Wie Esther hier saß und die Zeichen von der Kiste auf das Stück Seife duplizierte, kam sie sich vor wie eine Alchemistin. Da die Seife um einiges kleiner als die Kiste war, hatte sie sich ein Vergrößerungsglas ans Auge geklemmt und übertrug nun hochkonzentriert die einzelnen Zeichen und benetzte sie anschließend mit dem entsprechenden Zauber. Wenn die anderen sie jetzt beobachten könnten, hätten sie sie sicher für bekloppt erklärt oder ihr anerkennend auf die Schulter geklopft. Je nachdem, wer sie beobachtete …
Angespannt lehnte sie sich zurück. Ihre Schulter schmerzte, obwohl Nelli sich große Mühe gegeben hatte. Das Angebot von schmerzlindernden Mitteln hatte Esther ablehnen müssen. Zu groß waren die Bedenken, sich dadurch nicht mehr konzentrieren zu können. Im Nachhinein waren die Schmerzen allerdings nicht besser geeignet gewesen.
Sie nahm das Vergrößerungsglas ab, legte die feine Nadel beiseite und rieb sich die müden Augen.
Wenn sie das erledigt hatten, musste sie unbedingt etwas schlafen.
Sie schlug das Stück Seife mehrmals ein … nur für den Fall. Ob das dabei half, dass Trevor die Magie nicht so stark wahrnahm, wusste sie nicht, aber der Versuch schadete nicht.
Anschließend verstaute sie es noch einmal in einen Reisesack. Sie verzichtete aber darauf, ihn sich um die Schulter zu legen. Die Verletzung dankte ihr das sicher.
Hadernd begutachtete sie den Beutel. Auch wenn sie den Vorschlag eines Duplikates gut fand und auch die Idee mit der Seife eine gewisse Belustigung in ihr hervorrief, wollte sie sich nicht ausmalen, was geschah, wenn Thomas hinter alle dem kam. Aber daran durfte sie nicht denken, ihr Überleben hing quasi von dem Stück Seife ab.
Als sie auf dem Oberdeck ankam, blinzelte sie. Erschreckend, wie schnell die Zeit davongerannt war. Immerhin berührte die Sonne bereits den Horizont und der Himmel war betupft mit rot schimmernden Wolken.
Trotz des hereingebrochenen Abends arbeiteten die Handwerker weiter, als würden sie den Zeitdruck der Schiffsherren bemerken.
Unweit des Mastes sah Esther, wie Edmund und Trevor mit einem der Handwerker sprach, während Nelli auf einem Fass hockte und scheinbar in die Leere starrte. Mittlerweile kannte sie die Hexe gut genug, um zu wissen, dass dem nicht so war.
Esther ging auf Trevor und Edmund zu, während der Handwerker sich wieder seiner Arbeit widmete, worin auch immer diese bestand.
„Ich bin fertig“, sagte sie und schob den Reisesack etwas nach vorn, damit die beiden Männer ihn besser sehen konnten.
„Gut, dann sollten wir zusehen, dass wir das Teil schnell loswerden“, meinte Trevor und runzelte die Stirn.
Esther nickte schnell. „Deshalb würde ich vorschlagen, dass ich mich gleich auf den Weg mache.“
„Ich werde hier bleiben“, mischte sich Nelli plötzlich ein. Hatte sie eben nicht noch auf dem Fass gesessen? „Vermutlich würde ich euch sowieso nur im Weg stehen.“
Esther wollte das Wort erheben, weil sie eigentlich niemanden darum bitten wollten, sie zu begleiten. Wofür auch? Ein Stück Seife auf einen Karren werfen, schaffte sie auch allein.
„Dann komme ich mit dir mit, Esther“, beschloss Trevor, nachdem Edmund bekundet hatte, ebenfalls auf dem Schiff zu bleiben und bevor Esther überhaupt ihre nächsten Worte wählen konnte.
Komisch. Sollte Trevor nicht das Schiff hüten wegen seiner Verletzung? Aber möglicherweise wollte der Formwandler sie nur nicht alleine gehen lassen. Edmund schien von ihrem letzten gemeinsamen … Ausflug jedenfalls noch geheilt zu sein und verdenken konnte Esther es ihm nicht.
