mehr, wütend zu sein. Ich muss mir dazu etwas anderes einfallen lassen.“

    „Super. Ich weiß nicht mehr, was ich mir noch aus den Fingern saugen soll.“

    Esther kam ihnen nach und schaute beide fragend an. „Was genau war das?“

    Die Männer sahen sich an, dann schauten sie zu Esther. „Was genau meinst du?“, fragten sie synchron.

    „Diese Beschimpfungen und diese Aussprache! Musste das sein?“ Sie klang nicht wirklich wütend, wenn das Trevor beurteilen musste. Mehr verwirrt. Vielleicht doch eher beides?

    „Trevor kann nur, wenn er wütend ist“, erklärte Edmund trocken und zuckte mit seinen Schultern.

    Trevor plusterte seine Wangen auf und wurde wahrscheinlich rot im Gesicht. „Musst du das so formulieren?“, beschwerte er sich. „Wenn, dann erkläre es richtig …“ Der Formwandler wandte sich Esther zu. „I… Ich kann diese Kräfte bisher nur … hervorrufen, wenn ich wütend bin.“

    „Stimmt, das andere kann ich nicht beurteilen“, mischte sich Edmund grinsend ein.

    Trevor seufzte. „Ich musste mich wieder konzentrieren, nachdem du die Seile gebracht hattest. Deswegen half mir Edmund dabei.“

    Bei Esther war trotz der Erklärung noch ihre Zornesfalte zu sehen. Aber sie atmete einmal tief durch und nickte verstehend.

    Die drei liefen zum Lager, wo Nelli Wasser und etwas Obst bereitgestellt hatte. Als sie Trevor sah, nickte sie anerkennend und schlug ihm auf die Schulter. „Gut gemacht, Junge. Ihr alle habt das gut gemacht!“

    Trevor nahm das lächelnd hin und trank etwas Wasser aus einer Holzschale.

    Es würde noch ein paar Tage dauern, bis sie genug Holz für das Gerüst zusammen hatten, aber alle schienen optimistisch, es zu schaffen.

    • Offizieller Beitrag

    Trevor bugsierte die Baumstämme mit einer Leichtigkeit umher, die Edmund beinahe neidisch machte. Aber auch nur beinahe. Immerhin war er deshalb nicht gezwungen, diese Bäume umherzuschleppen. Er spielte sogar mit dem Gedanken, sich einfach wieder in den Schatten zu setzen und dem Piraten dabei zuzuschauen, wie er allein arbeitete. Aber irgendwas sagte ihm, dass von den drei anderen keiner zugelassen hätte, dass er saß, während Trevor arbeitete. Es wäre dennoch deutlich entspannter gewesen als in der Abendhitze Löcher am Strand auszuheben. Warum war es immer noch so warm? Die Mittagshitze hatten sie abgewartet und erst am Abend wieder angefangen. Aber das schien die Hitze nicht zu stören! Wahrscheinlich bekam er gerade einen Sonnenbrand! Das Hemd klebte ihm am Körper und es gab kaum noch eine Stelle, an der kein Sand war!
    Diese Insel ist der Horror! Im Gegensatz zu Trevor brauchte er auch niemand anderen, der ihn wütend machte. Diese ganze Insel ging ihm derart auf die Nerven, dass sich die Schaufel quasi von selbst in den Sand rammte.
    Trevor setzte den Stamm vor ihm neben dem ausgehobenen Loch ab und seufzte ebenfalls auf. Woher genau der Wandler nun seine Inspiration nahm, diese komischen Kräfte zu animieren, wollte Edmund gar nicht wissen. Er war nur froh, dass er nicht mehr gezwungen war, ihn wütend zu machen. Am Ende wurde er wirklich noch geköpft – und er hatte Trevor deutlich lieber auf seiner anstatt auf der Gegenseite.
    „Ich habe meine Schaufel bei den Fässern stehen lassen“, meinte Trevor. „Ich bin gleich wieder da, dann heben wir den Stamm ins Loch und graben es wieder zu.“
    Edmund kam nicht dazu, etwas zu sagen, da löste der Formwandler seinen Griff auch schon von dem Baumstamm und lief los.
    Überfordert und aus seinen Gedanken gerissen, ließ Edmund seine eigene Schaufel fallen und versuchte noch den Stamm irgendwie gerade zu halten. Allerdings wog der Baum deutlich mehr als er und schob ihn einfach über den Sand.
    Trevor schien aus dem Augenwinkel heraus noch zu merken, dass er den Stamm nicht hätte loslassen sollen, doch für seine Hilfe war es bereits zu spät. Der Pfosten kippte und weil Trevor nachgreifen wollte, gab er dem Baum noch den letzten Schubs.
    Edmund machte einen Schritt zur Seite, kam im Sand aber nicht schnell genug voran und wurde vom Baum mitgezerrt und unter ihm begraben. Er landete unbequem auf dem Rücken und das Gewicht prallte ihm ins Gesicht und auf die Rippen, drückte ihm die Luft aus den Lungen. Dass irgendetwas brach, konnte er zudem spüren und hören.
    Wie ich dieses Geräusch hasse!
    Benommen blieb er liegen.
    „Scheiße!“, hörte er Trevor fluchen und dann verschwand der Baumstamm auch schon wieder von seiner Brust. „Geht’s dir gut? Ich habe völlig vergessen, dass der Stamm schwer ist!“
    Ach was … wäre mir gar nicht aufgefallen, murrte Edmund in Gedanken. Fliegengewicht.
    „Wie kann man vergessen, dass ein Baum viel wiegt!“, stieß er aus. Dabei merkte er, dass ihm das Atmen deutlich schwerer fiel als vorher. Irgendwas drückte ihm unangenehm auf die Lunge. Im wahrsten Sinne des Wortes geplättet, setzte sich Edmund auf und atmete mehrere Male durch. Blut tropfte ihm in den Schoß, weshalb er sich ins Gesicht griff.
    Nicht schon wieder die Nase …
    „Ich werde mal Nelli holen!“, meinte Trevor und war bereits losgelaufen, ehe Edmund den Blick heben konnte.
    Verwirrt sah er Trevor nach und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Blut, das er im Übrigen auch im Mund schmeckte. Wahrscheinlich hatte er sich beim Sturz auf die Zunge gebissen. Seufzend spuckte er aus und erhob sich, den Blick auf den Baum gerichtet, dem er nun den Blutfleck auf seiner Kleidung zu verdanken hatte. Er sollte lieber zusehen, dass er die Flecken schnell wieder los wurde, ehe er doch noch gezwungen war, die Kleidung der toten Mannschaft überzustreifen.
    Wozu genau er nun Nelli brauchte, war ihm allerdings unschlüssig.
    Mit dem Fuß trat er gegen den Stamm und verfluchte alles: von der Insel über seine Mitgestrandeten bis zur Reise allgemein. Und zu guter Letzt den Dschungel mit seinen absurd schweren Bäumen!
    Genervt wandte er sich zum Wasser. Dort angekommen, hockte er sich hin, um sich das Blut aus dem Gesicht zu waschen, und wäre dabei beinahe vornüber gefallen, als er Nellis Stimme plötzlich hinter sich hörte.
    „Ich hoffe, du beschwerst dich nicht nochmal über einen von uns“, sagte sie. Edmund verdrehte die Augen ehe er sich an die Alte wandte. Dabei überkam ihn leichter Schwindel.
    „Ich kann auf deine Belehrungen gerne verzichten, Hexe!“, murrte er und schüttelte den Kopf, ehe er sich zurückwandte und weiter das Gesicht sauber machte.
    Nelli hob die Augenbrauen und musterte ihn und wenn er sich nicht täuschte, lag Sorge in ihrem Blick. Warum? Wegen dem bisschen Blut? Da war bei der Meuterei deutlich mehr davon geflossen. Nur ließ sich dieses Blut einfach abwischen. Es war schließlich sein eigenes.
    „Glotz nicht so!“
    „Was sagtest du, wie das passiert ist?“
    , wandte sich Nelli etwas verwirrt an Trevor, der stirnrunzelnd neben ihr stand. Hinter ihnen tauchte auch Esther auf und schlug die Hand vor den Mund. Warum taten alle so, als wäre er bereits tot? Das war doch nur ein Baum gewesen! Ein verdammt schwerer, ätzender, verfluchter Baum!
    „Trevor hat einen Baum auf mich fallen lassen“, gab Edmund von sich und deutete auf den Pfosten. Mit der anderen Hand rieb er sich über die Nase und rückte sie wieder gerade.
    „Er ist nicht gefallen. Er hat dich umgedrückt.“
    „Ich bin eben kein Formwandler mit übermenschlicher Stärke!“
    , blaffte Edmund zurück. Erneut sammelte sich das Blut in seinem Mund. Doch mehr als ein Biss auf die Zunge? Er spuckte auch dieses Blut aus, ehe er sich wieder erhob.
    Du schuldest mir eine Rippe, Pirat!
    „Dafür braucht man keine übernatürliche Kraft“, meinte Trevor klang dabei aber mehr besorgt als ärgerlich.
    „Um einen Baumstamm festzuhalten, der dreimal so hoch ist wie man selbst? Doch, ein normaler Mensch hält das nicht mal eben so unvorbereitet fest!“
    Er krempelte etwas die Ärmel des Hemdes nach oben und versuchte dann den Fleck etwas zu beseitigen. Was nichts brachte.
    Toll…das war es dann auch mit der Hose! Super Tag!
    „Ich sollte mir das anschauen“, ging Nelli dazwischen.
    Verwirrt runzelte Edmund die Stirn.
    „Das ist nichts. Ich habe das Blut abgewaschen, wir können also weitermachen.“ Edmund wollte an Nelli vorbei, doch die alte Hexe hielt ihn am Arm fest. „Komm schon, Hexe. Ich habe keine Lust hier noch ewig in der Sonne herumzustehen.“ Allem voran, weil ihm langsam schwindlig wurde und er noch immer Probleme beim Atmen hatte. Vermutlich sollte er erst einmal etwas trinken.
    Nelli hob die Augenbrauen und runzelte die Stirn noch etwas mehr, was bedeutete, dass zu den vielen Falten noch mehr dazukamen. Erstaunlich, dass das möglich war …
    „Das sieht aus wie ein Nasenbruch“, meinte sie überflüssigerweise und deutete auf sein Gesicht. Bei dem Geräusch, das sein Gesicht gemacht hatte, hatte er sich das bereits gedacht. Die Nase oder der Kiefer. Aber der Kiefer hatte sich beim letzten Mal anders angehört. Und er hatte damals tagelang nicht reden können!
    „Das ist nicht das erste Mal. Das heilt schnell.“ Er winkte ab. Konnten die nicht einfach alle gehen und ihn in Ruhe lassen? Was war an einem Nasenbruch so schlimm? Wie war das? Sie hatten alle eine Arbeit zu erledigen und wollten von der Insel runter?
    „Du hast auch eine Platzwunde, nicht, dass es den Knochen erwischt hat.“
    Wie nervig konnte diese Alte denn bitte noch werden? Es war doch nichts! Sollten sie sich nicht lieber Gedanken darum machen, dass Trevor fahrlässig mit den Baumstämmen herumspielte? Erst warf er sie, dann hätte er beinahe Esther umgeklatscht und auf ihn hatte er den Baumstamm schließlich fallen lassen.
    „Das heilt!“, meinte er und schüttelte Nellis Hand von seinem Arm. Lästiges altes Weib!
    „Und...“
    „Nein!“, ging er sauer dazwischen, „Mir geht es gut!"
    Er marschierte auf Trevor zu, der unschlüssig zwischen ihnen hin und her blickte, dann aber die Schultern zuckte. Immerhin einer, der ihn verstand.
    „Das entscheide ich!“, schimpfte Nelli weiter und deutete mit dem Finger in den Sand neben sich. „Hinsetzen und lass mich das untersuchen! Je mehr du diskutierst, desto länger wird es dauern.“
    ER diskutierte doch überhaupt nicht! Sie hatte angefangen, weil sie seine Meinung nicht akzeptierte! Dabei war das sein Körper! Und erfahrungsgemäß heilte alles narbenfrei ab.
    „Das ist nur ein bisschen Blut! Ich habe mir vermutlich auf die Zunge gebissen!“ Sein Mund füllte sich in diesem Moment erneut, weshalb er ausspucken musste. Davon abgesehen nahm ihm diese dumme Diskussion langsam den Atem.
    Trevor klinkte sich derweil betreten aus und arbeitete weiter, in dem er den Baum in das Loch hob und begann, das Loch drumherum wieder mit Sand zu füllen. Nur ab und an, warf er noch einen Blick in ihre Richtung. Wohl um sicher zu gehen, dass der Streit nicht eskalierte. Ein Streit, den es nicht geben würde, wäre die alte Schachtel nicht so stur!
    „Du hast dir die Nase gebrochen. Und du kannst froh sein, wenn du dir die Zunge nicht durchgebissen hast!“
    „Habe ich aber nicht!“
    Demonstrativ streckte er der Hexe die Zunge entgegen. Sprach er eine andere Sprache?
    „Bist du bei jedem Arzt so sperrig?“
    Ja! Weil Ärzte immer überreagierten! Und er in der Vergangenheit immer gezwungen gewesen war, Verbände und Stützen länger zu trage, als er sie gebraucht hätte. Damit niemand merkte, dass Wunden schneller heilten, als es normal gewesen wäre.
    „Bei jedem Arzt über 90!“, zischte er. Dass er außerdem nicht wollte, dass die Alte ihn anfasste, war Punkt Nummer zwei.
    „Ich hab mehr Erfahrung als alle deine Ärzte zusammen. Und jetzt halte gefälligst still!“ Die Alte rückte wieder näher an ihn heran und machte erneut Anstalten, ihn am Arm festzuhalten, weshalb Edmund zurückstolperte.
    „Du bist auch älter als alle meine Ärzte zusammen!"
    Du bist auch irrsinniger als alle meine Ärzte zusammen! Diese sind nie nächtlich durch den Wald getanzt und lagen dann bewusstlos in der Gegend herum.
    „Ein verdammter Baum ist auf dich gefallen. Normalerweise sollten wir diese Diskussion nicht mal führen!"
    Dann hör doch endlich auf diese Diskussion zu führen!
    „Kümmere dich um dich selbst und setz dich lieber in den Schatten, Hexe.“
    „Gut. Du kannst das jetzt entweder ruhig über dich ergehen lassen oder ich sorge dafür, dass du fest gehalten wirst. Auf deine Spielchen hab ich keine Lust mehr."
    Edmund wollte sagen, dass nicht er derjenige war, der hier Spielchen spielte. Allerdings hatte ausgerechnet in diesem Moment Esther das Bedürfnis sich einzumischen.
    „Ihr solltet tun, was Nelli sagt, oder ich halte Euch fest ...“
    Edmund hob grinsend die Augenbraue.
    „Klar...“, gab er sarkastisch von sich. Als wären die beiden Frauen in der Lage, ihn aufzuhalten. Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zu Trevor. Davon würde er sich nicht weiter aufhalten lassen. Er hatte keine Lust mehr, weiterhin in der Sonne herumzustehen. Und mit dem Gerüst wollte er auch endlich fertig werden. Das Ganze ging schon viel zu lang.
    „Na schön. Ihr habt es nicht anders gewollt“, hörte er Esther sagen und er sah wie sie ihren Zauberstab zog, dann konnte er sich nicht mehr bewegen. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr und bewegte sich von sich aus einfach zurück zu den Frauen. Egal, wie sehr er sich dagegen wehrte.
    „Aber sonst geht es Euch gut?!“, keifte er Esther wütend an. Was glaubte sie eigentlich, wer sie war? Er musste tief Luft holen, um genug Atem für die nächsten Worte zu besitzen. „Aufhören! Sofort!“
    „Mir geht es sehr gut“
    , meinte Esther und konzentrierte sich darauf, dass er gegen seinen eigenen Willen vor Nelli stehen blieb. „Euch aber anscheinend nicht ...“
    „Lasst das!“
    , schrie er. Traf damit aber nur auf kühle Gesichte.
    „Ich habe dich gewarnt, Jungchen...“
    Edmund war genervt.
    „Du bekommst schlecht Luft und spuckst die ganze Zeit Blut aus. Das ist nicht normal!“, fauchte Nelli derart genervt, dass selbst er zusammenzuckte. Was machte sich die Alte schon wieder solche Sorgen? „Du musst nur mal kurz stillhalten. Danach kannst du dich gerne wieder unter umfallende Bäume legen, wenn du darauf Lust hast.“
    Edmund stieß ein Knurren aus und sah sowohl Esther als auch Nelli böse an. Was sollte das bitte heißen? Dass er schon wieder zu unfähig war, Trevor bei der Arbeit zu helfen? Ja, er war deutlich langsamer! Ja, er musste nach jedem gefällten Baum eine Pause machen! Ja, er konnte keine Bäume herumtragen und offenbar nicht einmal festhalten! Er war für körperliche Arbeit nun einmal nicht gemacht! Und er machte es dennoch! Sollten sich die Frauen doch hinstellen und dieses dumme Gerüst bauen!
    „Jetzt sei brav und lass dich ansehen. Glaubst du, ich habe Lust, nochmal mit der Dunkelheit um ein Leben zu feilschen?“
    Edmund grummelte immer noch unwillig. Wie lange wollte sie ihm das noch vorhalten? Er hatte seine Aussage nicht so gemeint! „Es hat dich niemand darum gebeten.“
    Nelli musterte ihn eine Weile nachdenklich und Edmund war fast sicher, dass sich die Diskussion nun endlich erledigt hatte. Das waren doch nur Kratzer!
    „Ich würde es wieder tun, wenn ich einen von euch damit retten kann. Hinlegen.“
    Edmund starrte lediglich zurück.
    „Ich setze mich, das muss reichen!“ Es sollte ihm immerhin keiner nachsagen, dass er nicht auch für Kompromisse bereit war… wenn er schon von einem Zauber gefesselt in der Gegend herumstand.
    Nelli warf Esther einen Blick zu. „Ich sagte: hinlegen“, meinte sie an die Magierin gewandt, dann drehte sie sich zurück zu ihm. „Kannst du auch mal irgendwas machen, ohne zu widersprechen?"
    „Nein.“

    Noch während er sprach, legte er sich auch schon gegen seinen Willen hin. Tatsächlich war er kurz überrascht, dass ihn die Situation noch mehr nerven konnte, als sie es sowieso schon tat. Mit dem Rücken im Sand, das Gesicht zum Himmel gewandt und die Alte, die sich erst über sein Gesicht beugte und dort herumtatschte und dann das Hemd aufknöpfte, um seine Brust zu untersuchen. Das war sehr nah dran, schlimmer zu sein, als unter einem Baum zu klemmen! Vor allem, wenn man nicht die Möglichkeit hatte, die Hände wegzuschlagen!
    „Oh super, ich wollte schon immer von einer 180-jährigen Hexe befingert werden“, gab er deshalb ironisch von sich.
    „Das nennt sich untersuchen. Und glaub mir, ich habe schon ganz andere Körper gesehen.“
    Er spürte ihre Finger auf seiner Brust herumdrücken. Was genau sie damit erreichen wollte, wusste er nicht, nur, dass er davon husten musste.
    „Das glaube ich dir gern“, angewidert verzog er das Gesicht. Oder hätte es getan, wenn Esthers dummer Zauber ihn gelassen hätte. Probehalber versuchte er einen Finger zu bewegen, was nicht funktionierte. Soweit es ging, wandte er den Blick zu Esther, welche weiterhin den Stab erhoben hielt und ihn konzentriert ansah. Als sie seinen Blick bemerkte, wandte sie sich etwas ab, behielt aber weiterhin die Konzentration auf ihn gerichtet.
    Nachdenklich musterte Edmund sie eine Weile stumm.
    „Ihr beiden könnt aber gerne tauschen“, meinte er schließlich mit einem bitteren Grinsen.
    „Träum weiter, Jungchen“, gab Nelli von sich und schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf.
    Esther legte den Kopf schief und musterte ihn.
    „Tut mir leid, aber daraus wird nichts. Wer sollte sonst den Bann aufrecht halten? Außerdem ist Nelli die Heilerin.“ Ihre Stimme klang dabei so trocken als hätte sie mit Sand gegurgelt.
    Es überraschte Edmund, dass Esther in der Lage war zu kontern. Und sie seine Absicht durchschaut hatte. Trotz der herabwürdigenden Situation musste er sich ein Lachen verkneifen.
    „Schade“, meinte er lediglich, „wo ich doch bereits willig und in Euren Bann gezogen halbnackt vor Euch liege.“
    Esther zögerte sichtlich, räusperte sich dann aber. „Seid versichert“, meinte sie trocken, „mir genügt das.“ Die leichte Röte in ihrem Gesicht kam jedoch nicht nur von der Sonne.
    Edmund bemerkte es und beschloss noch weiter zu bohren.
    „So Eine seid Ihr also, Gräfin?“, neckte er deshalb. „Ich bin doch überrascht. Bringt Ihr Trevor ebenfalls auf diese Weise dazu, vor Euch zu liegen?“
    Esther zog die Augenbrauen zusammen.
    „Jetzt werdet Ihr anmaßend“, gab sie von sich, „ich verbitte mir solche Unterstellungen!“
    Sieh an, da steckt ja doch eine Gräfin im Korsett!
    Beinahe hätte er laut aufgelacht, als er den säuerlichen Unterton in ihrer Stimme vernahm. Irgendwie schaffte sie es nicht ihm damit Angst zu machen. Und das obwohl er sich nicht bewegen konnte. Die Frage war, wie weit er gehen konnte, ehe sie ihn zwang, ins Wasser zu springen, um sich dort selbst zu ersäufen, oder aber sie die Konzentration über ihren Zauber verlor. Ehe er jedoch dazu kam, es weiter zu provozieren, zupfte Nelli ihm an den Haaren.
    „Genug davon“, meinte sie und schob ihre runzlige Gestalt mit Absicht so, dass Edmund aus seiner Position heraus Esther nicht mehr sehen konnte.
    Schreckliche Alte!
    „Spielverderberin“, murrte er nur.
    Nelli erwiderte nichts mehr, grinste aber vor sich hin und untersuchte die Rippen konzentriert, während Edmund in den Himmel blickte, der sich zum Glück langsam rot verfärbte, und dem Schaufelgeräusch von Trevor lauschte. Seltsamerweise war die Hexe bei ihrer dummen Untersuchung deutlich vorsichtiger als er es erwartet hatte.
    „Du verhältst dich wie meine Mutter", sprach er nach einer Weile. Diese gab auch nie auf, wenn er sich verletzt hatte. Und dabei hasste er Ärzte. Allerdings hatte er bei diesen mehr Zeit in seiner Kindheit verbracht, als ihm lieb war.
    „Wenn du dich wie ein kleines Kind verhältst, muss ich das wohl.“
    Edmund seufzte und richtete die Augen auf Nelli.
    „Wieso bezeichnet mich hier jeder als Kind, nur, weil ich eine Meinung habe, die keiner akzeptiert?“
    „Weil du nun mal bockig und stur bist.“
    Nelli seufzte genervt, ließ dann aber von ihm ab und sprach weiter, ehe er seine Gedanken zu ihrer Aussage laut aussprechen konnte. „Du müsstest tot sein“, überlegte sie sicherlich verwirrt laut, „Keine Ahnung, warum du es nicht bist.“ Das klingt wie eine Drohung! „Da sind etliche Rippen angeknackst, die eigentlich gebrochen sein müssten.“
    Und dafür hatte die Alte eine Untersuchung gebraucht? Dafür musste man erst Heiler werden? Er hatte das Knacken schließlich gehört. Hätte sie ihn gefragt, hätte er ihr genau das gesagt. Gut, vermutlich nicht genau das. Aber das irgendwas gebrochen war, war nicht so unwahrscheinlich.
    „Ich sag doch. Das ist nichts. Und in zwei oder drei Tagen ist das auch verheilt.“ So war es schon immer gewesen. Okay, die Brüche würden vielleicht ein paar Tage länger benötigen. Aber was machte das auf der Insel schon für einen Unterschied? Es behinderte ihn schließlich nicht. Mal abgesehen vom schweren Atem. Wobei: ob die Möglichkeit noch bestand, dass er sich theatralisch in den Schatten warf?
    „Warum ist das so?“
    Konnte sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Sie hatte doch, was sie wollte!
    „Woher soll ich das wissen? Bin ich Wissenschaftler? Das liegt vermutlich am Nymphenanteil meiner Familie...“
    Nelli hob eine Augenbraue. „Ach ja, das erklärt einiges.“ Nachdenklich stützte sie das Kinn in die Hand und musterte die Platzwunde an seinem Kopf.
    „Das ist nicht das erste Mal, dass ich mir etwas breche oder irgendwas über mir zusammenbricht. Darf ich aufstehen?“
    Nelli legte den Kopf schief, betrachtete ihn noch eine Weile, ehe sie sich erhob. „Das musst du Esther fragen...“
    Esther legte ebenfalls den Kopf schief und erst glaubte er, er müsste sie wirklich anflehen, damit sie ihn freiließ, dann spürte er aber wie der Bann von ihm abfiel. Esther senkte den Zauberstab.
    Ehe die Frauen wieder auf die Idee kamen, ihn zu bannen, erhob sich Edmund.
    Toll, jetzt klebt mir noch mehr Sand am Körper! Vermischt mit Schweiß!
    Dass ihm schwindlig wurde, ignorierte er die Blöße würde er sich nicht geben!

  • Ein paar Tage versuchten sie einen normalen Tag- und Nachtrhythmus beizubehalten, was lediglich dazu führte, dass Nelli mehr als einmal hatte Salben gegen Sonnenbrand und Mittel gegen Sonnenstich herstellen müssen. Irgendwann hatte sie vorgeschlagen, dass sie nachts arbeiteten und den Tag über schliefen. Die Idee fand schnell Zustimmung und sie stellten sich alle danach um. So war es wirklich angenehmer, wenn ihnen die Sonne nicht den ganzen Tag den Schweiß auf die Stirn trieb. Auch wenn die alte Frau das nicht hatte zugeben wollen, so hatte ihr die Hitze sehr zu schaffen gemacht. Sie war eben keine zwanzig mehr und steckte das noch schlechter weg, als die jungen Leute – auch wenn Edmund tat, als würde er am meisten von allen leiden.

    So auch an diesem Nachmittag, als er da saß und für sie alle das Frühstück zubereitete: Ein Versprechen, an das er sich erstaunlicherweise noch immer hielt.

    Nelli hatte Wasser geholt, damit sie darin ein paar Früchte kochen konnten um eine Art Kompott daraus zu machen. Sie hatte sich im Sand nieder gelassen um noch ein paar Bananen klein zu schneiden, während Edmund am Feuer stand. Nach einigen Minuten des Schweigens, begann er dann aus dem Nichts zu sprechen.

    „Wieso ist es hier eigentlich immer so unendlich heiß? Wird das hier auch mal wieder kühler? Wenn es weiter so langsam voran geht, dann bekommen wir hier ja vielleicht sogar noch den Winter mit“, maulte er und Nelli verdrehte nur die Augen.

    „Bei der Hitze kann ja niemand schlafen. Warum habe ich eigentlich überhaupt ein Feuer gemacht?“, meckerte er weiter, als die alte Frau nicht weiter reagierte. Die hatte schon abgeschaltet und hörte gar nicht weiter zu, als er sich weiter über die Hitze, die Sonne und den Sand beschwerte. Irgendwann ging auch ihr aber das ständige Genörgel auf die Nerven und sie drehte sich leicht gereizt zu ihm um.

    „Was zum Henker willst du? Du bist doch sonst nach dem Aufstehen nicht so gesprächig und schon gar nicht mir gegenüber“, fragte sie schließlich offen heraus und bewunderte, wie er sie erst mal für einen Moment verdutzt anstarrte.

    „Von dir will ich gar nichts, Hexe. Du triffst leider so gar nicht meinen Geschmack. Es ist nur grade niemand anderes da“, erwiderte er wenig schlagfertig, was Nelli schon stutzen ließ. Ihr Blick glitt kurz besorgt über sein Gesicht. Täuschte es oder schien der Händlersohn trotz des Sonnenbrandes erstaunlich blass? Und warum waren ihr die tiefen Ringe unter seinen Augen noch nie aufgefallen? Schweigend stocherte Edmund etwas im Essen herum und schien sich nicht so richtig entschließen zu können, ob er mit der Sprache rausrücken wollte oder nicht. Nach ein paar Minuten raffte er sich auf.

    „Was hat deine Hexenküche eigentlich noch so zu bieten?“ fragte er zögerlich und ließ Nellis Genervtheit verpuffen. Anscheinend gab es wirklich etwas, was ihn bedrückte. Sie gab ihre abwehrend Haltung auf, drehte sich zu ihm um, was sie damit tarnte, dass sie die Bananen dem Essen zufügte.

    „Kommt darauf an, was du brauchst“, erwiderte sie deutlich sanfter und schaute dann zu ihm auf. Er wich ihrem Blick aus und kaute seltsam nervös auf seiner Unterlippe herum.

    „Irgendetwas, was mich schlafen lässt...“ murmelte er kaum hörbar. Die alte Heilerin kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Das erklärte natürlich einiges und sofort regte sich Sorge in ihr. Wie lange ging das wohl schon? Schlief er etwa seit der Meuterei nicht mehr?

    Geht es dir mehr um das Einschlafen oder möchtest du von Träumen befreit sein?“ hakte sie ruhig nach und jede Spur von Bissigkeit war aus ihrer Stimme verschwunden.

    Edmund spannte den Kiefer an und ein trotziger Zug erschien um seine Mundwinkel.

    „Macht das denn einen Unterschied?“

    Nelli nickte langsam.

    „Das macht es tatsächlich. Je nach Kraut werden andere Aspekte des Schlafes beeinflusst“, erklärte sie und zuckte mit den Schultern, während der Händlersohn ergeben seufzte.

    „Keine Ahnung! Beides, Einschlafen und Träume...“ gab er zerknirscht zu. Nelli runzelte die Stirn. Das war wirklich schlimmer als sie vermutet hatte. Vielleicht würde seine Laune aber auch besser werden, wenn er endlich wieder schlief.

    „Gut, damit kann ich arbeiten. Ich braue dir etwas, wenn ich meine Bestände und die Kräuter der Insel gesichtet habe. Aber nur unter einer Bedingung...“ stimmte sie zu, ehe Edmund sie unterbrach.

    „Keine Experimente und du bleibst mit deinen Händen weg von mir!“ verlangte er und Nelli musste sich das lachen verkneifen.

