Es gibt 144 Antworten in diesem Thema, welches 13.359 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (7. Februar 2024 um 19:35) ist von Kirisha.

  • Ich habe fast drei Jahre mit Elisabeth zusammengearbeitet und sie auch nach meinem Ausscheiden wegen Beates Geburt nie vergessen. Als ich nach Siegfrieds Tod in die Fabrik zurückgekehrt bin, war sie immer noch da. Sie ist eine der beiden gewesen, denen ich zu Beginn meiner Lehre von Wolfgang und seinem Motorrad erzählt habe. Und sie hat mich zu einer guten Strumpfwirkerin gemacht.
    Natürlich heißt der Beruf heute nicht mehr so. Hieß er damals schon nicht. Er nennt sich ‚Produktionsmechaniker Textil‘. Ein hochtrabender Begriff. Aber die Arbeit ist heute auch anders. Die Lehrlinge müssen Maschinen bedienen, die wir uns damals nicht mal vorstellen konnten. Auch die Fabrik haben wir nur unter uns ‚die Strumpfwirkerei‘ genannt, weil sie schon so geheißen hat, als Großmutti noch dort arbeitete. Zu meiner Lehrzeit ist es bereits die ‚VEB Spinnerei und Weberei Pretzberg‘ gewesen.
    Wie wenn jemand die Lautstärke eines Radios aufdreht, beginne ich die Geräusche im Speisesaal wieder wahrzunehmen. Ich bin so in Gedanken gewesen, dass ich mich aus dem Geschehen um mich herum völlig ausgeklinkt habe.
    Während ich die unberührten Brötchenhälften mustere, die Emily vor mich hingestellt hat, versuche ich zu ergründen, worüber sich Hertha und Marianne unterhalten. Sie sind noch immer bei Heinz, merke ich. Hertha kennt ihn am längsten. Sie ist schon hier im Heim gewesen, als er eingezogen ist, und sie hat es miterlebt, weil ihre Zimmer nebeneinander liegen.
    Automatisch geht mein Blick zum Männertisch hinüber, doch anstatt zu Heinz zu schauen, mustere ich Herrn Fischer. Schon wieder!
    Er redet mit dem Mann, den ich in Gedanken als Eberhard bezeichne. Sie sitzen nebeneinander und fachsimpeln über irgendwas, während beide fast synchron in ihrer Kaffeetasse rühren. Das verschafft mir Gelegenheit, Herrn Fischer unauffällig zu mustern. Und unwillkürlich versuche ich mir vorzustellen, wie Siegfried wohl heute aussehen würde. Er war dreißig, als er starb. Wäre sein dunkles, stets kurzgeschnittenes Haar heute so weiß wie das von Johannes Fischer?
    Leider habe ich keine Ahnung, wie groß mein Gesprächspartner von vorhin ist. Doch sofort muss ich lächeln. Als ob das eine Rolle spielen würde! Während er stehen kann, werde ich immer nur sitzen. Selbst wenn ich ihn um zwanzig Zentimeter überragte, wäre das sowas von egal, weil es keiner bemerken würde.
    Sein Lachen klingt herüber. Ein warmes, freundliches, nicht aufdringlich oder so dröhnend wie das von Manni.
    „Was machst du heute Vormittag?“, höre ich Marianne neben mir fragen.
    Ich schaue sie verdutzt an. Was soll ich schon machen? Warten aufs Mittagessen?
    „Nichts.“ Ein Wort nur, dazu kann ich mich durchringen.
    „Kommst du heute Nachmittag mit? Es sind noch zwei Plätze frei, einer davon Rolli.“
    Einer davon Rolli? Was meint sie damit?
    Ich muss wohl sehr perplex aussehen, denn sie lacht.
    „Sie weiß am Ende gar nichts davon“, meinte Hertha. „Kann doch sein, dass keiner sie gefragt hat.“
    Mariannes Miene wandelt sich vom Lächeln in ein Grübeln. „Ja, das kann sein.“ Sie schaut sich um Saal um. Schwester Monika windet sich mit dem Medikamententablett zwischen den Tischen und Stühlen hindurch.
    „Wir fragen die Chefin“, erklärt Marianne entschieden. „Vielleicht hat niemand erwartet, dass du Ausflüge mitmachst.“
    Ich reiße die Augen auf. „Ausflüge?“, rutscht es mir heraus.
    Hertha nickt. „Das Heim hat einen Bus für Ausflüge“, verkündet sie, während sie Wally mit einer Hand den Zipfel des Tischtuches entwindet, an dem sich diese die klebrigen Finger abwischt. Als das Tischtuch wieder da ist, wo es hingehört, bekommt Wally ein Feuchttuch aus der Tisch-Spenderbox gereicht und putzt sich zufrieden die Marmelade ab.
    „In dem können vier Bewohner auf normalen Sitzen und zwei im Rollstuhl mitfahren“, fährt Hertha fort. „Und ein Rollstuhlplatz ist noch frei.“ Sie strahlt mich an wie ein Kind, das verkündet, dass es eine Eins in der Schule bekommen hat.
    Leider kann ich das Strahlen nicht erwidern. Ich kann maximal vier Stunden im Stuhl sitzen, dann erwachen die Ameisen unter meinem Po. Deswegen darf ich ja auch nach dem Mittagessen ein Mittagsschläfchen im Bett machen. Aber man wird sicher nicht warten, bis ich wieder im Rollstuhl bin, was normalerweise erst kurz vor der Vesper passiert.
    Also bin ich wohl nicht der Kandidat für den letzten Rolli-Platz. Ich schüttle den Kopf.
    Marianne lässt das nicht so einfach durchgehen. „Wir fahren an die Alster“, erklärt sie, „und da ist ein kleines Café, in dem wir einen Eisbecher essen. Dann füttern wir noch die Enten und Spatzen und schauen den Spaziergängern zu. Das ist besser als Fernsehen. Zum Abendessen sind wir zurück.“
    „Beim ‚den Spaziergängern zusehen‘ bleibt es meist nicht.“ Hertha nickt mit einem vielsagenden Blick auf Marianne. „Man sieht die unterschiedlichsten Leute und kann nach Herzenslust über sie herziehen, ohne dass sie es hören.“
    Aha. Marianne und Hertha, die Lästerschwestern!
    In mir streiten zwei Hannahs. Die feige, ängstliche bringt alle möglichen Argumente, die ein Dableiben erfordern und ein Mitkommen leider unmöglich machen. Die Schmerzen und die kurzen Abstände zwischen meinen Toilettengängen. Vielleicht vertrage ich das Autofahren im Rollstuhl nicht oder ich erkälte mich?
    Die andere hingegen ist schon von der Idee alleine begeistert und möchte Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dabei sein zu können. Fünf Stunden im Stuhl? Kein Problem! Schmerzen im Bein, Kribbeln unterm Po? Wen juckt’s? Okay, mich, aber trotzdem: Ich könnte die Welt einreißen schon bei dem Gedanken, mal aus diesem Haus herauszukommen, das ich drei Wochen nicht verlassen habe.
    Die Jammerstimme wird leiser und irgendwann verstummt sie.

    Marianne und Hertha, die über den letzten Ausflug und über irgendwas mit einem Angler sprechen, haben von dem Kampf in meinem Inneren nichts mitbekommen. Aber jetzt, als Schwester Monika mit ihrem Tablett an den Tisch tritt, halten sie inne.
    „Sind die beiden Plätze noch frei für heute Nachmittag?“ fragt Hertha.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hey Tariq

    Das waren wieder zwei sehr schöne Parts, die ich gerne gelesen habe!

    Das Hannche eine Ermahnung von der Chefin bekommen hat, ist natürlich nicht so prickelnd, aber ihre Kollegin hat recht - nicht das Ende der Welt :) Aber so ein Ereignis überschattet die Freude hinsichtlich des bestandenen Prüfung natürlich. Daher ist es umso schöner, dass ihre Kollegin ihr diese Freude mit dem kleinen Präsent wieder gegeben hat. Sehr süß! <3

    Der aktuelle Part ist auch sehr hübsch! Ich freue mich schon darauf, Hannche auf den Ausflug zu begleiten ^^

    LG

  • Ich fand die beiden letzten Parts auch wieder sehr gelungen!

    Das Verhalten der Kollegin vor der Prüfung war allerdings unglaublich gemein. Aber sowas kann eben mal passieren und man muss lernen Dinge einzustecken und damit umzugehen.

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Lieben Dank euch beiden fürs Weiterlesen. Ich freu mich immer so, von euch zu hören. :)

    Elisabeth

    Wegen Elisabeth wollte ich noch was anmerken. Kirisha meint,

    Das Verhalten der Kollegin vor der Prüfung war allerdings unglaublich gemein.

    Elisabeth war so gestresst von der streikenden Maschine und der Zeit, die ihr im Nacken saß, dass sie auf die Frage der Prüferin in ihrem Ärger mehr gesagt hat, als sie eigentlich sagen wollte. Hinterher hat sie es bereut und sie hat sich bei Hannche entschuldigt. Ich wollte sie eigentlich nicht gemein darstellen und habe deshalb auch das gute Verhältnis zwischen Hannche und Elisabeth nochmal betont. Hannche konnte ihr Verhalten verstehen undentschuldigen.

    Meinst du ich sollte das irgendwie noch deutlicher machen?

