Hallo allerseits. Anbei meine Geschichte aus dem Schreibwettbewerb. Kommentare sind willkommen
Moorgeister
Helm Helmson betrachtete die Hütte am Rande des Moores. Die von der Witterung gebleichten Balken aus Kiefernholz schmiegten sich an die allgegenwärtigen Felsen. Derweil brannte die gnadenlose Mittagssonne auf die Dorfbewohner, die in gebührendem Abstand auf die Hexe warteten. Sie waren gekommen, um den Weg durch das Moor anzutreten und den Moorgeistern das Opfer zur Sommersonnenwende darzubieten.
Doch die Hexe ließ sich Zeit.
„Ist sie zu Hause?“, murrte Helm und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.
Ingrid Schmiedson nickte. „Ich denke, sie lässt uns absichtlich in der Hitze schmoren. Der Dorfvorsteher soll nachsehen, wo die Alte bleibt. Hey Albert, schau mal nach, ob sie da ist. Oder hast du Angst?“, rief die blonde Frau lautstark und legte die Hand an ihre Streitaxt.
Helm wiegte missbilligend den Kopf. Die junge Schmiedin musste dringend lernen, ihr Temperament zu zügeln. In einem Satz, den Dorfvorsteher sowie die Moorhexe herauszufordern, war so unnötig wie das Warten in der gleißenden Sonne. Albert Hinrichsen zog eine verlegene Grimasse, natürlich würde er nicht gehen. Der Mann war so reich wie feige.
„Dann schaue ich eben nach, wo sie bleibt“, seufzte Helm resigniert und ging den schmalen Pfad zur Hütte hinab. Er überlegte noch, ob er besser klopfen oder rufen sollte, als sich die Tür mit einem Knarren öffnete. Die alte Baba Hega trat hinaus.
„Helm, mein Junge. Schön dich zu sehen, obwohl ich eigentlich Albert Hinrichsen erwartet hatte. Wie geht es den Kindern?“ Ihr faltenreiches Gesicht wirkte sanft, wenn sie lächelte.
„Meine Töchter stehen am Moorrand bei ihrer Tante. Es geht ihnen gut, aber unsere Tage sind grau, seit Elsbeth gegangen ist“, gab Helm zu. Auge in Auge wirkte die Hexe weniger bedrohlich als in den Erzählungen und sie hatte wirklich alles getan, um seine Frau zu retten.
Die Hexe nickte nachdenklich. „Kinder sollten nicht ohne Mutter aufwachsen. Das schwarze Fieber hat in diesem Jahr zu viele Seelen gefordert. Die Dinge sind nicht in rechter Ordnung.“
„Die Kinder stehen lange in der Hitze und der Weg ist weit“, sagte Helm vorsichtig.
„Du fragst dich wohl, was die alte Hega dazu treibt das Dorf so lange in der Sonne stehen zu lassen?“
„Hmm“, brummte Helm zustimmend.
„Ich habe viel gesehen von hier aus. Du bist gekommen und nicht Hinrichsen. Ingrid mag dich, denn sie steht neben niemanden so lange, wie bei dir.“
„Sie hat meinen Antrag abgelehnt“, Helm wich dem Blick der Hexe aus. „Es ist nicht einfach, den Hof zu führen, mit fünf Töchtern, die ihre Mutter vermissen“, sagte er entschuldigend.
„Die Kinder brauchen eine Mutter“, betätigte Hega beruhigend. Ihr scharfer Blick richtete sich nach vorn. „Die rothaarige Frau dort bei Store Sven, ist sie das Götteropfer?“
„Ja. Die Männer haben sie vor zwei Wochen auf dem Haselweg aufgegriffen. Wird es reichen?“
„Es hat nicht gereicht, als wir den Göttern den alten Köhler gegeben haben. Der schwarze Tod kam im letzten Jahr trotzdem ins Dorf. Dies darf nicht erneut geschehen“, zischte die Hexe gereizt. „Diesmal ist es eine junge, hübsche Frau. Es wird wohl reichen“, seufzte sie.
Helm nickte.
„Nun. Wir sollten uns aufmachen. Der Weg durch das Moor ist lang“, beschloss die Hexe und nahm ihren Stab. „Überprüfe die Fesseln des Sommeropfers. Ingrid besitzt viel Mitleid und wenig Glauben.“
***
„Was hast du dir dabei gedacht, dem Sommeropfer die Fesseln zu lockern?“, schnaufte Helm. Ingrid starrte auf den schmalen Weg. Der Pfad führte durch das Moor zum Kiefernhain. Sie zerrte an ihrem langen Zopf. Das tat sie immer, wenn sie wütend war, und dies kam in letzter Zeit oft vor.