    „Ich experimentiere nicht an dir. Keine Sorge. Und so lange du dich nicht wieder verletzt besteht auch kein Zwang, dass ich dich wieder untersuchen muss. Nein, ich helfe dir und dafür hörst du auf mich ständig 'Hexe' zu nennen.“ Edmunds Augenbrauen schnellten in die Höhe und er schaute sie irritiert an.

    „Aber du bist eine Hexe“, stellte er überflüssigerweise fest und legte den Kopf schief. Ein tiefes Seufzen kam über die runzeligen Lippen der Alten und sie fuhr sich über die Stirn.

    „Das schon. Aber es haben mir schon sehr viele Menschen als Schimpfwort an den Kopf geworfen, wenn ich nicht das gemacht habe, was sie wollten. Ich bin eine Heilerin“, versuchte sie zu erklären und meinte, eine Erkenntnis in Edmunds Augen zu sehen.

    „Es war nicht als Beleidigung gemeint“, begann er, ehe sich aber ein spitzbübisches Grinsen auf seine Lippen schlich. „Jedenfalls nicht immer. Aber meinetwegen, dann eben Heilerin.“ Gleichgültig zuckte der Händlersohn mit den Schultern, während Nelli schmunzeln musste.

    „Dir ist bewusst, dass ich auch einen Namen habe, oder?“ fragte sie amüsiert und beobachtete, wie das Grinsen auf Edmunds Gesicht breiter wurde.

    „Ja. Ich auch“ erwiderte er frech, sodass Nelli sich einen Spaß erlauben wollte. Sie zuckte also mit den Schultern.

    „Ganz wie du möchtest, Wendy, neckte sie ihn und genoss die Verwirrung, die sich auf seinem Gesicht breit machte.

    „Wendy?“ echote er und zog die Augenbrauen hoch.

    „Ja, Wendy. Für Wendel“, erklärte sie, als wäre es das natürlichste der Welt. Ihr Grinsen wurde mit jedem Moment breiter, je röter Edmunds Gesicht wurde.

    „Schon gut, Schon gut, Edmund, beruhigte sie ihn und gluckste leise. Den Anblick in seinen Augen würde sie so schnell nicht vergessen. Ganz offensichtlich hatte er damit nicht gerechnet.

    „Danke, Peternella, kam es dann aber zurück, was die Alte nun erst recht wieder zum Lachen brachte.

    „Nelli ist völlig ausreichend. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mal dran erinnern, wann ich das letzte Mal Peternella genannt wurde.“ Sie grinste breit und auch um Edmunds Mund zog sie ein Schmunzeln.

    „Kein Wunder, der Name ist ja auch viel zu sperrig. Den kann man überhaupt nicht brüllen“, merkte er an, was Nellis Augenbrauen nach oben wandern ließ. Das sagte ausgerechnet er mit seinen drei Namen, von denen kein einziger wirklich gut von den Lippen ging. Was war denn bitte Wendel für ein Name? So zuckte sie lediglich mit den Schultern.

    „Oh ja. Ich weiß auch nicht, was meine Mütter sich dabei gedacht haben“, erwiderte sie gleichgültig und steckte kleine Zweige ins Feuer. Edmund hatte den Kopf nachdenklich schief gelegt und stocherte im Essen rum. Anscheinend rang er wieder mit sich und Nelli war schon neugierig, was es dieses Mal war.

    „Woher kommst du eigentlich? Wurdest du als Hex-... Heilerin geboren oder von garstigen alten Weibern als Baby mitten in der Nacht verschleppt und in einen Kessel geworfen?“ wollte er gespielt desinteressiert wissen, doch den Sarkasmus konnte er nicht ganz verstecken. Nelli beschloss, den zu ignorieren und ihm stattdessen vernünftig zu antworten.

    „Ich war ein Waisenkind. Meine Ziehmutter hat mich aufgesammelt und ausgebildet. Ich kann mich an meine richtigen Eltern nicht erinnern“, erzählte sie ruhig, während Edmund schon wieder eine Vorlage für den nächsten fiesen Kommentar hatte.

    „Jemand hat dich freiwillig aufgenommen? Hast du dann der Ziehmutter auch deinen Namen zu verdanken?“ stichelte er und die Alte verdrehte erneut die Augen. Manchmal war es selbst ihr ein Rätsle, wie sie so ruhig bei seinen Aussagen bleiben konnte.

    „Stell dir vor, als Kind war ich sogar ganz niedlich. Aber ja, den Namen hat sie mir gegeben.“ Edmund feixte und machte sich gar keine Mühe, das zu verstecken.

    „Wie viele hundert Jahre muss ich nochmal zurück gehen, um mir das vorstellen zu können?“

    „178 Jahre“, antwortete sie und musste dann aber selbst grinsen. Edmund schien zu überlegen und runzelte dann die Stirn.

    „Nein, beim besten Willen. So weit reicht meine Vorstellungskraft nicht um zwischen den Falten auch nur irgendwas Niedliches zu entdecken“, neckte er sie und Nelli schüttelte gespielt missbilligend den Kopf.

    „Du hast eindeutig zu wenig Fantasie“, stellte sie fest und Edmund konterte direkt: „Oder du zu viele Falten.“

    Kurz überlegte die Alte und wiegte den Kopf hin und her. „Vermutlich eine Kombination aus beidem. Aber komm du erst Mal in mein Alter, dann werden wir sehen, was von deinem Aussehen noch übrig bleibt, Jungchen.“ Edmund lachte kurz auf und zuckte dann mit den Schultern.

    „Darüber brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Meine Familie wird nicht so alt.“

    „Nicht? Macht sich jeder von euch so schnell Feinde wie du?“ Die Ironie in ihrer Stimme war unüberhörbar und der junge Händlersohn schnaubte leise.

    „Das vermutlich auch. Muss in der Familie liegen“, grinste er und Nelli zuckte mit den Schultern.

    „Sei froh, es hat auch viele Nachteile, so alt zu werden“, merkte sie an und schien mit ihren Gedanken für einen Moment ganz weit weg zu sein. Sie konnte nicht verhindern, dass ein trauriger Ausdruck in ihre Miene trat. Gesichter tauchten vor ihrem inneren Auge auf, an die sie schon lange nicht mehr gedacht hatte. Als Edmund ihr eine Schüssel mit dem fertigen Essen hinstellte, zuckte sie kurz zusammen. Unangenehm berührt räusperte sie sich und fühlte den Blick des jungen Mannes auf ihr ruhen.

    „Du hast viele Menschen in all der Zeit verloren, oder?“ fragte er und Nelli meinte fast so etwas wie Mitgefühl in seiner Stimme zu hören. Also nickte sie langsam und schaute auf die Schale vor sich.

    „Viel zu viele“, gab sie ehrlich zu. Edmund zögerte und schaute sich nach den anderen beiden um, die in etwas Entfernung noch schliefen.

    „Auch deine...Geister?“ fragte er leise, beinahe ehrfürchtig. Wieder nickte die Alte und rührte in dem Essen um.

    „Ich habe schon immer Geister gesehen und mit ihnen kommuniziert“, erklärte sie und schaute wieder zu Edmund auf, der die Stirn gerunzelt hatte.

    „Warum schleppst du dann nicht deine ganzen verlorenen Menschen mit?“ wollte er wissen und Nelli fragte sich zeitgleich, wann jemand das letzte Mal wirklich so aktiv Interesse an ihr gezeigt hatte.

    „Nicht jeder wird zu einem Geist. Nur Tote, die noch etwas auf der Erde zu erledigen haben. Wie zum Beispiel Trevors Vater, diese nutzlose Miesmuschel.“ Allein beim Gedanken an dieses Gespräch wurde die alte Frau wieder wütend. Es ging ihr nicht in den Kopf, wie Johnny hatte diese Chance vermasseln können. Edmunds Blick zeigte offene Skepsis.

    „Stimmt das wirklich mit diesem Geisterkram oder hast du Trevor nur belogen?“ Nelli kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.

    „Das stimmt wirklich. Ich kann Geister sehen, mit ihnen sprechen und ihnen meinen Körper zur Verfügung stellen, um mit anderen zu sprechen. Was hätte ich denn davon, Trevor zu belügen?“ Dieser Gedanke ergab einfach keinen Sinn, egal, wie sie es drehte und wendete. Edmund musterte sie.

    „Keine Ahnung. Deinen Spaß und einen verzweifelten Formwandler?“ schlug er vor und die Hexe schnalzte missbilligend mit der Zunge.

    „Das ist ziemlich wenig, oder? So verrückt bin ich nun auch wieder nicht...“ merkte sie spitz an und Edmund wiegelte abwehrend ab.

    „Schon gut, schon gut. Aber was ist mit deinen Geistern? Wen kannst du schon verloren haben, wenn in deinem komischen Zirkel doch alle so uralt werden?“ wechselte er das Thema und Nelli musste sich ein grinsen wieder verkneifen.

    „Fünf Ehemänner und etliche Liebhaber?“, schlug sie amüsiert vor und legte den Kopf schief. Kurz musterte Edmund sie und grinste dann.

    „Das ist doch hoffentlich 150 Jahre her?“ neckte er sie und brachte die Alte damit wieder zum Lachen.

    „Nicht ganz, aber schon ein paar Jahrzehnte. Ich habe es die letzten Jahre vermieden, mich enger an Menschen zu binden. Ihr seid seit bestimmt guten 30 Jahren die ersten, die ich 'Freunde' nennen würde“, gab sie offen zu, was ihr einen verwunderten Blick von Edmund einbrachte.

    „Weil wir so besonders sind? Oder weil niemand was mit dir zu tun haben wollte?“ fragte er nach und musterte sie mit zusammen gekniffenen Augen. Nelli wiegte erneut den Kopf hin und her.

    „Zu viel Bindung ist schlecht, wenn man schon viele Menschen verloren hat. Man hat ständig Angst, dass das wieder passiert und versucht sich das zu ersparen“, erklärte sie langsam, fast stockend, während sie Edmunds Blick weiter auf sich spürte. Ihr Blick ging zum Horizont und ihre Gedanken wanderten weit zurück in die Vergangenheit, ehe sie eine Berührung an der Schulter zurückholte.

    „Du solltest essen, sonst wird es kalt. Und wenn Trevor wach wird, bleibt nichts mehr für uns übrig.“ Edmund nickte in Richtung der Schlafenden.

    „Falls du nachher Hilfe mit den Kräutern brauchst, sag einfach Bescheid“, fügte er noch hinzu und Nelli musste sich kurz räuspern, ehe sie sprach.

    „Danke, werde ich machen“, antwortete sie, wohlwissend, dass sie vermutlich nie darauf zurück kommen würde. Edmund war mit dem Fällen von Bäumen und dem Bau des Gerüsts schon mehr als beschäftigt.

    „Hier verzichtet auch keiner auf Hilfe...“ seufzte er theatralisch und zauberte Nelli damit wieder ein Lächeln auf die Lippen, während sie beobachtete, wie die anderen beiden wach wurden und verschlafen zum Feuer kamen.

  • Während Trevor und Edmund weiterhin mit dem Aufstellen des Gerüstes beschäftigt waren, flickte Nelli die Segel.

    Langsam aber sicher war das Gerüst auch als solches erkennbar und Trevor hatte mehrfach versichert, dass nicht mehr viel fehlte bis es fertig war. Mittlerweile dauerte der Bau daran schon einige Tage und anfangs hatte Esther nicht einmal verstanden, wie die Konstruktion am Ende aussehen sollte. Mehrmals am Tag brüteten die Männer über ihre Zeichnung, verglichen sie mit ihrem Ergebnis, sprachen über neue Ideen, verwarfen Gedanken, um dann erneut zu diskutieren.

    Sie selbst war in dieser Zeit wenig hilfreich zur Hand gegangen. Viel mehr als Seile binden, hatten sie und Nelli nicht tun können. Und allein davon trug sie bereits brennende Stellen an den Handinnenflächen. Beschweren würde sie sich deshalb nicht, zumindest nicht laut. Von Anfang an wollte sie helfen und da würde sie wegen ein paar Blasen nicht jammern.

    Esther wandte den Blick von Trevor ab, der gerade einen weiteren Pfosten im Erdboden versenkte, und sah Edmund dabei zu, wie er eines der Seile um eine Querverstrebung wickelte und damit festschnürte. Wie der Händlersohn angekündigt hatte, war von der Verletzung nicht mehr viel zu sehen. Es überraschte sie ohnehin, mit welcher Verbissenheit er mittlerweile an die Arbeit ging. Möglicherweise lag es daran, dass man ein Ziel sah. Zwar ein kleines, aber immerhin.

    Seufzend rappelte sie sich auf, schnappte sich den Topf von der Kochstelle, trat bis an die Wasserkante heran und starrte auf das offene Meer hinaus. Die Sonne ging bereits unter und trotzdem hing die Hitze penetrant über diese Insel.

    Weil sie gerade nichts am Gerüstbau machen konnte, hatte sie sich bereit erklärt, für die Ordnung im Lager zu sorgen und eine Zwischenmahlzeit zuzubereiten.

    Warum habe ich noch einmal gesagt, dass ich kochen will?

    Ihr Blick glitt abermals zu den Männern hinüber.

    Ach ja …

    Sie wollte, dass Edmund sich auch einmal ausruhen konnte und nicht noch kochen musste nach der Arbeit …

    „So wird der Topf nicht sauber!“, rief die Hexe ihr belustigt zu.

    Esther unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte ausgesprochen schlecht geschlafen. Nachdem sie alle ihren Schlaf- und Arbeitsrhythmus umgestellt hatten, war es Esther schwergefallen, sich daran zu gewöhnen und offen gestanden, fiel es ihr immer noch nicht leicht, bei der Tageshitze zu schlafen.

    Dementsprechend müde und ausgelaugt war sie.

    Von ihrer miesen Stimmung ganz abgesehen. Ob es allgemein daran lag, dass sie nur schleppend vorankamen, weil sie einfach schlecht schlief oder weil ihr die Sache mit Edmund und dem Bannzauber nicht aus dem Kopf gingen, konnte sie nicht sagen.

    Mehrere Mal hatte sie schon vorgehabt, mit dem Händlersohn darüber zu reden und sich zu entschuldigen, nie aber die Gelegenheit ergriffen.

    Warum auch? Eigentlich müsste er gemerkt haben, dass sie sich nur Sorgen gemacht hatte. Genauso wie Nelli.

    Außerdem war sie selber sauer auf ihn. Immerhin hatte er ihr eine Affäre mit Trevor unterstellt! So ein Blödsinn! Absolute Frechheit!

    Aber wollte sie weiter darauf herumreiten?

    Sie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stapfte barfuß einige Schritte ins Wasser. Ihre Stiefel hatte sie in weiser Voraussicht am Lager gelassen.

    Ohnehin fühlte sie sich im Moment wenig gräflich. Eitel war sie keineswegs, aber sie brauchte auch keinen Spiegel, um zu wissen, dass sie dem Anblick einer Vogelscheuche glich. Leider konnte sie aus den gelagerten Sachen des Wracks nichts finden, was sich irgendwie auch nur annähernd als Haarbürste nutzen ließ. Deshalb blieb ihr bisher nichts anderes übrig, als die Haare mit den Fingern in Ordnung zu bringen. Zu diesem Zweck hatte Nelli ihr aus einem Stück Segeltuch ein Haarband herausgeschnitten. Es war deutlich fester und hielt selbst ihre lange Mähne in einem Zopf zusammen.

    Außerdem trage ich Hosen, latsche wie ein Bauer barfuß über den Sand und werde mit jedem Tag brauner.

    Von den kleinen Narben an ihrer Handinnenfläche ganz zu schweigen.

    Sie ging weiter, bis das Wasser beinahe ihre Knie berührte. Still, heimlich und im Gedanken verfluchte sie diese Insel, dieses Wrack und sich selbst, weil sie sich einbildete, Essen kochen zu können. Sie verfluchte Edmund seiner Unverschämtheit wegen und Trevor, weil es durch seinen Kuss überhaupt zu so einer Unterstellung gekommen war! Und Nelli … weil … keine Ahnung!

    „So ein verfluchter Dreck!“, schimpfte sie leise und wusste selber nicht einmal genau, warum sie meckerte. Sie beugte sie sich vor und stopfte beinahe energisch den Topf unter Wasser und wischte ihn mit der Hand aus.

    Warum regte sie sich eigentlich so sehr auf? An alledem war nichts so furchtbar, wie es sich vielleicht anhörte. Lag es etwa an der Zeit hier auf der Insel? Drehte sie langsam durch?

    Und jetzt spülst du den Topf mit Salzwasser aus, du Idiot!

    Allein aus Trotz wusch sie diesen weiter aus. Als sie damit fertig war, den Topf zu malträtieren, wandte sie sich um und wollte zurück ans Ufer waten.

    Sie kam keine zwei Schritte weit, als sie mit dem Fuß an einem Stein hängen blieb, ins Wanken geriet und sich mit einem spitzen Aufschrei auf den Hintern setzte. Wasser spritzte ihr bis ins Gesicht und sofort drang die Nässe durch die Kleidung. Der Topf flog im hohen Bogen über sie hinweg und klatschte hinter ihr auf die Meeresoberfläche.

    Mit geschlossenen Augen blieb sie sitzen und versuchte, die aufkeimende Wut niederzuringen und als wäre das nicht schon genug, sprang schallendes Gelächter zur ihr rüber.

    Mit zusammengepressten Lippen sah sie zu dem Gerüst hinüber, wo Trevor breit grinsend an einem Baumstamm lehnte und Edmund sich lachend an dem Ständerwerk festhielt.

    Sie verspürte üble Lust, einem der Männer den Topf an den Kopf zu werfen. Ganz egal, wem, es würde keinen Falschen treffen!

    Nellis Gesichtsausdruck wollte sie lieber nicht sehen, weshalb sie den Kopf in den Nacken legte und den Spott über sich ergehen ließ.

    Als sie den Blick wieder nach vorn richtete, sah sie, wie Edmund feixend auf sie zukam und schließlich ebenfalls ins Wasser trat. „Vielleicht sollte ich doch lieber das Kochen, wenn Ihr den Topf schon wegwerft“, meinte er frech grinsend, was nicht unbedingt dazu führte, dass sich ihre ohnehin schon schlechte Laune verbesserte.

    Wohlwissend, dass sie sich damit nur noch mehr nass machte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und biss sich auf die Unterlippe.

    Er lachte sie aus! Sie selbst fand an der Situation nichts erheiternd. Nicht einmal im Entferntesten … Oder störte es sie nur, weil sie es als Adlige nicht gewohnt war, dass man über sie lachte?

    „Blödsinn“, gab sie säuerlich zurück, blieb rein aus Trotz im Wasser sitzen und vermied es, Edmund anzusehen. „Ich habe den Topf nicht weggeworfen! Ich bin lediglich … ausgerutscht.“ Jetzt, wo sie es selber laut aussprach, klang es doch amüsant, weshalb sie den Anflug eines Lächelns unterdrücken musste.

    Offensichtlich gab ihr teilweises Zugeständnis Edmund nur noch mehr Anlass dazu, sich weiter über sie lustig zu machen. „Aha“, machte er und aus dem Augenwinkel sah sie, wie er über beide Ohren grinste.

    Esther war das genug, sie wollte nichts weiter als dieser Situation entkommen. Also griff sie hinter sich nach dem Topf, angelte ihn aus dem Wasser und versuchte sich halbwegs gekonnt aus ihrer Position in die Höhe zu stemmen.

    Wie konnte man es in einem einzigen Moment schaffen, sich derartig zum Gespött zu machen?!

    Edmund streckte ihr schließlich die Hand entgegen. „Darf man der Gräfin helfen?“, frage er und schien sich Mühe zu geben, seine Belustigung zu zügeln.

    Sie hielt inne und betrachtete seine angebotene Hand sowie seinen Gesichtsausdruck im Wechsel. Dabei keimte eine Idee in ihr auf …

    Räuspernd und ein Lachen unterdrückend griff sie nach seiner Hand. Als sie mit seiner Hilfe aufstand, stemmte sie sich gleichzeitig mit aller Kraft nach hinten.

    Es überraschte sie, dass es ihr gelang, Edmund mit sich zu ziehen.

    Er bekam nicht genug Zeit, um irgendwie zu reagieren, weshalb er ebenso wie sie selbst ins Taumeln geriet.

    Die Genugtuung, die sie in dem Moment verspürte, als er neben sie im Wasser landete, war gewaltig – auch wenn sie dadurch nun komplett getränkt wurde.

    Einen Moment lang kämpften sie beide darum, sich wieder aufzusetzen, was Esther eine Spur schneller gelang. Sie wischte sich prustend das Wasser aus dem Gesicht und sah, wie Edmund sich aufsetzte. Nach Luft ringend, blieb er neben ihr hocken und strich sich die nassen Haare zurück.

    Blinzelnd sah er sie an und sie wappnete sich bereits für die drohende Schimpftirade, die gleich über sie hereinbrechen würde.

    Dementsprechend verwirrt war sie, als Edmund plötzlich anfing, schallend zu lachen.

    Sie starrte ihn an, reglos und ohne zu verstehen, was hier vorging. Wieso war er nicht wütend? Sie hatte ihn ins Wasser gezogen! Zum Fallen gebracht! Wieso lachte er darüber?

    „Ihr hättet auch sagen können, dass Ihr über mich herfallen wollt“, meinte er gackernd und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.

    Für einen Augenblick rang Esther mit ihrer Fassung. Was hatte er gerade gesagt? Wie konnte er? „Mitnichten würde ich über dich herfallen, gab sie grinsend zurück und bemerkte zu langsam, dass sie die förmliche Anrede missachtete. Nun. Es war ohnehin zu spät, um das zu korrigieren.

    Aber eines musste sie zugeben: Sein Lachen hatte zumindest eine gute Wirkung.

    Sie spürte, wie ihre üble Laune langsam verebbte. „Das war einfach Rache für deine unverfrorene Unverschämtheit“, setzte sie nach.

    Edmund hob die Augenbrauen. „Unverschämt? Ich? Niemals!“ Er holte aus und spritzte ihr Wasser entgegen.

    Sofort drehte Esther sich ein wenig weg und hob schützend die Arme, um nicht die volle Ladung ins Gesicht zu bekommen. Sie spürte, wie der Rest ihrer schlechten Laune weggespült wurde.

    Es tat gut, für einen Moment die Probleme und Sorgen zu vergessen. Allerdings verwirrte es sie, dass es Edmunds Verdienst war, dass sie heute lachen konnte. Ein Fakt, den sie nur schwer für möglich hielt. Noch vor wenigen Tagen hätte sie so etwas nicht in Betracht gezogen.

    Sie schlug nun ihrerseits mit der Hand ins Wasser, sodass Edmund einige Tropfen entgegensprangen. „Du bist der Inbegriff von Unverschämtheit!“, rief sie ihm lachend zu.

    Sie hörte, wie Edmund hörbar die Luft einzog. „Autsch!“, gab er von sich und spritzte sie erneut nass.

    „Wenn ihr dann irgendwann fertig mit baden seid, dann gäbe es hier auch noch Arbeit!“, keifte Nelli zu ihnen rüber.

    Esther kicherte noch einen Moment weiter ehe sie sich beruhigen konnte. Grinsend sah sie Edmund an. „Normalerweise sollte ich dir das Du nach dieser Frechheit nicht anbieten, aber ich will mal nicht so sein … wie wäre das?“

    Er musterte sie kurz mit erhobener Augenbraue. „Meinetwegen“, sagte er schließlich, erhob sich und hielt ihr abermals die Hand hin.

    Dieses Mal ließ sie sich aufhelfen, ohne erneut ein Vollbad zu nehmen.

    Esther sah ihm dabei zu, wie er sein Hemd ausrang, und den Topf aus dem Wasser holte.

    Auch wenn sie die Korsage an den besonders heißen Tagen verfluchte, so war sie in diesem Moment froh, dass sie diese trug. Vermutlich würde das triefend nasse Hemd mehr offenbaren als sie gewollt hätte.

    „Dann kein Ihr mehr … schön“, meinte sie und lächelte schief. „Dann gäbe es noch eine zweite Sache, die ich dir sagen möchte.“ Wenn sie das jetzt nicht klärte, würde sie das vermutlich nie tun und es hing ihr ewig nach.

    „Die da wäre? Dass Ihr – du nicht kochen kannst?“ Er grinste. „Ich nehme den Topf gerne an mich … und versuche ihn noch einmal so zu waschen, dass wir nachher nicht alle literweise Wasser brauchen.“

    Gegen ihren Willen musste sie lachen. „Ich schaffe das schon“, beteuert sie, obwohl sie noch nie zuvor gekocht hatte, und nahm Edmund den Topf aus der Hand. Sie drehte diesen in ihren Händen und wurde wieder ernst. „Was ich eigentlich sagen wollte: Das mit dem Bannzauber tut mir leid. Ich hoffe, du verstehst, dass ich … lediglich besorgt war …“

    Edmund winkte ab. „Vor dir liege ich offenbar gerne am Boden.“

    Während sie nebeneinander aus dem Wasser wateten, sah Esther ihn von der Seite an. Ein Teil von ihr wollte wissen, was genau er damit meinte, andererseits war sie auch froh, dass das Thema offensichtlich nicht länger zwischen ihnen stand.

    Trotzdem wollte sie sicher gehen. „Du bist mir also nicht böse?“

    Edmund wog den Kopf. „Doch. Sehr.“

    Sie spürte, dass seine Ernsthaftigkeit gespielt war, weshalb sie ihm mit dem Ellenbogen gegen seinen Arm stieß. „Das ist nicht lustig Edmund!“

    Der ließ sich allerdings nicht beeindrucken. „Ist es auch nicht.“

    Das durfte doch nicht wahr sein. Sie stieß die Luft aus. „Kannst du dich bitte einmal klar ausdrücken?“

    Er blieb ernst. „Ich denke, um das wieder gut zu machen, bist du mir etwas schuldig“, sagte er trocken und stieg vor ihr aus dem Wasser.

    Esther folgte ihm kurz darauf und sah ihn fragend an. „Meine Entschuldigung genügt dir also nicht? Was willst du sonst hören?“

    Plötzlich grinste Edmund wieder. „Hören? Will ich gar nichts. Worte kann man viele äußern …“

    „Ach … und was willst du sonst?“, verlangte sie zu erfahren und hätte die Arme vor der Brust verschränkt, wenn sie dieser dämliche Topf nicht davon abhalten würde.

    „Gleiches mit Gleichem vergelten“, meinte er, weiter breit grinsend. Dann wandte er sich ab und kehrte zum Schiff zurück, noch bevor Esther in irgendeiner Form darauf reagieren konnte.

    Sie sah ihm gleichermaßen verwirrt wie sprachlos hinterher. Sollte sie ihm nach und eine Erklärung fordern? Was genau meinte er damit?

    Kurz schüttelte sie den Kopf und ging zum Lager, wo Nelli sie musterte.

    Den prüfenden Blick der Heilerin ignorierend, rieb sie sich etwas die Haare trocken und rang die Kleidung ein wenig aus. Angesichts der Hitze, würde diese ohnehin schnell trocknen.

    Stunden später, als die Nacht bereits hereingebrochen war und Esther eine Mahlzeit versaut hatte, berichteten die Männer, dass das Gerüst fertig war und sie das Schiff aus dem Wasser ziehen konnten.

    • Offizieller Beitrag

    Der späte Nachmittag war hereingebrochen. Trevor und Edmund standen vor dem Gerüst und begutachteten ihre Arbeit. Edmund und Esther wirkten ausgeruhter, als noch die Tage zuvor. Nelli hatte jeden Morgen einen Tee für die Gruppe gekocht, der sie besser schlafen ließ. Trevor hatte allerdings auf den Tee verzichtet. Wer zwischen knapp hundert Männern unter Deck schlafen konnte, dem machte etwas Sonnenlicht auch nichts aus. Zudem wollte er nicht, dass irgendetwas seinen Geist beeinflusste. Nicht jetzt, wo er lernte, sich und seine Fähigkeiten zu beherrschen. Und sein seit einiger Zeit immer wiederkehrender Traum störte ihn nicht. Es war weder ein Albtraum noch etwas anderes. Er sah lediglich ein weißes Blatt Papier vor sich, das aus der Finsternis hervorstach. Jede Nacht aufs Neue tropfte schwarze Tinte auf dieses Blatt und floss zu einem aufrechtstehenden Bären, dessen Beine sich in Ketten befanden. Er wusste nichts damit anzufangen, aber vielleicht waren Träume auch nur das, was sie waren – Träume.

    Edmund nickte die Zeichnung ihres Gerüstes ab. Alles wirkte solide. Es sollte das Schiff tragen können. Trevor hoffte nun innerlich, dass das Schiff die Tortur mitmachen würde. Sie würden es mit dem Heck voran an auf das Gerüst ziehen. Der Bug war zu sehr beschädigt, um zwei dicke Taue daran zu befestigen.

    „Dann kann es wohl losgehen …“, erklang Nellis Stimme hinter den beiden.

    Trevor schluckte trocken. Ob er es schaffte, das Schiff überhaupt zu ziehen? Er konnte es nicht sagen. Das war mehr als ein paar Holzstämme umherzuziehen oder zu tragen. Allerdings war es sein Vorschlag gewesen, es so zu versuchen. Er selbst hatte sich diese Aufgabe aufgebürdet. Jetzt einen Rückzieher zu machen, kam daher nicht infrage.

    „Ist Esther so weit?“, wollte der Formwandler wissen und schaute sich nach der Magierin um, die das Schiff mit einem Schild schützen sollte. Gerade das beschädigte Bug wollten sie nicht ohne Schutz auf die Holzstämme ziehen.

    Die junge Frau hatte sich bereits neben dem Gerüst positioniert und schien darauf zu warten, dass es losging.

    Abschätzend schaute er sie an. Beide teilten einen Gesichtsausdruck, als gestanden sie sich ihre Bedenken gegenseitig ein. Trevor lächelte ihr schlussendlich zu, nickte und begab sich zu den Tauen. Wie schon zuvor, legte er sich diese über Kreuz über seinen blanken Oberkörper; seine Haut nur geschützt durch ein paar Stofffetzen.

    Nelli gesellte sich zu Esther. Vermutlich war sie ihre emotionale Stütze, während Edmund sich wortlos in etwas Entfernung vor Trevor positionierte. Der Händlersohn sollte dem Formwandler zurufen, wenn etwas schiefging oder es genug war, denn Trevor besaß am Hinterkopf keine Augen.