    Monika hört nicht schwer und ich frage mich, ob Hertha das weiß. Wahrscheinlich nicht, sonst würde sie nicht so schreien. Am Nachbartisch wenden sich prompt die Köpfe. Was, wenn nun noch jemand mitmöchte und vielleicht schneller fragt als ich?
    „Ich will mit!“
    Monika hatte gar keine Zeit, zu nicken oder den Kopf zu schütteln, so schnell kam das aus mir heraus. Verblüfft starren die drei mich an. Nur Wally nicht. Sie ordnet die Blümchen in der kleinen Vase auf dem Tisch neu.
    „Sie möchten mitfahren?“, vergewissert sich die Stationsschwester vorsichtshalber.
    In meine Euphorie mischt sich Unmut. Das war doch deutlich zu verstehen! Zugegeben, viel zu laut, aber klar. Sie will doch nicht etwa, dass ich das wiederhole?
    Ich nicke. Das muss reichen.
    Monika macht ein ratloses Gesicht. „Das geht leider nicht“, erklärt sie bedauernd. „Ihr Rollstuhl erfüllt nicht die Anforderungen für den Transport im Auto.“
    Nein. Das kann jetzt nicht sein. Sie will mich nicht mitfahren lassen? Ich muss hierbleiben, weil mein Rollstuhl nicht ...
    Ich merke, wie meine Augen feucht werden. Das war eine kurze Freude. Nun ja, wäre ja auch zu schön gewesen.
    Energisch blinzle ich die Tränen weg und meine Hand greift nach einer der immer noch unberührten Brötchenhälften. Marianne und Hertha sagen kein Wort.
    „Tut mir wirklich leid, Frau Benedikt“, höre ich Monika noch sagen, dann geht sie zum nächsten Tisch.
    „Wie schade.“ Marianne streicht mir verlegen über den Arm. „Wir könnten Karl mal fragen, vielleicht weiß er Rat.“
    Natürlich, denke ich, Karl kann meinen Rollstuhl verzaubern, genau wie Aschenputtels Fee den Kürbis in eine Kutsche verwandelt hat.
    Ich muss mich zwingen, sie nicht vorwurfsvoll anzufunkeln. Hätte sie doch nur nicht davon angefangen! Es wäre besser gewesen, ich hätte nie von dem Ausflug erfahren. Besser, als nun hören zu müssen, dass sie ohne mich fahren.
    Moment, von zwei Rollstuhlplätzen ist einer noch frei? Also fährt nur Marianne oder nur Hertha mit? Welche bleibt hier?
    Ist doch egal! Wütend beiße ich ins Brötchen. Und kleckere mich voll. Die Marmelade leuchtet gelb auf meinem diesmal zartgrünen Latz. Na und? Kleckere ich eben! Bin ja hier nicht im Eiscafé, wo die Leute gucken und reden werden.
    Ich habe keinen Appetit mehr auf meine zweite Brötchenhälfte. Nur den Kaffee, den trinke ich aus. Und dabei schaue ich Emily zu, wie sie eine der Gardinen zuzieht, weil die Bewohner am Fenstertisch geblendet werden. Kaiserwetter. Die Sonne lacht vom Himmel, als wüsste sie, dass ein Ausflug ansteht. Warum regnet es nicht? Ein richtiger Wolkenbruch heute Nachmittag, das wäre okay. Da wäre das Zuhausebleiben nicht so schlimm.
    Sofort schäme ich mich. Das bin ich eigentlich gar nicht. Das ist die Jammer-Hannah aus den ersten Tagen hier im Heim. Ich hatte gedacht, dass ich sie vertrieben habe. Doch sie kommt immer mal wieder hoch. Sobald etwas nicht so läuft wie gewünscht oder erhofft, ist sie da und ich lasse mich von ihr runterziehen. Es ist seltsam: Ich beobachte das dann immer wie ein Außenstehender, schaue zu, wie ich reagiere. Und jetzt gerade ärgere ich mich furchtbar über mich, weil ich vor lauter Neid und Selbstmitleid nicht mal den anderen einen schönen Ausflug gönnen kann!
    Emily räumt den Tisch ab. Noch immer herrscht betretenes Schweigen unter uns. Ich bin mir klar darüber, dass es an mir liegt und dass ich es mit ein, zwei einlenkenden Worten beenden könnte.
    Aber ich will nicht. Ich will schmollen. Heißt das nun wirklich, dass ich bis auf kleine Spaziergänge nicht aus dem Haus wegkomme? Was ist mit Reisen? Ich möchte mal in den Urlaub fahren. Ich möchte Zinnowitz nochmal sehen ...
    Irgendwann kommt Karl. „Wohin?“, fragt er, als er die Schiebegriffe des Rollstuhls umfasst.
    „Egal“, flüstere ich.
    Er stutzt kurz, dann mustert er meine finstere Miene.
    „Ich hab so das Gefühl, Sie könnten ein bisschen Sonne gebrauchen. Wie wäre es, wenn ich Sie in den Garten bringe? Vorher huschen wir kurz an Ihrem Zimmer vorbei und holen eine Strickjacke.“
    Natürlich. Wir huschen!
    Aber ich will meine schlechte Laune nicht an Karl auslassen, also nicke ich.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Zehn Minuten später sitze ich neben dem Springbrunnen und kann zu meiner Rechten ein liebevoll bepflanztes Hochbeet bewundern. Es steht auf vier hölzernen Beinen und hat eine Höhe, die es Rollstuhlfahrern erlaubt, zu gärtnern. Während ich die schnurgeraden Reihen von Petersilie, Dill, Kerbel und Beifuß mustere, merke ich, wie mein Kopf wieder in den Normalmodus schaltet.
    Als ob mich ein verhinderter Ausflug anheben würde! Das steck ich weg! Es gibt andere Sachen, die ich unternehmen kann. Unkrautzupfen zum Beispiel. Und ehe ich es mich versehe, haben meine Finger das schon gewohnte Durchkneten der rechten Hand abgebrochen und damit begonnen. Verstohlen schaue ich mich um. Zwei Frauen mit einem Rollator treten gerade aus dem hinteren Eingang, doch sie schauen nicht zu mir her. Es dauert nicht lange und mein Arm wird zu kurz, um das unerwünschte Grünzeug zu erreichen.
    Was mach ich jetzt? Karl hat mir eine Funkklingel gegeben, doch deswegen jemanden herbeizurufen, widerstrebt mir. Jeder weiß, dass das Pflegepersonal zu tun hat wie der vielzitierte Leipziger Rat. Es reicht, wenn ich bald jemanden herbeiklingeln muss, weil dieser verflixte Springbrunnen mit seinem Geplätscher die Zeit zwischen meinen Toilettengängen halbiert hat!
    Ich werde Karl einfach nach dem Toilettenbesuch bitten, mich an die andere Seite des Beetes zu stellen. Jetzt erst sehe ich, dass es sogar drei Beete sind. In einer Reihe säumen sie den Parkweg, den Platz zwischen zwei Bänken nutzend. Das zweite enthält Blumen und in der Mitte sogar ein tränendes Herz. Die hatte ich auch in meinem Garten, drei Büsche gleich und einer davon fast weiß.
    Aber auch intensiv duftende Maiglöckchen sind im Hochbeet und Zwerg-Akelei, Begonien, Petunien und Stiefmütterchen. Am Rand schieben sich die grünen Ranken von winterhartem Efeu über die Holzkante und streben dem Boden zu. Ich lächle. Es sieht irgendwie aus, als versuchten sie zu entkommen.
    Hier hat jemand mit Geschick, Liebe und einem grünen Daumen einen schönen Ausruhepunkt für die Augen geschaffen.
    Unwillkürlich sehe ich mich um, in der Hoffnung, den Gärtner zu entdecken. Ganz hinten unter den hohen Bäumen brummt ein Rasenmäher. Viel zu weit weg, außerdem könnte mich der Mann im braunen Arbeitsanzug auch gar nicht hören, wenn er neben diesem Krachmacher steht.
    Naja, egal. Es ist Mai, der Sommer beginnt gerade erst. ich werde noch genügend Gelegenheit zum Gärteln finden.
    Zufrieden lehne ich mich zurück, schließe kurz die Augen, um einmal tief durchzuatmen, und blinzle dann in den perfekt blauen Himmel.

    Wie es wohl Frau Herzel geht? Sicher wird sie Schmerzen haben. Ob sie operiert wurde? Beates Nachbarin war auch einmal gestürzt und hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen. Sie bekam ein neues Hüftgelenk. Beate hatte die alleinstehende Dame zweimal im Krankenhaus besucht und es mir erzählt. Die Frau konnte das Erlebnis gut wegstecken und danach wieder laufen. Aber Frau Herzel ... Sie geht jetzt schon am Stock und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die nötige Willenskraft aufbringt, die Physiotherapie durchzuziehen, um wieder auf die Beine zu kommen.
    Die Physiotherapie! Heute ist Freitag! Wie spät wird es wohl sein?
    Meine Linke sucht nach der Notklingel. Karl hat das wohl völlig vergessen, sonst hätte er mich nicht in den Garten gebracht .
    Aber in dem Moment, indem meine Finger den Sender ertasten, sehe ich ihn den Weg am Haus entlang kommen. Er lächelt und klopft mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr. „Na?“, fragte er, als er mich erreicht und die Bremsen am Rollstuhl löst. „Hat die Sonne die grauen Wolken vertreiben können?“
    Ich nicke und obwohl ich ihm gern erzählt hätte, was mich bedrückt hat, bin ich doch dankbar, dass er nicht fragt. Ich bin sicher, dass er versuchen würde, eine Möglichkeit zu finden, dass ich mitfahren kann. Aber mein Rollstuhl ist nun mal so, wie er ist, da lässt sich nicht dran rütteln. Und ich will nicht, dass er sich umsonst bemüht, nur um dann eingestehen zu müssen, dass es doch nicht geht.
    „Eigentlich wollte Herr Fischer Sie holen“, meint er in diesem Moment, während er mich in Richtung des Hintereingangs schiebt. „Aber es geht ihm heute nicht so gut und er hat sich ein bisschen hingelegt.“
    Nicht so gut? Ich drehe mich unbeholfen zu Karl um und mustere seine Miene. Heute Morgen noch schien Herr Fischer die sprühende Lebensfreude zu verkörpern.
    Was fehlt ihm denn, fragt mein Blick.
    Karl versteht es, trotzdem schüttelt er den Kopf. „Nicht böse sein, aber ich darf so etwas nicht sagen. Vielleicht verrät er es Ihnen ja selbst irgendwann.“
    Während er den Rollstuhl in den Fahrstuhl bringt, überlege ich. Herr Fischer wirkte so gesund, so vital. So lebendig, dass ich mir eigentlich die Frage hätte stellen müssen, warum jemand wie er in einem Altenheim lebt. Ich erinnere mich an das Gespräch mit der Sozialarbeiterin im Pretzberger Krankenhaus, damals, als es darum ging, ob ich in meine Wohnung zurückkehren kann. Eine Pflegestufe, meinte sie, die wollte sie für mich beantragen, denn nur damit wäre ein dauerhafter Aufenthalt in einem Pflegeheim möglich.
    Die müsste Herr Fischer ja dann auch haben. Aber ich konnte keine gesundheitliche Einschränkung bei ihm bemerken. Sieht er schlecht? Nein, er hat mir die Kaffeetasse gebracht und perfekt abgestellt. Hören klappte auch wunderbar.
    Eine böse Vorahnung beschleicht mich. Hat er eine schlimme Krankheit, die es ihm unmöglich macht, allein in einer Wohnung zu leben. Krebs vielleicht? Könnte es sogar sein, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt?

    Spoiler anzeigen

    Eine Rispe mit Blüten des Tränenden Herzens © Colourbox Foto: cuhlefotos

    "Tränendes Herz"

    "Zwerg-Akelei"

    Karl kann doch vielleicht einen anderen Rollstuhl leihen, oder?

    ^^ ^^ ^^

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • ein liebevoll bepflanztes Hochbeet bewundern. Es steht auf vier hölzernen Beinen und hat eine Höhe, die es Rollstuhlfahrern erlaubt, zu gärtnern.

    Ah ... so ein Hochbeet gibt es auf dem Gelände des Provinzkrankenhaus von Karlskrona auch und ich habe mich immer gefragt. wozu sie die viele Erde so hoch gestapelt haben - also wie gesagt, da ich keinen Zusammenhang zwischen Krankenhaus und Gärtnern herstellen konnte. Aber vielleicht geht es in diese Richtung.

    Es sieht irgendwie aus, als versuchten sie zu entkommen.

    :blush: Das mag ich.

    Das ist wieder eine sehr schöne Episode!

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Vielen Dank, liebe Kirisha . Diese Hochbeete waren eine Zeitlang die Aushängeschilder eines "guten" Altepflegeheimes und der Renner in der Betreuung Demenzkranker. Hatte man als Heim keines, konnte man sich hinten anstellen. Aber auch die anderen Bewohner mit körperlichen Einschränkungen und besonders die Rollstuhlfahrer haben gern davon Gebrauch gemacht.

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    Unsinn, schelte ich mich selbst, nicht jedes Unwohlsein ist gleich der Beginn vom Sterben.
    Ich nehme mir vor zu fragen. Wenn ich den Mut dazu finde. Und Stift und Papier natürlich. Jetzt ist erstmal Physiotherapie dran.
    Als Karl die Speisesaaltür öffnet, meine ich im ersten Moment, dass wir im falschen Stockwerk sind. Das ist keinesfalls unser Speisesaal. Wo sind die ganzen Tische und ...
    Bevor ich mich weiter wundern kann, hat Karl meinen Rollstuhl hineingeschoben. Verdutzt starre ich auf die Turnmatten am Boden. Soll ich etwa auf so ein Ding gelegt werden?
    Karl stellt die Bremsen am Stuhl fest und verschwindet kurz. Als er zurückkommt, hat er einen breiten Gurt unter dem Arm, von dem mehrere Schlaufen herabhängen. Und er bringt diesen Lifter.
    Wie ich das Ding hasse! Sicher, ohne ihn komme ich nicht in die Badewanne, aber in diesem sogenannten Hilfsmittel hängend von einem Ort zum anderen verfrachtet zu werden wie ein toter Gegenstand ist so entwürdigend, dass ich schon knallrot werde, wenn ich nur an mein erstes Bad denke.