„In Ordnung.“ Sie nickte Trevor zu, der ihr die Tasche abnehmen wollte, woraufhin sie schnell einen Schritt zurückwich. „Das sollte lieber ich tragen. Es steckt voll mit Magie, aber keine Sorge, das kleine Stück Seife ist nicht schwer“, sagte sie lächelnd, als sie Trevors entgeistertem Blick begegnete.
Es dauerte nicht allzu lang, bis sie die am Hafen angrenzende Stadt erreichten. Währenddessen schwiegen sie zumeist, bis auf kleine Banalitäten. Immer wieder blickte Trevor sich unauffällig um und zu gerne hätte Esther einen Schutzzauber um sie herumgezogen, doch ihre Sorge, den Formwandler dabei zu verletzen, war zu groß. Obwohl er sich schon einige Male innerhalb ihrer Barriere aufgehalten hatte, hieß das nicht, dass er dadurch keinen Schaden genommen hatte. Sie würde das nicht riskieren. Ob es eine Möglichkeit gab, ihn gegen ihre Magie immun zu machen? So oder so. „Trevor, hör mal“, begann sie, obwohl sie nicht einmal genau wusste, was sie zu ihm sagen wollte, „wir beide wissen ja jetzt um deine Schwäche. Und … ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich auf dich aufpassen werde … Was meine Magie betrifft und die eines fremden Magiers. Ich werde nicht zulassen, dass dich Nekromanten oder Magier wie Thomas in die Finger bekommen.“
Ach. Und wie willst du das anstellen? Neben Thomas wirkt deine Magie wie ein Fliegenschiss.
Und als wären ihre Selbstzweifel nicht schon genug, lachte Trevor leise und schüttelte ungläubig wirkend den Kopf.
Ja, ich traue mir das selber auch nicht zu. Warum sollten es also andere tun?
Aber wieso eigentlich nicht? Schwach war sie keinesfalls.
„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte sie harscher als beabsichtigt. Aber auch nur, um sich ihre eigenen Gedanken nicht anmerken zu lassen. Im nächsten Moment tat ihr das schon etwas leid, Trevor so angefahren zu haben.
Mit einem Mal schnellte er vor, stellte sich recht dicht vor sie und sah auf sie herab.
Vor Schreck sprang ihr Herz beinahe aus der Brust und sie konnte in dem Moment nichts anderes tun, als zurückzustarren.
„Wenn mich ein Magier in die Hände bekommt, egal für was, wirst du nicht versuchen, mich zu retten. Du wirst rennen! Hast du mich verstanden?!“ Obwohl seine Stimme ruhig war, konnte sie den Druck dahinter spüren.
Und das war der Moment, in dem sie sich vornahm, einen Weg zu finden, ihn zu befreien. Auch wenn sie diesen vermutlich nie entdecken würde, aber sie wollte es versuchen.
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Egal, was passiert, ich werde nicht weichen.“
„Du kannst gerne gegen Magier kämpfen, wenn dir danach ist, aber nicht wegen mir dein Leben in Gefahr bringen. So viel bin ich nicht wert, nicht im Vergleich zu einer Gräfin.“
Esther wich ein kleines Stück zurück. „Grundgütiger! Würdet ihr alle vielleicht mal aufhören, mich zu bevormunden?! Ich wusste von Anfang an, dass die Reise gefährlich wird und auf dem Weg hierher hat jeder von uns sicher schon dreimal sein Leben riskiert. Oder sogar noch öfter. Und wenn ich meine, deinen Kopf aus der Schlinge ziehen zu müssen, dann ist das meine Entscheidung. Denn du bist mein Freund und tausendmal mehr wert als irgendein Titel, der im Grunde nichts bedeutet, weil ich ohnehin eine Frau bin.“
„Ich bevormunde dich nicht“, hielt Trevor dagegen. „Ich bitte dich darum eindringlich, weil mein Leben genug Leichen pflastern. Auf die Leichen meiner Freunde würde ich dabei gerne verzichten ...“ Er grinste. „Auch, weil du eine Frau bist."
Esther sah ihn daraufhin eine Weile schweigend an. Was sollte sie dazu sagen? Er konnte sie nicht dazu bringen, ihn einfach irgendwo zurückzulassen, egal, wie gefährlich es für sie werden konnte. Und sie wusste, dass er ihr genauso wenig den Rücken kehren würde. „Dann sollten wir uns darum bemühen, dass keine weiteren Leichen dazukommen“, meinte sie, als wäre das in ihrer Situation das Leichteste der Welt. Immerhin klebte ihnen einer der gefährlichsten Magier im Nacken, der scheinbar gemeinsame Sache mit Armod machte und die zusammen nach den magischen Relikten suchten. Das war doch ein Spaziergang!