    Bevor Trevor begann zu ziehen, lockerte er durch Schütteln seine Oberarme. Vermutlich versuchte er nur, Zeit zu schinden. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals. Wenn er versagte, mussten sie sich was anderes einfallen lassen – und das konnte wiederum Tage kosten.

    Ein paar Mal atmete er tief ein und aus.

    Dann mal los …

    Langsam lehnte er sich in die Taue und begann, zu ziehen. Wie sonst auch, versuchte er seine Gedanken auf seine Zeit als Pirat zu fokussieren. Dass er nun viele Anordnungen von Johnny besser verstand. Vor allem, warum Johnny gewisse Äußerungen und Befehle ihm gegenüber ausgesprochen hatte. Er kam zum Schluss, dass in all den Jahren, Johnny angefangen hatte, sich vor seinem eigenen Sohn zu fürchten. Trevor hatte seinen Kapitän stolz machen wollen, weswegen er sich mehr Mühe im Zweikampf gegeben hatte als die anderen. Der Formwandler hätte sich aber nie vorgestellt, dass ihm das eines Tages zum Nachteil gereicht hatte. Ja, er hatte irgendwann Johnny im Kampf geschlagen. Irgendwann konnte er ihm nichts mehr beibringen und alles weitere erlernte Trevor im Kampf. Vielleicht befürchtete Johnny auch, dass Trevor mit wachsenden Talenten irgendwann seinen Vater ablösen würde. Als Kapitän des Schiffes. Andererseits fragte sich Trevor, warum sein Vater ihn dann gerettet hatte. Warum hat er ihn nicht wie die anderen von der Marine gefangen nehmen lassen? Viele Dinge verwirrten Trevor, was wiederum seine Wut kanalisierte.

    Es tat sich noch nicht viel. Der Formwandler hatte alle mühe damit, auf dem Sand festen Stand zu finden, sodass er überhaupt vorankam.

    Gib dir etwas mehr Mühe!

    Trevor zog und zog, aber kam nicht voran. Er spürte, dass seine Muskeln brannten, dass er all seine Kraft in das Ziehen legte, aber es schien nicht zu reichen. Vielleicht war es für einen Formwandler schlichtweg zu viel … zu schwer …

    Ein Schrei entwich ihm, woraufhin er die Brauen in Edmunds Gesicht nach oben gehen sah. Vermutlich verstand der Händlersohn, dass es nicht funktionieren wollte.

    Esther stand vermutlich wartend neben dem Schiff. Bereit, ihren Schild aufzubauen, sobald es begann, sich zu bewegen. Nur leider tat es das nicht.

    „Du wirst versagen“, hörte Trevor seine innere Stimme zu ihm sagen. „Wie mit allem!“

    Die drei zählten auf ihn, und er würde sie enttäuschen. Wie er auf Dauer anscheinend jeden enttäuschte. Dennoch zog er weiter. Die kleine Gruppe hatte so viel für ihn getan, dass er nicht umgehend aufgeben wollte. Edmund hatte ihn aus der Kiste befreit. Esther sich um seine Wunden gekümmert und Oma viel ihrer eigenen Lebensenergie hergegeben, um ihn Vollidioten zu heilen. Er konnte jetzt nicht einfach schulterzuckend aufhören. Er biss die Zähne zusammen, raunte zunehmend lauter und zog …

    Plötzlich merkte er, wie er einen Schritt nach vorne schaffte. Einen Schritt, aber es war ein Anfang.

    Nach dem ersten folgte wie durch ein Wunder der zweite Schritt, aber Trevor verstand nicht umgehend, warum es plötzlich zu funktionieren schien. Dann schaute er in das Gesicht von Edmund und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Er dachte an die Gruppe. Daran, was sie für ihn bereits getan hatten, daran, was er nun für sie tun konnte. Dass er nicht seinetwegen nicht versagen wollte, sondern wegen ihnen.

    „Esther hat das Schild aufgebaut!“, schrie Nelli. „Zieh weiter, Junge!“

    Und das tat er. Er verlagerte seine Gefühle; rief sich Bilder ihrer Reise ins Gedächtnis. Davon, wie Edmund ihn hatte neu einkleiden lassen, wie Esther die Kiste von Trevor weggedrückt hatte … von dem Abend unter Deck, an dem sie alle mehr getrunken hatten, als gut für sie war. Von Edmunds und seinem Tavernenausflug, von dem Kuss mit Esther, Nellis stets aufmunternden Worten und ihrer teils verstörenden Wandlung in eine junge Frau … Ihr Lachen, ihre Streitigkeiten und Entschuldigungen … Es konnte nicht immer nur Wut sein, die Trevor beherrschte. Da waren auch andere Gefühle. Gefühle, die viel mehr Macht besaßen als blanker Hass.

    „Noch weiter!“, brüllte unterdessen Edmund.

    Ein plötzlicher Ruck signalisierte Trevor, dass er anscheinend das Schiff gerade auf die Rampe gezogen hatte. Jetzt galt alles oder nichts. Schritt für Schritt versenkte er seine Füße im Sand, versuchte, genug Halt für den nächsten zu finden. Aber auf der Rampe wurde das Ziehen nicht leichter. Ganz im Gegenteil. Er musste alle Kraft aufbringen, die er in sich finden konnte und dabei durfte er seine Konzentration nicht verlieren. Dabei merkte er, wie die Stofffetzen verrutschten. Die rauen Taue rissen an seiner Haut an Schulter und Oberkörper, aber eine Pause einlegen war nicht möglich.

    Der Sand rutschte unter seinen Füßen weg, woraufhin er einen Schritt zurückfiel. Wiederholt ließ er einen Schrei los. Das konnte nicht wahr sein …

    Doch plötzlich merkte er einen Widerstand an seinem Rücken. Kurz riskierte er einen Blick zurück, bei dem er bemerkte, dass Esther einen zweiten Schild aufgebaut hatte. Einen hinter seinem Rücken, der ihn davon abhielt, weiter zurückzufallen.

    „Bitte beeile dich!“, hörte er die Magierin rufen. „Beide Schilde kosten zu viel Energie!“

    Trevor schaute wieder voraus und hatte nicht vor, Esthers Hilfe allzu lange zu benötigen. Mit dem Schild im Rücken, fand Trevor schneller festen Stand und zog das Schiff immer weiter auf das Gerüst. Dabei schnaubte er sicherlich wie ein Bulle. Nicht viel anders kam er sich mit der Last im Rücken vor. Sicherlich ein amüsanter Anblick.

    Auf dem letzten Stück galt es, noch einmal die Zähne zusammenzubeißen und alles zu geben.

    Trevor konnte den Kraftakt nicht verbergen und stieß unkontrolliertes Brüllen aus. Es half ihm ebenfalls, über die Schmerzen auf seiner Haut hinwegzusehen, bei denen er das Gefühl hatte, seine Haut wurde ihm bei vollem Bewusstsein vom Körper gerissen.

    „Nicht mehr viel …“, wies ihn Edmund lautstark an. „Noch ein kleines Stück!“

    Endlich …

    Trevor schnaufte und tat drei Schritte, ehe Edmund rief, dass es genug sei.

    Das Schiff stand sicher auf dem Gerüst, und Trevor sackte auf seine Knie in den Sand. Augenblicklich streifte er sich die Taue vom Körper und senkte seinen Kopf. Er spürte, wie Blut an seinen Schultern und an seinem Bauch hinunterfloss, aber entgegen den vorherigen Schmerzen, handelte es sich bei seinen Verletzungen nur um Schürfwunden. Nichts, das nicht schnell verheilen würde.

    Trevor hörte Edmunds Schritte im Sand. „Ich hätte nicht gedacht, dass unser Gerüst hält“, meinte der Händlersohn

    Trevor lachte. „Wenn das deine einzigen Bedenken waren …“

    Der Formwandler öffnete seine Augen und starrte beharrlich vor sich in den Sand. Es kostete all seine Selbstbeherrschung, nicht vor Erleichterung einfach zu weinen. Die Erkenntnis, dass nicht nur Wut, sondern ebenso das Gefühl von Sorge, Freundschaft und Geborgenheit seine Kräfte auslösen konnten, übermannten ihn geradezu. Das hieß vor allem, dass er nicht das Monster sein musste, vor das ihn sein Vater gewarnt hatte. Seine Stärke konnte ebenso durch etwas Gutes hervorgerufen werden. Er konnte damit Gutes tun. Mehr, als sie zum Töten anderer einzusetzen. Das Schiff aus dem Wasser zu ziehen hatte mehr mit ihm gemacht, als ihm nur das Ausmaß der Fähigkeiten von Formwandlern zu offenbaren. Auch, wenn er sich geschwächt und ausgelaugt fühlte. Er fühlte sich gut. Hungrig, aber gut.

    „Nein, aber es wäre frustrierend gewesen, wenn nach der Schinderei das Gerüst samt Schiff einfach umgefallen wäre.“

    Trevor schloss noch einmal seine Augen und warf seine Stirn in Falten. Er konnte nicht verhindern, dass sich eine einzelne Träne löste, über seine Wange floss und sich schlussendlich mit dem Blut auf seinem Oberkörper vermischte.

    „Kein Grund zu heulen, du bekommst auch eine Extraportion Essen“, erwiderte Edmund und reichte ihm die Hand.

    Trevor ergriff sie und stand auf. „Ich heule nicht … Ich schwitze … durch meine Augen.“

    Edmund lachte. „Natürlich.“

    „Das hat doch wunderbar funktioniert“, hörte er Nelli sagen, deren Stimme sich näherte.

    Schnell wischte sich Trevor die Tränenspur von der Wange und nickte. Noch einmal atmete er tief durch und wandte sich den beiden Frauen zu.

    „Ohne Esthers Hilfe hätte ich das aber nicht geschafft“, gestand der Formwandler und grinste.

    Esther lächelte und wirkte etwas zurückhaltend. „Ich bin froh, dass es so gut … geklappt hat!“ Sie musterte ihn. „Geht es dir gut?“

    Trevor sah überrascht an sich hinunter. „Ja, alles in Ordnung. Taue sind nicht aus Seide … leider. Und dir?“

    Sie nickte. „Mir geht es gut!“

    Darum sollten wir uns kümmern“, wandte Nelli ein und zeigte auf die Schürfwunden, aber Trevor winkte ab.

    „Nein, das ist schon gut. Das heilt auch ohne Hilfe. Ich werde mich nur waschen gehen.“

    „Ich habe noch so viel Salbe übrig“, konterte Oma. „Die muss weg, bevor sie ranzig wird.“

    Trevor lächelte beschwichtigend und gab nach. Bevor er schlafen ging, war sicherlich Zeit, sich etwas Salbe aufzutragen, bevor er sich anhören musste, dass sich jede Art Wunde entzünden konnte.

    „Dann können wir anfangen, das Schiff richtig zu reparieren“, verkündete Edmund, und alle stimmten zu.

    „Wir sollten gleich nach dem Essen anfangen“, erwiderte Trevor, und sein Magen stimmte diesem Vorschlag lautstark zu. Anscheinend verbrauchten seine Fähigkeiten ähnlich der Magie Energie. Bei Trevor äußerte sich das durch einen gesteigerten Appetit und Schwindel, wenn er seinem Hunger nicht nachkam.

    Trevor lief zum Süßwasserteich, von wo aus sie ihr Trinkwasser bezogen und schüttete sich aus Eimern etwas Wasser über den Körper, sodass das Blut abgewaschen wurde. Sich noch mit Salzwasser quälen wollte er dann doch nicht. Danach lief er zurück und gesellte sich zu den anderen zum Essen. Dabei besprachen sie, welchen Teil des Schiffes sie sich zuerst widmen wollten. Alle waren für das Bug. Denn, wenn ihnen das Material ausging, waren ein paar Löcher oberhalb der Wasserkante egal, aber unten musste das Schiff dicht werden. Somit begannen sie, die alte Nussschale wieder instand zu setzen.

    Immer wieder kam Nelli auf ihre Kosten, wenn Edmund sich mit dem Hammer auf seine Finger haute. Trevor fand es erstaunlich, wie oft das einem einzelnen Menschen passieren konnte. Aber vermutlich konnten sie schon froh sein, dass er den Hammer richtig herum hielt. Trevor reichte Esther das Kalfaterwerkzeug. Damit sollte sie die Kauder- und Baumwollstreifen, die sie gefunden hatten, in die Ritze der Planken klopfen, nachdem Edmund sie angebracht hatte. Das alles war nicht einfach. Weder die eine noch die andere Arbeit. Allerdings zog es Trevor vor, sich alleine um das heiße Pech zu kümmern, das danach mit einem Dweiel – einer Art Stoffbommel an einem Stock – aufgetragen wurde, um alles abzudichten. Er wollte nicht riskieren, dass sich einer von ihnen verbrannte. Und bei den handwerklichen Künsten von Esther und Edmund, sah Trevor das leider kommen. Das sagte er ihnen aber nicht. Viel lieber lobte er sie für das, was sie schafften, und rügte sie nicht dafür, was sie nicht an einem Tag erlernten. Das hatte er an Bord eines Schiffes immerhin auch nicht. Die Arbeitseinteilung sorgte zudem dafür, dass sie schnell vorankamen, während Nelli sich um das Innere des Schiffes kümmerte. Die kleinen Zimmer unter Deck wurden von ihr akribisch gesäubert, alte Kissen und Decken gewaschen und nach kurzer Zeit erstrahlte die alte Nussschale geradezu in neuem Glanz.

    • Offizieller Beitrag

    Edmund stampfte durch den Wald und knete dabei seine Kleidung in den Händen. Nun war es so weit und er würde seine Kleidung doch beerdigen müssen. Sie war vom Schiffbau und der Zeit auf der Insel deutlich ramponierter und vor allem blutiger als ihm lieb war.
    Grummelnd richtete er den kratzigen Stoff des Hemdes. In dem Haufen Kleidung, den die Mannschaft der Nussschale nach ihrem Tod zurückgelassen hatte, war es schwer gewesen, etwas zu finden, in dem er nicht hing wie ein nasser Sack, oder bei dem ihm die Hose nicht viel zu kurz war. Kratzig war jeder Stoff gewesen.
    Bleibt zu hoffen, dass mir deshalb keiner dieser angeblichen Hexen-Geister an den Hacken klebt, weil ich seine Kleidung trage.
    Nun war er wirklich am Tiefpunkt angekommen… Er trug Arbeiterkleidung, arbeitete und war auch noch braun! Und glaubte an Geister!
    Immerhin musste er der einfachen Kleidung lassen, dass die Taschen größer waren. Im Gegensatz zu seiner eigenen Kleidung dienten diese nicht nur der Zierde und es konnten lockert hundert Dinge darin herumgeschleppt werden, ohne, dass der Stoff riss. Was nichts daran änderte, dass er sich in der Kleidung nicht wohlfühlte!
    Als er zum Lager zurückkam, hörte er bereits von weitem das Gerede der anderen. Es ging um das Schiff, den weiteren Plan und Vorräte. Und ebenfalls darum, was alle machten, wenn sie wieder in der Zivilisation angekommen waren.
    Edmund blieb einen Moment stehen und vergaß auch seine Kleidung. Die deutlich lockerere Stimmung der letzten Tage gefiel ihm. Sie saßen nun öfter zusammen und unterhielten sich, und auch wenn es lediglich um den Schiffbau ging und er mit Nelli ständig aneinandergeriet, schienen alle etwas entspannter. Nellis Tee, so widerlich das Gesöff auch schmeckte, zeigte seine Wirkung. Dazu kam der deutliche Fortschritt beim Schiff.
    Vielleicht können wir diese verfluchte Insel bald hinter uns lassen.
    Schweigend trat er ans Lager heran, betrachtete den Kleidungsklumpen nochmal, ehe er ihn seufzend in die Flammen des Feuers warf, auf dem das Essen kochte, und sich auf seinem Lager niederließ. Genervt blies er sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah der Kleidung zu wie sie vom Feuer gierig gefressen wurde.
    „Ah, der feine Herr hat sich umgezogen“, gab Nelli von sich und hängte ihren Topf mit Wasser neben den bereits vorhandenen an das Gestell.
    „Ah, das alte Weib ist immer noch am Leben“, gab er zurück, ohne von seiner Kleidung aufzublicken. Er hatte keine Ahnung, was er ihr getan hatte, dass sie ihn immer wieder aufziehen musste. Aber so langsam gab er seine ablehnende Haltung ihr gegenüber auf. Immerhin schien sie ganz in Ordnung zu sein, oder so ähnlich. Und die Verrückte ließ sich von seiner Laune sowieso nicht beeindrucken und neckte nur noch mehr und bohrte nach.
    „Ach, sei nicht so“, lachte Nelli, „dich entstellt doch auch diese einfache Kleidung nicht.“ Von jedem anderen hätte es ein Kompliment sein können. Doch aus Nellis Stimme sprach nichts als Schalk. Pff. Er nahm es dennoch als Kompliment! Natürlich konnte nichts ihn entstellen.
    „Ich bin ja auch nicht du. Du entstellst die Kleidung…“
    Nelli ließ sich von seinem - wie er fand - hervorragenden Konter nicht beeindrucken.
    „Ich bin auch nicht darauf angewiesen. Ich überzeuge mit meinen Fähigkeiten und nicht meinem Aussehen.“
    Edmund legte den Kopf zur Seite. Was sollte denn diese Bemerkung bedeuten?
    „Eine Aussage, die du erst jetzt im Alter triffst, oder auch schon in deiner Jugend?“
    „Nein, da hatte ich ja beides.“

    Die Aussage überraschte ihn doch genug, damit er sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. „Zum Glück bist du so bescheiden.“
    „Ich bin zu alt für Bescheidenheit.“
    „Endlich mal eine Gemeinsamkeit“
    , gab Edmund von sich.
    Er wandte sich wieder an den Stoff, der im Feuer kaum noch zu sehen war und warf dann einen Blick in den Topf mit dem Essen. Als er sich sicher war, dass es noch ein paar Minuten benötigen würde, setzte er sich zurück und beobachtete Esther dabei, wie sie Nägel sortierte – aussortierte, was sie nicht mehr nutzen konnten und das beiseitelegte, was sie für die heutige Nacht benötigen konnten. Sie schien so konzentriert, dass sie das Gespräch gar nicht mitbekommen hatte. Zumindest strich sie sich gedankenverloren eine Strähne aus dem Gesicht. Dennoch lag ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen.
    Es war erstaunlich, dass die Gräfin ehrlich lachen konnte. Das hatte er bisher nicht erwartet. Und eigentlich hatte er sie Tage zuvor, als sie ihn ins Wasser gezogen hatte, auch anschreien wollen, aber dann hatte sie derart dumm aus der Wäsche geblickt, dass er es nicht mehr konnte. Und er musste zugeben, dass es ihm besser gefiel, wenn die anderen lachten und gute Laune hatten.
    Und außerdem fand er es lustig Esther aus dem Konzept zu bringen. Die Röte im Gesicht stand ihr.
    „Willst du mir vielleicht helfen?“
    Edmund hob den Blick. Esther hatte sich zurückgelehnt, entkrampfte etwas ihre Finger und sah ihn fragend an. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er Esther immer noch angeschaut hatte.
    „Wobei?“ Er blickte auf die Nägel. Ihm wäre es lieber gewesen, es würde gar keine Nägel mehr geben, dafür hatte er sich in den letzten Tagen einmal zu oft auf die Finger gehauen. Oder unter Trevors Anweisung schiefeingeschlagene Nägel wieder aus dem Holz ziehen müssen.
    Esther zog die Augenbraue in die Höhe. „Nägel sortieren?“
    Edmund stützte das Kinn in die Hände und unterdrückte das Grinsen.
    „Ich denke, das schaffst du auch allein.“
    „Du hast so interessiert ausgesehen
    “, meinte Esther und wandte sich wieder der Arbeit zu, „Da dachte ich, du willst mir vielleicht zur Hand gehen.“
    Edmund biss sich auf die Zunge, um nicht loszulachen. Aber die Gelegenheit war günstig.
    „Interessiert ja. Aber nicht an den Nägeln“, gab er neckend von sich.
    „Ach?“ Esther hob wieder den Blick und sah ihn kurz an. „Und was interessiert dich sonst?“
    „Nicht was, sondern wer.“
    „Klappe, Wendy!“,
    forderte Nelli und schlug ihren Krückstock nach ihm, ehe Esther auf seine Bemerkung hätte antworten können. Allerdings bemerkte er noch, wie Esthers Gesicht rot anlief.
    „Wendy?“, wollte Trevor wissen, was der Hexe ein breites Grinsen hervorlockte.
    „Hör auf mit dem Mist!“, ranzte Edmund deshalb Nelli an. Er spürte den Schlag zwar, fühlte sich von dem Namen aber deutlich mehr belästigt. „Wendel war mein Großvater! Von mir aus verstümmel den Namen des grantigen Alten, aber nicht in meinem Zusammenhang, altes Weib!“
    „Oh, wir sind heute aber wieder sensibel, Wendy“, neckte Nelli grinsend weiter.
    „Ich bin nicht sensibel!“
    Nelli sagte nichts mehr, aber das Grinsen verriet genug darüber, was sie sich dachte.
    Edmund dagegen unterdrückte das Seufzen und spähte nochmals in den Topf mit dem Essen.
    „Bedient euch, das Essen müsste fertig sein“, meinte er, lehnte sich selbst aber zurück und fischte das Logbuch und die Seekarte aus seinem Lager. Immerhin sah es nun wirklich so aus, als würden sie diese Insel verlassen. Das Schiff hatte in den letzten Tagen viel Form angenommen und mit etwas Glück würde es sogar auf dem Wasser liegen. Wenn er ehrlich war, hatte er nicht damit gerechnet. Aber umso zuversichtlicher wurde er nun. Ein Ende war zu sehen, weshalb sie sich nun auch des Öfteren eine Pause in der Nacht gönnten – so wie in diesem Moment.
    Um zu vermeiden, nochmal Nellis Stock ins Gesicht zu bekommen, öffnete er das Logbuch auf der Seite, auf der er tags zuvor aufgehört hatte zu lesen. Die längeren Pausen ermöglichten es, sich mit diesem Gekrakel zu beschäftigen. Gemeinsam mit Trevor hatte er so bereits auf der Seekarte – die für ein so winziges Handelsschiff erstaunlich aktuell und hochwertig war – ihre ungefähre Position markiert. Immer noch mitten im Schwarzen Fleck und mit der Nussschale somit Stürmen ausgeliefert.
    Edmund betrachtete nachdenklich das Schiff. Wenn sie in dem Ding ein ähnlicher Sturm traf wie die Eleftheria, würde auch Esther nichts retten können. Dann sanken sie mitten auf dem Meer. Sie mussten sich also entsprechend absichern. Aber womit? Und wogegen? Er hoffte dazu Hinweise im Logbuch zu finden.
    Edmund blickte wieder in das Buch und schlug die Seite um. Immerhin ließ sich das Kauderwelsch und diese hässliche Schrift nach einer Weile entziffern. Wenngleich sich Edmund nicht sicher war, ob es daran lag, dass er sich langsam an die Sauklaue gewöhnte, oder ihm die Insel das Hirn malträtierte.
    Beim Blättern stellte er fest, dass er offenbar das Ladungsregister vor sich hatte. Bei den neusten Einträgen fand er einige der Sachen, welche sie für den Bau genutzt hatten und bis auf die Lebensmittel konnte er alles bestätigen.
    Seine Augen verharrten bei einer Zeile mit Segeltuch. Soweit er es mitbekommen hatte, hatten sie keines gefunden. Andernfalls hätten die Frauen nicht die letzten Tage herumnähen müssen.
    Und welcher Irre benötigt eine Tonne Segeltuch?
    „Genug der Pause. Ich mache weiter", meinte Trevor und als Edmund aufblickte, merkte er, dass er mittlerweile allein im Lager hockte. Ein Blick zum Schiff zeigte ihm, dass die Alte und Esther bereits dort waren und an Deck kletterten. War er so vertieft gewesen?
    Trevor ließ die Arme kreisen und sah ihn auffordernd an. „Machst du auch noch etwas?“
    Edmund entfuhr ein Knurren. Warum betonte er das so? In den letzten Tagen hatte er doch auch ständig mitgearbeitet! Okay, er hatte anfangs mehr kaputt gemacht, als repariert, aber mittlerweile funktionierte es doch ganz gut. Im Nägel aus dem Holz ziehen, war er erstaunlich gut.
    Edmund schloss seufzend das Logbuch, legte es auf dem Lager ab und erhob sich, um Trevor zu folgen.
    „Sag mal, hast du irgendwo eine Tonne Segeltuch gefunden?“
    Trevor hob die Brauen.
    „Das wäre mir aufgefallen.“
    Edmund nickte nachdenklich.
    „Im Logbuch ist davon etwas verzeichnet.“ Er wog den Kopf… „Entweder ist das Segeltuch irgendwo im Dschungel und wir haben es nicht gesehen", aber wer schleppt denn bitte Segeltuch quer über eine Insel…und wozu?, „oder das Logbuch ist fingiert.“
    Edmund blieb neben der Strickleiter stehen, die an Deck des Schiffes führte und überlegte. Er selbst hatte in seinem Logbuch auch nie etwas über seine wichtige Fracht geschrieben. Das Fernrohr tauchte dort nicht auf, damit niemand wusste, was er transportierte, außer ihm selbst. Der Plan war offenbar nicht aufgegangen. Aber Armon sollte nun ebenso wenig mit anfangen können. Ob der Kapitän dieses Schiffs ähnlich gedacht hatte? Und was war dann die Ladung, wenn nicht Segeltuch?
    „Wie wahrscheinlich ist es, dass das Schiff etwas Anderes geladen hatte?“
    Trevor wog den Kopf.
    „Sehr wahrscheinlich. Das Gewicht zu verzeichnen ist wichtig, das Schiff auf einer Seite nicht zu überladen. Wenn es also kein Segeltuch war, was hier geladen war, dann sicherlich etwas, das sie nicht an Bord lassen wollten ...“
    Edmund verschränkte die Arme und betrachtete das Schiff nachdenklich. Es war nicht sonderlich groß, um sperrige Sachen transportieren zu können. Es mussten also kleinere Sachen sein, die sich leicht verstauen ließen, aber Eigengewicht mit sich brachten. „Etwas, das in etwa das gleiche Gewicht wie eine Tonne Segeltuch hat", murmelte er vor sich hin.
    Trevor nickte nur.
    „Du hast mehr Erfahrung. Was würdest du verstecken wollen?"
    Trevor runzelte die Stirn und warf einen Blick zum Wald zurück.
    „So viel ich weiß, hat mein ... hat Johnny manchmal kleine Handelsschiffe überfallen, wenn er das Gefühl hatte, es war eine Tarnung. Mit ihnen wurden heimlich Schmucklieferungen transportiert, Geschenke anderer Reiche oder ... Steuern. Bei diesen Überfällen war ich allerdings nie dabei. Da war eine kleine Mannschaft ausreichend. Vielleicht ist es hier etwas Ähnliches.“
    Edmund lachte.
    „Du hast nicht zufällig eine riesen Kiste voll Gold gefunden?"
    Trevor stimmte in sein Lachen ein. „Wenn ich das hätte, hättest du das mitbekommen. Aber nein, vielleicht ist sie auch nicht an Bord. Nicht mehr ..."
    „Und wo würdest du eine riesen Kiste voll Gold verstecken?“ Edmund musterte ihn von der Seite.
    „Vergraben das Piraten nicht eigentlich immer?“ Trevor grinste.
    Was war das denn für eine Kindergeschichte? Aber bitte, das konnte er auch.
    „Malen Piraten nicht auch Karten mit Schrittangaben, wo sie den Schatz vergraben haben? Die Insel ist riesig“, erwiderte Edmund sarkastisch.
    „Das ist nur ein Gerücht. Warum sollten sie irgendjemanden verraten wollen, wo ihr Gold begraben liegt? Nein, das haben sie im Kopf. Wenn die Besatzung irgendetwas verbuddelt hat, dann bekommen wir das nicht so einfach heraus."
    „Die Betonung liegt auf Wenn.