    Zum Glück ist Karl nicht hier, hatte ich gedacht, während Isabel und Jessica mir diesen Gurt unter Rücken und Po schoben und zwei der vier Trageschlaufen zwischen meinen gespreizten Beinen wieder hervorholten. Die wurden – genau wie die beiden neben meinen Schultern – in die vier dazugehörigen Haken am Bügel des verhassten Teils eingehängt und nach kurzer Vorwarnung schwebte ich schon nach oben und über den Rand der Wanne. Nackt! Mit gespreizten Beinen!
    Das war etwas völlig anderes, als mich von jemandem waschen zu lassen. Ich war so geschockt, dass ich sogar vergaß, Angst zu empfinden. Die Haltegurte umklammernd, sagte ich mir immer wieder, dass der Anblick für die beiden Pflegerinnen nichts Besonderes ist. Aber ich habe es immer schon verabscheut, meine Schenkel zu öffnen. Beim Frauenarzt, bei der Geburt der Kinder ... Und jetzt hier wieder!
    Viel Zeit zum Schämen blieb mir nicht, dann tauchten meine ewig kalten Füße in den duftenden Schaum und gleich darauf in das herrlich warme Wasser. Ich wurde wieder herabgelassen und als meine untere Körperhälfte endlich nicht mehr zu sehen war, begann ich mich zu entspannen. Wie lange hatte ich nicht gebadet!
    Ob ich aufrecht sitzen oder lieber in diesem Gurt hängend halb liegend baden möchte, fragte mich Jessica. Natürlich wählte ich das Sitzen und sie hakte die Schlaufen am Bügel los und entfernte die Tragehilfe. Es war nicht ganz leicht, denn dazu musste ich nacheinander beide Pohälften ein wenig anheben, aber das habe ich hinbekommen.
    Isabell legte einen Schlauch neben mir über den Wannenrand, dessen Ende ein roter Gummiball bildete. „Das ist die Klingel“, meinte sie. „Einfach drücken, wenn was ist oder wenn Sie raus wollen.“
    Die beiden gingen und ich begriff beglückt, dass sie mich tatsächlich allein baden ließen. In der darauffolgenden Stille nahm ich Musik wahr, leise, beruhigende Klänge. Eine einschläfernde Melodie, unterlegt mit Meeresrauschen. Wahrscheinlich hatte Isabell eine CD eingelegt, als ich Jessica half, den Liftergurt unter mir hervorzuholen.
    Ich stemmte das gesunde Bein gegen den Wannenboden und lehnte mich zurück, bis mein Kinn den duftenden Schaum berührte. Flieder, registrierte meine Nase. Mein eigener Badezusatz, den Beate ...

    „Wie sieht’s aus, können wir?“
    Karls Frage reißt mich aus der Erinnerung und der Badewanne. Ich schaue auf und sehe, dass er schon hinter mir steht, bereit, den Gurt zwischen Rollstuhllehne und meinen Rücken zu schieben. Im ersten Moment will ich protestieren, doch er lächelt so aufmunternd, dass ich den Mund wieder schließe. Von mir aus, dann mach ich das Bodenturnen eben mit. Schließlich bin ich diesmal nicht nackt.
    Ruckzuck hat Karl den Gurt unter mich geschoben und hängt die Schlaufen am Bügel ein. Ich schwebe aus dem Rollstuhl nach oben, Kerstin, die Physiotherapeutin, schiebt meinen Mercedes zu Seite und legt eine der Turnmatten auf den Boden. Und schon geht es wieder abwärts. Meine Füße berühren die Matte, dann mein Po und langsam wird auch mein Oberkörper abgesenkt. Als ich flach ausgestreckt liege, fragt Kerstin, ob es bequem ist.
    Ich schüttle den Kopf. Weiß der Himmel, wann mein Körper das letzte Mal in dieser Position gewesen ist. Es muss lange her sein, denn er protestiert vehement dagegen. Mein Rücken fühlt sich an, als wäre er mittendurchgebrochen und ich verziehe gequält das Gesicht.
    Kerstin versteht meine Mimik zu deuten, denn sie holt einen Keil und schiebt ihn unter die Turnmatte. Viel besser! Der Kopf liegt höher und meine Wirbelsäule atmet auf. Na bitte, geht doch! Es folgt noch eine weiche Rolle, die von der Physiotherapeutin unter meine Kniekehlen geschoben wird, und ich bin zufrieden. Würde ich die Augen schließen, könnte ich so problemlos einschlafen.
    Aber Kerstin hat andere Pläne mit uns. Arme, Beine, Kopf – für alles hat sie Bewegungsübungen und auf unseren sachten Protest hin hat sie nur ein Lächeln übrig.
    Neben mit liegt Marianne. Neidisch sehe ich, dass sie keinen Keil unter ihrer Matte hat und das flache Liegen offenbar problemlos wegsteckt. Wie kann sie das nur? Sie sitzt doch auch den ganzen Tag im Rollstuhl.
    Mein Blick geht zur Uhr über der Tür. Die halbe Stunde ist fast um und mir tut alles weh. „Noch ein letztes Mal die Arme zur Decke“, kommandiert Kerstin, während sie neben mir niederkniet, um meinen rechten Arm, der natürlich wieder bewegungslos liegenbleibt, anzuheben. „Und halten, Frau Groß“, ruft sie zu einer anderen Frau hinüber, „schön halten!“ Ein paar Sekunden wartet sie noch, dann senken sich die erhobenen Arme auf ihr Kommando und sie verkündet das Ende der Therapie.
    Ich atme auf. Eigentlich mag ich die Physiotherapie, aber mit dem, was heute dran war, fühle ich mich doch ein wenig überfordert.
    Ach ja?, fragt die gemeine Stimme in meinem Kopf, die immer an mir herummeckert. Willst du nicht wieder beweglicher werden und vielleicht irgendwann sogar aus diesem Rollstuhl heraus? Wie soll das gehen, wenn du schon bei so ein bisschen Sport anfängst zu jammern?
    Zerknirscht gestehe ich mir ein, dass ‚überfordert‘ vielleicht doch ein bisschen übertrieben war. Natürlich werde ich beim nächsten Mal wieder mitmachen. Und nicht jammern, sondern mir mehr Mühe geben.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Ein besonders schöner Teil.

    Dieses Gebadetwerden stelle ich mir schon ganz schön entwürdigend vor. Toll dass du das so genau beschrieben hast. Und die Physiotherapie, ich war richtig mit dabei! Mir gefällt auch Hannches vorsichtiger Humor, einfach rundum gelungen!

    Auch der Aufbau des Textes ist richtig gut. Dieser Schwenk zu der Erinnerung mit dem Baden und dann ruckartig zurück zur Physio. Hat sehr gut gewirkt.

    Von mir aus, dann mach ich das Bodenturnen eben mit. Schließlich bin ich diesmal nicht nackt.
    Ruckzuck hat Karl den Gurt unter mich geschoben und hängt die Schlaufen am Bügel ein. Ich schwebe aus dem Rollstuhl nach oben, Kerstin, die Physiotherapeutin, schiebt meinen Mercedes zu Seite

    Der erste Satz ist sehr cool, und der Mercedes natürlich auch :D

    Zerknirscht gestehe ich mir ein, dass ‚überfordert‘ vielleicht doch ein bisschen übertrieben war.

    So tapfer Hannche!

    mittendurchgebrochen

    mitten durchgebrochen?

    Weiter so! :love:

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Huhu Tariq :)

    Ich bin weiterhin dabei und folge gerne Hannches Weg! Es ist immer wieder niedlich - ihr toller Humor und wie sich gleich dafür schämt, wenn sie etwas gemeines denkt - herrlich :love:

    Ich hoffe, dass es doch noch eine Möglichkeit gibt, damit sie mit auf den Ausflug kann ...

    Sehr süß wieder :blush:

    LG

  • Antworten

    Ich freue mich, dass ihr noch dabei seid, liebe Kirisha und LadyK .

    Das mit dem Baden ist eine eingeflochtene Erinnerung aus meiner Zeit im Pflegeheim. Ich habe das selbst unzählige Male so gemacht und dabei die Scham und Verlegenheit oder sogar das mit Mühe zurückgehaltene Weinen der alten Damen erlebt. Zum Glück wusste ich, dass diese Gedanken bei ihnen binnen Sekunden verschwinden würden und vom Wohlgefühl des (mitunter wochenlang vermissten) Badens abgelöst wurden. Aber es ist trotzdem nicht schon gewesen.

    Heute habe ich nur einen kurzen Abschnitt für euch. Ich war nicht faul, ich stecke nur momentan so tief im Ring, dass ich dort einfach schreiben, schreiben, schreiben muss. smilie_pc_025.gif Aber nicht nur Hannche, auch der Wolf und die "Simulation" müssen derzeit warten. :pardon:

    Als ich danach im Rollstuhl sitze und Emily beim Tischdecken zuschaue, fällt mir wieder ein, dass ich mich nach Herrn Fischer erkundigen wollte. Ich könnte meine Frage aufschreiben, doch Zettel und Stift sind im Zimmer. Jemand müsste mich hinbringen. Aber außer Wally, Heinz, einer weiteren Frau und mir ist kein anderer Bewohner im Speisesaal. Emily hat für sowas keine Zeit. Außerdem habe ich sie noch beim Schieben eines Rollstuhls gesehen. Vielleicht darf sie das ja gar nicht.
    Ich beschließe, bis zum Mittag zu warten. Vielleicht kommt Herr Fischer ja zum Essen. Während Emily mit den Tellern klappert, wandert mein Blick aus dem Fenster. Jemand hat es nach der Physiotherapie weit geöffnet. Es ist Mitte Mai. Draußen zwitschern die Vögel. Vom wolkenlosen Himmel strahlt eine Sonne herab, die bereits ordentlich Kraft hat und meine Füße wärmt. Voller Wonne schaue ich auf sie hinab und strecke meine Zehen. Während am linken Hausschuh eine deutliche Beule in Höhe der Großzehe entsteht, merke ich beglückt, dass auch rechts eine Bewegung im Schuh erkennbar ist. Ich spüre es zwar nicht, aber offensichtlich hat auch mein rechter Fuß den Befehl vom Gehirn befolgt. Aufregung ergreift mich. Vielleicht kann man das trainieren? Vielleicht kann ich irgendwann wieder stehen oder gar laufen? Ich muss beim nächsten Sport mit Kerstin darüber reden. Sie kennt sich da aus, es ist ihr Spezialgebiet.
    Wieder schaue ich aus dem Fenster und blinzle in die Sonne. Der Ausflug fällt mir ein. Heute Nachmittag werden also sechs Bewohner ein paar schöne Stunden bei einem Eisbecher und traumhaftem Sonnenschein verbringen. Ich gehöre nicht dazu.
    Ob man so einen Rollstuhl bekommen kann? Wenn ja – wie? Bei der Krankenkasse beantragen? Oder Beate mal hinschicken? Manchmal macht es ja mehr Eindruck, wenn man seine Anliegen persönlich vorträgt. Heute ist Freitag. Dann kommt übermorgen Beate. Vormittags, das hat sie dreimal betont, weil der Nachmittag ihrer Freizeit gehöre. Ich will nicht wissen, was genau sie damit meint, ich bin schon froh, dass sie versprochen hat, sonntags zu kommen. Aber ob sie für mich zur Krankenkasse geht? Das nötige Auftreten dazu hätte sie ohne weiteres, aber Zeit? Wenn man sie reden hört, entsteht der Eindruck, dass sie für das Fortbestehen des Unternehmens unentbehrlich ist und von morgens bis spät abends arbeitet.
    Vielleicht sollte ich eher Karl fragen. Oder Frau Kehrer. Die gute Seele kommt immer in meinem Zimmer vorbei, um sich ins Wochenende zu verabschieden, wenn sie freitags Feierabend hat.
    Nein, Frau Kehrer muss ich etwas anderes fragen. Etwas Wichtiges, das ich nicht vergessen darf.
    Als habe sie gewusst, dass meine Gedanken sich gerade mit ihr beschäftigen, tritt sie in den Speisesaal und steuert auf mich zu.
    „Ich wollte Tschüss sagen“, verkündet sie, während sie meine Rechte ergreift und drückt. „Heute mache ich früher Schluss und gehe noch einkaufen.“
    Ich starre sie perplex an. Das passt ja perfekt. Hastig mach ich die Geste des Schreibens, denn ich weiß, dass sie immer einen kleinen Bleistift und einen Zettel in der Tasche hat.
    Ich habe richtig geraten und sie kramt beides hervor. „Brauchen Sie etwas?“, erkundigt sie sich und reicht mir den Stift.
    Ich nicke, während meine Linke in krakeligen Buchstaben das Wort ‚Sekt‘ malt.
    Sie liest es und schmunzelt. „Für Sammy?“, rät sie.
    Wieder nicke ich, während ich dem Sekt ein kleines Plus und das Wort ‚Blumen‘ und zum Schluss eine Zwanzig hinzufüge.
    Frau Kehrer nimmt Zettel und Stift wieder an sich. „Zwanzig Euro“, meint sie, „dafür kriegt man eine Flasche und noch einen schönen Strauß.“
    Meine Linke gestikuliert abwehrend, dann halte ich zwei Finger hoch.
    „Zwei Flaschen?“ Ihre Augenbrauen rucken verwundert nach oben.
    Ich nicke. „Piccolos“, bringe ich heraus und zeige ihr zusätzlich mit Daumen und Zeigefinger, dass ich kleine Flaschen meine.
    „Also zwei Piccolos und ein Blumenstrauß." Sie packt Zettel und Stift wieder weg. „In Ordnung, ich bringe es Ihnen am Montag früh aufs Zimmer. Die Blumen stelle ich ins Wasser.“
    Mit Blick und Lächeln zeige ich ihr meine Dankbarkeit, trotzdem überwinde ich mich und schiebe noch ein „Danke“ hinterher.
    Sie tätschelt meine Hände und lacht. „Kein Problem, Frau Benedikt“, meint sie, „das ist doch kein Aufwand.“
    Schon ist sie verschwunden, die gute Seele.
    Ja. Der Sekt ist für Sammy. Und für mich natürlich. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass sie die Prüfung besteht, und ich will mit ihr anstoßen. So, wie es damals Elisabeth mit mir gemacht hat.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (1. April 2023 um 14:07)

  • Vielen Dank für eure Likes ^^

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    Nach dem Essen warte ich geduldig, bis mich jemand zum Mittagsschlaf ins Zimmer bringt. Noch immer lacht die Sonne vom Himmel, als wolle sie mich verspotten. Ich wende den Blick ab und beobachte stattdessen Heinz, der mit seinem Löffel spielt und dabei gedankenverloren lächelt. Herr Fischer ist nicht im Speisesaal gewesen, ein Umstand, der meine unterschwellige Sorge um ihn noch wachsen lässt.
    „Können wir?“
    Ich wende den Kopf. Monika steht hinter mir und hat fragend den Kopf schiefgelegt. Als ich nicke, ergreift sie die Schiebegriffe am Rollstuhl und bringt mich aus dem Speisesaal.
    „Möchten Sie immer noch mitfahren heute Nachmittag?“, höre ich sie fragen.
    „Ja“, bringe ich heraus und es klingt sehr verdrossen.
    „Dann wird das heute eine kurze Mittagsruhe für Sie“, verkündet sie und ich höre ein Lächeln in ihrer Stimme.
    Natürlich möchte ich wissen, was sie damit meint, aber dazu müsste ich sprechen. Und das will ich nicht. Vielleicht verrät sie es auch so.
    Und tatsächlich – sie redet weiter. „Ich hab mit unserem Schwesterheim, dem Matthäushaus, telefoniert und gefragt, ob sie einen geeigneten Rollstuhl haben, den wir ausleihen können.“
    Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich kann es deutlich fühlen. Und auch meine Hände werden schweißfeucht.
    „Und stellen Sie sich vor - sie haben einen. Unser Hausmeister ist während des Mittagessens hingefahren und hat ihn geholt. Sie können also dabei sein beim Ausflug an die Alster.“
    Die Freude, die mich überflutet, lässt einen Kloß in der Kehle wachsen, der mir ein ‚Danke‘ unmöglich macht. Aber wir sind eben vor meinem Zimmer angekommen und Monika tritt an mir vorbei, um die Tür zu öffnen. Rasch ergreife ich ihre Hand und drücke sie.
    Sie lacht und streicht mir über den Arm. „Es war Karls Idee", sagt sie. "Bedanken Sie sich bei ihm." Dann verschwindet das Lächeln aus ihren Augen. „Ich werde am Montag bei Ihrer Krankenkasse anrufen. Vorausgesetzt, es ist Ihnen recht. Damit ein Techniker vorbeikommt und Ihren Rollstuhl aufrüstet. Dann brauchen wir nicht jedes Mal einen Ersatz für Sie zu organisieren, wenn ein Ausflug ansteht. Immerhin fängt der Sommer erst an.“
    Während sie das sagt, schiebt sie den Rollstuhl ins Zimmer und verfrachtet mich mit versierten Handgriffen ins Bett. Decke drüber, fertig.
    „Schlafen Sie ein Stündchen“, meint sie, „immerhin war der Vormittag auch nicht ganz ohne mit der Sportstunde.“
    Das stimmt. Die Muskeln im linken Arm und auch im linken Bein protestieren mit schmerzhaftem Ziehen gegen die ungewohnte Beanspruchung.
    ‚Geschieht euch recht‘, knurre ich im Geist, während ich mir die Wolldecke bis zum Kinn ziehe. ‚Wird Zeit, dass ihr eure Arbeit wieder aufnehmt. Die Schonzeit ist vorbei!‘
    Während ich die Augen schließe, höre ich das Klappen der Tür. Monika ist gegangen.

    Als sich wenige Minuten später die Tür erneut öffnet, runzle ich ungehalten die Stirn. Meine Mittagsruhe heute muss bis zum letzten Moment ausgekostet werden! Also wer stört mich?
    Ich öffne ein Auge und mein Blick fällt auf einen Rollstuhl mit dunkelrotem Gestänge und grauem Ledersitz, der vor meinem Bett steht.
    Das ist nicht meiner! Schlaftrunken hebe ich den Kopf. „Geht es schon los?“, murmele ich.
    Karls Lachen kommt hinter der geöffneten Schranktür hervor. „Natürlich, Dornröschen, und wir müssen uns ein bisschen beeilen, denn die anderen sind schon alle fertig.“
    Er bringt meine Sommerjacke und ein Halstuch, in der anderen Hand hält er die Straßenschuhe.
    Bevor ich oben und unten richtig sortieren kann, sitze ich am Bettrand und er hilft mir in die Jacke. „Kopf hoch, Augen auf!“, kommandiert er energisch. „Bis es Kaffee gibt, müssen Sie noch eine Weile durchhalten.“
    Einen Wimpernschlag später stehen Karl, mein Rollstuhl und ich vor dem Heck eines Mercedes-Transporters, der am Haupteingang parkt. Während der Hausmeister mich ins Innere des Autos bugsiert, wird mir bewusst, dass es das erste Mal seit meiner Ankunft hier ist, dass ich meinen Fuß, pardon, meine vier Räder aus dem Haus setze. Viel Zeit zum Umschauen bleibt nicht. Gurte werden über meinen Oberkörper und meine Hüfte gespannt, ich höre Arretierungen klicken, spüre ein probeweises Ruckeln am Stuhl. „Fertig“, verkündet der Mann, steigt aus und schlägt die Hecktüren zu.
    Jetzt erst sehe ich, dass Marianne in ihrem Rollstuhl neben mir sitzt. Also hat sie den zweiten Platz und nicht Hertha. Vielleicht passt deren Rollstuhl auch nicht in ein Auto.

    Marianne lacht mich auf eine Art an, die mich erkennen lässt, dass sie genau nachfühlen kann, wie es mir geht.
    „Schön, dass du nun doch dabei sein kannst“, meint sie dann. „Ich wusste, dass Karl eine Lösung findet.“
    Karl, der Mann für alles. Die Seele der Station, der Kummerkasten und Seelentröster. Wie gut, dass ...
    „Hast du deine Handtasche dabei?“, fragt Marianne in dem Moment.
    Ich fahre zusammen, so sehr erschrecke ich. Meine Handtasche! Die liegt im Schrank! Ich habe gar kein Geld dabei! Kein Taschentuch, keine Lesebrille ...
    „Ach, Karl hat sie hinten in das Netz an der Lehne gesteckt.“ Marianne nickt befriedigt. „Das macht er immer. Eigentlich perfekt, nur dass man selbst da nicht rankommt.“
    Ich nicke mechanisch, während ich die Fragen ‚Wer wird meinen Kaffee bezahlen?‘ und ‚Was, wenn auf der Toilette im Café keine Handtücher sind?‘ rasch aus meinem Kopf hinausfege. Meine Handtasche ist da. Die Welt ist in Ordnung.

    Jetzt kann ich anfangen, den Nachmittag zu genießen.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Die Fahrt hat nur fünf Minuten gedauert. Es ging lediglich um ein paar Ecken, dann hat der Mercedes Transporter auch schon wieder angehalten, die Hecktüren haben sich geöffnet und während der Hausmeister nacheinander die Rollstühle von mir und Marianne rückwärts über die Rampe nach draußen bringt, steigen an der Seitentür mit Karls Hilfe die zwei Fußgänger-Senioren aus.
    Wann hat Karl sich umgezogen? Er trägt Zivil!
    „Und der Karl macht das wieder in seiner Freizeit“, seufzt Marianne in dem Moment. „Der ist nicht mit Gold aufzuwiegen, der Mann. Da sollte sich mein Junge mal ein Beispiel dran nehmen.“
    Überrascht schaue ich sie an. Sie hat also einen Sohn und ihrer düsteren Miene nach ist sie nicht allzu gut auf ihn zu sprechen.
    Das lässt mich an Joachim denken. Und während Helena, unsere FSJlerin, die Schiebegriffe umfasst und mit meinem Rollstuhl Karl folgt, erinnere ich mich an diesen Nachmittag, an dem Beate völlig außer sich im Konsum in Ellerbach angerufen hat, ...

    ... dem einzigen Ort, an dem man um diese Zeit noch jemanden telefonisch erreichen konnte. Private Haushalte hatten damals noch keine Telefone. Hannelore, die Verkäuferin, hat in ihrer Ratlosigkeit ihre zwölfjährige Tochter zu mir nach Hause geschickt, um mich in den Laden zu holen.