„Elaine war auf dem Weg nach Birkenwald, um ihre kranke Tante zu besuchen. Sie ist ein Mensch so wie du und ich. Kein Opfer! Wie kommen wir dazu, sie wegen eines Aberglaubens in das Moor zu stoßen? Oder denkst du wirklich, im Moor gingen die Geister um. Du bist doch oft genug da draußen …“
„In der Nacht als Elsbeth starb, lagen graue Schatten über dem Dorf, du musst es doch auch gespürt haben! Im Dorf gab es später drei Fehlgeburten! Das Opfer im letzten Jahr hat nicht gereicht.“
„Hat dir das die Hexe eingeredet? Nichts habe ich gespürt. Helm, ich mag dich wirklich, aber ich denke, es wäre besser, wir würden die alte Vettel ins Moor werfen.“
„Du weißt nicht, was du sagst!“, schnaufte Helm und sah sich besorgt um. Aber die Hexe ging weit vorne neben Store Sven.
„Ich werde das Dorf verlassen, sobald diese Scharade vorbei ist“, verkündete Ingrid.
„Überleg es dir, du wärst den Kindern eine gute Mutter.“
„Helm …“ Ingrid legte ihre Hand auf seinen Arm. „Ich mag dich. Aber so eine Ehe, das wäre doch keine Liebe. Wir würden uns vielleicht gut vertragen, aber … Ist das alles, was das Leben für uns bereithält?“
„Ich habe Elsbeth auch nicht geliebt, als wir heirateten. Die Dinge können sich entwickeln.“ Helm wiegte den Kopf. „Du hast zu viele Erwartungen, Ingrid. Das Leben am Moor ist hart.“
„Aber es muss noch etwas anderes geben, da draußen. Die Händler erzählen von Schiffen, die groß wie Häuser sind und über Seen fahren, deren anderes Ufer man nicht sieht.“
„Die Leute dort werden ihre eigene Last zu tragen haben und ihren Göttern auf ihre Weise dienen, so wie wir es tun. Jeder lebt nach seiner Art.“
„Das mag sein Helm … Aber …“
„Wir sind bald da. Ich kann den Kiefernhain schon sehen.“ Dies war Helms Art, die Unterhaltung zu beenden.
***
Der Kiefernhain lag auf einer Felseninsel, inmitten des Moores. Zahlreiche Kiefern und Birken krallten sich in den kargen Felsen. Bei der Thingstätte am Ufer des kleinen Moorsees hatte sich etwas Sand und Erde angesammelt, dort erreichten die Bäume stattliche Höhen. Die Kinder spielten im Schatten der Baumkronen, während die Erwachsenen das Fest zur Sommersonnenwende vorbereiteten. Bald brannte das Feuer und die Sonne tauchte das Moor in ein unwirkliches rötliches Licht.
Nach einer kurzen Beratung mit der Hexe überprüfte Helm den Steg, der hinaus auf den See führte und wo die Moorgeister das Opfer empfangen würden. Er seufzte. Das Gespräch mit Ingrid hatte ihn aufgewühlt und erst recht die Unterhaltung mit Baba Hega.
Elaine, so hieß das Opfer für die Moorgeister, saß am Rande der Thingstätte und blickte teilnahmslos auf die Vorbereitungen. Der Pferdeschwanz der jungen Frau hatte sich gelöst und die rötlichen Locken lagen wild um ihre Schultern.
Verdammt!
Ingrid hatte recht. Elaine war ein Mensch. Mit Sorgen und Hoffnungen und dem Willen zu leben. Sie würden sie trotzdem heute den Göttern opfern. Helms Finger krallten sich in das Geländer des Steges. Sein Blick ging über den See, es galt eine Entscheidung zu treffen. Der breitschultrige Mann schüttelte unwillig den Kopf und stapfte zurück zum Ufer, hinauf zum Thingplatz.
Store Sven sah überrascht auf.
„Lass mich mit der Frau für einen Moment allein. Baba Hega möchte, dass ich ihr etwas mitteile“, sagte Helm.
Sven legte den Kopf schief und entblößte die schiefen Zähne. „Natürlich, Helm. Aber ich bleibe in Sichtweite.“
***
Ingrid beteiligte sich wenig an den Gesprächen der anderen Frauen. Gelangweilt sah sie zum Thingplatz hinüber und erstarrte.