    Trevor musterte ihn, dann den Dschungel hinter ihnen und den Sandstrand, dann nickte er. „Der Boden ist allerdings sehr felsig. Ich glaube nicht, dass sie ihn gut vergraben konnten. Vielleicht haben sie eher einen ... Unterschlupf genommen.“
    Edmund sah Trevor an, ehe er die Strickleiter ergriff und nach oben kletterte. Das Schwanken verriet ihm, dass Trevor ihm folgte.
    Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Schiff tatsächlich irgendwas geschmuggelt hatte? Und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es Steuern oder Geschenke waren? Was war mit Gewürzen? Andere, teurere Stoffe? Und wenn ja, wie sollten sie diese Sachen finden? Wenn sie nicht einmal wussten, wonach genau sie suchen mussten. Und wollten sie das überhaupt?
    Als er oben ankam, wartete er auf Trevor und wog weiter den Kopf.
    Fakt war, an Bord befand sich nichts, was Segeltuch oder dem Gewicht von eben diesem glich. Auch bei dem, was sie abgeladen hatten, war nichts dabei gewesen. Wenn die Matrosen es also vom Schiff getragen und versteckt hatten, musste es durchaus etwas Wertvolles sein. Aber warum hätten sie sich diese Mühe machen sollen?
    „Diese Matrosen“, begann er, „Wenn wir zu viert ein Schiff reparieren können, hätten sie das auch gekonnt. Sie hatten schließlich alles dabei.“
    „Vielleicht kamen sie nicht dazu“, meinte Trevor und zuckte die Achseln.
    „Aber warum?"
    „Das fragst du im gleichen Atemzug, wenn es vielleicht um eine Kiste Gold ging?"
    „Was bringt einem eine Kiste voll Gold auf einer Insel wie dieser?"
    Edmund hob die Augenbrauen. Ohne eine Möglichkeit von der Insel herunterzukommen, brachte auch eine Kiste Geld nichts. Und auch, wenn sein Vater darüber wohl anders denken würde. Es würde auch nichts bringen, alle anderen dafür zu töten.
    „Darüber macht man sich Gedanken, wenn einem die Kiste voll Gold gehört."
    Das machte keinen Sinn. Dann war es vielleicht zu spät.
    Wir allerdings haben das Schiff bald fertig, überlegte er. Und vielleicht wäre es sogar seetauglich.
    „Was ist mit dir?“, grinste Edmund.
    „Mit mir?"
    „Gold ... Pirat... nur drei andere Schwächlinge, die du beseitigen müsstest..."
    Er zählte an den Fingern mit. Trevor sah ihn kurz verwirrt an und lachte dann los.
    „Wie mein Vater sagte ... Ich war nie wirklich ein Pirat. Und ein Söldner bin ich auch nicht. Ich wäre so dumm und würde teilen."
    Teilen …
    Edmund nickte als Antwort auf Trevors Aussage.
    „Was heckt ihr beiden denn schon wieder aus?“, wollte Nelli wissen. Die Alte kam gerade vom Steuerrad gelaufen und musste die Hälfte des Gespräches mitgehört haben. Uralt, aber wehe es geht um Geld!
    „Edmund ist auf eine Ungereimtheit im Logbuch gestoßen und wir überlegen, was es sein könnte“, meinte Trevor.
    „Eine Ungereimtheit?“, wollte Esther wissen. Die Gräfin kam durch die Tür zum Unterdeck.
    „Es wäre zu vermuten, dass das Schiff nicht nur ein einfaches Handelsschiff war, sondern etwas Wertvolleres transportiert hat“, gab Edmund abwesend von sich, immer noch mit der Überlegung beschäftigt, was es sein konnte … Es fuchste ihn, es nicht zu wissen. Ob es Armod mit seinem Logbuch ebenso ging? Das Wissen, dass das Artefakt auf dem Schiff war, aber es nicht zu finden? Oder hatte er es bereits gefunden? Der Gedanke ließ es ihm kalt den Rücken hinunterlaufen.
    Trevor lachte.
    „Einen Schatz vielleicht.“
    „Einen Schatz?“,
    fragte Esther?
    „Wer weiß“, meinte Trevor.
    Nelli zuckte gleichgültig die Schultern. „Und wenn schon. Zusätzlicher Ballast, den wir transportieren müssen.“
    „Dann lassen wir dich hier“,
    Edmund zuckte ebenfalls die Schultern. Sein Interesse an der Ware lag viel mehr darin, was genau so wichtig war, dass es im Logbuch keine Erwähnung fand. Außerdem hatten sie nach der Meuterei nichts mehr und sollten sie jemals mit dieser Nussschale lebend in einem Hafen ankommen, wollte er sich nicht mehr fühlen wie ein Bauer und essen wie einer. „Und kaufen dir im nächsten Hafen von dem Geld einen hübschen Grabstein. Granit oder Marmor?"
    „Reizend, dass du so viel Geld für mich investieren willst. Ich weiß das wirklich zu schätzen. Ich dachte, du würdest mich nur unter einer Palme verscharren.“
    „Das wäre auch eine Variante.“
    Er grinste die Hexe an und zuckte dann die Schultern. Sie waren zu viert bis hierhin gekommen, also würden sie auch zu viert die Insel verlassen. Auch, wenn er diese Überzeugung anfangs noch nicht vertreten hatte. Was hatte sich geändert? „Wir wissen nicht, was es ist und ob es überhaupt wertvoll ist. Nur dass es interessant genug ist, um es nicht im Logbuch zu verzeichnen. Ich halte es daher für sinnvoll zu schauen, ob man etwas findet. Ich schätze, eine Weiterreise kann sich jeder von uns nur mit etwas Geld leisten.“
    Trevor schob sich zwischen sie.
    „Ich schlage vor, wir kümmern uns erstmal um das Schiff. Im Dunkeln durch den Dschungel zu laufen, ist keine gute Idee und“, Trevor warf Edmund einen grinsenden Blick zu, „ohne Schiff kommen wir mit dem Schatz auch nicht weit.“
    Edmund nickte und verkroch sich wieder in seine Überlegungen. War das vielleicht ein guter Moment, um den anderen zu sagen, was Armod damals gefordert hatte? Was war, wenn die Eleftheria bereits gesunken war? Dann wäre das Fernrohr weg. Oder Armod hatte es gefunden. Ein Schiff war deutlich kleiner als eine Insel. Dort etwas zu verstecken, hatte seine Grenzen. Und irgendwie hatte Armod ja auch herausgefunden, dass er etwas Wertvolles transportierte. Nur wie? Hatte es ein Leck gegeben? Irgendwoher mussten die Piraten von der Waren gewusst haben…
    Er dachte kurz daran, was Esther ihm geraten hatte. Dass sie Nelli und Trevor einweihen sollten, was die Eleftheria geladen hatte. Dass er das auch mit ihnen teilen sollte. Sie hatten ein Recht es zu erfahren, oder? Als magisch Gezeichnete waren sie vom Einfluss des Fernrohrs betroffen, oder? Und er konnte ihnen vertrauen. Oder? Für den Fall, dass Armod es fand … würden sie es wissen wollen.
    Er biss sich auf den Lippen herum.
    „Was ist?“, wollte Esther wissen und sah ihn fragend an.
    „Ein nachdenklicher Edmund … die Welt steht kurz vor dem Untergang“, lachte Nelli.
    Wenn Armod das Fernrohr gefunden hat, könnte das durchaus sein.
    „Ich, muss euch noch etwa sagen, ehe wir weiter machen.“ Kurz sah er zu Esther, „Esther weiß davon.“ Er lehnte sich an die Reling, um seine Nervosität zu verschleiern. „Diese besondere Ladung, von der Armod auf der Eleftheria gesprochen hat, und wegen der ich gemeutert wurde, war…ist das Fernrohr von Chresvol, das ich in Samira an … einen Magier verkaufen sollte.“ Er musste sich zwingen, um den anderen weiter ins Gesicht blicken zu können. „Wenn ich dem Kerl das Fernglas gegeben hätte, dann wäre all das vielleicht nicht passiert. Aber ich konnte nicht … “
    „Das Fernrohr von Chresvol?“ Trevor sah ihn verwirrt an. „Was soll das sein?“
    „Angeblich lassen sich damit magische Wesen aufspüren.“
    „Dann ist es gut, dass du es behalten hast. Das darf nicht in falsche Hände geraten. Das ist viel zu gefährlich“,
    brummte Nelli.
    Edmund nickte. Er hoffte inständig, dass sie das Fernrohr wiederfanden und er es dem Käufer übergeben konnte, dem sein Vater das Teil versprochen hatte.
    „Kann man denn dem Käufer trauen?“
    Nervös tippte Edmund mit dem Finger auf die Reling.
    „Ich kenne den Käufer nicht. Vater hat alles mit ihm verhandelt. Ich sollte nur das Fernrohr überbringen.“
    Trevor nickte mit unverhohlener Skepsis in der Mimik.
    „Also ich kenne seinen Namen. Aber ob man ihm trauen kann, weiß ich nicht“, sah sich Edmund deshalb kleinlaut in der Position sich rechtfertigen zu müssen.
    „Ich bin vielleicht auch voreingenommen. Immerhin ist das sicherlich ein Fernrohr, mit dem man auch Formwandler aufspüren kann."
    Edmund räusperte sich. „Und Nymphen... Hexen... Magier...alles mit einem Funken Magie im Körper."
    Trevors Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur skeptischer.
    „Vielleicht sollten wir uns vor der Übergabe den Kerl erstmal anschauen. Nur ... zur Sicherheit.“
    Edmund runzelte die Stirn. Was hieß hier „wir“? Es war schließlich seine Ware.
    Wer ist der Käufer?“, wollte Esther wissen.
    Edmund zögerte. Konnte er es ihnen anvertrauen? Sein Vater hatte ihm immer eingeschärft, dass der Käufer für andere tabu war.

    „Edmund?“, bohrte Esther nach.
    Andererseits … was will er machen?
    „Der Kerl heißt Thomas von Talar. Ein Magier.“
    Esther zog die Luft ein. „Wirklich? Thomas von Talar?“
    „Ja?“ Skeptisch runzelte nun Edmund seinerseits die Stirn und auch Trevor und Nelli beäugten Esther. „Du kennst ihn?“
    Esther wandte den Blick ab, nickte aber. „Ja.“
    Edmund wollte nachbohren, aber etwas sagte ihm, dass sie nicht darüber reden wollte. Scheinbar ging es den anderen beiden ebenso, denn keiner fragte nach. Jedenfalls klang es nicht, als wäre dieser Kerl die richtigen Hände. Aber sein Vater hatte sich erkundigt, oder? Er würde so einen Gegenstand niemanden geben, der etwas Schlechtes damit vorhatte. Auch wenn der Handel viel Geld einbrachte, oder? Und vielleicht irrte sich Esther auch. Oder sie sprachen von zwei verschiedenen Thomas von Talar.
    Also schwieg er und schnappte sich einen der Hämmer. Er hätte das Thema nie anfangen dürfen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee die anderen einzuweihen.
    „Entschuldigt mich“, murmelte Esther und stieß hörbar die Luft aus. Ohne jemanden anzuschauen, verließ sie das Schiff über die Leiter mit gesenktem Kopf und lief zum Lager.
    „Habe ich etwas Falsches gesagt?“, wollte Edmund wissen.
    „Ich denke nicht“, meinte Nelli.
    Etwas verwirrt blieben sie drei zurück.

  • Nachdenklich stapfte Esther durch den Dschungel. Sie wusste, dass es falsch gewesen war, die Gruppe zu verlassen und mit den restlichen Arbeiten alleine zu lassen, aber sie konnte nicht weiter dort bleiben. Es hatte sie das dringende Bedürfnis überfallen, für einen Moment Luft zu holen – nur für sich zu sein.

    Sie schloss kurz die Augen und bahnte sich weiter einen Weg durch das Gestrüpp. Zwar hatte sie keine Ahnung, wohin sie überhaupt ging, aber das spielte nicht wirklich eine Rolle.

    Fahrig wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.

    Auf der Welt gab es unzählige Magier! Warum musste der Käufer des Fernrohrs ausgerechnet Thomas sein?

    Sie glaubte nicht an Schicksal, doch als sie das gehört hatte, kam sie nicht umhin, sich zu fragen, ob das ein schlechter Witz gewesen sein sollte.

    Das kann doch nicht wahr sein!

    Energisch zog sie den Zauberstab und schmetterte wutentbrannt einen winzigen Schild gegen einen Busch. Zahlreiche kleine Äste brachen und Blätter rieselten auf den Boden.

    Sie schnaufte und spürte, wie ihr Herzschlag sich etwas normalisierte.

    Wie konnte Edmunds Vater jemanden wie Thomas das Fernrohr anvertrauen?

    Kopfschüttelnd ging sie weiter.

    Genau genommen, wusste sie nicht einmal, warum sie sich daran störte. Die Ladung gehörte ihr nicht, sie war keinesfalls verantwortlich dafür.

    Und möglicherweise war Thomas nicht mehr der ekelhafte Kerl aus der Gildezeit. Immerhin konnten Menschen sich ändern.

    Lächerlich! Nicht der! So jemand wie er konnte sich nicht ändern!

    Aber was sollte sie machen? Sie konnte Edmund nicht verbieten, das Fernrohr an Thomas zu verkaufen und wenn, aus welchen Gründen sollte das geschehen? Sie hatte kaum Argumente dafür, wieso Thomas das Fernrohr nicht besitzen sollte.

    Ein – der Kerl hat mich angefasst, ist überhaupt der ekelhafteste Mensch auf der Welt und darüber hinaus nicht vertrauenswürdig – brachte den Händlersohn auch nicht dazu, den Verkauf abzubrechen.

    Sie sah über die Schulter und verwarf den Gedanken, wieder zum Lager zurückzukehren, schnell wieder, und ging weiter.

    Vergiss es! Du bist nur dabei, um Edmund sicher nach Samira zu bringen, was bisher zwar nicht ganz so gut geklappt hat, aber nun ja. Der Handel geht dich nichts an!

    Esther seufzte und fasste den Entschluss, in Samira auf das nächste Schiff zu steigen und nach Silberberg zurückzukehren. Mit Thomas und dem Handel wollte sie nichts zu schaffen habe. Überhaupt wäre sie froh, dem Kerl nie wieder zu begegnen.

    Abermals stieß sie den Atem aus und allmählich befiel sie doch das schlechte Gewissen. Sie drehte sich um und setzte dazu an, wieder zurückzugehen, stockte jedoch.

    Vor ihr breitete sich nichts weiter aus als eine grüne Wand aus Gestrüpp.

    Sie blinzelte und drehte sich einmal um ihre eigene Achse, was nur dazu führte, dass sie komplett die Orientierung verlor. Ich habe mich verlaufen …

    Sie kämpfte die aufkeimende Panik nieder.

    Beruhige dich!

    Es brachte jetzt nichts, wenn sie ausflippte.

    Erneut sah sie sich um und entdeckte in etwas Entfernung eine Anhöhe aus Felsen.

    Entschlossen ging sie darauf zu. Zwar wurde es allmählich dunkler, aber wenn sie sich beeilte, konnte sie vielleicht von dort oben das Wrack erkennen und die Richtung ausmachen, in die sie gehen musste.

    Am Fuß der Anhöhe zweifelte sie bereits an ihrem Plan.

    Von Weitem hatte es nicht so hoch ausgesehen. Sie zuckte die Schultern, Möglicherweise musste sie ja nicht bis nach ganz oben.

    Gut, dass ich auf Hosen umgestiegen bin …

    Sie atmete noch einmal durch und begann mit dem Anstieg. Die Felsen waren nicht steil, trotzdem fiel es ihr schwer, hinaufzuklettern.

    Ich bin das nicht gewohnt!

    Schritt für Schritt schob sie sich in die Höhe, den Zauberstab in der Hand haltend, für den Fall, dass sie einen Schild brauchte.

    Auf einem breiteren Stein gönnte sie sich eine Pause. Verschwitzt und schwer atmend, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Felswand und sah in den Dschungel hinaus. Wie zu erwarten, reichte es noch nicht. Das Wrack war nirgends zu sehen.

    Als sie den Blick über die Steine gleiten ließ, gewahrte sie neben sich dunkle Flecken. Sie fuhr mit den Fingern darüber du runzelte die Stirn. Festgetrocknet.

    Fast sah es aus wie Farbe, die von oben hinuntergetropft war. Egal, was es war, irgendwie wollte sie nicht wissen, um was es sich bei den Flecken handelte.

    Unweit der Flecken sah sie aus dem Augenwinkeln etwas zwischen zwei Steinen glitzern und nach kurzem Zögern kroch sie neugierig hinüber.

    Eine Münze … Nachdenklich drehte sie diese in ihrer Hand und sah sich um.

    Tatsächlich fand sie noch ein paar andere, aber bei Weitem nicht genug, um sie als Schatz zu bezeichnen.

    Sie richtete sich wieder auf, legte die Münzen auf einen Stein und kletterte weiter. Sobald sie wieder im Lager war, konnte sie den Anderen davon berichten. Jetzt nach Münzen zu suchen, ergäbe keinen Sinn. Die Nacht schien bereits hereinzubrechen und bis dahin sollte sie besser zurück sein.

    Einige Meter weiter bekam sie plötzlich keinen Stein zu fassen. Der Untergrund gab unter ihren Fingern nach und als sie sich hochzog und über den Rand des Felsens schaute, starrten leblose Augen ihre ins Gesicht. Und dann wusste sie auch, warum sich der Boden so seltsam unter ihren Fingern angefühlt hatte.

    Nichtsahnend hatte sie mit der Hand einfach in den aufgeschlitzten Bauch gegriffen, der Sebel steckte noch im Leib.

    Ihr entfuhr ein Schrei und aus Reflex löste sie den Griff.

    Sie konnte das Gleichgewicht nicht mehr halten, rutschte ab und überdies entglitt ihr der Zauberstab. Ihr Versuch, sich irgendwo festzukrallen, scheiterte. Tatsächlich machte sie es dadurch nur noch schlimmer. Unter ihrem Fuß lösten sich Steine und sie glitt endgültig in die Tiefe.

    Erneut schrie sie.

    Staub und kleine Steine rieselten ihr ins Gesicht, irgendwo schürfte sie sich die Arme auf, die Hose riss an der rechten Seite. Dann verkeilte sich ihr Bein und sie rollte einfach weiter den Hang hinunter, bis sich schließlich Dunkelheit um sie herum breit machte. Ein plötzlicher Druck um ihren Oberkörper ließ sie aufkeuchen und die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, kurz wurde ihr schwarz vor Augen. Das spärliche Licht machte es schwer, etwas zu erkennen. Die Luft roch … erdig und unter sich spürte sie sowohl Steine als auch Wurzeln.

    Hustend versuchte sie, sich aus ihrer halbseitigen Schräglage aufzurichten. Sie unterbrach dieses Unterfangen, als sich die Schnüre ihres Korsetts enger zuzogen und sie nur noch weniger Luft bekam, weshalb sie sich in ihre, nicht nur unbequeme sondern auch schmerzhafte Ursprungsposition begab. Als sie ihren Arm hinter den Rücken schieben wollte, stieß sie bereits mit dem Ellenbogen gegen die Wand, weshalb sie die Schnüre auf diese Weise nicht lösen konnte.

    Sie haben sich irgendwo verheddert …

    Langsam drehte sie den Kopf ein wenig und blickte zu dem fahlen Lichtschein hinauf.

    Wie gelähmt starrte sie den schmalen Streifen in einigen Metern Höhe an, durch den sie einen Fleck des Himmels sehen konnte.

    Das … durfte … nicht … wahr … sein …

    Ihre Sicht klärte sich, jedoch brannte der Dreck in ihren Augen. Rauswischen konnte sie ihn nicht, denn den Arm heben, ging in dieser Haltung nicht.

    Nun spürte sie auch das unangenehme Ziehen ihrer Schwürfwunden an den Händen, Armen und Beinen. Irgendetwas musste sie auch am Rücken erwischt haben … und im Gesicht. Es glich einem Wunder, dass sie sich nicht einfach das Genick gebrochen hatte.

    Und mein Zauberstab liegt da oben … und die anderen sind am Strand … wo ich auch hätte sein müssen … du Idiot!

    Ob es etwas brachte, um Hilfe zu rufen? Oder war sie zu weit in den Wald gegangen, sodass ihr Schrei im Dschungel verhallte?

    Schaden konnte es nicht, also brüllte sie mehrere Male hintereinander, bis ihr die Luft wegblieb und sie hustend um Atem rang.

    Einige Zeit machte sie so weiter, bis sie die Hoffnung aufgab und ihr Schrei nichts weiter war als unverständliches Gemurmel.

    Musste sie wirklich hier sterben? Alleine? Verhungern. Verdursten. In einem Felsspalt feststeckend?

    Müde schloss sie die Augen und spürte, wie Tränen über ihre Wangen rollte. Wenn sie nur bei den Anderen geblieben wäre …

    „Esther?!“, hörte sie plötzlich eine Stimme wie in weiter Ferner.

    Etwas in ihr wollte das einfach ignorieren, zu schwach war sie mittlerweile geworden. Dann zwang sie sich aber, ihre Konzentration zusammenzukratzen.

    „Esther!“ Panik und Sorge schwang in dem Ruf mit.

    „Trevor!“, rief sie krächzend, nachdem sie die Stimme identifizieren konnte. „Ich … bin hier!“ Wo genau auch immer dieses hier war …

    „Bleib wo du bist!“, hörte sie abermals den Wandler rufen.

    Als könnte ich irgendwo anders hin …

    Sie wollte noch etwas rufen, aber der Atem ging ihr immer mehr aus, so sehr hatte das Korsett sich zugezogen. Täuschte sie sich oder wurde die Luft tatsächlich stickiger? Und kamen die Wände näher?

    Sie zog ihre Hand zur Köpermitte und versuchte ihre abgehackte Atmung zu kontrollieren. Allmählich begann sie zu zittern.

    „Esther?“ Der Ruf kam näher, aber es schien ihr, als wäre Trevor noch immer zu weit weg, um sie zu finden.

    „Hier …“, keuchte sie und hoffte, dass man sie hören konnte und gleichzeitig ihre Panik in dem einzelnen Wort überhörte.

    Dann hörte sie ein Scharren ganz nahe am Felsspalt und dummerweise versuchte sie deshalb, sich in Bewegung zu setzten. Sogleich zogen sich die Schnüre noch enger zusammen und das Korsett presste sich erbarmungslos gegen ihren Oberkörper.

    Krächzend stolperte sie wieder zurück und starrte zur Öffnung hinauf.

    „Edmund!“, konnte sie Trevor rufen hören. „Esthers Stab!“

    „Ich bin … hier!“, kam es über ihre Lippen. Selbst in ihren Ohren klang das viel zu leise, trotzdem schob sich im nächsten Moment ein Schatten in ihr Blickfeld und verdunkelte das Loch, in dem sie steckte, fast zur Gänze.

    Sie blinzelte und erkannte dann Edmunds sowie Trevors fassungslose Gesichter.

    „Was …“, brachte Trevor hervor. „Hast du dir etwas gerbrochen?!“

    Esther schüttelte schwach den Kopf und versuchte mit der Hand an ihren Rücken zu deuten, um den Männern das Problem zu signalisieren. Sie war sich aber nicht sicher, ob das jemand sehen konnte.

    „Ich … hänge fest“, brachte sie atemlos hervor und presste die Hand weiter auf ihren Bauch. „Die … Schnüre …“

    „Ich laufe ins Lager zurück und hole Seile und ein Messer“, sagte Trevor. „Bleib du bei Esther!“ Seine Stimme klang ungewöhnlich gehetzt, fand sie. Dann verschwand der Formwandler aus ihrem Blick.

    Völlig außer Atem bettete sie den Kopf an einen Stein und schloss die Augen, um die näherkommenden Wände nicht sehen zu müssen.

    Sie wusste nicht, ob Edmund sie die ganze Zeit beobachtete, zu sehr war sie darauf bedacht, Ruhe zu bewahren und halbwegs vernünftig Luft zu holen.

    Einige Zeit geschah nichts, dann hörte sie wieder ein Schaben und Stimmen, die miteinander sprachen. Was geredet wurde, hörte sie nur am Rande ihres Bewusstseins.

    „Ich komme jetzt zu dir runter!“ Wieder war es Trevor. Dann rieselte ihr Dreck ins Gesicht, doch der Formwandler kam auch nach einige Zeit nicht bei ihr an. „Das wird nichts. Ich passe nicht durch den Spalt ...“

    „Guck mich nicht so an“, vernahm sie Edmunds Stimme. „Ich krieche da nicht runter!“

    Daraufhin entbrannte eine Diskussion, der sie aber kaum folgen konnte, zu sehr überschattete diese Situation ihre Konzentration.

    Schön. Jetzt stritten sie.

    Ich will doch nur hier raus!

    Sie krallte sich mit den Finger in die Erde und sie spürte, wie abermals Tränen in ihren Augen brannten. Gequält holte sie Luft und brachte ein Wimmern hervor.

    Obwohl sie es nicht beabsichtigt hatte, schien das beide Männer davon abzuhalten, weiter zu diskutieren.

    Es scharrte und rumorte am oberen Ende des Felsspalts.

    „Dafür schuldet ihr mir was …“ Täuschte sie sich oder klang Edmund genervt?

    Sie hatte sich diesen Platz auch nicht freiwillig ausgesucht …

    Wieder landeten kleine Steine und Dreck auf ihrem Körper. Sie drehte den Kopf etwas weg, damit sie es nicht allzu sehr in die Augen bekam.

    Dann schob Edmund sich langsam hinunter, bis er etwa auf ihrer Augenhöhe war. Gezwungenermaßen hingen sie beide nun dicht gedrängt aneinander, da der Spalt kaum genug Platz bot.

    Sie spürte die stetig wachsende Panik in ihrem Inneren und wie ihr der Schweiß ausbrach, aber sie riss sich zusammen und kämpfte den Drang zu schreien einfach nieder.

    Erst traute sie sich nicht, ihm ins Gesicht zu blicken, zu sehr schämte sie sich für diese Situation – ähnlich wie in der, als sie im Wasser ausgerutscht war.

    Allerdings lachte im Moment niemand über sie.

    Dann hob sie den Kopf und sah Edmund an.

    Edmund stand der Schweiß auf der Stirn und tatsächlich merkte sie erst jetzt wieder die Hitze. In der Hand hielt er ein Messer und ein konzentrierter sowie genervter Ausdruck lag auf seinen Zügen.

    Er schien etwas sagen zu wollen, musterte sie dann … für ihren Geschmack etwas zu lange. Doch sie sah, wie etwas von seiner angespannten Haltung abfiel. „Du solltest dir nachher unbedingt den Sternenhimmel anschauen“, meinte er und sie glaubte, eine Spur Mitleid in seiner Stimme zu hören. „Wir haben Vollmond“, setzte er noch nach.

    Deshalb ist es noch so hell …

    Sie wusste nicht, wieso er ausgerechnet in dieser misslichen Lage mit dem Mond und den Sternen um die Ecke kam, aber der ruhige Ton seiner Worte beruhigte sie und der Gedanke daran, bald wieder den Himmel sehen zu können, ließ sie beinahe wehmütig werden. „Das … klingt schön“, sagte sie und rang nach Atem.

    „Es ist ja nicht so, dass wir seit Wochen unter dem Sternenhimmel schlafen und arbeiten“, sagte er, während er um sie herumgriff. „Ein Teil Heimat oder? Dein Vater blickt in den gleichen Himmel.“

    Esther unterband den Drang, sich dichter an die Wand zu drücken.

    Reiß dich zusammen!

    „Vermutlich schläft … mein Vater längst“, versuchte sie ihre Gedanken von der erneut aufkommenden Panik auf das Gespräch zu lenken.

    „Würde er vermutlich nicht, wenn er wüsste, wie nah ich dir bin“, sprach Edmund und sie spürte, wie der Druck seines Körpers an ihrem sich verlagerte. „Mit einem Messer in der Hand …“

    Es war schon seltsam. Aufgrund der Andeutungen vorhin hätte sie mit anderen Kommentaren von ihm gerechnet.

    Sah Edmund ihre Angst? Ihre Panik? Und verzichtete deshalb auf Anzüglichkeiten?

    Sie beschloss, sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen.

    Die Bewegung in ihrem Rücken bemerkte sie deutlich und schon als er die erste Schnur durchtrennte, fühlte sie nichts anderes als pure Erleichterung.

    Gierig sog sie die Luft ein. „Höchstwahrscheinlich … würde er dich dafür in die Silberminen stecken“, gab sie zurück, immer noch atemlos. „Um ehrlich zu sein, mache ich mir aber keine Gedanken um das Messer in deiner Hand … ich will nur hier raus …“

    Edmund nickte nur. Ein konzentrierter Blick lag auf seinem Gesicht und sie spürte die Berührungen in ihrem Rücken, wie er die Schnüre ertastete und sie schließlich vorsichtig mit dem Messer durchtrennte.

    Seltsamerweise beruhigte sich ihr Herzschlag allmählich und mit jeder Schnur, die sich löste gelangte etwas mehr Atem in ihren Körper zurück.

    Wie fremdgesteuert drängte sie sich etwas weiter an Edmund, damit er besser an die letzte Verschnürung herankam.

    Und als er die Letzte zerschnitten hatte, keuchte sie erleichtert auf und wäre dabei ins Wanken geraten, stünden sie beide nicht so dicht aneinander.

    „Danke …“, murmelte sie kaum hörbar und immer noch um Luft ringend.

    „Bitte“, antwortete Edmund.

    Sie nickte nur und schob den Arm an seinem Körper vorbei, um sich des Korsetts zu entledigen. Es war hinüber, also konnte es auch hier unten vergammeln.

    Räuspernd versuchte sie, etwas Abstand zu gewinnen, was in Anbetracht des Ortes nicht möglich war. „Wie kommen wir jetzt hier heraus?“, wollte sie wissen und warf einen schnellen Blick nach oben, wo noch immer der Umriss von Trevors Gestalt zu sehen war.

    „Das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du in ein Erdloch fällst, Gräfin, gab Edmund bissig von sich, weshalb sie kurz zusammenzuckte. „Du stehst mir übrigens auf dem Fuß. Aber darauf zu achten, wohin du trittst, scheint keine Stärke von dir zu sein.“ Er zog das Seil, an dem er heruntergeklettert war, zu sich und reichte es ihr.

    Die Panik, die sie vorhin noch verspürt hatte, verpuffte endgültig und machte einer wallenden Wut Platz.

    Wäre es ihr möglich gewesen, hätte sie ihm das Seil einfach energisch aus der Hand gerissen. So aber, konnte sie nur beherzt danach greifen. „Ja, genau! Ich habe es mir auch ausgesucht, in ein Erdloch zu fallen“, maulte sie und sah ihn finster an. Es war schon schlimm genug, dass sie überhaupt hier unten gelandet war. Musste er ihr das auch noch vorwerfen?

    Wie konnte man in einem Augenblick Nettigkeit heucheln und dann wieder so absolut herabwürdigend sein?

    Ob er auch so zu ihr wäre, wenn er wüsste, wieso sie abgerutscht war?

    Sie wollte es nicht wissen.

    Unsanfter als nötig drängte sie sich an ihm vorbei und trat ihm dabei absichtlich noch einmal auf den anderen Fuß. Dann sah sie unschlüssig nach oben, nicht wissend, was sie nun tun sollte.

    Hinter sich hörte sie, wie Edmund mit den Zähnen knirschte. „Du erinnerst dich an den erwähnten Sternenhimmel? Ich würde den gerne in diesem Leben auch nochmal sehen.“

    Sie rollte mit den Augen, schnaufte und machte sich dann vorsichtig an den Anstieg nach oben. Es war anstrengend, denn der Platz war nach wie vor sehr begrenzt. Außerdem konnte sie nicht viel sehen und ihre Kletterkünste waren miserabel.

    Fast konnte sie schon den Ausgang greifen, als sie abrutschte und einige Schritte nach unten glitt. „Verflucht“, schimpfte sie, nachdem sie sich irgendwie abfing.

    Bevor sie sich erneut nach oben hievte, hörte sie noch, wie Edmund sich über den ganzen Dreck beschwerte.

    Geschieht dir recht!

    Erst ihr den Gentleman vorgaukeln und dann wieder anders …

    Genervt kämpfte sie sich weiter und sah wenige Meter später, wie Trevor ihr eine Hand entgegenstreckte und sie hinaufzog.

    Schwer atmend blieb sie einen Moment einfach auf dem Boden liegen, genoss das Gefühl, wieder frischen Atem einziehen zu können und nicht mehr von Wänden zerquetscht oder von ihrer eigenen Korsage erwürgt zu werden.

    Dann erschien auch Edmund wieder am Tageslicht, der sich sogleich aufrichtete. Er schüttelte sich den Staub aus den Haaren und versuchte sich die Kleidung sauber zu klopfen.

    „Geht es dir gut?“, hörte sie Trevor fragen und half ihr beim Aufstehen.

