Kräuter und die Mondelfen
22.Kapitel
Die Alte Mühle
1.Teil
Am Himmel prangte der abnehmende Halbmond, als ich mich aus der Stadt schlich, um Schlichter, Soße und Lehrer und anschließend die Rote Witwe zu treffen. Die Sache mit den Mondphasen hatte ich nie begriffen.
Weil sich die Erde um sich selbst drehte, und der Mond ebenso, wenn auch nicht so schnell, und zudem den Planeten umrundete, während beide Himmelskörper ihre Bahnen um die Sonne zogen, veränderten sich irgendwie die Beleuchtungsverhältnisse auf dem Trabanten. Bald würden wir Neumond haben. Dann stünden die Mondelfen im Dunkeln. Vielleicht hätte ich im Astronomieunterricht ja doch besser aufpassen sollen. Andererseits, wer benötigte angesichts einer solchen Natur noch Magie? Die Welt war auch so schon seltsam genug.
Das galt erst recht für Onkel Bernies Spiegel, der mir den Weg wies. Er zeigte an, was Agnatha wahrnahm. So gelang es mir mit Leichtigkeit, den Wachen auszuweichen, die verhindern sollten, dass fragwürdige Gestalten nachts unbemerkt über die Stadtmauern kletterten. Beinahe wäre ich jedoch über einen Stein gestolpert, weil ich die Bilder auf dem Spiegel betrachtete, anstatt auf den Weg zu achten.
Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. "Hast du eine Fahne!", rief Soße. "Dich riecht man ja meilenweit. Bist du besoffen?"
"Das scheint nur so", antwortete ich. "Ich habe einen Trank entwickelt, der die berauschende Wirkung des Alkohols aufhebt. Du kannst saufen, so viel du willst, und merkst gar nichts."
"Das Zeug willst du doch nicht etwa auf den Markt bringen?", fragte der Gastwirtssohn entsetzt. "Möchtest du uns ruinieren?"
"Warum ruinieren?", mischte sich Lehrer ein. "Man muss das Elixier nur richtig vermarkten. Saufe, bis du nicht mehr kannst und sternhagelvoll bist, und dann nimm den Trank und fange wieder von vorne an!"
"Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht", erwiderte ich.
"Keine schlechte Idee", kommentierte Soße.
"Vielleicht hört ihr mal auf, hier herumzuschreien", mahnte Schlichter. "Wie müssen ja nicht mit Gewalt auf uns aufmerksam machen". Er wandte sich mir zu. "Wie ich sehe, hast du die Augentropfen noch nicht genommen. Und damit auch nicht den Berserkertrank und das Ergänzungsmittel."
" Wegen der leuchtenden Augen", erklärte ich. "Im Dunkeln sehr ungünstig. Ich habe mich mit Mutters Lügentrank begnügt. Bin gespannt, ob wir die Rote Witwe wittern können, bevor wir sie sehen,"
Wie sich herausstellte, gelang uns das wirklich. Da war er wieder, der Geruch, der nach einem Gewitter in der Luft hing, nachdem ein Blitz eingeschlagen hatte. Allerdings gedämpft, wohl infolge des Geruchsunterdrückers, dessen sich Jäger gerne bedienten. Wir gingen der Duftspur nach, bis wir schließlich, mitten im Wald, auf einer kleinen Lichtung, vor unserer undurchsichtigen Verbündeten standen. Sie hatte seelenruhig auf uns gewartet. Genau wie wir hatte sie einen dunklen Kampfanzug angelegt. Im Schneidersitz saß sie auf dem Boden. Ihre Augen erstrahlten in einem düsteren Rot.
"Ich habe etwas für euch", begrüßte sie uns. "Damit könnt ihr die Tropfen zur Verbesserung der Sehfähigkeit anwenden, ohne euch durch euer Augenlicht zu verraten." Aus ihrem Rucksack förderte sie eine Brille zutage. Mit dunklen Gläsern. "Der letzte Schrei aus der Alten Kaiserstadt", erläuterte sie. "Man nennt sie Sommerbrillen. Sie schützen vor all zu grellem Sonnenlicht. Es gibt aber auch Modenarren, die sie nachts tragen. Nehmt eure Tränke zu euch, und dann probiert sie an."
Normalerweise trugen Augengläser nicht gerade dazu bei, ihre Träger interessant erscheinen zu lassen. Die Betroffenen mussten sich Kommentare wie "Vierauge" oder "Brillenschlange" gefallen lassen. Lehrer konnte ein Lied davon singen. Diese Exemplare hingegen entfalteten eine ganz andere Wirkung. Wir sahen aus wie Verbrecher. Wie lässige Verbrecher. Undurchschaubar und überlegen. Es war erstaunlich, wie sich die Ausstrahlung eines Menschen veränderte, wenn er seine Augen verbarg. Am besten standen die dunklen Gläser natürlich der Roten Witwe. Mir fiel das Wort "mondän" ein. Zwar wusste ich nicht genau, was es bedeutete, aber es schien zu passen.
"Ist eure Nachtsicht in Ordnung?", wollte sie wissen.
"Einwandfrei", bestätigte Lehrer.
"Dann zeige ich euch einmal, womit ihr es gleich zu tun bekommt." Sie holte den Spiegel hervor, mit dem sie seinerzeit die Grabwandler geblendet hatte, und wischte mit der Hand über die Glasfläche. Wir erblickten ein Bild, das die Alte Mühle zeigte.
"Seht ihr diese Bäume?"