    Ich rief unter der von Beate hinterlassenen Nummer zurück. Sie hob sofort nach dem ersten Klingeln ab und ein Schwall unverständlicher Worte prasselte auf mich herab. Zwischen den hastig hervorgestoßenen Sätzen schluchzte sie immer wieder und im Hintergrund waren Stimmengewirr und Lautsprecherdurchsagen zu hören. ‚Irgendetwas ist mit Joachim passiert‘, schoss mir durch den Kopf, während ich mich bemühte, ein paar Wortfetzen aus Beates hysterischem Gestammel zu verstehen. ‚Sie scheint am Bahnhof zu sein, wahrscheinlich ist er vom Zug erfasst worden!‘
    Beate und Joachim waren nach Berlin gefahren. Am Freitag, also heute gab es zum Republik-Geburtstag eine Menge Veranstaltungen für Jugendliche in der Hauptstadt und sie hatten den Nachtzug genommen, weil man einen großen Ansturm erwartete. Das Live-Konzert der Band, bei dem sie unbedingt dabei sein wollten, fand auf dem Alexanderplatz statt. Die Nacht darauf würden sie mit Kumpels ‚irgendwo verbringen‘ und dabei ordentlich feiern, wie Beate mir angekündigt hat, und die Rückfahrt war für morgen geplant. Ich hatte kein gutes Gefühl gehabt, als sie mit dem Bus nach Pretzberg zum Bahnhof aufgebrochen waren. Und nun stammelte Beate am Telefon irgendetwas von Joachim und der Polizei und Wasserwerfern und Flaschen!
    Ich musste ein sehr betroffenes Gesicht gemacht haben, denn Hannelore sah mich mitfühlend an und scheuchte ihre Tochter, die mit offenem Mund neben mir stehen geblieben war, mit einer Handbewegung hinaus.
    ‚Joachim wurde verhaftet‘, erklärte ich, während ich den Hörer zurück auf die Gabel legte. Unerklärlicherweise war ich völlig ruhig. Nichts von Beates Aufregung hatte mich angesteckt. Ich war in Ellerbach. Und die Kinder in Berlin. Eine halbe Weltreise lag dazwischen. Was sollte ich schon tun? Beate hatte ihren einundzwanzigsten Geburtstag letzte Woche gefeiert und Joachim war neunzehn. Volljährig, alle beide. Ein Erziehungsberechtigter wurde also nicht benötigt.
    Natürlich war mein erster Impuls, nach Berlin zu fahren. Erna fiel mir ein. Meine älteste Schwester, die als in Frage kommender Nachtquartier-Geber bei beiden Kindern durchgefallen war, weil sie keinerlei Alkohol tolerierte. Sogar Beate, die sonst nichts auf ihre Berliner Tante kommen ließ, hatte bei meinem Vorschlag nur abgewinkt.
    Doch Erna war immerhin Familie, auch wenn sie selbst nicht besonders viel Wert darauf legte. Vielleicht konnte sie herausfinden, was Joachim getan hatte.
    Ich fragte Hannelore, ob ich noch einmal nach Berlin telefonieren durfte, und wählte mit Sorgfalt Ernas Nummer. Immer noch verspürte ich keine Aufregung und mein Zeigefinger, der die Wählscheibe drehte, zitterte nicht.
    Was war ich denn für eine Mutter? Sollte ich nicht vor Sorge vergehen? Sollte ich nicht hysterisch die Hände ringend zu Fuß zum Bahnhof in Pretzberg rennen, um mich in den nächsten Zug nach Berlin zu setzen?
    Hannelore wandte sich zwei an der Kasse wartenden Kunden zu. Ab und an sandte sie mir einen besorgten Blick. Wahrscheinlich war ich doch recht blass um die Nase. Ich drehte ihr den Rücken zu und lauschte dem Klingelton. Prompt hörte ich sie hinter mir mit den Kundinnen flüstern. Vielen Dank, Hannelore, dachte ich wütend. Morgen weiß es dann das ganze Dorf!
    „Giersch!“
    Fast zuckte ich zusammen, als ich die Stimme meiner Schwester hörte. Ihr Mädchenname knallte wie eine Peitsche durch die Leitung.
    Während ich ihr erklärte, was ich mir von ihr erhoffte, wickelte ich die spiralförmig gewundene Telefonschnur um meinen Zeigefinger.
    Erna war nicht begeistert. Das hatte ich auch nicht erwartet. Aber sie versprach, im Revier der Volkspolizei anzurufen. Ihre hinterher gemurmelte Äußerung, dass sich wahrscheinlich eher die Staatssicherheit um Joachim kümmern würde, ließ mein Herz nun noch schneller schlagen. Vierzehn Jahre vorher, bei Herberts gescheitertem Fluchtversuch, hatten die Männer in den dunklen Mänteln unsere Familie in Angst und Schrecken versetzt. Ich war nicht scharf auf eine neue Begegnung mit ihnen.
    Meine Schwester verkündete mir, dass sie morgen nach dem Mittag ein Telegramm schicken würde. Der Konsum-Laden hatte samstags nicht geöffnet und die Post schloss um vormittags um elf. Und weil Erna glaubte, dass sie bis mittags nicht erreichen würde, beharrte sie auf das Telegramm.
    Ich hatte nicht den Nerv, mit ihr zu streiten, und überlegte schon, wie samstags die Busse nach Pretzberg fuhren. Bevor ich meine Schwester wegen Beate fragen konnte, hatte sie aufgelegt.
    Nun gut. Beate war erwachsen, zumindest dem Alter nach. Vielleicht schätzte sie ja nach dieser Sache in Berlin eine Übernachtung bei ihrer Tante als nicht mehr ganz so unzumutbar ein wie vor ihrer Abfahrt hier Zuhause. Alkohol hin, Rauchen her.
    Ich bedankte mich bei Hannelore und mit den Blicken von Kundinnen und Verkäuferin im Rücken verließ ich den Laden. Mir war klar, dass sie sich erhofft hatten, von mir die Neuigkeiten brühwarm im Detail erzählt zu bekommen. Aber ich hatte andere Pläne. Ich musste nach Hause, an den Fernseher. Ich musste wissen, was meinen Kindern zugestoßen war. Wasserwerfer und Flaschen, Polizei ...

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Der heutige Part ist etwas länger und ich möchte euch bitten, mir zu verraten, wie euer Eindruck war. Ist er zu ausführlich? Wenn ja - was findet ihr unnötig und sollte gekürzt werden?

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    „Da sind wir!“
    Marianne strahlt mich an und weist in großzügiger Geste über die in lockerem Abstand aufgestellten Sitzgruppen unter großen, gelben Sonnenschirmen. Karl macht sich schon wieder nützlich, schiebt zwei der Tische zusammen und stellt zwei Stühle beiseite. Marianne und ich werden ruckzuck eingeparkt und während die anderen ihre Plätze einnehmen, habe ich schon Gelegenheit, mich umzuschauen.
    Schön ist es hier. Man kann es gar nicht anders nennen. Nur die Fußgängerpromenade trennt uns von der Außenalster. Das Café ist eingebettet zwischen Rhododendron- und Fliederbüsche. Letztere sind fast verblüht, doch ihr unverwechselbarer Duft hängt noch in der Luft und ich summe schmunzelnd ‚Wenn der weiße Flieder wieder blüht‘.
    „Jetzt lächelst du wieder“, raunt Marianne. „Was war denn vorhin mit dir los? Du sahst aus, als würdest du jemanden umbringen wollen.“
    Ich nicke düster. „Joachim“, rutscht es mir heraus, bevor ich mich bremsen kann,
    „Wer ist das?“
    Himmel, manchmal ist Marianne hartnäckiger als die Logopädin. Und die besitzt die Unnachgiebigkeit einer Brechstange.
    „Sohn.“ Zu mehr kann ich mich nicht durchringen.
    „Was hat er denn verbrochen?“ Karl lässt sich auf den Stuhl zwischen uns beide fallen und mustert mich nicht weniger neugierig als Marianne. Und natürlich wenden sich mir auch die Köpfe von Helena und dem älteren Ehepaar zu, das noch mit im Transporter gesessen hat.
    „Polizei“, gebe ich zurück, widerwillig, denn ich will ja nicht sprechen und schon gar nicht, wenn mich alle erwartungsvoll anschauen. Ich hätte meinen vorlauten Mund halten sollen.
    Die blonde Bedienung tritt an den Tisch, zückt Stift und Zettel und fragt, was sie uns bringen kann. Zwischen den Bestellungen für Kaffee, Erdbeertorte, Bienenstich, eine Bockwurst mit Kartoffelsalat, ein Bier und zwei Mineralwasser flüstert der Mann von dem Ehepaar mit seiner Frau und hebt dabei sorgenvoll die Brauen. Wahrscheinlich haben die beiden auch so ein Exemplar von Sprössling, wie meiner es ist, und sie denken jetzt an einen oder mehrere Polizei-Kontakte zurück, die dieser verursacht hat.

    dass Joachim damals neunzehn Jahre zählte.
    Als die Blonde verschwunden ist, meint Karl bedauernd: „Es wäre sicher interessant, zu hören, welches Abenteuer Ihr Sohn erlebt hat, das mit dem Besuch der Polizei endete.“
    Besuch der Polizei? Ich sehe ihn fast mitleidig an. Wenn du wüsstest, Karl, ...
    Er hält meinem Blick stand, während ich abschätze, wie groß die Chancen sind, dass er und Joachim sich irgendwann einmal begegnen. Verschwindend gering, vermutet mein Verstand.
    Das Bier für den Mann von dem Ehepaar und das Mineralwasser für Helena und mich kommt. Dankbar nehme ich einen Schluck und setze meinen gedanklichen Ausflug in die Vergangenheit an der Stelle fort, an der Marianne mich vorhin unabsichtlich unterbrochen hat.

    Die Fernsehübertragung machte mich nicht ruhiger. Da war die Rede von ‚Ausrastern‘, ‚enthemmten Jugendlichen, die unter dem Einfluss von mitreißenden Rhythmen rowdyhaftes Verhalten zeigten‘ und ‚Handgreiflichkeiten gegen Volkspolizisten‘.
    Verwirrt erinnerte ich mich, dass Beate von Wasserwerfern und geworfenen Flaschen erzählt hatte. Das, was der Reporter da beschrieb, klang nicht, als wäre es derart eskaliert. Kein Wort von Verhaftungen.
    Ich ließ den Fernseher laufen, um nichts zu verpassen. Doch der Sender übertrug ein festliches Musikprogramm aus dem Palast der Republik.
    In dieser Nacht schlief ich nicht. Ständig musste ich an meine Kinder denken. Es war Joachims erster Ausflug nach Berlin gewesen und Beate, die ja dort zu Hause war, hatte sich darauf gefreut, ihrem Bruder alles zu zeigen.
    Ob meine älteste Schwester etwas erreichen konnte? Sie lebte seit 1961 in der Hauptstadt und kannte viele Leute durch ihre jetzige Arbeitsstelle.
    Der Vormittag verging in quälender Langsamkeit. Die Zeiger der Küchenuhr schienen auf dem Zifferblatt festgeklebt zu sein. Immer wieder erwog ich, selbst nach Berlin zu fahren. Doch gleichzeitig wusste ich auch, dass ich nichts bewirken konnte. Beate und Joachim zählten als Erwachsene und eine aufgeregte Glucke in der Polizeiwache würde niemandem helfen, am wenigsten gestressten Polizisten, die Wochenenddienst hatten.
    Ab zwei Uhr nachmittags stand ich an der einzigen Bushaltestelle von Ellerbach, der Wendeschleife. Nicht um nach Berlin zu fahren, nein, aber wenn am Wochenende ein Telegramm für eines der umliegenden Dörfer in Pretzberg eintraf, brachte es der Linienbus mit.
    Als ich das Brummen hörte, mit dem sich sein Kommen ankündigte, atmete ich tief durch. Gleich würde ich es wissen.
    ‚Anhörung noch nicht erfolgt‘ war alles, was ich auf dem hastig aus dem Umschlag gezerrten Blatt lesen konnte. Meine Hände sanken herab.
    „Schlechte Nachrichten?“, hörte ich den Busfahrer fragen. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und saß auf der Bank. Bis zur Abfahrt blieben ihm noch ein paar Minuten.
    Ich nickte und machte mich dann auf den Heimweg. Sein gemurmeltes ‚Tut mir leid‘ hörte ich noch, aber mit dem Mann zu reden, dazu verspürte ich keine Lust, obwohl seine Frage Mitgefühl verraten hatte.
    Ein weiteres Telegramm war nicht vereinbart worden zwischen mir und Erna, also blieb mir nichts weiter übrig, als bis zum Montag zu warten.
    Und am Sonntagabend stand Joachim plötzlich in der Tür. Man hatte ihn am Samstag mitten in der Nacht aus der Haft entlassen und er war – diesmal gar nicht widerwillig – mit der Straßenbahn zu Erna gefahren. Auf der Wache musste er eine Kontaktperson und deren Adresse angeben und aus irgendeinem Grund erschien sie ihm als die bessere Wahl als seine Schwester. Mittags stieg er in den Zug nach Pretzberg und kam dann mit dem letzten Bus nach Ellerbach.