    Sie nickte knapp und warf Edmund einen kurzen, wütenden Blick zu. „Es geht mir gut. Danke für die Hilfe.“

    „Hauptsache, dir ist nichts Schlimmeres passiert“, Trevor winkte ab. „Wie ist das eigentlich passiert?“, wollte der Formwandler schließlich wissen und sah sie fragend an.

    Ja. Was sollte sie sagen?

    „Ich habe mich vorhin im Wald … verirrt“, sagte sie und entschied sich, bei der Wahrheit zu bleiben. „Ich dachte, ich könnte von dort oben das Lager entdecken. Beim Hochklettern bin ich auf Münzen gestoßen … und einer Leiche. Ich bin abgerutscht und dann …“ Sie zuckte die Schultern und deutete mit dem Kinn in Richtung des Felsspaltes.

    Trevor sah nach oben. „Ich werde mir das ansehen“, beschloss er und blickte ihr wieder ins Gesicht. „Du solltest Oma über die Wunden schauen lassen“, schlug er noch vor und reichte ihr gleichzeitig den Zauberstab. Nickend nahm sie diesen entgegen, murmelte ein Danke und ging an Edmund vorbei, um von der Anhöhe hinunterzuklettern.

    Unten angekommen, begab sie sich in Nellis Obhut, mit der sie sogleich zurück ins Lager ging und die zahlreichen kleinen Schwürfwunden versorgen ließ. Der Heilerin erzählte sie ebenfalls, was passiert war. Glücklicherweise verzichtete Nelli auf jeden Kommentar. Noch mehr davon konnte Esther nicht ertragen.

    Während sie Nellis Untersuchungen am Rücken geduldig über sich ergehen ließ, wischte sie sich über das von Tränen angefeuchtete Gesicht. Ob es der abgefallenen Anspannung geschuldet war oder Edmunds Auftreten ihr gegenüber konnte sie nicht sagen.

    Jedenfalls nahm sie sich vor, nicht noch einmal zuzulassen, dass der Händlersohn so mit ihr umsprang. Sie blinzelte die neuerlichen Tränen weg, atmete ein paar Mal tief durch und bemühte sich um eine ausdrucklose Miene.

    Du bist eine Gräfin verdammt! Verhalte dich wenigstens einmal so!

  • Nelli untersuchte die junge Frau vorsichtig und schwieg eine ganze Weile. Als sie ein leises Schluchzen vernahm, musterte sie Esther besorgt.

    Alles in Ordnung, Kindchen?“ fragte sie sanft und tätschelte den Arm der Gräfin. Verstohlen wischte die sich weitere Tränen weg und nickte betreten.

    Ja“, erwiderte sie und lächelte tapfer, doch die alte Heilerin nahm ihr das nicht ab. Esther sah nach allem aus, aber nicht danach, dass alles in Ordnung war. Also beschloss sie nach einem kurzen Moment der Stille das Thema nicht auf sich beruhen zu lassen.

    War das wegen diesem Thomas?“, hakte sie dann nach. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Geschichte, die die Magierin ihr erzählt hatte und neuerliche Wut kochte in ihr hoch. Wenn sie könnte, würde Nelli diesem Kerl die schlimmsten Flüche auf den Hals hetzen, die ihrer Meinung nach jeder verdient hatte, der sich ungefragt an Frauen heranmachte. Selbst Edmund würde Ärger mit ihr bekommen, wenn er nicht sein verhalten gegenüber der Gräfin änderte.

    Die wiederum runzelte die Stirn und schaute zur alten Hexe.

    Was meinst du? Ich bin ins Loch gefallen, weil ich abgerutscht bin“, erwiderte sie und wich ganz offensichtlich dem Kern von Nellis Frage aus. Doch die war nicht bereit nachzugeben und schüttelte vehement den Kopf.

    Nein, du bist in das Loch gefallen, weil du weg gelaufen bist“, beharrte sie und tupfte die Schürfwunde an Esthers Arm ab. Mit geschickten Handbewegungen kramte sie eine kleine Flasche heraus, dessen Inhalt kaum noch existent war. Wenn sie nicht bald von dieser Insel runter kamen, würden ihre Vorräte bald endgültig aufgebraucht sein. Esther nestelte derweilen betreten an ihrem Ärmel herum und wich Nellis Blick aus, die die Wunde mit dem Rest der Flüssigkeit betupfte.

    Ich brauchte einen Moment für mich“, gab sie zu und zögerte ehe sie weiter sprach: „Aber ja, ich bin wegen Thomas weggelaufen.“

    Nellis Blick wurde schlagartig sehr ernst und atmete tief durch, ehe sie fragte: „Ist das der Kerl, den wir noch kastrieren müssen?“ Sie zwang ihre Stimme möglichst ruhig zu klingen, während sie innerlich tobte. Vor allem als Esther dann auch noch zögerlich nickte, kam Nelli nicht umher, unwillig zu brummen und das Stück Stoff in ihren Händen zu kneten.

    Dieses Monster. Sicher, dass ich ihn nicht doch mit Voodoo verhexen soll? Ich kenne da einige sehr effektive Zauber...“, schlug sie vor und legte den Kopf schief. Die Magierin lachte kurz freudlos auf.

    Er hat Finger verloren, das muss reichen. Aber danke für dein...Angebot“, erwiderte die Magierin, woraufhin Nelli deren Hand nahm und sie sanft drückte.

    Meine Liebe...Das ist nichts, was man leicht weg steckt, niemand weiß das besser als ich. Ich möchte, dass du weißt, dass ich da bin, falls du reden möchtest“, bot sie mit einem sanften Klang in ihrer sonst so rauen Stimme an und lächelte leicht, als Esther ihre Hand drückte.

    Ich komme klar“, sagte sie leise und ein schwaches Lächeln zeigte sich auf den blassen Lippen.“Aber...ich gebe zu, dass ich Thomas nicht noch einmal sehen will...“

    Auf dem runzeligen Gesicht der Alten zeigte sich ein fieser Ausdruck, der schon deutlich machte, dass man die Hexe nicht als Feind haben wollen würde.

    Das musst du auch nicht, Herzchen. Überlass ihn mir“, versprach sie und verzog den Mund zu einem bösartigen Grinsen, was immerhin Esther dazu brachte, sie endlich richtig anzusehen.

    Ich will nicht wissen, worüber du gerade nachdenkst...“ Die Heilerin zuckte nur mit den Schultern, doch das Funkeln in ihren Augen sprach Bände.

    Ich bin kein freund von Gewalt“, stellte Esther klar ehe sie den Blick abwandte und deutlich leiser hinzufügte: „Aber aufhalten werde ich dich auch nicht.“

    Nelli schmunzelte und zwinkerte der Magierin zu.

    Wer hat denn von Gewalt gesprochen? Ich habe meine Mittel und Wege.“ Sie grinste ein schiefes Grinsen, dessen fiese Natur aber nicht völlig versteckt blieb. „Meiner bescheidenen Meinung nach sollte jeder, der sich an jungen Mädchen vergeht oder es auch nur versucht, mehr als nur einen Finger verlieren.“ Sie wurde wieder ernst und ihr Blick lag wieder musternd auf Esther.

    Du darfst wütend sein und traurig. Aber versprich mir, dass du dir niemals die Schuld daran gibst. Dieser Abschaum hat weder dein Mitleid noch deine Gnade verdient, wenn du ihm doch begegnen solltest.“

    Ein tiefes Seufzen entkam der Kehle der Magierin.

    Ich habe kein Mitleid und ich gebe mir auch nicht die Schuld, es ist nur...“ Sie stockte und fuhr sich mit der hand durchs Gesicht, ein Anblick der Nelli fast das Herz brach. „Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, ihm noch mal unter die Augen zu treten. Wenn Edmund diesen Handel abschließt, werde ich woanders sein.“ Sie zuckte mit den Schultern und ihr Blick wanderte wieder ziellos durch den Strand entlang. „Irgendwo, wo ich nicht mit ansehen muss wie dieser...“ ,sie stockte und biss sich auf die Unterlippe, „Dieser dampfende Haufen Mist das Fernrohr in die Hände bekommt.“

    Ein Feixen legte sich auf Nellis Gesicht. Hatte Esther grade wirklich geflucht? Das war ja mal etwas völlig Neues.

    Er wird das Fernrohr nicht bekommen. Und wenn Edmund mich danach verflucht und hassen wird. Nur über meine Leiche wird er das Ding an diesen dämlichen Nachttopf verkaufen..“ Die Alte runzelte die Stirn und legte den Kopf schief, schien zu überlegen. „Gut, für Wendy ist das wohl eher ein Argument FÜR den Verkauf und nicht dagegen...“ Eine Bemerkung, die Esther sogar ein leichtes Schmunzeln entlockte, was für den Bruchteil eines Moments auf ihren Lippen zu sehen war, ehe sie wieder die Stirn runzelte.

    Warum sollte Edmund das Fernrohr nicht verkaufen an Thomas? Er ist der Käufer und von uns wird sich Edmund nicht aufhalten lassen.“

    Nelli wiegte erneut den Kopf leicht hin und her und hoffte, dass sie sich mit ihrer nächsten Äußerung nicht täuschte: „Weil selbst unser lieber Händlersohn ein gewissen hat. Tief vergraben unter einem Haufen Gehabe und Arroganz. Niemand, der unschuldigen Frauen so was antut, sollte ein so mächtiges Magisches Artefakt in den Händen halten dürfen.“

    Esther schaute sie erschrocken an, wie ein Rehkitz, das in die Flinte des Jägers guckte.

    Ich will nicht, dass Edmund oder Trevor davon erfahren!“ Die Alte seufzte erneut und zuckte mit den Schultern. Die Aufgabe würde sie der Magierin nicht abnehmen können. Beschwichtigend hob sie die Hände.

    Vielleicht musst du ihnen nicht die ganze Geschichte erzählen. Sondern lediglich, dass du Thomas kennst und er kein guter Mensch ist und vielen mit dem Fernrohr schaden könnte“, schlug sie vor und bemerkte, wie die junge Gräfin ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen presste. Die restlichen Verletzungen versorgten sie schweigend, ehe Esther die Stille durchbrach: „Ich denke darüber nach.“

    • Offizieller Beitrag

    Trevor schaute Esther nach, die sich auf den Weg zurückbegab. Dann betrachtete er die Münzen, die verstreut herumlagen und wandte sich Edmund zu. „Zumindest grenzt Esthers Fund unseren Suchraum ein.“
    „Das stimmt“, meinte Edmund.
    Die beiden schauten sich um und bewegten Sträucher zur Seite, schauten noch einmal in das Loch, in das Esther gerutscht war. Dass die Besatzung die Kiste in das Loch geworfen hatte, schloss Trevor aus. Wahrscheinlich wäre sie auf halben Weg steckengeblieben.
    „Hier ist was!“, rief Edmund, und Trevor begab sich umgehend zu ihm.
    „Was ist es?“
    „Sieht aus wie ein schmaler Höhleneingang.“
    Edmund war ein paar Meter den Hügel hinuntergelaufen und hatte unweit von ihnen einen Eingang entdeckt.
    „Na, das sieht schon eher wie eine Stelle aus, an der man eine Kiste voller Gold lagern würde.“
    „Vermutlich haben sie auf den Weg nach unten ein paar Münzen verloren“
    , mutmaßte Edmund. „Nur haben wir kein Licht.“
    „Das stimmt.“

    Beide hörten leises Plätschern aus dem inneren der Höhle. Anscheinend lief Wasser aus den Wänden und tropfte zu Boden. Aber ohne Fackel war nichts zu erkennen.
    Sollten sie schnell zurücklaufen und Stoff holen? Eine Lampe vom Schiff?
    Trevor stöhnte. Den ganzen Weg zurücklaufen … Das würde sie kostbare Zeit kosten. Deswegen riss er sich kurzerhand die Ärmel seines Hemdes ab und wickelte den Stoff um einen Ast. Mit den Feuersteinen, die er bei sich trug, zündete er die improvisierte Fackel an.
    Edmund grinste. „So geht es natürlich auch.“
    Beide ließen den schmalen Eingang hinter sich und betraten die Höhle. Spinnenweben hingen von der Decke, und Edmund umging diese mit einer Eleganz, die beinahe bewundernswert war. Trevor hatte aufgrund seiner Größe und Masse nicht die Möglichkeit und befreite sich lieber nach und nach von den klebrigen Fäden.
    Plötzlich stand Trevor vor einem Abgrund. „Hier geht es nicht …“, setzte er an, aber weiter kam er nicht, als Edmund ihm im Halbdunkel anrempelte. „Pass doch …“ Fluchend ergriff er den Händlersohn und wollte sich an ihm festhalten.
    „Spinnst d…“, schrie Edmund auf, aber wurde davon unterbrochen, dass er Trevors Körpergewicht nichts entgegenzusetzen hatte.
    Was auch Trevor schnell merkte, und beide den Abhang hinunterrutschten.
    Schreiend und wehklagend glitten sie den Hang hinunter, wodurch auch die Fackel erlosch.
    Als beide kaum noch Atem zum Schreien hatten, landeten sie auf etwas Weichem.
    Dem Schreien wich Husten. Irgendetwas war in der Luft, das die Atemwege reizte.
    „Großartig“, sprach Edmund und stöhnte schmerzerfüllt. „Jetzt sitzen wir in einem Loch!“
    „Ich kann die Hand nicht vor Augen sehen, so ein Mist“, ergänzte Trevor.
    „Wo ist diese Fackel?“, fluchte Edmund und begann anscheinend wie Trevor, die Umgebung abzutasten.
    „Ich hab sie!“, gab Edmund von sich.
    „D… Das ist nicht die Fackel!“
    „Oh …“
    Kurz herrschte Schweigen.
    „Würdest du deine Hand da bitte wegnehmen?“, fragte Trevor und bemerkte gleichzeitig, wie sich unwillkürlich seine Mundwinkel bewegten.
    Bevor Edmund darauf antwortete, brachen beide in heiteres Gelächter aus.
    „Warum lachst du?“, wollte Edmund von Trevor wissen.
    Der hatte aber darauf keine Antwort. Er musste einfach lachen, obwohl an der Situation nichts komisch war. Sie hockten orientierungslos in einer Höhle fest.
    Beide krochen auf dem sandigen Boden herum, ohne zu wissen, in was sie alles griffen – und das schien nicht mal Edmund zu stören. „So habe ich mir mein Grab nicht vorgestellt“, gestand dieser und lachte weiter.
    Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Das merkte Trevor deutlich daran, dass er nicht aufhören konnte zu lachen. Edmund ebenfalls nicht. Normalerweise hätte Trevor kreative Hasstiraden zu ihrer Situation von Edmund erwartet, aber dieser lachte, kicherte und gluckste, während er das Offensichtliche aussprach.
    „Vermutlich hat das was mit dem Zeug in der Luft zu tun, was wir eingeatmet haben …“, erinnerte Edmund Trevor an ihre Landung.
    Natürlich, das musste es gewesen sein. „Wir müssen uns zusammenreißen!“, erwiderte Trevor, aber sein Lachen untergrub die Ernsthaftigkeit seiner Aussage.
    „Siehst du auch diese bunten Farben? Ich glaube, ich kann Gerüche sehen“, sprach Edmund.
    Trevor sah keine bunten Farben, dafür aber ein violettes Pferd, dass durch die Luft ritt. „Darum kümmere ich mich später …“, murmelte der Formwandler.
    Sie krochen weiter, nachdem sie die Fackel nicht finden konnten. Den Abhang hinaufzuklettern, den sie runtergerutscht waren, war hoffnungslos – erstrecht ohne Licht. Aber vielleicht gab es noch einen Ausgang. Wenn der Schatz hier unten war, mussten die Schiffbrüchigen auch irgendwie hinausgekommen sein.
    „Gibt es tanzende Pilze?“, fragte Edmund unterdessen.
    „Siehst du welche?“, wollte Trevor wissen.
    „… Vielleicht …“
    Wieder kicherten beide. Trevor versuchte währenddessen, den blauen Bären, der in der Dunkelheit saß, zu ignorieren. Beide Männer wussten, dass es nicht real war, was sie sahen. Aber ihr Verstand ging trotzdem auf diese Halluzinationen ein. Sie konnten sich nicht wehren. Sie begannen immer wieder zu lachen, sich mit den Gnomen und Feen zu unterhalten oder diese Wesen nach dem Weg zu fragen. Edmund versuchte sogar, hin und wieder zu reimen. Von ihrem Tod in der Höhle, aber auch das konnten beide kaum ernst nehmen, wenn sie sich darüber amüsierten.
    Doch dann sahen Trevor und Edmund das gleiche, nachdem sie um eine Ecke gebogen waren. Da war Licht – und das konnte keine Halluzination sein, denn beide sahen es.
    Um eine weitere Ecke in etwas Entfernung schimmerte das Licht von Feuer.
    Ohne sich wirklich zu fragen, wer dieses Feuer am Leben hielt, richteten sich beide auf und folgten dem Licht wie Motten.
    Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, standen sie in einer großen Höhle, erhellt von mehreren Fackeln und Feuerschalen. Große Felsen dienten anscheinend als Ablagen, überall lag Gerümpel herum, das Edmund und Trevor als Überbleibsel eines Schiffes ausmachten. Aber dann sahen sie auch die Kiste am anderen Ende. Das Gold darin schimmerte rötlich und zauberte bunte Reflektionen an die Höhlenwand. Das, oder ihre Halluzinationen verursachten das göttliche Bild ihres Ziels.
    „Wunderbar! Wir haben ihn gefunden … den Schatz! Ich werde mir erstmal neue Kleidung kaufen und zu einem Barbier gehen. Ich sehe aus wie ein Hinterweltler …“, schwärmte Edmund.
    Trevor folgte ihm und wollte auch schon von einer Rüstung anfangen, als sie das Rasseln von Ketten hörten.
    „Ich hoffe nur, diese Fantasien hören auf“, motzte Edmund und wedelte mit seiner rechten Hand vor seinem Gesicht herum. „Diese dummen, geldgierigen Schmetterlinge … Die wollen nur unseren Schatz!“
    Trevor hatte seine Probleme damit, das Pferd, das immer noch penetrant um sie herumritt, loszuwerden. Ständig duckte er sich unter den Hufen hinweg. „Dir folgt zumindest kein violettes fliegendes Pferd!“
    Wieder erklang Rasseln. Und mit dem Rasseln bog um eine andere Ecke der Höhle eine seltsame Gestalt. Die Kleider hingen in Fetzen vom Körper – und der rechte Arm schien zu fehlen.
    „Ehm … Edmund?“, sprach Trevor, während Edmund den Inhalt der Schatzkiste untersuchte.
    „Münzen, Ringe, Ketten und …“
    „Edmund?“, wiederholte Trevor lauter und tippte dem Händlersohn wild auf die Schulter. „Siehst du das Ding da?“
    Edmund wandte sich genervt um. „Was sehe ich?“, schimpfte er. „Dieses entstellte Etwas? Wir wissen doch beide, dass wir unter dem Einfluss von irgendwas stehen.“
    „Ja, aber … wir sehen es beide!“
    Edmund schluckte trocken. „Hat deine Halluzination Kleidung der letzten Saison an?“
    „Eher der vorletzten“
    , nuschelte Trevor.
    Der Händlersohn legte eine Perlenkette beiseite. „Hässlich?“
    „Schon!“
    „Ketten?“
    „Japp!“

    Jetzt schrien beide zur Abwechslung, während jemand anderes lachte.
    „Da sind uns Diebe ins Netz gegangen“, sprach eine fremde Stimme und eine zweite Gestalt kam in die Höhle. Dieser jemand sah nicht frischer aus als die Gestalt, die an einem Fuß an einer Kette hing.
    Erst jetzt nahmen Trevor und Edmund den Gestank in der Höhle wahr.
    „Frischfleisch für die nächsten Wochen …“, sprach der Fremde weiter und grinste, wodurch seine faulen Zähne zutage kamen.
    Trevor versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber der tanzende blaue Bär im Hintergrund machte es ihm nicht einfach. Er musste seine Stärke fokussieren, aber das Misslingen brachte ihn nur wieder zum panischen Lachen.
    Edmund verlor anscheinend keine Zeit und warf dem Kerl einen goldenen Krug gegen den Kopf.
    Trevor wandte sich ihm zu und formte lediglich ein tonloses „Warum?“
    „Die wollen uns fressen! Wollen wir noch auf das Rezept warten, das er benutzen wird? Solche Leute kauen einem doch immer erst ein Ohr ab, bevor sie versuchen, einen zu töten. Ersparen wir uns das. Töte sie einfach!“ Dann lachte Edmund. „Ohr abkauen … verstehst du?!“
    „Ja, aber mit was denn?“, schrie Trevor, während der blaue Bär hinter Edmund auftauchte. „Ich habe keine Waffen bei mir!“ Trevor kicherte. „Der Wortwitz war aber gut … Ohr abkauen, weil sie Kannibalen sind. Ich verstehe …“
    Zwei weitere Gestalten tauchten hinter dem auf, der sich den Kopf rieb. „Fesselt und tötet sie. Die Reihenfolge ist egal …“
    Trevor schaute sich hektisch um, ob er etwas als Waffe benutzen konnte und ergriff einen Knochen vom Boden.
    „Ist das ein Oberschenkel?“, wollte Edmund wissen.
    „Ist das wichtig?“, fragte Trevor, aber rümpfte selbst die Nase, als er die verwesenden Fleischfetzen daran bemerkte. „Der ist nicht mal ordentlich abgekaut. Schämt euch!“
    Die drei nicht in Ketten liegenden Gestalten rannten umgehend auf Edmund und Trevor zu.
    Edmund ergriff alles Schwere, das in seiner Nähe lag und warf es nach den Kannibalen.
    Trevor hingegen ging auf sie zu und haute dem ersten den Knochen über den Schädel. Er musste die Enge zwischen dem Gerümpel ausnutzen, dass sie nicht gleichzeitig angreifen konnten.
    „Ducken!“, rief Edmund und warf einen Kerzenständer samt brennenden Kerzen.
    Trevor duckte sich, und der Kerzenständer flog einem der Kannibalen mitten ins Gesicht, wodurch seine verdreckten Haare Feuer fingen. Schreiend drehte sich dieser im Kreis und sprang kopfüber in einen Kessel.
    Trevor schlug danach mit dem Knochen zu. Blut spritzte dem Formwandler ins Gesicht, während der Kannibale vor ihm mehrere Zähne verlor. Der Formwandler trat dem Kerl gleichauf gegen den Oberkörper, aber dieser fiel nur dem Hinteren in die Arme, der ihn umgehend wieder Trevor entgegenschubste.
    Edmund rannte in die andere Richtung. Ihm gingen anscheinend die Wurfgeschosse aus, sodass er nach etwas anderem Ausschau hielt.
    Trevor versperrte den beiden den Weg und wog den Knochen in seiner Hand. Gezielt schlug er wiederholt zu, bis der morsche Knochen abbrach. Mit zertrümmerten Gesicht ging aber zumindest der erste Kannibale zu Boden, sodass Trevor seine Chance sah, Edmund zu folgen.
    Der Kannibale, dessen Haupt gebrannt hatte, richtete sich dampfend wieder auf und hatte überall Fetzen von Fleisch an sich hängen. „Meine Haare! Meine wunderschönen Haare“, beschwerte er sich.
    „Das nanntest du Haare?“, hinterfragte Edmund lautstark. „Sei froh, ich habe dich von dem Vogelnest befreit.“
    Auch wenn Edmund souverän konterte, konnte Trevor die Panik in dessen Augen sehen. Aber ihm ging es nicht anders. Gegen Kannibalen hatte der Pirat noch nie gekämpft. Er hatte von solchen Leuten gehört, die nach einem Schiffbruch Unaussprechliches getan hatten, aber noch nie sollte er selbst auf dem Mittagstisch solcher Menschen landen. Es mussten Männer der Crew sein, die noch lebten. Anders konnte er sich ihre Anwesenheit nicht erklären.
    Zudem ließ die Wirkung ihrer Halluzinationen allmählich nach, wodurch Trevor und Edmund immer mehr erkannten, wo sie sich befanden. Hatten sie zuvor nur das Schimmern des Goldes wahrgenommen, hingen nun plötzlich Gliedmaßen von der Höhlendecke, überall war getrocknetes Blut zu sehen – und zu riechen.
    „Vorher war es angenehmer“, stellte Edmund fest, und dem konnte Trevor nur zustimmen.
    „Hier!“, meinte Trevor und drückte Edmund den abgebrochenen Knochen in die Hand.
    Sichtlich unterdrückte Edmund den Kotzreiz. „Widerlich …“
    Trevor durchwühlte rasch das Gerümpel vor ihnen und fand ein kleines Messer. Dieses gab er dann Edmund und nahm lieber wieder den Knochen an sich. Die beiden Kannibalen kamen von beiden Seiten um den Felsen herum. „Ihr kommt hier nicht mehr raus. Wir haben den Ausgang versperrt, um die Steuern des Königs zu beschützen“, erklärte der menschenfressende Kassenwart.
    „Hah! Aber es gibt einen Ausgang!“, wiederholte Edmund euphorisch.
    Trevor und Edmund standen Rücken an Rücken, um beide Seiten abzudecken. Der Händlersohn fuchtelte wild mit dem Messer vor sich her, während Trevor dem Kassenwart das spitze Ende des Knochens entgegenhielt.
    „Tut uns leid, wir sind ungenießbar“, meinte Trevor.
    „Du vielleicht, aber bei dir muss man das Muskelfleisch nur lange genug kochen …“
    Trevor stach zu, aber der Kannibale wich aus. Er warf dabei die Feuerschale neben sich um und steckte die Stofffetzen am Boden in Brand.
    Trevor schlug mit seiner Faust zu und traf diesmal den Kannibalen. Ein zweiter Schlag brachte den Kerl zu Boden, weshalb er sich zu Edmund wandte und diesen neben sich stellte. Noch einmal stach Trevor mit dem Knochen zu und traf den Kerl, dessen Haupt gebrannt hatte, im Kehlkopf. Ein Schwall Blut trat hervor, der Edmund mitten im Gesicht, und Trevor am Oberkörper traf.
    Der Kannibale röchelte, und Trevor rammte ihm den Knochen tiefer in den Hals, weshalb ein zweiter Blutschwall auf ihnen landete.
    Geradezu apathisch stand Edmund da und spuckte das Blut aus. Nur sein rechtes Augenlid zuckte. Trevor war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.
    Unterdessen rappelte sich der Kannibale hinter ihnen wieder auf.
    Edmund und Trevor wandten sich ihm zu. Edmund betrachtete das Messer, dann seine Kleidung. Danach nahm er Anlauf, schrie und schubste den Kerl rücklings ins Feuer am Boden.
    Trevor stand erstaunt da. Edmund schien wirklich die Schnauze voll zu haben – und das nicht nur vom Blut. Aber nach der heroischen Tat, stolperte der Händlersohn über einen kleinen Felsen direkt in die Arme des angeketteten Kerls, der wohl teils die letzte Mahlzeit war. Zumindest hätte das den fehlenden Arm erklärt. Dabei flog das Messer quer durch den Raum. Trevor ignorierte den brennenden Kannibalen, der wild mit seinen Armen herumfuchtelte und in die Richtung rannte, aus der Edmund und Trevor gekommen waren. Stattdessen ergriff der Formwandler den Knochen, der noch im Hals des anderen steckte und lief auf beide zu.
    Ein spitzer Schrei erklang von Edmund, als der angekettete Kannibale ihn zu Boden warf. Anscheinend versuchte der Kannibale, Edmund in die Nase zu beißen. Gesicht an Gesicht biss der angekettete Kerl ins Leere, solange, bis ihm Trevor den Knochen in den Hinterkopf rammte. Zumindest landete dieses Blut nur auf Edmunds Kleidung und diesmal nicht in seinem Gesicht.
    „Das ist alles widerlich!“, schrie der Händlersohn und warf den Toten von sich. „Wie kann man so leben?“
    Trevor zuckte mit seinen Schultern. „Vermutlich sind sie wahnsinnig geworden.“
    „Ach wirklich?! Mir kamen sie ganz bei Sinnen vor ...“
    Trevor reichte Edmund seine Hand und half ihm auf. "Dann stell keine Fragen, wenn du die Antwort kennst."

    Beide waren über und über mit Blut bedeckt und sahen oder rochen selbst nicht besser als die Kerle aus der Höhle. „Aber wir haben den Schatz“, versuchte Trevor die Stimmung zu verbessern.
    Edmund wimmerte. „Ich will mich nur noch waschen. Diesen Geruch werde ich nie wieder los, das weiß ich.“
    „Lass uns erstmal hier rauskommen!“, erwiderte Trevor und klopfte Edmund aufmunternd auf die Schulter.
    Rasch sammelten sie alles Gold ein, verstauten es in der Kiste und schlossen sie. Der Ausgang befand sich sicherlich in dem Teil der Höhle, aus dem die Kannibalen gekommen waren. Allerdings bereuten die beiden schnell, nicht mehr gänzlich unter dem Einfluss der Substanz zu stehen, die sie eingeatmet hatten. Haut hing an Leinen von der Decke. Sicherlich war über die Hälfte der Crew gegessen worden. Knochenberge lagen herum und es stank bestialisch. Selbst Trevor musste sich zusammenreißen. Der Geruch brannte ihm in den Augen. Edmund schnappte sich ein einigermaßen – nicht blutverseuchtes – Tuch und wickelte es sich um Nase und Mund.
    „Halte nach einem großen Felsen Ausschau“, meinte Trevor. Er war sich sicher, dass die Besatzung damit den Ausgang versperrt hatte.
    Zu ihrem Unmut befand sich nur ein großer Felsen in der Höhle. Und dieser befand sich hinter dem größten Berg an Fleisch und Knochen.
    „Es war klar … so klar“, nuschelte Edmund wütend hinter seinem Tuch.
    Trevor hielt sich seinen Arm schützend vor die Nase und schaute sich den Felsen genau an. Durch einen kleinen Ritz erkannte er Tageslicht. „Ja, das ist der Fels … Allerdings müssen wir die Leichenteile wegschaffen, damit ich ihn schieben kann.“
    „Du hast nicht zufälligerweise noch eine Schippe in deiner Hose?“
    „Wenn, würde ich mir Gedanken machen“
    , erwiderte Trevor nachdenklich.
    Wenn sie in die Freiheit wollten, kamen sie nicht drum herum. Sie mussten den Ausgang freischaffen.
    „Kein Wort hierrüber … zu niemanden!“, forderte Edmund.
    „Keine Sorge … Es ist auch nicht mein glorreichstes Erlebnis.“
    Tatsächlich schafften es beide, den Ausgang so weit zu befreien, dass Trevor den Felsen wegschieben konnte. Sie ergriffen die Kiste und machten, dass sie aus der Höhle kamen.