Innerlich zerriss sie der Gedanke daran, sollte Thomas ihre Finte bemerken. Dass das unweigerlich passierte, wusste sie. Sie selbst war zweifelsohne eine gute Magierin, aber Thomas gehörte zu einer anderen Sorte. Seine Art, Magie zu wirken, ließ sich kaum erklären, so unterschiedlich und unberechenbar war sie.
„Wenn ... sollten es die Leichen anderer sein. Damit kann ich leben.“, riss Trevor sie plötzlich aus ihren Gedanken und sie blickte in sein schelmisch grinsendes Gesicht.
Sie schauderte kurz. Es war für sie schwer zu begreifen, wie man so etwas verkraften konnte. Ein Leben zu nehmen, war ein schweres Vergehen. Dennoch verurteilte Esther Trevor dafür nicht. Merkwürdigerweise beruhigte sie es, dass Trevor so etwas ohne mit der Wimper zu zucken, übernahm. Und nach Nellis Geschichte über die Formwandler verstand sie nun ein wenig mehr, aber immer noch nicht genug.
„Gut“, nahm sie das Gespräch wieder auf, bevor die Stille unangenehm zu werden drohte. „Ich hatte jetzt auch, um ehrlich zu sein, nicht damit gerechnet, dass dir das schlaflose Nächte bereitet.“ Obwohl …Ihre Neugier siegte. „Hat es das mal? Dir den Schlaf geraubt?“ Sie ging an ihm vorbei und schaute über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass er zu ihr aufschloss.
„Am Anfang vielleicht.“ Er zuckte die Schultern. „Man fragt sich, ob das Gegenüber, das man tötet, Familie hat. Kinder, eine Frau, aber das gewöhnt man sich ab, wenn jemand dir keine Wahl lässt.“
Sie nickte leicht. Das klang logisch. Trotzdem blieb der bittere Beigeschmack. Wäre sie dazu in der Lage, ein Leben einfach zu beenden? „Das mag naiv klingen, aber ich hoffe, dass wir zukünftig immer eine andere Wahl haben werden.“ Sie lächelte etwas unbeholfen, um ihre Nervosität herunterzuspielen.
„Das klingt naiv, aber hoffen darfst du es trotzdem.“
Nun wurde ihr Lächeln etwas echter, auch wenn seine Worte sie nicht annährend erleichterten.
Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, deutete Trevor mit dem Kinn nach vorne. „Scheint, als würde der Karren noch heute Nacht aufbrechen.“
Esther kniff die Augen zusammen und folgte Trevors Geste. Und tatsächlich wirkte es so, als würden die Männer ringsum noch Ladung draufpacken. Einer zog die Riemen des Zaumzeugs der Pferde fester. Wieso machte sich jemand noch so spät ab Abend auf den Weg und reiste über Nacht? Aber eigentlich konnte es ihnen auch egal sein, die Hauptsache war, dass sie Thomas auf Abstand brachten.
„Das wäre unsere Gelegenheit“, flüsterte sie, woraufhin Trevor nickte.
Normalerweise hätte sie jetzt dem Formwandler das Verstecken überlassen, aber aufgrund der Magie hielt sie es für besser, dass sie das übernahm.
Trevor stimmte dem zu, wenn auch sichtlich widerwillig. Ob das nun daran lag, dass Esther mit solcherlei Dingen keine Erfahrung hatte und Trevor ihr das insgeheim nicht zutraute oder ob er sie beschützen wollte, konnte sie nicht sagen. In dem Punkt ließ sie aber nicht mit sich diskutieren. Sie hatte keine Lust darauf, dass Trevor wieder zusammensackte wie der Früchtekuchen ihrer Köchin, wenn dieser abkühlte.
Und dann warteten sie darauf, dass das Treiben um den Karren etwas weniger wurde, und gingen verschiedene Möglichkeiten durch, den kleinen Reisesack auf die Ladefläche zu bekommen.
Schließlich stemmte Trevor sich von der Hauswand ab, an der sie gestanden hatten. „Besser wird es vermutlich nicht“, murmelte er und ging auf die kleiner gewordene Gruppe zu.