    Wann ist denn der Kuchen gekommen? Verwundert schaue ich auf die Erdbeeren, die – umhüllt von roter Gelatine– mein Tortenstück krönen.
    „Wo haben Sie früher gelebt, Frau Benedikt?“, erkundigt sich Helena, mit der ich bis heute noch nicht so viele Begegnungen hatte.
    „DDR“, antworte ich. Es klingt, als müsse ich mich dafür entschuldigen, und ich beginne, meine Erdbeertorte zu essen. Der Kaffee, der auch irgendwann gebracht worden ist, ist nicht mehr ganz heiß.
    „Wir auch.“ Die Frau vom Ehepaar nickt mir aufmunternd zu. „Wir sind aus Thüringen, Bezirk Suhl.“
    Ich könnte jetzt sagen, dass ich früher im Bezirk Potsdam gelebt habe, aber erstens will ich – wie gesagt – nicht sprechen und zweitens hat die Frau nicht danach gefragt.
    „Es brauchte in der DDR nicht viel, um mit der Polizei oder gar der Stasi aneinanderzugeraten“, meint ihr Mann ernst. „Und oft hat man da aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Erinnerst du dich an diese angeblichen Jugendkrawalle in Berlin damals, Ilse?“, fragt er seine Frau.
    Ich sehe ihn verdutzt an. Ist das Gedankenübertragung gewesen?
    „Wer nicht“, höre ich sie antworten. „Es kam damals in den Nachrichten. Aus Sicht der bundesdeutschen Reporter hörte sich das wie ein versuchter Umsturz an. Ich weiß noch, dass ich den Fernseher den ganzen Tag laufen ließ.“
    „Es seien sogar Polizisten dabei getötet worden“, fügt ihr Mann hinzu und nickt bekräftigend, bevor er sein Bier ansetzt und austrinkt.
    Mir kriecht nachträglich ein Frösteln über den Rücken. Tote Polizisten? Joachim hat wohl riesiges Glück gehabt, dass er da nicht in der Nähe gewesen ist. Sonst hätte man ihn nicht einfach ohne Anklage und Verhandlung gehen lassen.
    „Das alles ist so lange her“, sagt seine Frau und es klingt versöhnlich. „Jetzt ist Mai, die Vögel singen, die Sonne scheint, der Flieder duftet und unser Kaffee wird kalt. Lasst uns das Thema beenden.“
    „Und in einer halben Stunde kommt Arno und holt uns ab, also sollten wir uns beeilen, wenn wir noch einen kleinen Spaziergang am Wasser machen wollen“, ergänzt Karl.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (3. August 2023 um 13:31)

  • Ist er zu ausführlich? Wenn ja - was findet ihr unnötig und sollte gekürzt werden?

    Das ist wieder ein sehr schöner Part und auch ein spannender Einblick in die DDR-Vergangenheit. Ich würde da nichts kürzen - alles ist interessant und ohne gefühlte Längen. Es ist auch so typisch, dass die alte Frau Ereignisse von vor 44 Jahren so präsent wie gestern, oder vielleicht sogar präsenter als die Ereignisse von gestern vor Augen hat.

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Lieben Dank dir, Kirisha . Schön, dass es dir gefällt. Und es beruhigt mich, dass du es nicht zuuuuu ausführlich findest.

    Spoiler anzeigen

    Die Telefonprozedur ist mir aus meinen Erinnerungen bekannt, denn meine Mutter war jahrelang Verkäuferin in unserem Dorfkonsum. Und dass die Verkäuferinnen-Kinder sich dort aufhielten, war normal. Schließlich war das ganze Dorf unser Zuhause, also auch der Konsum. :rofl: Ich denke gern an diese Zeit zurück. Dort haben sich die Leute getroffen, da wurden Neuigkeiten ausgetauscht, er war das Facebook des Dorfes. :D

    Lutherstadt Wittenberg - Das Haus der Geschichte

    Lutherstadt Wittenberg - Das Haus der Geschichte

    Als ich am nächsten Morgen aufwache, kann ich mir ein Stöhnen nicht verkneifen. Himmel, mir tut jeder Knochen weh. Mein fauler, in letzter Zeit kaum beanspruchter und deshalb völlig verwöhnter Körper beschwert sich vehement über die gestrige Misshandlung auf der Physio-Matte im Speiseraum. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen derartigen Muskelkater hatte. Schon die Bettdecke zurückzuschlagen erweist sich als kaum zu bewältigender Kraftakt. Das kann ja heiter werden heute.
    Auf dem Gang sind schon Stimmen zu hören. Nicht jeder schläft gern so lange wie ich und außerdem ist das Wasch-Geschwader seit sechs Uhr in den Zimmern unterwegs.
    Ich hebe den Kopf und schiele auf den Wecker. Halb acht? Noch niemand da, der mich aus dem Bett ins Bad bringt? Um acht ist Frühstück.
    Verwundert lausche ich nach draußen. Nein, keine Schritte, die sich nähern.
    Über meinem Bauch baumelt die Leiter. Meine neueste Errungenschaft. Hab ich Kerstin zu verdanken. Die Physiotherapeutin meint, ich könne wesentlich mehr allein machen und mit weniger Hilfe auskommen. Ich habe den starken Verdacht, dass Karl dahinter steckt, mein unermüdlicher Antreiber.
    Die Leiter ist eine schmale Strickleiter und hat vier Sprossen. Sie ist am Galgen befestigt, einem Metallarm, der am Kopfende über meinem Bett angebracht ist.
    Ich verstehe, dass ich meinen Körper kräftigen muss, um wieder beweglicher zu werden. Schließlich bin ich erst fünfundsiebzig, ich will noch was vom Leben haben. Aber um eine Leiter zu erklimmen, braucht man meines Wissens zwei Hände. Und meine Rechte lässt sich leider nicht dazu bewegen. Ha, nettes Wortspiel. Ich lächle, während ich weiter das über mir hängende Hilfsmittel mustere.

    Das Baumhaus zog mich an wie das Licht die Motte. Ich wollte unbedingt einmal hinauf. Doch die Jungen waren erbarmungslos. Sie hatten die Strickleiter eingezogen.
    „Kein Zutritt für Mädchen!“, brüllte Fleischers Maxe von oben herab.
    „Ja, kein Zutritt für Weiber“, bekräftigte Richard und keckerte boshaft. Der Lindenwirt-Sohn konnte unmöglich hinter Maxe zurück¬stehen, er musste also noch eins draufsetzen.
    Manfred, sein jüngerer Bruder, steckte den Kopf aus einem der Fenster und sah herunter, sagte aber nichts. Und Martin fand es unter seiner Würde, mir auf meine Frage, ob ich einmal hochklettern dürfte, zu antworten. Er hatte mir lediglich einen Vogel gezeigt.
    Wütend sah ich Gertrud an, die mit verschränkten Armen neben mir stand und ebenfalls nach oben starrte. Marthchen, die Dritte im Bunde, sagte wie immer nichts, wenn ihre Brüder in der Nähe waren. Richard schüchterte seine kleine Schwester schon allein durch seine Gegenwart ein.
    „Was machen wir?“, fragte ich. Getrud war die mit den tollen Ideen, ihr würde auch diesmal was einfallen. Das hoffte ich zumindest. Doch diesmal machte sie ein ratloses Gesicht.
    „Wir bauen uns selbst eins“, verkündete sie schließlich.
    Verblüfft musterte ich sie. „Wie willst du das anstellen? Wir haben weder Holz noch Werkzeug. Und schon gar keinen Baum.“
    Sie wandte den Blick von der hölzernen Festung der Jungen und sah mich lächelnd an. „Das leihen wir uns.“
    Marthchen nickte zustimmend. Ich war überzeugt, dass sie nicht wusste, was Gertrud vorschwebte, aber sie vertraute der Freundin bedingungslos.
    „Kommt mit!“ Gertrud drehte sich um und rannte über die Wiese, sprang mit einem Satz über den kleinen Bach und erreichte das Dorf. Hier bog sie am Anger in die Kirchgasse ein.
    Marthchen und ich hetzten ihr hinterher, während ich mich fragte, wo um alles in der Welt sie hinwollte. Das einzige Haus, das außer der Kirche und dem Pfarrhaus hier stand, war das Kantorenhaus. War das ihr Ziel?
    Sie lief am Zaun des Kantorenhauses entlang hinter das Haus und stoppte plötzlich.
    „Erwin!“, rief sie.
    Bevor ich sie fragen konnte, was sie vorhatte, tauchte der Kopf des Bekloppten zwischen den Johannisbeerbüschen der Kantorsfrau auf. Gertrud winkte ihm energisch zu und tatsächlich, er stand auf und kam herüber zu uns.
    Marthchen schob sich unauffällig ein Stück hinter mich und auch mir selbst wurde unbehaglich. Ich erinnerte mich noch gut an diese Sache von Anfang März, als die Jungen Schneebälle auf Erwin geworfen hatten und er in den Straßendreck gefallen war. Mein eigenes, gemeines Lachen klang mir plötzlich in den Ohren und es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre abgehauen.
    Aber Gertrud war dabei, sie stand zwischen uns und Erwin. Genau wie der solide Zaun des Kantors. Also blieb ich und sah zu, wie Erwin an diesen herantrat. Ich kann mich nicht erinnern, was Gertrud zu ihm gesagt hat, so beschäftigt war ich damit, den Bekloppten nicht aus den Augen zu lassen. Einerseits weil ich ständig – trotz seiner unbeholfenen Bewegungen – damit rechnete, dass er über die hüfthohen Latten setzte und mir eine Abreibung verpasst, andererseits weil ich ihn mit offenem Mund anstarrte. Ja, er schielte immer noch und ja, seine Kleidung war nicht besser geworden. Aber zum ersten Mal fiel mir sein freundliches Gesicht auf. Sein gutmütiges Lachen, als Gertrud auf ihn einredete. Und sein eifriges Nicken.
    Irgendwann drehte meine Freundin sich um und verkündete: „Er hilft uns.“
    Mir war, als erwachte ich aus einem Traum. Helfen? Bei was?
    „Echt?“, hörte ich Marthchen flüstern, während wir langsam am Zaun entlang zur Kirchgasse liefen.
    „Ja, er will uns einen passenden Baum zeigen und beim Bauen helfen. Werkzeug bringt er mit.“ Getrud verkündete das, als wäre es das Normalste auf der Welt.
    „Werkzeug?“, echote ich. „Woher hat er das?“
    „Von zu Hause.“
    „Woher weißt du das?“
    Sie blieb stehen und sah mich an. „Ich hab ihn nach dieser Schneeballsache öfter besucht. Er hat eine Schuppen voller Werkzeuge. Er schreinert. Die Möbel in der Stube seiner Mutter hat er selbst gebaut.“
    Ich riss den Mund auf? Der Bekloppte konnte Möbel bauen?
    „Er ... ist nicht bekloppt“, fügte sie an und ihr Blick wurde noch ein bisschen intensiver. „Seine Mutter sagt, er hat Probleme mit dem Sprechen und den Bewegen, besonders, wenn sich Leute in der Nähe befinden. Aber wenn er allein ist, singt er und kann wundervolle Dinge bauen. Dann kann er sich bewegen, auch die Hände und die Finger. Es dauert alles nur ...“
    Sie brach ab und sah zurück zum Kantorhaus, wo Erwin inzwischen wieder zwischen den Büschen verschwunden war.
    „Er hilft uns mit dem Baumhaus“, schloss sie. „Das ist kein Problem für ihn und er freut sich, dass wir ihn gefragt haben. Morgen nach der Schule geht es los. Das wird ein toller Sommer.“
    Beschämt lief ich hinter ihr her. Gertrud hatte Erwin besucht, mehrfach wohl sogar, mir aber nichts davon gesagt. Ich musste nicht überlegen, warum, denn dass ich es nicht verstanden hätte, lag auf der Hand.
    Es ging tatsächlich am nächsten Tag los. Und es entstand ein Baumhaus, wovon man als Mädchen nur träumen konnte. Die Jungen vergingen vor Neid, besonders weil wir nicht verrieten, dass uns jemand geholfen hatte.