    Es dauerte eine Weile, bis sie mit der Schatzkiste durch den unwegsamen Dschungel gelangt waren. Am Strand angekommen, ließen beide die Kiste hinter Esther und Nelli fallen, welche sich mit großen Augen zu ihnen herumdrehten.
    „Was ist denn … mit euch passiert?“, fragte Nelli schockiert, während Esther versucht war, sich die Nase zuzuhalten. Wer wollte es ihr verübeln?
    „Nichts!“, sprachen Edmund und Trevor mit einer Stimme. „Wir wollen nicht darüber reden!“
    Trevor schnipste ein Stück Fleisch von seiner Schulter, und Edmund ergriff ein Stück Haut von seiner Kleidung und warf es angewidert zur Seite.
    „Wir haben den Schatz gefunden!“, ergänzte Trevor und lachte unsicher mit hoher Stimme. „Und jetzt gehen wir uns waschen. Einfach … nur … waschen.“
    Die beiden ließen die verwundert dreinblickenden Frauen hinter sich und liefen geradewegs zum Strand.

    Edmund fuchtelte gehend mit seiner rechten Hand vor sich herum. "Scheiß Schmetterlinge ... haut ab!"

    „Wie war dein Tag so?“, wollte Trevor von Edmund wissen.
    „Ich bin froh, gerade keine Gerüche mehr sehen zu können …“
    Trevor nickte, während das violette Pferd Richtung Sonnenuntergang ritt.

  • Edmund schimpfte und fluchte, als er das Hemd schrubbte. Es war eine Sache, durch eine Höhle auf einer einsamen Insel zu irren, in der ihm singende Feen, tanzende Pilze und menschenfressende Halsabschneider auf die Nerven gingen…
    Kurz musste er über das Wortspiel kichern…
    Halsabschneider..
    Er räusperte sich.
    Das war das eine. Aber welcher Kerl mit geistiger Umnachtung war auf die Idee gekommen weiße Hemden für Arbeiter zu nähen? Sie verfärbten in der Sonne. Sie wurden dreckig. Und Blut machte darauf Flecken, die einfach nicht auszuwaschen waren.
    Da spielte es auch keine Rolle, dass Baumwolle und Leinen von Natur aus weiß war! Oder eben bereits ausgebleicht aussah mit diesem scheußlichen Gelbstich…
    „Das bekommst du so nicht raus", meinte Trevor, der es bereits aufgegeben hatte, seine Sachen weiter zu malträtieren. Sein Hemd hielt er in der Hand, den Rest trug er wieder am Leib. Störte ihn der Dreck etwa gar nicht?
    Wobei … zurückgedacht, macht ihm das Blut vermutlich nichts aus. Mir aber schon!
    „Ach, was du nicht sagst.“ Edmund knirschte die Zähne.
    „Zitrone hilft", meinte Nelli. Die Hexe, die so nicht genannt werden wollte, aber nun mal genau das war, kam an die Quelle und musterte die beiden Männer.
    „Ich Idiot“, zischte Edmund, verzichtete darauf, sich die Hand vor den Kopf zu schlagen, „ich besorge gleich welche auf dem Markt für schiffbrüchige Reisende!“
    Das Blut von Geisteskranken hatte ihn von Kopf bis Fuß verschmutzt. Von anderen Körperfetzen ganz zu schweigen, durch die er sich hatte graben müssen. Das Gefühl bekam er nie mehr von der Haut. Den Anblick nicht mehr aus dem Kopf. Und diesen verdammten Fleck nicht mehr aus diesem bescheuerten Hemd! Und nun noch diese dumme Randbemerkung der Alten!
    Denkbar schlechter Zeitpunkt für Ratschläge, altes Weib!
    „Was machst du hier überhaupt, Oma?“, warf Trevor ein, wohl, um eine nahende Grundsatzdiskussion zu unterbinden.
    Warum nannte er die Alte immer Oma? Er war doch gar nicht mit ihr verwandt?!
    Oder doch?
    Sie war alt. Also passte „Alte“ doch viel besser. Und sie war eine Hexe, aber so wollte sie nicht genannt werden. Beim Namen nannte doch auch Trevor sie nicht. Und dennoch hatte sich die Alte über Oma noch nicht beschwert.
    „Ich wollte baden, und dachte, ich schau mal, wie weit die Geheimniskrämer sind.“ Sie hob auffordernd die Augenbrauen, bohrte aber nicht weiter. Besser so. Weder Edmund noch Trevor würden darüber reden. Auch, wenn ersichtlich war, dass Nelli gerne gewusst hätte, was passiert war. Und vermutlich war sie auch hier, um sich zu vergewissern, dass keiner von ihnen verletzt wurde.
    Was ihn am meisten daran nervte!
    Ihm brannte noch der Scham der Situation am Strand in den Wangen, wenn er nur daran dachte. Das kratzte an seinem Ego!
    Edmund gab das Schrubben an seinem Hemd auf und erhob sich.
    „Tu dir keinen Zwang an. Ich bin sowieso weg.“
    Er griff nach dem erstbesten Hemd auf der Leine und warf es sich über. Es kratzte, war zu weit und hing an ihm wie ein Kleid. Entweder war er kleiner als gedacht, oder die damalige Mannschaft hatte Riesen beschäftigt. Was ihm bei dem Erlebnis in der Höhle auch nicht mehr verwundert hätte.
    „Ach, du musst nicht gehen. Ich habe auch kein Problem damit vor euch nackt zu baden.“ Auf Nellis Gesicht bildete sich ein Grinsen, das aus einer Mischung aus Belustigung, Bösartigkeit und vor allem Falten bestand.
    „Ich habe aber ein Problem damit, dich nackt zu sehen, O- … altes Weib!“
    Beinahe hätte er es auch gesagt!
    Wo kam das denn her?
    Edmund wandte sich um, knöpfte das Hemd zu und winkte ab. „Frag nochmal, wenn du wieder dein Teufelszeug der Jugend getrunken hast! Dann helfe ich dir vielleicht sogar beim Ausziehen.“
    Den schweren Schritten hinter sich zu urteilen, hatte auch Trevor wenig Lust darauf, der Alten beim Baden zuzuschauen. Oder er wollte nur am Schiff weiterarbeiten.
    Edmund betrachtete Trevor nachdenklich. Die Alte beschwerte sich, dass er sie Hexe nannte. Dabei war sie das. Trevor nannte sie Oma. Darüber beschwerte sie sich nicht. Bei ihrem Namen nannte aber auch Trevor sie selten bis nie. Warum also verlange es die Hexe von ihm?
    „Warum nennst du die alte Hexe immer Oma?“, rutschte es ihm heraus, ehe er die Worte hätte zurückhalten können. Sofort ärgerte er sich darüber, konnte es aber schlecht zurücknehmen.
    „Sie erinnert mich an meine Oma. Eigensinnig, stur, überlebt die meisten um sich herum ..."
    „Das trifft es erstaunlich gut“,
    sie ist stur und überlebt uns noch alle, „aber was hat sie gegen altes Weib? Sie ist ja auch alt...Was ist an "Oma" besser?"
    Trevor blickte ihn an, als würde er gerade mit einer stinkenden Socken als Hut Limbo über Murmeln tanzen. Irgendwas zwischen Unglaube und Verwirrung.
    „Ich meine es als eine Art Kosename, da sie mich 'Junge' nannte. Ich degradiere sie mit dem Namen oder beleidige sie nicht damit. Stell dir vor, ich würde dich die ganze Zeit Lauch nennen oder halbe Portion ... Angsthase, Schisser, Mädchen, Gnom, Meerjungfrau ... Muttersöhnchen ..."
    Autsch…
    „Das waren ein paar Bezeichnungen zu viel ...", gab Edmund zerknirscht von sich. Ich nenne dich doch auch nicht Monster, du dämlicher Pirat!
    „Ich wollte es nur untermalen ..." Trevor lächelte. „Jemanden ständig auf Schwächen hinzuweisen ist nicht nett. Sei es das Alter, körperliche Merkmale oder die abwertende Bezeichnung von Heilerinnen."
    „Jaja", winkte Edmund ab. Jetzt nervte ihn die Belehrung. Er war doch nicht dumm. Aber das Alter als eine Schwäche hinzustellen, war nicht seine Absicht gewesen. Im Grunde sah er dies auch nicht als Schwäche und so weit er es bisher einschätzen konnte, war die Hexe deshalb auch nicht schwach … Immerhin besaß sie den Schneid ihm auf die Nerven zu gehen! „Ich habe es ja verstanden", knurrte er genervt. „Das mit der Hexe hat sie ja erklärt, aber", er überlegte kurz, „Peternella klingt nun mal dumm und ... " Nelli geht mir einfach nicht über die Lippen ...
    „Dann nenn sie doch auch Oma, wenn sie dich 'Junge' nennt." Trevor zuckte die Schultern.
    „Aber sie ist nicht meine Oma!", gab Edmund entrüstet zurück. Der Gedanke war abwegig! Weit abwegiger als der Name Peternella oder Nelli! Auch wenn es ihm vorhin beinahe über die Lippen gekommen war!
    „Dann bleibt dir nur Nelli.“
    Das habe ich befürchtet…
    Das war nicht fair. Die Alte nannte ihn Wendy und er musste sich ihrer Anweisung beugen, weil er sie sonst beleidigte? Irgendwas in ihm weigerte sich, dem nachzugeben. Womit hatte sie sich das denn verdient? Sie nervte ihn doch nur! Nichts hatte sie sich verdient! Vor allem nicht seinen Respekt!
    „Ich denk drüber nach", grummelte er nur, als sie am Lager ankamen. Fakt war, ‚Nelli‘ kam nicht in Frage! Eine Verniedlichung hatte das klapprige Ledergestell von allen Bezeichnungen am wenigsten verdient!

    Edmunds Blick glitt zum Schiff. Und mit einem Mal war der irrsinnige Gedanke an die Hexe aus seinem Kopf verschwunden.
    „Was glaubst du, wie lange wir noch brauchen?“, wollte er von Trevor wissen.
    Dieser wog den Kopf, sah vom Schiff zu ihm, dann zum Schiff zurück und dann wieder zu Edmund.
    Doppel-Autsch …
    „Vielleicht eine Woche?“, nochmal musterte er ihn. „Vielleicht auch zwei."

    Dreifach-Autsch ...

    Edmund schluckte die Beschwerde darüber, dass dieser Erkenntnis erst eine Musterung von ihm vorausgehen musste, hinunter. Die Freude endlich die Insel hinter sich zu lassen, war dafür einfach zu groß.
    Nur noch eine Woche ... oder zwei....
    „Und wohin dann?“ Esther trat zögerlich an sie heran. Ihrem Blick lag ein Ausdruck bei, der durchaus besorgt wirken könnte, Edmund aber nicht weiter interessierte. Nach der Insel würde er diese Gestalten hinter sich lassen und dann konnten sie besorgt dreinblicken wie sie wollten. Und in Nellis Fall omamäßig andere „Jungen“ nerven.
    „Wenn wir uns nicht verrechnet haben“, damit meinte er sich und Trevor, „dann sind wir vom ursprünglichen Ziel zu weit abgekommen. Mit dieser Nussschale kommen wir dort wohl nicht an. Realistisch gesehen, sollten wir die ersten bewohnten Inseln ansteuern und dort werde ich schauen, wie es weitergeht.“
    „Ich schätze, wir sollten dann Ausrüstung und Vorräte auffüllen und das Schiff ordentlich reparieren lassen", schob Trevor nach.
    Edmund wollte erwidern, dass er kein Wir sah, nachdem sie wieder im bewohnten Teil der Welt angekommen waren, aber Esther unterbracht ihn, ehe er etwas sagen konnte.
    „Wie heißen die Inseln?“
    Sie sah zwischen ihnen beiden hin und her. Was interessierte sie sich plötzlich so sehr für ihren Kurs?
    „Laut der Karte des Kapitäns, Weiße Felseninseln, ein relativ großes Gebiet, mit offenbar größeren Inseln.“

    Ein Gebiet mitten in diesem verfluchten Schwarzen Fleck, das angeblich bewohnt war. Ihm aber rein gar nichts sagte. Auf den Karten Zuhause und seiner eigenen, die leider noch auf der Eleftheria war, auch nicht eingezeichnet. Logisch, schließlich ging man davon aus, dass es keine bewohnten Inseln im Schwarzen Fleck gab. Aber da über dieses Seegebiet sowieso zu wenig bekannt war, weil fast alle Schiffe hier sanken, war das auch nicht verwunderlich.

    Die meisten Seeleute umsegeln das Gebiet offenbar nicht umsonst, grummelte Edmund innerlich.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

  • Trevor sich nicht verrechnet. Knappe zwei Wochen später war das Schiff weitestgehend repariert, sodass der Formwandler davon ausging, dass es auch schwamm und nicht direkt unterging, sobald es die Wasserkante berührte. Zwar war es noch weit davon entfernt, um mit den vielen anderen Schiffen mithalten zu können, aber es würde reichen, um sie ans nächste Ziel zu bringen.

    Esther hatte zusammen mit Trevor einen Plan ausgearbeitet, um das Schiff wieder zu Wasser zu lassen, wobei die Hauptarbeit eindeutig bei ihr lag. Ihre Aufgabe war recht simpel: aufpassen, dass es weder umkippte noch stecken blieb oder ähnliches.

    Bevor es aber so weit war, beschlossen sie, zunächst ihre Habseligkeiten an Bord zu schaffen.

    Und so verschwendeten sie einen halben Tag damit, ihr Lager zusammenzuschlagen, die Kisten mit den Schätzen umherzuschleppen und die Ladung zu sichern. Alles wurde ein letztes Mal kontrolliert und es schien, als würde jeder seine Aufgabe genau kennen. Die Frauen prüften den Lagerbestand und richteten die Schlafstätten her, während die Männer die Segel begutachteten und die Kursberechnung kontrollierten.

    Als Esther hinter Nelli aus dem Unterdeck ins Freie trat, hockte Trevor über eine Karte gebeugt auf den Planken und sprach leise mit Edmund, der an der Reling lehnte.

    „Wir sind unten fertig“, sagte sie, woraufhin die beiden sich zu ihr umwandten.

    Trevor rollte die Karte zusammen, erhob sich und blickte in den Himmel. Und sah sie schließlich an. „Dann kann es losgehen. Bis du bereit?“

    Esther begriff, dass die Frage an sie gerichtet war, weshalb sie knapp nickte. Wobei … „Unser Schiff braucht einen Namen“, meinte sie.

    Eine Weile lang hing Stille über die Anwesenden.

    „Revenge“, brach Trevor dann das Schweigen. Der Formwandler wandte sich zu Edmund um, als würde er sich von diesem sein Einverständnis holen wollen.

    Esther wartete, während sie von einem zum anderen blickte. Ihr stand es wohl kaum zu, in der Hinsicht Einwände vorzubringen.

    Revenge … Das erschien ihr passend.

    Edmund machte eine Geste, die sie irgendwo zwischen einem Schulterzucken und nicken einordnen würde. „Warum nicht.“

    Als niemand etwas dazu sagte, trat Esther an die Reling und streckte ihren Zauberstab vor. „Dann haltet euch mal an der Revenge fest.“ Sie lächelte zuversichtlich. „Wir nehmen Fahrt auf.“

    Im Nachhinein überraschte es sie, dass die Revenge unbeschadet zurück ins Wasser geglitten war. Und Esther konnte nicht einmal sagen, wie genau sie das geschafft hatte. Wichtig war nur, dass sie dieses Hindernis hinter ihnen lag und sie nun einen Schritt weiter waren.

    Esther sah zur Insel zurück.

    Nicht ein einziges Mal hatte sie sich gefragt, welchen Namen sie trug.

    In Anbetracht dessen, dass sie diesen Ort nicht wieder sehen wollte, war ihr das aber auch egal. Sie nahmen Kurs auf die Weißen Felseninseln.

  • Das Schiff sank etwas ein, als sie sich vom Ufer entfernten und schwankte bedrohlich hin und her. Nelli umklammerte mit ihren knochigen Fingern die Reling. Es wäre schon wirklich bitter, wenn sie ausgerechnet jetzt sterben würden, weil sie versanken. Immerhin hatte sie auch überlebt, als Edmund sie an Land gerudert hatte und auch da war sie sich nie sicher gewesen, ob sie je wieder festes Land unter den Füßen haben würde oder ob Edmund sie einfach immer im Kreis lotste. Die Insel entfernte sich immer weiter von ihnen und die alte Heilerin zuckte zusammen, als lautes Jubelgeheul direkt neben ihr startete. Edmund und Trevor klatschten und johlten. Vor allem der Händlersohn schien ganz aus dem Häuschen.

    Auf Nimmerwiedersehen du dreckiges kleines Stück Erde ohne Bedeutung!“ rief er der Insel hinterher. Nelli fragte sich, ob dass das Eiland wirklich interessieren würde. Das war schon lange vor ihnen da gewesen und würde auch noch lang nach ihnen da sein. Ein leises Seufzen kam über ihre Lippen. Immerhin würden sie endlich von ihr weg kommen und konnten ihre Reise fortsetzen, gesetzt dem Fall, die „Revenge“ würde das mitmachen. Nicht, dass Nelli kein Vertrauen in die Jungs hatte, aber dieses Schiff war sicherlich nicht für endlos lange Seefahrten tauglich. „Revenge“ erschien auch ihr ein wirklich passender Name. Auch wenn er ihrer Meinung nach ob des Zustand des Bootes eher „Hoffnung“ oder „Handwerkerglück“ hätte lauten müssen.

    Schließlich besprachen sie, wie sie die Reise weiter gestalten wollten. Man beschloss, dass die Jungs tagsüber das Ruder und das Koordinieren übernehmen sollten, während Esther und sie selbst das nachts übernehmen würden. Dann mussten sie lediglich den Kurs halten und Nelli konnte sich immerhin anhand der Sterne halbwegs orientieren. Aber dennoch waren sie in diesem Moment alle zu aufgeregt um zu schlafen, zu beseelt von der Aussicht, endlich wieder in die Zivilisation zurück kehren zu können. Selbst Edmund schien seine schlechte Laune vergessen zu haben und schaffte es mit einem Teil der Vorräte ein Essen aufzufahren, was in ihrem aktuellen Zustand einem Festmahl glitt. Nelli war ebenfalls guter Dinge, optimistisch und gut gelaunt. Jedenfalls so lange, bis sie in ihre Tasche schaute und zur Feier des Tages die letzte Flasche ihres Schnaps' anbrechen wollte. „Habt ihr die Flasche mit der besonderen Medizin gesehen?“ fragte sie in die Runde und steckte ihren Kopf tief in ihren Beutel um jedes einzelne Fach zu durchsuchen. Peinliches Schweigen legte sich über die Gruppe und die Alte hob den Kopf. Ihr Blick glitt von Trevor zu Esther und schließlich zu Edmund.

    Ein Schiff fährt nicht, wenn es nicht getauft ist...“ brachte der Formwandler schließlich hervor und Nellis Augenbrauen schossen in die Höhe.

    Und wir hatten nichts anderes da, also dachten wir, dein Schnaps wäre ein würdiger Ersatz...“ fuhr er fort und ein entschuldigender Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

    Das war die letzte Flasche. Der letzte Rest“, erwiderte die Hexe und schüttelte den Kopf.

    Ich hoffe für euch, ihr verletzt euch nicht. Wenn doch, müsst ihr leider daran sterben, dass ich eure Wunden nicht reinigen kann“ fügte sie trocken hinzu und verzog ihre Lippen zu einem missbilligenden Strich. Diese junge Brut! Sie hätten doch nur fragen müssen. Dann hätte Nelli ihnen von der Kiste Wein erzählt, die sie bei einem Ausflug ins Innere der Insel gefunden hatte, aber aufgrund des Alters für nicht mehr trinkenswert erachtete hatte. Jedenfalls nachdem sie einen Schluck probiert hatte. Aber zur Taufe des Schiffes hätte es auf jeden Fall gereicht.

    Wenn diese Nussschale jetzt nicht das schnellste Boot diesseits des Meeres ist, dann weiß ich auch nicht weiter“, stellte sie dann aber noch mit einem leichten Schmunzeln fest, ehe sie einen Schluck von ihrem Tee nahm.

    Ein paar Tage vergingen, in denen sie sich jeweils mit dem Steuern des Schiffes abwechselten. Sie kamen gut voran und laut Edmunds Karte mussten sie auch schon nah an den Felseninseln sein.

    Mit zwischen den Lippen geklemmter Zunge hielt Nelli die Schere ruhig, während sie die dunklen Locken von Edmund zwischen ihre Finger zog.

    Und du bist sicher, dass du das kannst?“ fragte der Händlersohn und Nelli konnte das Misstrauen in seiner Stimme hören.

    Mach dir keine Sorgen. Ich habe meine eigenen Haare schon immer selber geschnitten, da wird das hier nicht groß anders sein“, antwortete sie fahrig, was ihn aber nicht sonderlich zu beruhigen schien. Stattdessen zog er seinen Kopf gerade weg, als sie die Schere ansetzen wollte.

    Ich hab es mir anders überlegt. Kannst du nicht erst mal an Trevor üben?“ Der Formwandler schaute ihn erstaunt an und fuhr sich durch die Haare, die er heute in einen Zopf gebunden hatte. Die waren wirklich deutlich länger als zu Beginn ihrer Reise, aber im Gegensatz zu Edmund schien ihn das nicht zu stören. Auch, dass sein Bart deutlich länger und wilder geworden war schien ihm nichts auszumachen, während der Händlersohn nun schon seit Tagen klagte, dass er keinen Spiegel hatte um sich zu rasieren. Aber Nelli durfte ihm auch nicht zur Hand gehen. Das sollte mal einer verstehen.

    Die alte Heilerin stemmte die Hände in die Hüfte und wollte gerade etwas erwidern, als das Schiff einen heftigen Schlag von der Seite bekam und zu Schwanken begann. Nelli konnte sie gerade noch so fest halten, ansonsten hätte sie mit den harten Planken der „Revenge“ Bekanntschaft geschlossen. Esther stolperte die Treppe nach oben, sie hatte bis gerade noch geschlafen.

    Was war das denn?“ wollte sie wissen und rieb sich die Stirn, die sie sich wohl eingeschlagen hatte. Trevor lehnte sich über die Reling und anhand seines Blickes wusste die Hexe, dass es nichts Gutes war.

    Edmund, leicht backbord lenken und alle Segel setzen“, wies er an und seine Stimme klang deutlich danach, dass er keinen Widerspruch dulden würde. Was Edmund natürlich nicht hinderte, es trotzdem zu versuchen. Mit einem genervten Seufzen fragte er: „Wieso? Was ist da denn so grausames?“ Seine Worte troffen vor Ironie und Unglauben, doch Trevors Blick brachte ihn zum Schweigen und ließen ihn ernst werden.

    Da ist ein Riesenkraken, der gerade ein anderes Schiff frühstückt. Ich wäre ungern der Nachtisch.“

  • Edmund bewegte sich immer noch nicht. Stattdessen hielt er den Blick auf den riesigen Kraken gerichtet, der gerade das Schiff in der Ferne zerstörte, als wäre es Kinderspielzeug. Es gab also doch Seeungeheuer... das oder er hatte hetig eines auf den Schädel bekommen.
    „Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Insel doch noch vermissen würde…“, entfuhr es ihm.
    „Beweg dich endlich!“, schrie Trevor von irgendwo auf dem Schiff zu ihm rüber.
    Edmund wollte fragen, wohin er sich denn bewegen sollte, verzichtete aber darauf. Wenn selbst das riesige Schiff keine Chance hatte, was sollten sie dann mit ihrem schwimmenden Sarg anfangen? Vielleicht meinte er auch, dass er von Bord springen und zur Insel zurückschwimmen sollte? Oder wohin sonst hatte er denn vor zu verschwinden? Das Meer war ja wohl offenkundig das Revier dieser ... Dinger! Und wenn das Vieh sie bemerkte, konnten sie sich bewegen, wohin sie wollten, da war nichts mit Flucht! Und spätestens dann wurde das Schiff wirklich zu ihrem Sarg.
    Sein Blick glitt zu dem anderen Schiff. Der Krake war damit beinahe fertig und zertrümmerte gerade fröhlich eine Schiffswand.

    „Heute noch, wenn es geht!“, versetzte Trevor nochmal. Und Edmund musste aufpassen, kein gedehntes "Jaha" auszustoßen.
    Mechanisch lief er schließlich zum Steuerrad und ließ den Blick über ihre Schrottschüssel schweifen. Esther und Nelli behielten am Heck ebenfalls den Kraken im Blick, während sich Trevor über die Seile zu den Segeln bewegte.
    „Hat jemand einen Plan?“, rief er Trevor zu, während er das Steuerrat drehte und das Schiff nach Backbord fahren ließ. Trevor richtete derweil die Segel neu aus, damit diese weiterhin im Wind standen.
    „Weg hier.“
    „Toller Plan!“
    , gab Edmund zurück. Da stellte der Kerl ihn an als wäre er ein Lakai und dann hatte er nicht einmal einen Plan!
    „Entschuldige, das nächste Mal, nehme ich ein paar Bäume mit, um sie nach Riesenkraken zu werfen!“
    War das Angst, die er in Trevors Stimme vernahm? Das konnte wohl kaum sein. Denn wenn selbst der Formwandler Angst hatte, was sollte er dann machen? Wenn hier einer ein Anrecht auf Angst hatte, dann war es ja wohl er. Und nicht der Kerl, der Bäume werfen konnte!
    „Da sind Menschen!“, meinte Esther. Die Adlige senkte das Fernglas, das sie auf dem Schiff gefunden hatten. Die Linse war milchig, aber offenbar erkannte man immer noch genug.
    Was auch sonst? Selten fuhr ein Schiff ohne Besatzung.
    „Und?“, fragte er deshalb zerknirscht.
    „Müssen wir ihnen nicht helfen?“
    Esther sah sie der Reihe nach an.
    „Klar schwimm rüber“, kommentierte Edmund bissig. „Sie freuen sich sicherlich dabei zuzuschauen, wie du ebenfalls zu Kleinholz verarbeitet wirst!“
    Zu seinem Erstaunen stimmte ihm sogar mal jemand zu. Trevor nickte.
    „Wir können nach dem Angriff nach Überlebenden schauen, aber niemandem nützt es, wenn wir auch in die Tiefe gerissen zu werden.“
    Wären sie nicht dem Tod geweiht gewesen, hätte sich Edmund sogar dazu herabgelassen, sich bei Trevor für den Zuspruch zu bedanken.

    Esther dagegen sah aus, als wollte sie weiter protestieren und auch Nelli erhob den Finger. Doch im Gegensatz zu der Jüngeren nickte die Hexe schließlich.
    „Wir kommen zurück“, versicherte Trevor an Esther gewandt. Womit die Magierin zwar nicht zufrieden, aber einverstanden war.


    Edmund blickte zu dem sinkenden Schiff und für einen kurzen Moment hatte er tatsächlich die irrsinnige Hoffnung, dass sie aus der Sache lebend herauskommen würden. Dann ging ein Ruck durch das Schiff und neben ihnen schoss ein Tentakel aus dem Wasser. Im gleichen Moment riss Esther ihren Zauberstab in die Höhe und ein Schutzschild entstand um sie herum. Der Tentakel knallte gegen das Schild und ließ es aufleuchten. Esther keuchte auf und geriet ins Schwanken. Nur mit Mühe konnte sie sich auf den Beinen und den Schild aufrecht erhalten.
    „Es gibt einen zweiten!“, rief Trevor aus. Das war eine Aussage, der es an Offensichtlichkeit nicht mangelte.
    „Wie kommst du denn darauf?“, ranzte Edmund zurück, bereits mit der Überlegung beschäftigt, ob er von Bord springen sollte. Stattdessen krallte er sich am Steuerrad fest, als würde ihm das lächerliche Ding irgendwas nützen.
    „Ich kann das nicht lange halten!“, rief Esther ihnen zu. Zwei weitere Tentakel wollten sich um das Schiff schließen und prallten auf ihren Schild.
    Und was sollen wir jetzt machen?
    Edmund blickte zu den Segeln. Der Schutzschild schützte sie vor dem Angriff, dem sie sicherlich nicht davon fahren konnten. Aber der Schild verhinderte auch, dass der Wind die Segel überhaupt aufblähen konnte. Sie saßen in der Falle. Ohne Wind konnten sie nicht weiterfahren, aber ohne Schild würden sie einfach zerdrückt.

    Er war nicht für Gewalt, aber eine Kanone wäre in diesem Moment sicherlich hilfreich.

    Was genau war eigentlich mein Problem mit der Langeweile in Sonnental?! Ob der Moment gut war, sich irgendwo ängstlich einzuigeln und auf das Beste zu hoffen?

    Trevor entfuhr ein verzweifelter und langatmiger Fluch.
    „Okay, Trevor. Du bist dran! Ich setze darauf, dass du das Vieh im Faustkampf besiegst!“, rief Edmund ihm zu.
    Offenbar war es an Deck auch nicht mehr sicher. Dann also doch ins Meer und um sein Leben schwimmen? Sollte er sich noch die Schuhe ausziehen, ehe er sprang?
    Allein der Gedanke an dieses Vieh im Wasser ließ es ihm übel aufstoßen. Auf der anderen Seite: wie viel Interesse konnte das Ding an einer einzelnen wegschwimmenden Gestalt haben, wenn es doch ein Schiff zerlegen konnte? Wieder andererseits, was hatte das Ding überhaupt für ein Interesse an ihrem Schiff, wenn es sicherlich irgendwo etwas Nahrhafteres zu Fressen gab als Holz? Oder schmeckte Kraken Holz? Oder wollte das Ding an ihre Vorräte! Sauerei!
    „Nur, dass der Kraken mehr Fäuste hat“, stieß Trevor frustriert aus. Er holte einen Säbel unter Deck hervor und drückte Edmund zu seinem Unmut ebenfalls eine Waffe in die Hand. Eher widerwillig und mit spitzen Fingern umgriff Edmund die Klinge. Er wollte nicht kämpfen. Und vor allem nicht gegen einen Kraken. Das Ding war ihm acht zu zwei überlegen.
    Edmund unterdrückte den Drang panisch über das Deck zu rennen. Und nahm sich kurz die Zeit, die Tentakel näher zu mustern. Für einen Kraken hatten sie eine seltsam lilablaue Färbung. Ob das Ding auch noch giftig war?
    „Was machen wir jetzt?“, wiederholte Nelli Edmunds Gedanken. Die Alte klammerte sich an die Reling. „Esther kann das nicht ewig halten!“


    Ironischerweise geriet in eben diesem Moment die Revenge ins Schwanken, als einer der Tentakel erneut auf das Schiff einschlug.