Esther wartete noch einen kurzen Moment und schlug einen kleinen Umweg ein. Während Trevor die Männer in ein Gespräch verwickelte, ging Esther von hinten am Karren vorbei und warf den Beutel zielgenau zwischen die anderen Leinensäcke auf die Ladefläche. Natürlich hatte sie sich zuvor abgesichert, nicht beobachtet zu werden. Das hatte Trevor ihr eingeschärft und sie war ziemlich überrascht davon, dass es ihr ohne Weiteres gelungen war. Lächelnd wandte sie sich um, als just in dem Moment jemand aus dem Gebäude trat und kurz davor war, sich zu ihr herumzudrehen.
Ihr rutschte das Herz in die Hose, aber sie reagierte geistesgegenwärtig, indem sie geduckt an dem Karren vorbeihuschte. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sobald der Unbekannte außer Sichtweite war, richtete sie sich auf, ging um den Karren herum und auf Trevor zu. Sie sammelte sich gedanklich.
Schauen wir mal, ob das höfische Schauspielern dir jetzt auch was bringt.
„Ach, guckt ma da ... Pferde. Die sehen aus wie meine Alde. Die macht auch imma so 'ne lange Fresse ...“, hörte Esther Trevor bereits nuscheln und kichern.
Es viel ihr schwer, sich das Lachen zu verkneifen.
„Ich könnte wetten, bald sieht sie aus ...“, er rülpste zwischen seinen Worten, „... wie ihre Mutter. Fett, aufgedunsen ... und ...“
Der Mann hatte Talent, das musste Esther ihm lassen. Sie holte tief Luft. „Das gibt´s ja wohl nicht!“, begann sie loszutoben, woraufhin sich sofort alle zu ihr herumdrehten. Sie nutzte die Aufmerksamkeit, blies die Backen auf und stemmte gespielt genervt die Hände in die Hüften. „Den ganze Tag lässt du dich nicht blicken, selbst die Kinder fragen, wo du bist! Und wo finde ich dich wieder?!“ Sie warf die Arme in die Höhe und schnaubte hörbar.
„Ich bin verheiratet. Wo wärd ich wohl sein. Da wo du und die Kinder nisch sind.“
„Glaub mir, ich habe auch keine Lust, deinen nach Bier stinkenden Atem ständig zu ertragen, aber du hast immer noch Verpflichtungen“, polterte Esther. „Jetzt sieh zu, dass du deinen versoffenen Arsch nach Hause bekommst oder du lernst mich kennen!“ Sie hob die Hand als Drohung.
„Pflischten, Pflischten ... Wir ham genuch Kinder!“, warf er ihr an den Kopf.
Am liebsten hätte Esther sich gegen die Stirn gehauen. Konnten sie nicht einfach endlich gehen? Aber gut, so lange Trevor keine Anstalten machte, musste sie mitspielen.
„Als würde mit dir Schnapsleiche noch jemand ins Bett steigen“, sagte sie naserümpfend. „Von mir aus … bleib doch wo der Pfeffer wächst. Aber komm mir morgen nicht an, du willst deine miefenden Klamotten von mir gewaschen haben!“
Trevor stöhnte hörbar und schaute die Kerle an. „Nischt nur die Kleidung, Essen brauche ich auch.“ Dann wandte er sich ihr um. „Warte Schätzelein … Du weißt doch, wie isch bin. Ein Trottel … Och, jetzt sei nischt so.“
Während Trevor das sagte, entfernten sie sich immer mehr von den umstehenden Leuten.
Als sie außer Hör- und Sichtweite waren, ließ Esther die Anspannung von sich abfallen und sah Trevor von der Seite an. „Schauspielern kannst du, das muss ich dir lassen“, sagte sie grinsend.
„Die Rolle der keifenden Ehefrau kannst du aber auch gut“, meinte Trevor anerkennend.
„Es hat hoffentlich den Zweck erfüllt“, sagte sie achselzuckend und erst dabei wurde ihr wieder bewusst, dass sie an der Schulter verletzt war. Während dieser ganzen Aktion hatten sich die Schmerzen so weit in den Hintergrund gerückt, dass sie es beinahe vergaß. „Das Säckchen liegt auf dem Karren. Bleibt nur abzuwarten, ob Thomas den Köder schluckt.“
„Hoffen wir es“, gab Trevor kurz angebunden zurück, womit Esther sich zufriedengab. Mehr als warten, konnte sie schlussendlich nicht tun.