    Und es wurde wirklich ein toller Sommer.

    Und ich nannte Erwin nie wieder ‚den Bekloppten‘.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Entschlossen greife ich mit der Linken nach der zweiten Sprosse meiner Galgenleiter. Ich muss mich ein wenig aufrichten dafür und meine Bauchmuskeln beklagen sich.
    „Selber schuld“, zische ich, während sich meine Finger um das geschliffene Holz schließen.
    Na wunderbar. Jetzt hänge ich zwischen Himmel und Erde. Zumindest mit dem Oberköper. Ich merke, wie meine Finger beginnen abzurutschen. Verflixte Schwäche! Ich will aber nicht loslassen. Verbissen packe ich fester zu und ziehe mich höher. Ich kann aus dem Fenster sehen! Grauer Himmel, war ja klar.
    Mein Arm fängt an zu zittern. Mir fehlt einfach die Kraft. Langsam lasse ich mich zurück sinken und löse den Griff. Mein Rücken fällt ins Kissen und ich könnte vor Wut auf irgendetwas einschlagen. Vielleicht, wenn ich etwas weiter oben liegen würde?
    Ich verschnaufe ein paar Sekunden. Dann schnappe ich mir die Holzsprosse erneut und winkle gleichzeitig das linke Bein an. Das Abstemmen von der Matratze gelingt nicht so wie erhofft, aber ein paar Zentimeter habe ich gewonnen. Ich merke es daran, dass ich Baumwipfel vor dem Fenster erkennen kann, bevor ich wieder zurückfalle.
    Noch immer kommt niemand zum Waschen. Um acht ist Frühstück und ich möchte gern im Speisesaal sein. Schon um zu wissen, ob Herr Fischer heute wieder da ist.
    Die Tür öffnet sich, ohne Klopfen. Also hat es jemand eilig. Und richtig: Schwester Isabell steckt den Kopf herein.
    „Dauert noch ein bisschen, Frau Benedikt, wir sind unterbesetzt heute“, verkündet sie knapp und ist sofort wieder verschwunden.
    In Ordnung. Das erklärt alles. Ich warte also geduldig. Irgendwann kommt schon jemand.
    Zehn Minuten später ist Isabell zurück. Sie richtet mich auf, zieht die Schuhe an und hebt mich geschickt auf den Toilettenstuhl, der neben meinem Bett steht. Gleich darauf stehe der – mit mir darin – im Bad vor dem Waschbecken.
    Isabell möchte Wasser einlassen, doch ich schiebe ihre Hand weg. „Nur Kleidung“, murmele ich und greife selbst nach dem Wasserhahn.
    Ihr Erstaunen währt nur einen Augenblick, dann verschwindet sie kurz und kehrt mit meinen Sachen über dem Arm zurück, die sie auf den Toilettendeckel legt.
    „Für unten rum komme ich dann wieder, in Ordnung?“
    Ich nicke lächelnd und scheuche sie mit einer wedelnden Handbewegung hinaus.
    Dann sitze ich vor dem gefüllten Waschbecken und starre mein Spiegelbild darüber an. Die Brille liegt auf dem Nachttisch, alles ist ein bisschen verschwommen.
    Auf geht’s, Hannche, fordere ich mich selber auf, jetzt zeig mal, aus welchem Holz du geschnitzt bist!
    Und es geht. Es geht tatsächlich. Ich kann mich oben herum allein waschen! Den Rücken lasse ich für Isabell. Oder nein, der kann heut mal ungewaschen bleiben.
    Als ich fertig bin, strahlt mich eine saubere, gekämmte Hannche mit eingesetzter Zahnprothese an. Sogar angezogen habe ich mich selbst. Es sitzt alles ein bisschen schief und der BH ist noch offen, aber – voila!
    Ungeduldig warte ich auf Isabell. Ich will ihr staunendes Gesicht sehen. Ich will die Erleichterung über die eingesparte Zeit darauf entdecken können.
    Als sie kommt, hämmert mein Herz vor Aufregung. Und ich genieße den Moment, höre ihr Lob und winke großzügig ab, als sie Beine und Füße waschen will. Jogginghose, Socken, Schuhe, das reicht heute. Bin ja nicht dreckig.

    Jetzt kommt ein kritischer Augenblick, denn bisher musste immer eine zweite Schwester helfen, damit ich aufstehen und mir der Po gewaschen werden konnte. Doch mein Experiment mit der Sprossenleiter hat mich mutig gemacht. Ich deute mit der Linken erst auf mich und dann auf die Haltstange neben der Toilette.
    Isabell begreift, was ich vorhabe, und zieht die Augenbrauen hoch. „Sie wollen allein aufstehen und sich festhalten?“
    Ich kann ihre Skepsis nachvollziehen, aber sie war an meinem sportlichen Morgen nicht dabei. Energisch nicke ich.
    Mit sorgenvollem Blick bugsiert sie den Toilettenstuhl zur Haltstange. Ich beuge mich vor, meine Linke packt zu. ‚Höher‘, befehle ich mir selbst, ‚du musst dich doch hochziehen!‘
    So weit oben wie möglich umklammere ich das dunkelgrün lackierte Metall, Isabell schiebt ihre Hände unter meine Achseln.
    „Uuund hoch!“, kommandiert sie.
    Ich ziehe und drücke gleichzeitig das linke Bein durch. Isabell hält mich und ich kann mit der Hand noch ein Stück höher rutschen.
    „Geht’s?“, fragt sie zögernd.
    Ich nicke. Los, Mädel, mach hin, ewig lange kann ich mich nicht halten.
    In Nullkommanichts bin ich unten herum gewaschen, die Einlage ist eingelegt, die Jogginghose hochgezogen. „Könnten Sie sich kurz auf die Toilette setzen?“, fragt Isabell. „Dann hole ich schnell den Rollstuhl und Sie kommen noch rechtzeitig in den Speiseraum.“
    Na wenn das keine lohnenden Aussichten sind! Ich nicke und sie hilft mir. Auf dem Thron hockend sehe ich zu, wie sie den Toilettenstuhl nach draußen bringt und mit meinem Mercedes zurückkehrt. Das Badezimmer ist eng, aber Frauen können einparken, auch wenn Männer oft das Gegenteil behaupten. Noch einmal muss ich aufstehen und mich ein bisschen drehen. Wie ein nasser Sack plumpse ich in den Rollstuhl, erschöpft und mit zitterndem Arm und Bein, aber glücklich. Ich habe es geschafft. Heute Morgen bin ich über mich hinausgewachsen.
    Jawohl, du jammernde und schwarzseherische Hannah, das lass dir mal gesagt sein: Hannche ist wieder da! Die alte Hannche. Die alles erreichen kann, wenn sie nur will.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • =O =O =O

    Ich habe eben gemerkt, dass ich einen großen Part entfernen muss. Schade, denn ich mochte ihn. Aber was ich

    hier geschrieben habe

    „Und am Sonntagabend stand Joachim plötzlich in der Tür“, schließe ich meinen Bericht. „Man hatte ihn am Samstag mitten in der Nacht aus der Haft entlassen und er war – diesmal gar nicht widerwillig – zu Erna gegangen. Er musste eine Kontaktperson angeben und aus irgendeinem Grund erschien sie ihm als die bessere Wahl als seine Schwester. Mittags stieg er in den Zug nach Pretzberg und kam dann mit dem letzten Bus nach Ellerbach.“

    ...

    „Das alles ist so lange her“, sage ich entschlossen. „Jetzt ist Mai, die Vögel singen, die Sonne scheint, der Flieder duftet und unser Kaffee wird kalt. Lasst uns das Thema beenden.“

    ... ist schlichtweg Blödsinn, also weg damit. Ich muss es irgendwie anders rüberbringen.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • So, liebe Kirisha , ich habe die vermurksten Textstellen gestern noch ausgebessert. Der Part ist jetzt etwas kürzer, aber die Schilderungen über die Zustände in der DDR, die dir gefallen haben, sind noch drin.

    Und dann hab ich gleich ein bisschen weitergeschrieben. Nicht viel, aber ich muss erst wieder in die Gänge kommen.