    Edmund verlor das Gleichgewicht und rutschte über das Deck. Der Schutzschild um das Schiff verschwand, als Esther ins Straucheln geriet. Unmittelbar neben ihr schlug einer der riesigen Arme auf das Holz und ließ dieses verdächtig knirschen. Vermutlich brach das Schiff nur nicht, weil Esthers Schild noch den Großteil des Schwungs abgefangen hatte.

    Sowohl Esther als auch Edmund purzelten über das Deck. Unter dem Schiff erklang ein Grummeln, das durch das Holz vibrierte. Ganz so als würde das Vieh freudig lachen.
    Mistvieh!
    Als Edmund endlich zum Liegen kam, fiel sein Blick auf Trevor, der mit einem der Krakenarme focht. Neben ihm schlug Nelli mit ihrem Stock auf einen anderen Tentakel ein und beschimpfte das Vieh mit allem, was ihr verbal zur Verfügung stand. Was diesen aber wenig zu jucken schien. Stur umarmte der Krake weiterhin das Schiff und schlang sich um den Mast. Sie hatten bedenklich Schräglage, weshalb alles umherrutscht.

    Esther suchte derweil panisch den Boden ab. Hatte die ihren Stab etwa schon wieder verloren? Wie konnte sie ständig ihren Zauberstab aus den Händen verlieren? Wenn man einen Magier schon mal brauchte, ließ er seine Waffe einfach fallen!
    Irgendwann binde ich das Teil an ihr fest!
    Edmund stemmte sich hoch, bekam aber im gleichen Moment die Füße weggezogen. Etwas schlang sich um sein Bein. Der Säbel fiel ihm aus der Hand, als er mit dem Körper aufschlug und in die Höhe gezogen wurde.

    Er schrie auf, als er den Boden unter den Füßen verlor. Warum war ausgerechnet er der Erste, der sterben musste? Warum nicht die alte Hexe? War sie zu zäh? Dann Esther! Oder wenigstens Trevor! Warum ausgerechnet er? Das war ja wohl nicht gerecht!
    „Die anderen schmecken viel besser“, schrie er.
    Die Reise war eine kurze gewesen und tatsächlich war das Schiff nicht einfach abgesoffen, wie er es eigentlich erwartet hatte, sondern wurde von einem vermaledeiten Kraken aufgefuttert. Scheinbar hatte sich wirklich alles und jeder gegen ihn verschworen!
    Irgendwer schrie seinen Namen. Aber das war ihm herzlich egal. Fiel diesen Schwachköpfen nichts Besseres ein, als seinen Namen zu rufen?
    Wieder drang ein Brummen unter dem Schiff hervor. Edmund sah, wie Trevor auf den Tentakel einstach, der ihn festhielt. Leider recht erfolglos. Es machte den Kraken nur wütender und sorgte dafür, dass Edmund wenig elegant durch die Gegend geschleudert wurde. Das Blau des Himmels und des Wassers verschwamm in einen einheitlichen Brei. Ihm wurde übel.
    „Wenn dir nichts Besseres einfällt, dann hör auf damit!“, schrie er.
    Das Schleudern hörte auf, weshalb Edmund erschöpft in der Luft hängen blieb. Er kämpfte dagegen an, dass sich weiterhin alles um ihn herum drehte.
    Neben dem Schiff tauchte der riesige Kopf des Viehs auf und musterte Trevor. Wie Edmund fand beinahe vorwurfsvoll.
    Ja, entschuldige, dass sich die Beute wehrt, du dummes Vieh!
    Die Augen des Kraken richteten sich auf ihn und sein Maul öffnete sich. Ein Brüllen erklang. Und der Gestank nach Fisch drang ihm entgegen. Dann wurde er schon wieder durchgeschüttelt.
    Das war nicht so gemeint!
    Kurz bevor er sich doch noch übergeben musste, hielt die Bewegung des Kraken erneut inne. Und Edmund fühlte sich wie ein Fisch, der kopfüber zum Trocknen aufgehängt worden war.
    Er blickte in den schwarzen Schlund.
    Das stinkt ja schlimmer als die Absteigen in Sonnental! Edmund verzog das Gesicht und hielt sich die Hand vor Nase und Mund. Allein der Stand reichte, damit er nun wirklich spürte, wie ihm sein Essen hochkommen wollte. Das Vieh hätte sich zumindest die Zähne putzen können, ehe er die Tentakel an ihn legte und auch noch im Begriff war, ihn zu fressen! Schäm dich!
    Wieder wurde er herumgeschwenkt, weshalb er sah, wie seine anderen drei Begleiter mit den restlichen sieben Fangarmen kämpften. Irgendwo brach sogar ein Stück aus dem Schiff.
    „Könntet ihr mal aufhören, mit dem Vieh zu spielen und mir helfen?!“
    Mit den Fäusten versuchte er auf die schleimige Haut des Kraken einzuboxen. Was schwerer war, als gedacht, da sich die Haut anfühlte wie das, was sich auf der Milch bildete, wenn man diese ohne Rühren erhitzte.
    Lass mich runter und verpiss dich, verdammt!
    Der Tentakel senkte sich. Und Edmund sah sich schon im Schlund des Viehs verschwinden, klatschte dann aber zu Boden.
    Der Krake hatte ihn wieder an Deck des Schiffes fallen lassen.
    Verwirrt sah sich Edmund um. Die Tentakel zogen sich zurück und ließen seine Kameraden ebenso überrascht an Deck stehen, wie er sich fühlte.
    Lediglich ein Tentakel klammerte sich weiterhin an der Reling fest. Der Kopf des Kraken blickte darüber und musterte das Deck. Dann ihn.
    Edmund kroch zurück. Die schwarzen Augen des Ungetüms folgten ihm. Wieder erklang das Brummen. Es war laut genug, dass es weit über das Meer schallen musste.
    Irgendwas am Blick des Viehs verunsicherte ihn.
    „Der andere Krake verschwindet“, hörte er Nelli irgendwo hinter sich flüstern.
    Die Augen des Tiers glitten kurz zu Nelli. Dann tauchte es unter die Wasseroberfläche. Erneut das Brummen, diesmal erfolgte eine Antwort aus der Richtung, in der das andere Schiff gesunken war. Unterhielten sie sich? Hatten die beiden beschlossen, sie in Ruhe zu lassen? Hatte das Holz nicht geschmeckt?
    Das Wasser schwabbte gegen das Schiff und ließ es noch einen Moment hin und her schwanken, dann blieb es ruhig im Meer liegen.
    „Ähm…“, war alles, was Edmund herausbrachte, ehe er sich nach den anderen umsah. Der Schock stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben.

    „Dann können wir wohl doch noch nach Überlebenden schauen“, durchbrach Nelli mit kratziger Stimme das Schweigen.

    Während sich Edmund nun doch erhob und zur Reling hechtete, um sich zu übergeben. Die stürmigste See war nichts im Vergleich zu einem Kraken, der einen schüttelte wie ein nasses Laken und stank wie eine ganze Höhle toter Schwachköpfe!



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -

    4 Mal editiert, zuletzt von Kyelia (14. Januar 2024 um 09:11)

  • Mit gemischten Gefühlen beobachtete Agatha Eckerharth das sich seinem Ende nahendem Schauspiel. Der Riesenkrake hatte ganze Arbeit geleistet und das Schiff wie ein übereifriger Holzfäller in seine Einzelteile zerhackt. Trümmer und Fässer schwammen an ihr vorbei. Auf einem Stück konnte sie noch den Namen des Schiffes lesen: Unsinkbar II. Ich hätte sofort hellhörig werden sollen ...

    Teilnahmslos betrachtete sie von ihrem Ruderboot aus, wie die letzten Schreie verstummten. Während der Kapitän von der Mannschaft verlangt hatte, das Schiff zu verteidigen, hatte sie sich klammheimlich eines der Beiboote geschnappt. Zusätzlich hatte sie die anderen Boote ebenfalls zu Wasser gelassen. Überlebende, die sie nach dem Gemetzel wegen Verrat ins Wasser werfen wollten, konnte sie nicht gebrauchen. Ein paar mehr Wasserleichen, die das Boot für sie antreiben konnten, umso mehr. Schließlich hatte sie das einzige ohne Ruder erwischt.

    Sie seufzte und schlang die Arme um die Beine. Solange sie sich still verhielt, sollte der Riesenkrake sie nicht angreifen. Es gab ein interessantere Ziele. Inzwischen stand auch das zweite Schiff unter Belagerung. Ihr Kapitän musste gedacht haben, dass sie es mit dieser Verstärkung schaffen konnten. Tja, leider hatte die Gegenfraktion auch Verstärkung bekommen. Böse Zufälle gab es ... Manchmal bekam sie das Gefühl, sie zog das Unglück magisch an. Erst eine inkompetente Crew, dann die Sache mit dem Skorbut und jetzt das!

    Vor ihnen zogen die Tentakeln die letzten Überlebenden unter Wasser. Verdammt, dachte Agatha. Bei der Rate wird am Ende keine Leiche für einen Zombie übrig bleiben, der mich zur nächsten Insel paddelt ...

    Es platschte und ihr Blick fiel auf ihren Kater Wilmor, der sich den gefangenen Fisch mit seiner Pfote ins Maul katapultierte.

    Agatha stutze. Fisch? Während zwei Riesenkraken fröhlich durchs Meer wüteten?

    Sie besah sich den Fang ihres Begleiters genauer, den er ihr mit stolzer Brust vor die Füße warf. Es war Stockfisch.

    Munter sprang Wilmor wieder nach vorne, um mit seiner Tatze weitere Nahrung aus dem Meer zu retten.

    Agatha zog ihn zurück. „Scheuch das Wasser nicht auf. Wir wollen nicht, dass die Ungetüme auf uns aufmerksam werden, hörst du?“

    Störrisch befreite sich der Kater aus ihrem Griff, um wieder über den Rand des Bootes zu spähen.

    Ich sagte, du sollst das Wasser nicht aufscheuchen!“, fauchte Agatha und rammte ihren Dolch in den Rücken des Katers.

    Wilmor maunzte empört. Abgesehen davon ging es ihm gut. Schließlich war er ein Zombie.

    Ein lautes Brummen ließ sie innehalten. Das Geräusch schallte über das Meer und brachte ihr Inneres zum Vibrieren. War das der Kraken? Das Geräusch wiederholte sich in der Ferne, bevor die Antwort aus ihrer Nähe erklang.

    Überrascht sah sie, wie sich der zweite Kraken von dem anderen Schiff zurückzog und wieder ins Meer abtauchte. Was soll das? Reicht den beiden etwa ein Schiff mit seiner Besatzung als Mahlzeit? Lasst mir wenigstens eine Leiche übrig!

    Suchend blickte sie über die Wellen. Trümmer, Fässer, Seile, ein hässlicher Hut ... aber keine toten Matrosen. Stattdessen bemerkte sie, wie sich das zweite Schiff nun in ihre Richtung bewegte. Eine Stimme rief etwas vom Deck aus über den Ozean in ihre Richtung. Was wollen die hier? Fracht plündern?

    Schützend duckte sie sich, was bei der erhöhten Aussicht des Schiffes wohl kaum von Nutzen war, um sich zu verbergen. Was soll ich tun? Soll ich auf mich aufmerksam machen? Gut möglich, dass sie mich gefangen nehmen. Oder in eine vollkommen falsche Richtung segeln. Verstecken kann ich mich nicht, also ...

    Ihr Blick fiel auf das rote Pentagramm, welches sie als Vorbereitung für eine Zombieerweckung bereits auf den Boden gemalt hatte, während um sie herum der Kraken gewütet hatte.

    Mist“, entfuhr es ihr und hastig versuchte sie die Linien mit dem Ärmel ihres Hemdes wegzuwischen. Auf keinen Fall durfte irgendetwas darauf hinweisen, dass sie eine Nekromantin war. Die meisten Menschen reagierten eher ungehalten darauf, wenn man die Toten wieder auf der Erde wandeln ließ.

    Hastig tunkte sie den Ärmel ins Wasser und allmählich begann sich die Farbe aufzulösen. Unterdessen kamen die Stimmen immer näher.

    Ooooooiiii, lebt hier noch irgendwer?“

    Idiot, dachte sie, während sich das Schiff immer weiter näherte. Lasst mich in Ruhe, ich brauche eure Hilfe nicht. Es sei denn, ihr kippt plötzlich tot um, um dann nach meiner Pfeife zu tanzen!

    Hastig griff sie nach den bereits beschriebenen Fluchzetteln mit den Zombiebefehlen und steckte sie hastig in die Tasche ihres Gürtels.

    Hey, da drüben treibt jemand in einem Boot!“

    Hastig warf Agatha sich ihre Weste über. Denn außerdem durften die Neuankömmlinge nicht bemerken, dass sie eine Frau war, wenn sie als Matrose dort anheuern wollte. Das brachte immer nur Probleme mit sich.

    Bereit und gewappnet winkte sie dem Schiff zu. Eine Begegnung ließ sich jetzt eh nicht mehr vermeiden. Was sagen Menschen in so einer Situation?

    Hier drüben! Hier drüben bin ich!“

    Inzwischen hatte sie das Schiff erreicht. Bei genauerer Betrachtung wollte Agatha ihre Aussage wieder zurückziehen und lieber das Gegenteil rufen. Dass Schiff, wenn es denn diese Bezeichnung verdiente, wirkte eher, als wäre es aus alten Bauteilen notdürftig zusammengeflickt worden. Ihr Rettungsboot mochte sehr viel kleiner sein, doch wirkte es um einiges sicherer. Jetzt gibt es kein Zurück mehr ...

    Zwei Männer lugten über die Reling und warfen ihr zwei Seile zu. „Hier, befestige das an deinem Boot, wir ziehen dich hoch.“

    Sie tat wie geheißen und tatsächlich zog man sie hoch. Dabei erklang eine angefressene Stimme: „Ein Überlebender soll das sein? Was hat der noch in seinem Boot dabei? Ziegelsteine?“

    Endlich war das Boot oben und eine Hand wurde ihr gereicht. Sie gehörte zu einem Mann mit langen braunen Haaren, der sie mit einem kräftigen Ruck an Board zog. „Du hast Glück, dass wir gerade in der Nähe waren. Gibt es noch weitere Überlebenden?“

    So weit ich weiß nicht“, erwiderte Agatha wahrheitsgemäß. „Das Ungetüm hat sie alle erwischt, bevor sie mein Boot erreichen konnten. Nur ich und Wilmor haben es geschafft.“

    Ihr Retter kniff skeptisch die Augenbrauen zusammen, ging aber nicht weiter darauf ein. „Gut, suchen wir weiter. Es können noch mehr überlebt haben.“

    Agatha atmete auf. So weit so gut! Sie bemerkte, dass außer den beiden Männern, die sie hochgezogen hatten, auch zwei Frauen an Board waren. Eine, die nur etwas älter als sie sein konnte und eine, die es definitiv war.

    Gerade überlegte sie noch, ob sie sich mit ihrem wirklichen statt ihrem männlichen Decknamen vorstellen sollte, als die Alte plötzlich ausrief: „Gute Güte, da steckt ein Dolch in deinem Kater!“

    • Offizieller Beitrag

    Trevor starrte auf die getigerte Katze hinunter. Gut sichtbar steckte ein Dolch im armen Tier.
    Muss wohl im Trubel passiert sein … Armes Ding …
    „Wir sollten das Vieh erlösen!“, meinte Edmund.
    „Nein!“, stieß der fremde Matrose aus. „Ich … kümmere mich schon um ihn.“
    Ihn? Also ein Kater!
    „Worum willst du dich da kümmern? Dieser Kater ist dem Tod geweiht“, erwiderte Nelli.
    „Ach, der hat schon mehr als das überlebt!“ Der schmächtige Matrose schnappte sich den Kater, grinste übertrieben drein und begann, sich umzusehen. „Wo kann ich ihn behandeln?“
    „In der Küche. Da steht auch ein Kochtopf“, erklärte Edmund, dessen Blick seine Absicht verriet.
    Wilmor fauchte.
    Trevor musste zugeben, dass Katzen nicht direkt auf seinem Speiseplan standen, aber nach Tagen mit Fisch und Obst hätte er allmählich auch gerne etwas anderes auf seinem Teller gesehen.
    Der Blick des Matrosen wurde finster. „Wilmor wird nicht gegessen!“
    „Du kannst ihn sicherlich in einem der Zimmer … behandeln … erlösen“, wandte Esther freundlich ein, schien sich aber auch unsicher, was es bei einem Dolch im Rücken zu retten gab.
    Trevor betrachtete die Gruppe. „Vermutlich ist es besser, du nimmst mein Zimmer. Als zwei Seemänner … werden wir uns schon einig“, schlug er vorsichtig vor.
    Bei Edmund war er sich nicht sicher, ob er dem Tier nicht umgehend heimlich das Fell abzog und zu Kater-Ragù verarbeitete. Ester war eine junge Frau und Nelli … Der Matrose war erst einen kurzen Moment auf dem Schiff. Er war noch nicht bereit für Nelli.
    Umgehend zeigte Trevor dem Fremden sein Zimmer, woraufhin dieser hinein ging und dem Formwandler nach einem knappen „Danke“ die Tür vor der Nase zuschlug. Verdutzt blieb er vor der Tür stehen. „Ehm … brauchst du Hilfe?“
    „Nein!“
    „Soll ich dir ein paar Verbände bringen?“
    „Nein! Halt! Doch! Das wäre sehr freundlich!“

    Trevor ging zögerlich los, holte ein paar Verbände aus der Vorratskammer und war gerade dabei, die Tür wieder zu schließen, als dahinter Nelli auftauchte. Ein spitzer Schrei entfuhr ihm, und die Verbände flogen wahllos durch die Gegend.
    „Irgendetwas stimmt mit diesem Matrosen nicht!“, sagte sie ohne Umschweif.
    Schwer atmend von dem Schreck, schaute Trevor auf Nelli hinunter. „Ayeee?!“
    „Sei vorsichtig!“
    „Werde ich sein“, antwortete Trevor und hob die Verbände wieder auf. „Er ist sicherlich nur etwas durcheinander. Immerhin wurde sein Schiff gerade von einem riesigen Kraken zerlegt.“
    „Möglich, aber ich habe da so ein Gefühl.“
    Musternd betrachtete Trevor die alte Frau. „Ein Gefühl?“
    „Ein Gefühl!“
    „Welcher Art?“
    „So ein Gefühl eben. Dieses schmerzende, brennende Gefühl im Bauch, wenn etwas nicht stimmt.“
    „Das nennt man Sodbrennen“
    , kam aus der Tür zur Küche, in der nun Edmund stand, knapp gefolgt von Esther.
    „Ich bin alt genug, Sodbrennen von einem unheilvollen Vorboten unterscheiden zu können, Junge“, widersprach Nelli und bedachte Edmund mit einem ernsten Blick.
    „Wenn du meinst …“, gab Edmund schnaubend von sich.
    Esther atmete sichtlich erschöpft durch. „Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, bevor wir ihn und den Kater direkt wieder ins Meer werfen. Wir haben ihn gerettet, also sind wir jetzt auch ein bisschen für ihn verantwortlich.“
    „Großartig. Noch mehr Mäuler …“, nuschelte Edmund und fuhr sich genervt über sein Gesicht. „Das eines klar ist: Von dem Schatz bekommt er nicht eine Münze.“
    Trevor schenkte Esther ein Lächeln. Zumindest eine Person, die nicht direkt in allem etwas Schlechtes sah. „Wir sollten dafür sorgen, schnell von hier wegzukommen“, gab Trevor zu bedenken. „Wer weiß, ob der Kraken noch einmal auftaucht.“
    Darin war sich die Gruppe zumindest einig. Noch einmal wollten sie dem Ding nicht begegnen. Also beschlossen sie, so schnell es ging, die Segel zu setzen und von diesem Teil des Meeres zu verschwinden.
    Trevor ging indes zu seinem Zimmer, aus dem er ein lautes Mauzen zu hören war. Er klopfte, und kurz darauf ging die Tür einen Spalt auf.
    Musternd betrachtete der Matrose den Formwandler, schnappte sich die Verbände und verschloss die Tür wieder. „Gern geschehen!“, rief Trevor hinterher und begab sich an Deck.
    Der Rest der Gruppe war dabei, für die schnelle Flucht zu sorgen und nach dem Zustand des Schiffes zu schauen. Es war zum Glück – und Esther - einigermaßen heil geblieben. Eine ganze Weile trieben auf ihrem Weg noch die Trümmerteile des anderen Schiffes neben ihnen her, aber bald schon erinnerte nichts mehr an den Angriff.
    Das war auch der Moment, in dem der Matrose an Deck kam. Er hielt den Kater in Händen, der fast vollständig von den Verbänden umwickelt war.
    Erstaunt sahen alle das Tier an.
    „Ich sagte doch, dass er schon Schlimmeres überlebt hat.“
    „Wie überaus … erstaunlich“
    , murmelte Edmund neben Trevor, der sein Abendessen dahingehen sah.
    „Übrigens, mein Name ist Andre. Ich hatte mich wohl im Trubel vergessen vorzustellen“, fuhr der Matrose fort. „Und vielen Dank für die Hilfe.“ Er ließ den Kater hinunter, der daraufhin munter davonlief.
    Skeptisch sah Nelli dem Tier hinterher. „Das ist wirklich … erstaunlich.“
    „Wir haben gerne geholfen“, erwiderte Esther und stellte alle vor.
    Der Matrose sah jeden abwechselnd an und nickte dem Genannten zu. „Sooo“, sagte Andre nach einem Moment des peinlichen Schweigens. „Und wo soll es hingehen?“
    „Egal!“, antwortete Edmund. „Hauptsache, es ist Land, es gibt etwas zu essen und Geschäfte.“
    Wahrscheinlich war es erstmal klüger, dem Fremden nicht alles haarklein zu erzählen. Allem voran nicht von dem Schatz, der sich im Laderaum befand.
    Andre merkte sicherlich, wie er von allen betrachtet wurde.
    Trevor musste zugeben, dass er bei seiner Statur sicherlich noch nicht lange auf See unterwegs war. Es wunderte ihn beinahe, dass Andre die Katze nicht schon längst selbst gefressen hatte. Die schmächtigen Arme, die dünnen Beine … Selbst Edmund sah neben dem jungen Mann fett aus. Aber diesen Vergleich verkniff sich Trevor, laut auszusprechen. Nicht ein einzelnes Barthaar war im Gesicht zu sehen … Trevor zuckte, ob seiner Gedanken, mit den Schultern. Vielleicht war er noch sehr jung?
    Die Sonne neigte sich, und sie beschlossen, abwechselnd Wache zu halten und für den richtigen Kurs zu sorgen. Alle außer Andre. Dieser war erst einmal außen vor, denn niemand wusste, ob er das Schiff nicht vielleicht in eine andere Richtung lenken würde. Wenn sie die bisherige Reise etwas gelehrt hatte, dann, dass fremden Matrosen nicht immer zu trauen war.
    Trevor übernahm bereitwillig die erste Wache, solange sich Andre in seinem Zimmer, in seinem Bett ausruhte. Mitten in der Nacht zog er dann Edmund an seinen Beinen aus dem Bett, dass dieser die zweite Wache übernahm. Schlaftrunken wankte dieser an Deck, fluchte leise vor sich, was Trevor mit einem Grinsen bedachte. Aber auch bei ihm machte sich Müdigkeit breit, sodass er sich in das Zimmer begab, in dem Andre feste schlief. Zumindest wirkte es so. Mit einem Kissen und einer kratzigen Decke gewappnet, entledigte sich Trevor teils seiner Kleindung und legte sich auf den Boden. Er hatte schon unbequemer geschlafen … Dachte er zumindest. Just in diesem Moment, mauzte es neben ihm.
    Der Kater lief zuerst auf ihm herum und legte sich dann dreist auf sein Gesicht. „Großartig …“, murmelte Trevor und schob den Kater weg.

  • Mit angespannter Miene blickte Esther nach vorn und beobachtete, wie die steilen Felsen, die ob der Sonne blendeten, immer dichter kamen. Sie war bisher noch nicht oft mit einem Schiff unterwegs gewesen, doch noch nie hatte sie sich so sehr nach Land unter ihren Füßen gesehnt wie jetzt. Es überraschte sie doch über alle Maße, dass die Revenge sie alle über das Wasser trug. Nicht nur ihrer zweifelhaften Reparaturfähigkeiten wegen, sondern auch der zahlreichen kaputten Stellen nach dem Angriff des Riesenkraken. Oder sollte sie besser Monster sagen? Das Vieh hatte um ein Haar ihren Zauberstab zerschmettert.

    Sie stieß sich von der Reling ab und verschwand ins Unterdeck. Es war an der Zeit, sich etwas von dem Schatz zu sichern. Das Erste, was sie davon kaufen würde, war neue Kleidung. Nichts gegen die einfache Kleidung, aber sie war dann doch etwas anderes gewohnt.

    Auf dem Weg nach unten, huschte der junge Andre an ihr vorbei, auf dem Arm immer noch das verletzte Tier.

    Der hat es aber eilig …

    Verwirrt sah sie ihm nach. Sie teilte Nellis Bedenken. Irgendetwas stimmte mit Andre nicht. Und sie würde herausfinden, was es war.

    Sie klaubte schnell ihre Sachen zusammen, was sich im Wesentlichen aus den Magiesteinen, ihrem Zauberstab, etwas Geld und dem Stein, den sie einst von Trevor erhalten hatte, zusammensetzte. Beim Einpacken, fiel ihr das Tuch, mit welchem Trevor das Blut des Decksmannes vom Dolch gewischt hatte, in die Hände. Nach kurzem Überlegen zückte sie ihren Zauberstab. Ein Versuch war es immerhin wert. Es dauerte nicht lange und der Spruch war über ihre Lippen gerollt. Jetzt hieß es abwarten, ob ihr Stab bald eine Reaktion zeigte. Sie rechnete allerdings nicht damit, den Kerl in der Nähe zu finden.

    An Deck half sie dabei, die Revenge zum Anlegen klar zu machen.

    Sie wusste nicht, was sie von den weißen Felseninseln erwartet hatte, aber so ein gigantischer Hafen war es sicherlich nicht. Auch die zwischen den steilen Felshängen erbauten Häuser beeindruckte sie. Allem Anschein nach bot dieser Ort doch einiges. Arm wirkten die Bewohner auf den ersten Mal zumindest nicht.

    Die Einfahrt in den Hafen gestaltete sich doch schwieriger als erwartet, da sie an einigen aus dem Wasser ragenden Felsen vorbei mussten.

    Kurz erwog Esther den Gedanken, einen Schild zu errichten, da sie immer wieder nur haarscharf an den kantigen Steinen vorbeischrammten. Außerdem wusste sie nicht, was sie an Land erwartete, daher wollte sie ihre Kraft lieber aufsparen, zumal ihr Aufspürungszauber ihr ohnehin schon einiges an Energie entzog.

    Trevor stand der Schweiß auf der Stirn, während er anwies, was sie zu tun hatten.

    Während Edmund immer wieder bissige Kommentare von sich hören ließ, hatte Esther zu tun, nicht gleich über Bord zu gehen. Wer hier ein Schiff sicher hindurchsteuern konnte, musste mit Glück gesegnet sein. Das hatte mit Können nichts mehr zu tun.

    Trotz aller Widrigkeiten und ihrem offensichtlichen Ungeschick schafften sie es, einen der zahlreichen Stege anzusteuern.

    „Jetzt sachte!“, rief Trevor, doch gleich darauf donnerte die Revenge gegen die Kante und knarzte bedrohlich.

    Esther strauchelte. Das war alles andere als sachte. Unsicher beugte sie sich über die Reling und begutachtete die Schiffswand. „Zumindest scheint nichts beschädigt worden zu sein“, mutmaßte sie.

    „Nicht mehr als ohnehin schon, meinst du wohl eher“, gab Edmund von sich.

    Esther rollte die Augen. Es gab wohl keinen Tag, an dem der Händlersohn nicht meckerte. Sie verkniff sich jeden weiteren Kommentar.

    Kaum hatten Trevor und Edmund das Schiff festgezurrt, stapfte ein runder Kerl auf sie zu und begrüßte sie lautstark auf den strahlenden weißen Felseninseln.

    Es folgte ein Wortwechsel, von dem nur einige Bruchstücke wie Geld, Wucher und Abzocke zu ihr hinüberdrangen.

    Sie sah, wie Edmund dem Mann genervt einige Geldstücke in die Hand drückte.

    „Und was jetzt?“, fragte sie in die Runde, nachdem Trevor wieder an Bord geklettert war.

    „Edmund will sich umschauen“, meinte der Formwandler und deute mit dem Daumen hinter sich.

    Wenn das so war … „Ihr könnt sicherlich auch eine Weile auf mich verzichten, oder?“

    Trevors Antwort war eine Mischung aus Schulterzucken und Nicken. „Ich sehe mir den Schaden am Schiff an. Wir sollten auch unsere Vorräte wieder auffüllen.“

    Esther war sich nicht sicher, ob ihr Lager die Bezeichnung Vorrat überhaupt verdiente, nickte aber zustimmend. „Ich schau mal, ob ich geeignete Händler finde“, versprach sie und stieg vom Schiff. Edmund war längst außer Sichtweite.

    Seltsamerweise betrübte sie es etwas, dass er es offenkundig nicht für nötig hielt auf einen von ihnen zu warten.

    Ihre Beine trugen sie mitten durch belebte Straßen, an zahlreichen kleinen Läden und Verkaufsbuden vorbei. Sie konnte sich nichts ansehen, ohne direkt angesprochen zu werden. Einige Male versuchte jemand, ihr ein überteuertes Schmuckstück zu verkaufen oder sie mit seidenen Stoffen zu ködern.

    Davon überfordert, stieß sie blindlinks die Tür zu einem der Läden auf und floh hinein.

    Genervt pustete sie sich eine Strähne aus dem Gesicht.