Helm unterhielt sich mit Elaine. Sollte er sich doch noch anders entschieden haben? Die Dorfbewohner würden ihm folgen, auch bei einem Aufstand gegen die Hexe, da war sie sich sicher. Der Mann hatte eine Begabung zum Anführer und ein gutes Herz, wenn er doch nur nicht so stur wäre.
Der durchdringliche Ton eines Horns unterbrach die Gespräche und Ingrids Gedanken. Nun würde die Hexe den Rat bestimmen.
„Albert Hinrichsen!“, rief der Hornbläser den Dorfvorsteher in den Rat und fuhr fort:
„Thea Sörensen, Helm Helmson, Store Sven, Margitta Bengsen, Ingrid Schmiedson!“
Jemand stupste Ingrid an die Seite.
„Ich …?“ Unsicher stand Ingrid auf und trat zu den anderen auf die Thingstelle.
„Nun, da wir vollständig sind, ist es an der Zeit, das Opfer zur Sommersonnenwende zu begehen“, begann Baba Hega. „Es war ein entbehrungsreiches Jahr. Die Ernte hätte besser sein können und wir haben geliebte Menschen verloren. Dennoch haben wir nie die Hoffnung verloren. Wir werden auch den Winter überstehen, wenn wir nur zusammen halten.“ Die Hexe warf einen Blick in Helms und Ingrids Richtung. „Fürs nächste Jahr habe ich einige Änderungen beschlossen. Helm Helmson wird die Bürde des Dorfvorstehers übernehmen.“
Albert Hinrichsen gab ein röchelndes Geräusch von sich, sagte aber nichts.
„Helm Helmson wird sich neu verheiraten, das Eheritual wird nach dem Opfer vollzogen“, fuhr die Hexe fort.
„Aber …“, entfuhr es Ingrid.
Baba Hega hob die Hand. „Zudem wird in diesem Jahr nicht Store Sven das Opferritual vollenden, sondern Ingrid Schmiedson.“
Ingrids Hand glitt an die Hüfte und griff ins Leere, denn sie hatte die Axt beim Eintreten in die Thingstätte abgelegt. Keinesfalls würde sie Elaine die Kehle zerschneiden und sie ins Moor werfen, wie den Kadaver eines Hundes.
Helms warnender Blick traf sie, er blinzelte ihr zu. Plante er etwas? Er hatte sich schließlich grade noch mit Elaine unterhalten. Mit aller Selbstbeherrschung, die sie aufbringen konnte, nickte Ingrid und grummelte eine Zustimmung. Die Hexe lächelte zufrieden.
***
Die Prozession schritt zum Steg hinab. Vorne ging Ingrid mit der jungen Frau, es folgten Helm und Store Sven. Elaines Hände waren gefesselt und ihre Beine zusammengebunden, sodass sie nur langsam gehen konnte. Sie ließ sich ohne Widerstand führen.
„Ich werde dir nichts tun. Wir werden versuchen zu fliehen, hörst du?“, flüsterte Ingrid und betrat den Steg. Das Messer in ihrer Hand wog schwer. Elaine nickte kaum merklich und sah auf. Ihre grünen Augen wirkten trotzig. Noch wenige Schritte und sie erreichten das Ende des Stegs.
Ein leises schmatzendes Geräusch drang den Steg hinauf. Ingrid sah sich um, die Wasseroberfläche kräuselte sich. Ein gräulich schimmernder Schemen bewegte sich unter der Oberfläche des Sees. Ingrid beugte sich vor und begriff das Unglaubliche. Dort wartete etwas abgrundtief Böses! Ihr Herz pochte. Die Hexe hatte recht! Die Moorgeister waren wirklich und verlangten ihr Opfer. Ingrid fasste das Messer fester und packte Elaine. Aber sie zögerte, wie nur konnte sie einen Mord begehen?
Die schlanke Frau entwand sich ihrem Griff, dann spürte sie scharfen, kalten Stahl an der Kehle. Im nächsten Moment quoll warmes Blut über ihre Brust. Ingrid fühlte einen Stoß an der Hüfte und fiel. Noch bevor sie das Wasser berührte und gierige Finger nach ihr griffen, sah sie zurück. Sie sah Helm und Elaine nebeneinander auf dem Steg.
Ihr Blut tropfte von dem Messer in Helms Hand.