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    Keine fünf Minuten später sitze ich im Speisesaal. Mein Blick wandert suchend über die Tische. Einige Bewohner fehlen, aber die meisten sind da.
    „An solchen Tagen wie heute lassen sie diejenigen, die beim Essen keine Hilfe brauchen, etwas länger schlafen und bringen ihnen dann ihr Frühstück aufs Zimmer“, erklärt mir Marianne, die bemerkt haben muss, wie ich mich umschaue. „Das ist einfacher.“
    Hertha nickt. „Zimmer-Service“, fügt sie mit wichtiger Miene hinzu und reckt den Daumen hoch. „Wie im Hotel.“
    „Es kommt zum Glück nicht so oft vor, dass man unterbesetzt ist“, meint Marianne schulterzuckend. „Und man sollte annehmen, dass wir alle dann unsere Ansprüche an das Personal ein bisschen zurücknehmen, denn die Schwestern haben nun mal nur zwei Hände. Aber es gibt immer Ausnahmen.“ Sie sieht vielsagend zum Nachbartisch, an dem eine mürrische Dame Emily nun schon zum zweiten Male zum Fenster schickt, weil die es nicht nur schließen sollte, sondern nun auch noch die Gardine zuziehen muss. Schließlich scheint ja die Sonne direkt in das Gesicht der Ärmsten.
    „Manche behandeln das Personal wie Dienstmädchen“, kräht Hertha. Dass nicht nur die Frau vom Nebentisch es hört, ist dabei scheinbar volle Absicht. Und natürlich starrt besagte Dame erbost herüber, doch Hertha sieht nicht hin. Und Marianne hebt ihre Kaffeetasse und versteckt ihr Lächeln dahinter.
    „Schön, dass du es geschafft hast, hier zu sein“, sagt sie und nimmt einen Schluck.
    Ich schaue sie an und verspüre ein kleines, warmes Glücksgefühl im Bauch, das sich zu dem nach meinem selbständigen Waschen und Anziehen gehobenen Ego gesellt. Marianne freut sich wirklich, dass ich da bin. Gern würde ich ihr von meinem sportlichen Morgen erzählen, aber meine Stimme ...
    Ich winke also nur schmunzelnd ab und sehe zu, wie Isabell Waltrauds Rollstuhl an den Tisch bringt. Es ist bereits Viertel nach acht Uhr, doch Wally ist das egal. Sie greift schon nach den fertigen Brötchenhälften, als die Schwester noch dabei ist, die Bremsen am Stuhl zu arretieren.
    Wieder gleitet mein Blick über die Tische, bis er beim Männertisch ankommt. Mein Herz macht einen nervösen, kleinen Hüpfer.
    Herr Fischer ist wieder im Saal. Was auch immer ihn gestern im Zimmer bleiben ließ – es scheint weg zu sein.
    Er schaut in meine Richtung und als hätte er darauf gewartet, dass ich zu ihm hinübersehe, hebt er grüßend eine Hand.
    Ich nicke und lächle schon wieder. So viel Freude am Morgen ist wirklich ungewohnt für meine Gesichtsmuskeln.
    „Johannes ist wieder da, hast du gesehen?“, fragt Marianne in dem Moment und ich merke, dass auch sie ihm gewinkt hat. „Es geht ihm also wieder besser. Der Ärmste, manchmal kommt er drei, vier Tage nicht aus dem Bett.“
    Ich schaue sie fragend an. Vielleicht erzählt sie mir ja, was mit ihm los ist. Dann muss ich Karl nicht fragen. Marianne hat da sicher keine Skrupel. Wenn sie es überhaupt weiß ...
    „Er hat Fibromyalgie“, verkündet sie in dem Moment.
    Ich muss wohl ein sehr dummes Gesicht zeigen, denn sie lacht. „Mach dir nichts draus, ich habe das Wort vorher auch noch nie gehört. Deshalb hab ich Karl gefragt. Und er hat gesagt, dass das eine Erkrankung der Muskeln ist. Eine chronische und sehr schmerzhafte. Aber Johannes lässt sich davon nicht unterkriegen.“
    Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Wie wird das behandelt? Kann man das heilen? Stirbt man daran?
    Wieder bremst mich mein Vorsatz, nicht zu reden, aus und ich beiße mir auf die Unterlippe. Die gute Laune ist wie weggewischt. Ich bin ärgerlich auf mich selbst, auf meinen Stolz, der mich daran hindert, mit meiner ungewohnten Stimme Worte zu sprechen. Damit schließe ich mich aus vielem aus. Ich kapsele mich förmlich ab.
    Das hat heute ein Ende, nehme ich mir vor. Heute ist der Tag X. Der unterbesetzte Tag wird mein Neubeginn. Ich werden anfangen zu sprechen und ich werde mich irgendwann mit Herrn Fischer über seine Krankheit unterhalten können. Ich möchte mitreden, wenn andere von ihrer Vergangenheit erzählen, und ich möchte mit Marianne und Hertha lästern können, wenn sie über andere Heimbewohner herziehen. Ich möchte das ‚Guten Morgen‘ der Schwestern erwidern können und ich möchte irgendwann mit Beate oder auch Joachim telefonieren. Ich möchte so vieles. Alles Dinge, die ich erreichen kann.

    Und deshalb fange ich heute damit an.

    „Oh weh", murmele ich.

    Na gut, das geht noch besser. Aber ich will ja nur meine Betroffenheit zum Ausdruck bringen und keine Rede halten.

    Noch nicht.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Liebe Kirisha ,

    ich bin gerade wieder mal im Flow bei "Hannche", deshalb lass ich dir schon mal den nächsten Part da. Fühl dich aber nicht gedrängt, zu kommentieren. Dein Like sagt mir, dass du es liest, und das reicht mir. :) Wenn ich zu schnell werde oder wenn du beim Lesen etwas entdecken solltest, was dich stört oder was du nicht nachvollziehen kannst o.Ä., dann sag einfach Bescheid. :)

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    Karl, der Gute, hat meinen Rollstuhl wieder in den Garten gebracht und ist dann verschwunden. Meine Linke tastet kurz nach der Notklingel. Die glatte Rundung des kleinen Knopfes gibt mir Sicherheit. Zur Toilette muss ich am Vormittag sicher nicht. Ich habe extra nur eine Tasse Kaffee getrunken zum Frühstück.
    Versonnen lächle ich, während ich in die Sonne blinzle. Kaffee trinken zu können, so viel man will, ist ein unbeschreiblicher Luxus.

    Sieben Jahre nach Kriegsende heiratete mein Bruder Martin und zog an die Ostsee. Jutta, seine Frau, stammte aus der Gegend von Kiel. Ihre Familie besaß einen Bauernhof und er hatte eingewilligt, mit ihr dort zu leben. Es ging ihnen gut, denn Lebensmittel selbst produzieren und verkaufen zu können, war eine einträgliche Einnahmequelle in den Fünfzigerjahren. So kurz nach dem Krieg, als die ostdeutsche Wirtschaft noch am Boden lag, erschienen uns die kleinen Pakete, die Jutta schickte, wie direkt aus dem Himmel geliefert. Martins Frau war eine Seele von Mensch. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, uns richtig gut kennenzulernen, weil sie nur eine Woche in Ellerberg, wo die Hochzeit stattfand, zu Besuch gewesen war. Aber ihre Päckchen enthielten genau die Dinge, die uns Freude bereiteten. Für Vater waren es Zigarren und für mich Strümpfe, Kosmetikartikel und Parfum, manchmal sogar ein Buch.
    Mutter bekam immer Bohnenkaffee. Bei jedem Päckchen, das wir öffneten, war er das das Erste, was man roch. Richtig guter. Nicht der, mit dem die Russen uns anfangs noch versorgt hatten, oder der, den die DDR danach selbst herstellte, geschweige denn der ungenießbare Mix, den es nach der Erhöhung der Preise aufgrund der Kaffeekrise gab. Diese noch nicht gemahlenen Bohnen hielten, was ihr Duft versprach. Nicht nur beim Öffnen der Packung, sondern auch beim Mahlen in der hölzernen Handmühle, die mein Vater dabei zwischen die Knie klemmte, und beim Aufbrühen mit kochendem Wasser. Und wir wussten bei jeder Tasse, bei jedem Schluck, dass Jutta Nachschub schicken würde. Deshalb sparte Mutter auch nicht. Es gab ja nur noch uns drei zu Hause. Ursel, Martin und Gundula waren verheiratet, Erna lebte in Berlin, Großmutter in Bamberg und Herbert war bei der Armee. Für ihn, der nur ganz selten mal nach Ellerbach kam, hatte Jutta immer Zigaretten und Nassrasierer mit Klingen in den Paketen.
    Aber wir hatten Kaffee, den Mutter großzügig mit uns teilte.

    „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
    Ich fahre zusammen, so sehr überrascht mich die Stimme.
    Herr Fischer steht neben der Bank und sieht mich zerknirscht an.
    „Entschuldigen Sie, ich habe Sie erschreckt.“
    Verlegen winke ich ab und deute dann auf die Bank neben meinem Rollstuhl. „Nicht schlimm“, flüstere ich, meiner guten Vorsätze vom Frühstück gedenkend.
    Er lächelt und nimmt Platz. So wie ich vorhin hebt er das Gesicht in die Sonne und schließt für einen Moment die Augen.
    Das gibt mir Gelegenheit, ihn einmal gründlicher zu betrachten. Bisher ist mir das noch nicht möglich gewesen. Seine Augen ... Ja, die sind im Augenblick geschlossen, aber sonst schauen sie immer irgendwie traurig. Tief liegen sie in den Höhlen, haben dicke Tränensäcke darunter, aber auch unzählige Lachfältchen an den äußeren Augenwinkeln.
    Er trägt eine Brille mit einem messingfarbenen Metallgestell, aber sie sitzt ziemlich weit vorn auf der Nase. Und von dieser ziehen sich tiefe Falten hinunter zu den Mundwinkeln. Die Lippen hat er zu einem winzigen Lächeln verzogen, das Kinn ist ausgeprägt und glattrasiert.
    Mein Blick wandert wieder höher. Herrn Fischers Kopf hat oben keine Haare mehr. Der schneeweiße und fluffige Rest hinten und an den Seiten wirkt so weich, dass ich einen Augenblick versucht bin, mit den Fingern hindurchzufahren.
    Himmel, was ist denn los mit mir?
    „Ich möchte Sie gern mit Biene bekanntmachen“, verkündet er unvermittelt, öffnet die Augen und schaut mich an.
    Ertappt wende ich den Blick ab. Biene? Wer soll das sein?
    „Darf ich Sie hinbringen?“, fügt er an.
    Wieso hinbringen? Wo wartet diese Biene denn auf ihn?
    Unsicher nicke ich und Herr Fischer steht auf.

    „Sie ist mein Lebensinhalt“, verkündet er und umfasst meine Rollstuhlgriffe.

    Einen Moment bin ich versucht, mit der Linken die Bremse anzuziehen. Lebensinhalt? Ich habe keine Lust, seine Frau kennenzulernen! Mir egal, ob er sie Biene oder Hummel nennt! Wahrscheinlich ist sie bettlägerig, denn er kommt ja immer allein in den Speisesaal.
    Doch meine Hand bleibt ruhig im Schoß liegen und die Rollstuhlbremse unberührt. Es scheint ihm wichtig zu sein. Also gut – soll er mich reinbringen und seiner Biene vorstellen, auch wenn ich lieber noch ein bisschen in der Sonne bei den richtigen Bienen sitzen geblieben wäre.
    Er schiebt mich den sauber geharkten Weg entlang und schweigt dabei. Mich wundert das ein bisschen, denn wenn ich im Begriff wäre, jemandem meinen Lebensinhalt vorzustellen, dann würde ich vorher wohl ein paar einleitende Worte sagen.
    Doch Herr Fischer sagt nichts. Und er bringt mich auch nicht ins Foyer. Der Rollstuhl fährt an der wegen des schönen Wetters offen stehenden Hintertür des Heims vorbei und biegt dann auf den Weg ab, der zu den hohen Bäumen auf der Nordseite des Pflegeheimgartens führt. Ihr Schatten nimmt uns auf und ich schließe kurz die Augen, um tief einzuatmen. Für einen Moment gebe ich mich der Illusion hin, im Wald zu sein.
    „Schön hier“, murmele ich und höre ihn leise lachen.
    „Da haben Sie vollkommen Recht“, meint er. „Ich bin auch sehr gerne an diesem lauschigen Plätzchen. Nicht nur wenn ich Biene besuche. Es ist so schön ruhig hier. Man merkt kaum, dass man mitten in Hamburg lebt.“
    Schon wieder diese Biene. Wo zum Kuckuck ist die überhaupt? Hier unter den Bäumen?
    Ich könnte mich ja dazu durchringen, die Augen zu öffnen und mich umzuschauen, aber das hieße die Wald-Illusion zu zerstören. Deshalb lasse ich es sein.
    „Wir sind da.“
    Der Rollstuhl bleibt stehen und ich höre seltsame Geräusche. Ein Japsen, Quietschen, …. Winseln ?
    Jetzt zwinge ich die Lider auseinander. Mein Blick fällt auf einen Maschendrahtzaun. Und dahinter zeigt ein brauner Hund seine Freude über unsere Ankunft, indem er wie verrückt hin und her springt und nun auch fröhlich bellt.
    Verblüfft schaue ich Herrn Fischer an, der sich neben mich gestellt hat.
    „Das ist Biene?“, frage ich und nenne mich im gleichen Augenblick eine Idiotin. Seine Frau! Wie konnte ich nur denken, dass es um einen Menschen geht?
    Wahrscheinlich weil Hunde im Pflegeheim nicht zum Standard gehören, giftet die böse Stimme in meinem Kopf.
    Herr Fischer nickt.
    „Mein altes Mädchen“, erklärt er, „und seit dem Tod meiner Frau meine große Liebe.“ Er steckt die Hand durch den Zaun und streichelt den Hundekopf, den Biene winselnd in seine Handfläche schmiegt. „Mögen Sie Hunde, Frau Benedikt?“

    Die alte Kaffeemühle

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    Quelle: Pinterest

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (7. August 2023 um 14:03)