    „Willkommen, willkommen!“, rief ihr jemand mit überschäumender Freundlichkeit entgegen und grinste sie breit an. „Kommt nur herein, schöne Dame, und seht Euch um! Hier findet Ihr alles, was Euer Herz begehrt! Schleifen, Bänder, Tanzschuhe, Hüte, maßgeschneiderte Mieder!“

    Esther hatte ihren Schock noch gar nicht überwunden, da wurde sie schon am Handgelenk ergriffen und weiter in den Laden gezogen. „Halt, wartet“, stotterte sie, bekam aber von dem dürren Verkäufer sogleich eine Schatulle mit glänzenden Ketten unter die Nase gehalten. Mit der freien Hand deutete er auf ein ausgestelltes Kleidungsstück. Er begann damit, weitere Dinge anzupreisen, von denen sie in Silberberg zuhauf besaß.

    „Haltet endlich den Mund!“, platzte es aus ihr heraus, woraufhin der Verkäufer verwirrt blinzelte.

    „Ihr wollt nichts kaufen?“, fragte er und klappte den Deckel der Truhe wieder zu.

    „Doch“, widersprach Esther, schnaufte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich hatte nur an etwas …“ Ihr Blick streifte das Kleid, welches im Moment noch eine Kleiderpuppe trug. „Ich brauche etwas Funktionales“, meinte sie dann. Allerdings schaffte sie es nicht, ihren Blick sofort von dem Kleid abzuwenden. Es war ein atembrauend schönes Kleid!

    Der Mann starrte sie an als wäre sie verrückt.

    „Könnt Ihr damit aufwarten oder nicht?“, wollte sie wissen.

    Schnell nickte der dünne Mann und winkte sie in eine andere Ecke des Ladens.

    Verunsichert schaute sie kurz hinter sich. Mit der Hand an ihrem Zauberstab folgte sie dem Kerl, wobei sie bemerkte, dass dieser Laden offenkundige Schätze beherbergte. War sie vielleicht doch nicht an einen gierigen Halsabschneider geraten?

    „Eurer Statur nach zu urteilen, sollten Euch diese Exemplare passen“, meinte er und breitete einige Kleidungsstücke auf einem Tisch aus.

    Sie bedachte erst den Händler mit einem skeptischen Blick und dann seine Ware. Überrascht stellte sie die einwandfreie Qualität fest, die Nähte waren sauber, nicht ein Faden linste hindurch. Auch der Stoff fühlte sich angenehm unter ihren Fingern an. Aber dennoch … irgendetwas fühlte sich falsch an. Die Teile passten nicht zu ihr.

    Sie trommelte mit den Fingern auf der Auslage herum und entdeckte hinter einigen zugemüllten Kisten etwas, dass ihre Aufmerksamkeit erregte. „Was ist damit? Steht es zum Verkauf?“

    „Oh, ich bin mir nicht sicher, ob das einer Dame wie euch gefallen wird“, meinte der Kerl und winkte ab.

    „Das zu beurteilen, solltet Ihr der Dame selbst überlassen, nicht wahr?“, säuselte sie und lächelte.

    Kaum hatte der Händler die Ware hervorgeholt, war es für Esther beschlossene Sache. Vorsichtig strich sie mit der Hand über den dunkelblauen Stoff des knöchellangen Gewandes. Die Jacke in gleicher Farbe fühlte sich robust an, der Lederbesatz an den Unterarmen sollten sie vor leichten Schnitten schützen. Die Silber glänzenden, verschnörkelten Muster am Kragen, dem Leder und an den Säumen verliehen den Kleidungsstücken etwas Edles, was Esther sehr gefiel. „Wie viel wollt Ihr dafür?“

    Nachdem sie sich über den Preis geeinigt hatten, kaufte sie noch weitere Einzelstücke bei dem Mann und kurz bevor sie ging, verlor die Vernunft und sie ließ sich auch noch das ausgestellte Kleid einpacken.

    Einige Zeit später und um etliches ärmer verließ sie vollbepackt das Geschäft und machte sich auf den Weg in das Badehaus, welches ihr von dem Verkäufer empfohlen wurde, wo sie sich zunächst mit einigen Seifen und Düften eindeckte.

    Dann ließ sie es sich im Wahrsten Sinne des Wortes gut gehen.

    Ein frisches Bad konnte wahrlich Wunder bewirken!

    Die neue Kleidung saß wie eine zweite Haut, wenn sie auch nicht dem Bild der typischen Gräfin entsprach. Unter ihrem neuen Gewand trug sie nun eine enge Hose und wadenhohe, schwarze Stiefel.

    Zufrieden schnappte sie sich ihren Zauberstab, woraufhin ein warnendes Kribbeln durch ihren Körper schoss. Alarmiert sah sie sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen.

    Dadurch nur noch mehr aufgeschreckt, sammelte sie ihr Hab und Gut zusammen und verließ das Badehaus, den Zauberstab in der Hand haltend.

    Immer wieder murmelte sie diese eine bestimmte Formel. Ob sie von den Menschen in ihrer Nähe für eine Irre gehalten wurde?

    Sie folgte dem immer stärker werdenden Gefühl im Körper, welches sie bis an das andere Ende des Hafens führte. Der Weg zurück zur Revenge dürfte sie einiges an Zeit kosten.

    Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie sich um. Dann entdeckte sie den Grund dafür, dass ihr Zauber angeschlagen war.

    Nur um sicher zu gehen, schlich sie etwas dichter heran und richtete ihren Zauber direkt auf ihn. Das war er! Eindeutig!

    Beinahe wäre ihr ein Jubelschrei entglitten, doch dann sah sie, dass der Kerl, dem das Blut gehörte, nicht auf die Elefteria stieg. Sondern auf ein Schiff, das den Namen Telara trug.

    Als sie das Wappen auf dem Hauptsegel sah, stockte ihr Herz für einen Schlag. Sie starrte das monströse Schiff mit großen Augen an.

    Was nun? Sie sollte zurück zur Revenge gehen und den Anderen davon berichten!

    Allerdings machte das nur Sinn, solange Edmund auch da war. Sie glaubte nicht, dass der sich sobald wieder blicken lassen würde. Und sie weigerte sich, die ganze Hafenstadt nach ihm abzusuchen.

    Entschlossen ging sie auf die Telara zu. „Bitte verzeiht“, sprach sie einen Mann an, der für sie den freundlichsten Anblick bot, und gerade dabei war, eines der Taue zu prüfen. Verwirrt blickte er zu ihr auf.

    Sie zauberte eines ihres schönsten Lächeln auf die Lippen. „Könnt Ihr mir sagen, wie lange der Kapitän mit seinem Schiff hier anliegen möchte?“

    „Was interessiert es Euch?“

    Also doch kein netter Kerl …

    Neben ihrem Lächeln ließ sie nun noch ihre Augen leuchten. „Nun … Dieses Schiff ist sehr … bewundernswert“, stammelte sie. Sie war einfach nicht für Lügengeschichten gemacht! „Mein Sohn, er.... liebt solch große Schiffe. Ich würde ihm gerne die Gelegenheit geben, ihm dieses … Prachtexemplar zu zeigen!“

    Der ältere Matrose zog die Augenbraue hoch und reckte das Kinn. Dann erst konnte sie den Kettenring an einem Hals sehen, der ansonsten von einem Halstuch verborgen war. Der Mann war ein Sklave!

    „Euer ... Sohn?“, fragte er mit deutlicher Skepsis in der Stimme, dein Blick streifte den Zauberstab in ihrer Hand.

    Sie blinzelte und sah kurz beschämt auf den Boden. Sie hatte ihn schon lange genug von seiner Arbeit abgehalten. Sollte sein Herr mitbekommen, dass er hier herumstand und mit ihr plauderte, gab es sicherlich mehr als Ärger.

    „Bitte entschuldigt die Störung“, brachte sie hervor und wollte sich abwenden, doch der Mann hielt sie am Handgelenk fest.

    „Drei Tage“, flüsterte er, ließ sie los und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, zu verschwinden.

    Die Gelegenheit ließ sie sich nicht nehmen. Ohne ein weiteres Wort bahnte sie sich einen Weg durch die Menge und brachte Abstand zwischen sich und der Telara.

    Drei Tage waren zumindest genug, um den Anderen davon berichten zu können. Sollte Edmund bis dahin nicht da sein, musste sie ihn eben zur Rückkehr zwingen. Einmal hatte das immerhin schon funktioniert.

  • Eigentlich hatte Edmund vorgehabt, sich um einen Handwerker zu kümmern, der die Löcher in der Revenge flickte. Bestenfalls mit Fachwissen und Material, das nicht gammelte oder schon beim Anschauen zerfiel. Ihr Schiff – wenn man es überhaupt so nennen wollte – sah sowieso schon aus, als hätte es ein impulsives Kleinkind zusammengenagelt und anschließend als Zielscheibe genutzt. Mehr Schrott als Schiff.
    Aber Kleidung, eine Rasur und ein Haarschnitt mit Bad waren wichtiger. So viel wichtiger als ein Schiff, das ihnen kaum jemand klauen würde. Und wenn doch, tat ihm der arme Trottel jetzt schon leid.
    „Du träumst“, hauchte ihm die Stimme der Frau ins Ohr, die hinter ihm hockte. Sie zupfte an seinen Locken und schnitt ab, was an die Verwilderung auf der Insel erinnerte. Oder zumindest, was sie dafür hielt. Es gefiel ihm nicht, ihr zu vertrauen. Und keinen Spiegel zu haben. „Ich hoffe doch von mir?“
    Das Nein lag ihm bereits auf der Zunge. So gut, war sie auch nicht gewesen, dass er auch noch von ihr träumen musste. Er verkniff es sich.
    Reize niemals eine Frau, die mit einer Klinge in der Nähe deines Halses hantiert.
    „Natürlich“, log er, setzte sein charmantestes Lächeln auf und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. Das heiße Wasser aus der warmen Quelle ließ ihre Wangen rötlich schimmern, ebenso die vollen roten Lippen. Der Rest ihres Körpers verschwand leider zwischen einem Vorhang brauner Haare. Allerdings hatte er genug gesehen, um zu wissen, dass sie ganz passabel aussah. Nichts, was er später nochmal anfassen würde und vor allem nichts, von dem er träumte. Was ein abwegiger Gedanke.
    „Dann wirst du jetzt dein Schiff zurückholen, richtig?“ Die zweite Brünette neben ihm legte den Kopf schräg auf ihre Arme auf dem Quellenrand und sah ihn verträumt aus ihren blauen Augen an. Sie trieb auf der Wasseroberfläche und bewegte leicht die Füße. Er wandte den Blick über ihren Rücken hinweg ab, bei dem sich die Wirbel unter der Haut sanft abzeichneten. Auch akzeptabel. Mehr nicht. Aber von der Tochter eines Schneiders, die ihm eigentlich nur seine neue Kleidung ins Badehaus hatte bringen sollen, war auch nicht mehr zu erwarten. Aber wer war er, sich zu beklagen? Ihren Namen hatte sie ihm auch genannt. Irgendwas mit einem A am Ende. Auch egal. Der Einfachheit halber war sie einfach Blauauge.
    „Ja“, meinte er abwesend und suchte mit den Augen den Raum ab. Seine Kleidung lag keine drei Schritte entfernt. So langsam sollte er verschwinden. Die beiden quasselten ihm sonst noch den Schmalz aus den Ohren.
    „Ich bin fertig“, meinte die Brünette hinter ihm. Auch ihr Name endete auf irgendwas mit E. Als ob er sich die Arbeit machen würde, sich diesen zu merken.
    E-Irgendwas legte die Schere weg, beugte sich vor, legte den Kopf auf seine Schulter und strich ihm über die Brust.
    Der Fluchtinstinkt, der ihn dabei ereilte, war in etwa so groß, wie die Angst, dass Esther nochmal auf die Idee kam zu kochen. Verdammt groß!
    Was war er? Eine Puppe, die man nach Lust und Laune antatschen konnte?
    E-Irgendwas seufzte zufrieden und schmiegt sich an ihn.
    Wie aufdringlich konnte man sein?
    „Es muss zauberhaft sein, mit seinen Freunden über das blaue Meer zu fahren“, meinte Blauauge mit leuchtenden Augen.
    Ja, zauberhaft, das war auch der Ausdruck, den er für die Tortur der letzten Monate wählen würde.
    Edmund streckte sich, entzog sich der Berührung und stieg aus dem Wasser. E-Irgendwas schmollte, lehnte sich dann aber an den Rand neben Blauauge.
    Beide beobachteten ihn.
    Er genoss es. Alles andere wäre gelogen gewesen. Auch wenn er aussah wie eine Scheibe Weißbrot, bei der man beim Grillen die Hälfte vergessen hatte. Er hätte das Hemd doch ausziehen sollen! Oder im Schatten bleiben! Oder sich komplett verhüllen sollen! Neben den vielen Schwielen an den Händen war er jetzt auch noch braun wie ein Arbeiter! Zumindest an den Armen. Zum Teufel mit dieser zugeschissenen Insel voller Kannibalen!
    Toll, nun genoss er es nicht mehr, von den beiden angeglotzt zu werden.
    Verhüllen war eine herausragend gute Idee.
    „Es ist bemerkenswert, dass ihr es geschafft habt, nur zu viert mit einem Schiff bis hierher zu segeln“, meinte Irgendwas mit E, „ihr seid wahrlich unglaublich.“
    „Seine Freunde sind schon okay, aber ohne Edmund wären sie doch nie so weit gekommen“, schwärmte Blauauge. „Vater sagt immer, man braucht einen hervorragenden Navigator, um durch die Stürme und die vielen Riffe zu kommen.“
    Endlich erkannte mal jemand sein Können an! Auch wenn es eine unwissende Schneiderstochter war und ihr Vater wahrscheinlich nicht mehr vom Meer kannte, als der Blick aus dem Klofenster! Naja, er nahm, was er bekommen konnte. So tief war er inzwischen gesunken.
    Edmund klaubte die schwarze Hose von einem Stapel und schlüpfte hinein. Sie passte perfekt, ebenso wie das weiße Hemd. Immerhin sein Handwerk verstand der Schneider.
    „Gehst du zurück zu deinen Freunden?“ Irgendwas mit E am Ende sah ihn neugierig an.
    Und wieder verleiteten ihre Worte ihn dazu, Nein zu sagen. Die anderen waren nicht seine Freunde. Trevor vielleicht. Der Rest war nerviger als in einem Ameisennest zu sitzen.
    „Erstmal muss ich etwas essen.“ Und er brauchte Wein. Viel davon, um die letzten Wochen und seine „Freunde“ zu vergessen. „Ihr habt nicht zufällig eine Empfehlung?“ Er lächelte die beiden Frauen an. Erfreulicherweise erröteten sie. Sein Aussehen machte also doch noch Eindruck. Zuletzt war er sich bei seinen versteiften Wegbegleitern nicht mehr so sicher gewesen. Vielleicht wirkte man aber auch nur gewaschen nicht mehr wie ein Streuner.
    „Ein Freund meines Vaters hat ein Gasthaus“, meinte Blauauge, Zum Goldenen Pfau heißt es. Vater schwärmt von dem Wildbraten und dem Wein da.“
    Irgendwas mit E am Ende nickte zustimmend. Wild und Wein klangen gut. Nach den langen Wochen voller Fisch, und Obst eine willkommene Abwechslung. Katze hatte er ja nicht bekommen.
    „Hervorragend.“ Edmund knöpfte die Weste zu und zog sich das neue Jackett mit den goldenen Stickereien über. Der schwarze Stoff war ebenso wie die Hose deutlich robuster als seine letzte Kleidung und hielt hoffentlich mehr aus.
    „Sagt mal, gibt es hier in der Nähe einen Händler, der auch Bücher verkauft?“
    Er wollte schauen, ob er Lektüre über das Wetter fand. Wenn er weiter den Navigator mimen wollte, war etwas mehr Wissen bezüglich der Stürme hilfreich. Vielleicht konnte ihm auch jemand sagen, in welcher Ecke dieses Seegebietes, die meisten Stürme auftrafen.
    Blauauge wog den Kopf.
    „Versuch‘ es mal bei Karls, der hat eine der größeren Sammlungen, andernfalls bleibt nur noch der Bürgermeister übrig“, sagte E-Irgendwas. Etwas Bedrücktes lag in ihrem Gesicht. Edmund hob die Augenbrauen.
    „Du kannst ihn nicht zum Bürgermeister schicken.“ Blauauge schien besorgt. Das klang ja schon wieder erbauend. Sie sah wieder zu Edmund. „Er ist ziemlich … verschlossen, lässt sich nie blicken, schickt immer nur seine Männer aus und würde wohl auch keines seiner Bücher verkaufen. Er ist…“
    „… kein sonderlich netter Mensch“
    , ergänzte E.
    Beide Frauen verzogen das Gesicht.
    Na dann, hineinhängen würde er sich da sicherlich nicht. Er hatte selbst genug Probleme, da brauchte er nicht noch mehr. Und einen „nicht sonderlich netten Mensch“ hatte er bereits daheim sitzen. Blieb zu hoffen, dass er bei dem Händler Karls Glück hatte.
    Es ließt sich an einer Hand abzählen, wann er das letzte Mal Glück gehabt hatte.
    Keine erfreulichen Aussichten.
    „Wie heißt der Bürgermeister denn?“ Nur für den Fall, dass er dem Clown begegnete.
    „Bürgermeister Rainer Karl von Kopf.“
    „Der Kerl heißt …“, Edmund fuhr sich über die Schläfen. „Gut, das werde ich mir merken können.“ Kein Wunder war der Kerl kein netter Mensch. Bei dem Namen? Ob der Karl auch kahl war? Reiner Glatzkopf.
    „Edmund?“, Blauauge schmollte ihn von unten an wie ein treudoofer Köter, „wenn uns die Sehnsucht packt, bist du dann heute Abend noch im Goldenen Pfau?“
    „Klar“
    , log er prompt und lächelte. Sollten sie doch Sehnsucht haben. Mehr als von weiten würden sie ihn nicht mehr bewundern dürfen. Es sei denn, er fand niemanden neuen. Was unwahrscheinlich war.
    Er schnappte sich seine restlichen Sachen – die traurigerweise nur aus zwei neuen Karten, Papier und Tinte bestanden, und dem Kompass, den er von Trevor bekommen hatte. Der Händler im Laden hatte versucht, ihm einen neuen anzudrehen. Und Edmund wusste bis jetzt nicht, warum er es abgelehnt hatte. Der Kompass war alt, hässlich - und Trevor hatte ihm das Ding gegeben. Also behielt er ihn.
    Er verstaute den Kompass in einem Beutel am Gürtel.
    Dann prüfte er seine Frisur in einem der Spiegel. Er musste zugeben, für die Tochter eines Badeshausbesitzers hatte E sich gut geschlagen. Schulterlang war jedoch ein Witz. Das war maximal noch eine Handbreite. Und die Seiten hatten sie ordentlich eingekürzt
    „Gefällt es dir?“, wollte E wissen.
    Edmund wog den Kopf.
    „Ungewohnt, aber ja.“ Er strich sich die Haare zurück. Blieb abzuwarten, wie sie aussahen, wenn sie trocken waren. Und ob er ihr dann die Haut von den Knochen ziehen musste, weil sie seine schönen Haare ruiniert hatte.
    „Das freut mich. Du siehst gut aus“, schmeichelte ihm E-Irgendwas.
    „Ich sehe immer gut aus“, meinte Edmund. Dann erkundigte er sich bei den beiden Frauen nach dem Weg zum Goldenen Pfau und verabschiedete sich mit einem letzten höflichen Lächeln.
    Auf Nimmerwiedersehen und danke für die Auskünfte!

    Auf der Straße vor dem Badehaus atmete er die salzige Luft ein. Nach den letzten Wochen kam es ihm regelrecht seltsam vor, wie einfach bisher alles funktioniert hatte. Er war weder davongejagt worden. Noch hatte man versucht ihn zu töten. Das stank zum Himmel. Gewaltig.
    Edmunds Magen knurrte und erinnerte ihn daran, seinen Weg vorzusetzen. Das Schiff konnte noch warten. Oder irgendeiner von den anderen kümmerte sich darum. War es seine Aufgabe? Nein.
    Er wollte gerade in eine Gasse abbiegen, als ihm eine bekannt Gestalt ins Auge sprang, die sich mit einem pelzigen Klumpen durch die Menschen der Gasse schlängelte. Auch nach mehreren Tagen war ihm dieser Andre immer noch suspekt. Irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht. Seine Anwesenheit ließ ihn nicht vernünftig schlafen. Von Trevor, der ihn mitten in der Nacht aus dem Bett schleifte, einmal abgesehen.
    Wie hatte dieser Typ den Angriff überleben können – samt Katze -, während alle anderen auf seinem Schiff gestorben oder gefressen worden waren?
    Edmund entschied sich kurzerhand für einen längeren Weg und lief lässig auf Andre zu, bis er ihm beschwingt in den Weg treten konnte. Der Kerl war sogar noch kleiner und schmächtiger als er. Was ein Wicht. Wenn sein Vater jemanden als weibisch bezeichnen wollte, dann ja wohl ihn.
    „Wie ich sehe, hast du das Schiff auch verlassen.“ Edmund grinste vor sich hin.
    „Ja“, meinte Andre lediglich. Der Kater fauchte Edmund an. Er ignorierte es.
    „Wohin soll es denn gehen?“ Vielleicht konnte er mehr aus diesem Typen herausbekommen.
    Wäre doch gelacht!
    „Weiß ich noch nicht.“ Andre wollte an ihm vorbei. Doch so schnell ließ sich ein Edmund nicht abwimmeln. Mit den Händen in den Taschen schlenderte er neben Andre her.
    „Dann stört es dich sicherlich nicht, wenn ich dich begleite, oder?“
    Es war genau die entgegengesetzte Richtung, in die er eigentlich wollte. So ein Mist!
    „Doch tatsächlich stört mich das“, kam es prompt als Antwort.
    Edmund fühlte sich nicht vor den Kopf gestoßen. Gar nicht. Überhaupt nicht.
    „Zum Glück war das nur eine Höflichkeitsfrage. Ich begleite dich trotzdem.“
    Edmund wartete keine Antwort ab und setzte sein charmantes Lächeln wieder auf.
    Das hilft immer.
    Andre sah ihn einen Moment verwirrt an dann erwiderte er: „Hör zu, ich bin dankbar für die Rettung, wirklich. Doch mehr ist nicht nötig. Ich komme ab jetzt alleine klar.“
    Oder auch nicht…
    Warum war er eigentlich nur noch von störrischen Idioten umgeben? Einer nerviger als der andere. War sein Aussehen gar nichts mehr wert?
    Und toll, dass sich der Kerl für die Rettung bedanke. Aber was war mit dem Rest? Er hatte für ihn gekocht! Und darauf verzichtet, die Katze zu braten! Etwas mehr Dankbarkeit war da sicher nicht zu viel verlangt. Vor allem ihm gegenüber!
    Wenigstens ein nettes „Gespräch“! Ein nettes Gespräch, bei dem er Andre ein paar Informationen aus der Nase ziehen und er damit dann bei den anderen angeben konnte. Auch sie hatten schon ihr Glück strapaziert, herauszufinden, was Andre verbarg. Es wäre doch gelacht, wenn er an dem Witzbold scheiterte.
    „Schade“, gab er von sich, „und ich dachte, ich kann dich vielleicht überreden, mit mir Essen zu gehen.“
    Diesen Moment nutzte Andres Magen, um lauthals auf sich aufmerksam zu machen.
    „Also, ich..."
    Erwischt. Edmunds Lächeln wurde noch eine Spur breiter.
    „Mir wurde ein Gasthaus empfohlen. Und ich würde dich natürlich auch einladen, so unter Freunden. Aber wenn du lieber allein zurechtkommst ... “ Er zuckte die Schultern.
    Andre kniff die Augen zusammen.
    „Komme ich auch!“ Sein Magen knurrte nochmals.
    Es hörte sich nicht so an, als würde er zurechtkommen.
    Beim Arsch der verdammten Tiefseegötter! Der war doch noch verkopfter als sie alle zusammen!
    „Jetzt stell dich nicht so an. Ich verspreche auch, dass ich meine Hände bei mir lasse.“ Er kreuzte die Finger hinter dem Rücken. Nur für alle Fälle.
    Für ein paar Informationen jemanden zum Essen einzuladen, entsprach nicht seinem üblichen Vorgehen. Aber warum nicht auch was Anderes versuchen?
    Andre haderte sichtlich mit sich.
    „Na schön“, sagte er schließlich. „Alles auf deine Kappe. Und danach gehen wir getrennte Wege.“
    Wenn der Kleine ihm gab, was er wollte, konnte er getrost bis zum Ende der Welt gehen oder sich im Hafen ertränken. War ihm dann auch egal.
    „Abgemacht“, meinte Edmund mit einem siegreichen Grinsen.
    Er legte ihm den Arm um die Schultern und schob ihn so die Straße entlang zurück in die andere Richtung.
    Andres Gesicht hätte ein Unwissender als bereuende Grimasse deuten können. Aber da Andre die seltene Gelegenheit hatte, mit ihm, Edmund, zu essen, und er auch noch für den Wicht bezahlte, konnte das nicht sein.
    „So viel zu, ‚ich lasse meine Hände bei mir‘“, hörte er Andre grummeln.
    „Ein freundschaftlicher Arm um die Schulter ist doch kein Problem, oder?“ Edmund grinste zufrieden vor sich hin. „Ich reiße dir immerhin nicht die Kleidung vom Leib.“
    Die Lumpen konnte der sich wenn schon selbst vom Leib reißen.
    „Versuch es und du endest wie Wilmor.“
    Der mumifizierte Kater auf Andres Arm maunzte zustimmend. Edmund betrachtete das hässliche Vieh geringschätzig.
    „Als was genau? Als Katze?“
    „Als halbtote Mumie.“

    Edmund hob irritiert die Augenbrauen.
    „Wenn dann schon als gutaussehende halbtote Mumie", betonte er. Immerhin sah er nicht so zerrupft aus. Und wie genau meinte er das? Lebte das Vieh oder war es tot?
    Andre maß ihn mit einem zweifelnden Blick, sagte aber nichts.
    Edmund nahm seinen Arm zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, während er Andre aus dem Augenwinkel bedachte.
    Was ein gesprächiger kleiner Mistkerl. Wie viel Wein wohl nötig war, um seine Zunge zu lockern?
    „Das ist keine normale Katze, oder?“, setzte er deshalb nach und nickte zu dem Tier.
    „Ja“, sagte Andre einsilbig. „Denn sie ist ungewöhnlich männlich für eine Katze. Für einen Kater ist sie ganz normal.“
    Ja, dann eben nicht.
    Du siehst auch zu weiblich aus, um männlich zu sein, Möchtegernmatrose.
    Offenbar würde er viel Wein benötigen. Vor allem für sich. Um den Kerl weiter zu ertragen.

    Für den Rest des Weges verzichtete Edmund auf weitere Gespräche. Und man sagte ihm, er wäre einsilbig. Pah!
    Vor der nächsten Straßenecke ragte schließlich ein großes Gebäude auf, das mit seiner frischen blauen Fassade auf sich aufmerksam machte. Ein goldener Pfau war auf ein Schild gemalt. Und die Fensterrahmen und – läden gelb abgesetzt.
    Unauffällig.
    Das Gasthaus machte von innen einen ähnlichen Eindruck wie von außen. Ordentlich. Gepflegt. Und mit verziertem Goldstuck an den Wänden und blauen Polstern auf den Stühlen. Der Raum war gut gefüllt, war aber nicht überrannt.
    Edmund fasste einen Tisch in der Mitte ins Auge, der ihm perfekt erschien. Er wollte gerade darauf zusteuern, als ein in Rosarot gekleideter Fettsack mit grell geschminkten Augen auf sie zukam.
    „Willkommen, Willkommen“, rief er bereits von weitem. Er breitete die Arme aus und wirkte dadurch wie ein Walross, das sich mit einem Papagei gepaart hatte, und nun auf sie zurollte. „Wie kann ich euch helfen? Ein Tisch für zwei?“
    Edmund überwand den ersten Schreck schnell und verzichtete auf den Hinweis, dass das bunte Outfit ein Verstoß gegen jedes vorhandene und nicht vorhandene Modebewusstsein darstellte. Zum Grellen Fettsack verkaufte sich aber wohl schlechter als Zum Goldenen Pfau. Tja…
    „Wir würden den Tisch nehmen.“ Edmund deutete auf den auserkorenen Platz.
    „Selbstverständlich!“ Der Paradiesvogel klatschte in die Hände. „Kann ich etwas zum Essen anbieten?“
    „Der Wildbraten soll wohl gut sein. Und Wein.“
    Der Fette nickte und verschwand zwischen den Tischen. Erstaunlich wie wendig er war. Ein bunter Haufen Stoff flatterte hinter ihm her und brachte fast eine Schankmaid zum Stolpern.
    „Eine ganz tolle Empfehlung“, gab Andre von sich, kaum, dass sie saßen. Und klang dabei seltsam angewidert.
    „Ich weiß nicht, was du hast. Der Fettsack sieht doch aus, als würde das Essen schmecken. Und mit genug Wein verschwimmt auch sein Anblick.“
    Edmund lehnte sich auf dem gepolsterten Stuhl zurück und betrachtete die anderen Gäste. Dabei entging ihm nicht, dass Andre die Augen verdrehte. Wobei sein Mundwinkel verräterisch zuckte.

    Verdammt viel Wein…

    Edmund schenkte seinen Tischnachbarn ein offenes Lächeln, als er hörte, wie sich diese über ihre Reiseroute austauschten und von Monstersichtungen sprachen.
    „Seid ihr auch einem Meeresmonster begegnet?“, mischte er sich in das Gespräch der anderen ein.
    „Nein“, meinte einer der Frauen. „Aber sagt nur, Ihr seid einem dieser Ungeheuer begegnet?“ Ihre Augen weiteren sich.
    Edmund nickte zufrieden. „Einer Riesenkrake.“ Er deutete auf Andre, der sich auf seinem Stuhl etwas kleiner machte. „Sein Schiff wurde völlig zerstört. Aber wir haben es geschafft zu entkommen und ihn zu retten.“
    Links beugte sich ein Mann näher, sichtlich interessiert.

    „Ach iwo, das hättet ihr nie überlebt“, meinte ein anderer Mann.

    „Gehört Euch das zerstörte Schiff im Hafen?“, wollte der Linke Mann wissen.
    Als Edmund grinsend erneut nickte, hatte er die Aufmerksamkeit einiger Leute, die gebannt auf eine spannende Geschichte warteten. Vielleicht musste er auch am Ende gar nichts bezahlen. Blieb abzuwarten, wie der Abend verlief.



    Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, aber das noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.
    - Toni Morrison -