"Das sind Wächterbäume", bemerkte Lehrer.
"Das weißt du?", staunte die Rote Witwe. "Auch aus der Kinderbücherei?"
"Oh nein", wehrte sich Lehrer. "Aus einem seriösen Werk über die Alte Kaiserstadt. Angeblich beschützen die Gewächse dort die Paläste der Reichen."
"Das ist richtig", stellte die Frau fest. Wieder wischte sie über den Spiegel, und ein Schwein erschien, dass sich an einem der Bäume rieb. Was sich als keine gute Idee erwies. Fangarme, die eben noch wie Äste ausgesehen hatten, packten das Borstentier und rissen es in Stücke. Die Fleischbrocken verschwanden in einer maulähnlichen Öffnung.
"Ich bezweifle, dass das wirklich Pflanzen sind", überlegte Lehrer. "Auch wenn es den Anschein hat."
"Wieder richtig", bestätigte die Rote Witwe. "In Wirklichkeit handelt es sich um Raubtiere. Und was sagst du dazu?" Auf der Glasfläche wurden tiefe Schatten hervor gehoben, die sich zu bewegen schienen.
"Das sind Verschlinger", verkündete Lehrer und bediente sich damit derselben Bezeichnung, die auch Agnatha verwendet hatte.
"Sie werden in ernsthaften Werke beschrieben?"
"Nein, in einem Märchenbuch aus der Kinderbücherei. Angeblich saugen sie alles auf, was sie berühren."
"Dieser Stadtbibliothek muss ich unbedingt einen Besuch abstatten", nahm sich unsere Begleiterin vor. "Schaut nun nach oben, über dem Gebäude und den Bäumen."
"Fledermäuse?", rätselte Lehrer. "Aber wenn man sie in Beziehung zur Alten Mühle setzt, ergibt sich eine beachtliche Größe. Die Flügelspannweite würde ich auf vier bis sechs Meter schätzen."
Lehrer war mit Abstand der Schlaueste von uns. Selbst die Rote Witwe wirkte beeindruckt. Hingegen verfügte Schlichter über den am besten entwickelten Sinn für das Praktische.
"Womit können wir diese Ungeheuer bekämpfen?", wollte er wissen.
"Das werde ich übernehmen", antwortete Frau Bess, wie Schlichter sie neuerdings gerne nannte. "Falls es notwendig werden sollte, was ich nicht hoffe. Beschränkt euch auf Erkundung. Ihr könnt euch der Mühle nur auf einem schmalen Trampelpfad nähern. Seht ihr? Ihr werdet sofort angegriffen, wenn ihr ihn verlasst. Ich habe Kapuzenumhänge mitgebracht. Zieht sie an und bewegt euch wie Grabwandler.Ihr habt sie ja erlebt. Seht euch in dem Bau um, und dann kommt unauffällig zurück. Sie sollen gar nicht bemerken, dass ihr da wart."
"Euer Spiegel kann Euch also nicht das Innere der Alten Mühle zeigen?", fragte Lehrer.
"Jede Technologie hat ihre Grenzen", lautete die Antwort.
Das war zweifellos richtig. Sofern wir es in diesem Fall wirklich mit Wissenschaft zu tun hatten. Was meinen Spiegel betraf, war ich mir da nicht so sicher, funktionierte er doch dank einer geisterhaften Agnatha, die ihre eigene Welt aus Träumen erschaffen hatte und dennoch atmen musste, alle vierundzwanzig Stunden um Mitternacht. Auch wenn ich davon nichts mehr spürte.
Wie all dies zusammen passte? Darüber konne ich nachdenken, nachdem Schlichter und ich unseren kleinen Spaziergang hinter uns gebracht haben würden. Gerade als wir uns in Bewegung setzen wollten, traten zwei in Kapuzenmäntel gehüllte Gestalten aus dem Wald und beschritten den Weg, den uns die Rote Witwe gezeigt hatte. Sie bewegten sich sehr vorsichtig, wofür sie auch allen Grund hatten. Genau wie wir.
"Los geht`s", flüsterte Schlichter. "Schließen wir uns an. Immer schön darauf achten, wo du hintrittst. Und nicht mehr reden."
Lang war der Weg nicht, aber interessant. Aus der Nähe betrachtet, wirkten die Wachbäume gar nicht mehr so pflanzenhaft. Ihre Äste und Zweige bewegten sich, obwohl Winstille herrschte. Auch die Verschlinger begnügten sich nicht damit, reglos auf Beute zu warten. Unruhig glitten sie hin und her, in bedenklicher Nähe zu unserer Marschroute. Über uns zogen die Riesenfliedermäuse ihre Kreise. Ihnen gönnte ich keinen Blick, weil ich es für wichtiger hielt, schön auf dem vorgegebenen Pfad zu bleiben, der uns hoffentlich eine gewisse Sicherheit vor unangenehmen Übergriffen unfreundlicher Kreaturen bot. Falls es doch zum Kampf kommen sollte, würden uns Lehrer, Soße und die Rote Witwe Rückendeckung geben. Meine silbernen Wurfsterne, die Feuereier und die Wettertafel der Mondelfen standen mir ebenfalls zur Verfügung. Das musste aber nicht sein. Jedenfalls nicht an diesem Abend.
Die Grabwandler, die uns voran gingen, gelangten ohne bedauerliche Zwischenfälle an ihr Ziel. Sie warteten sogar vor dem Eingang, um uns die Tür aufzuhalten. Höflichkeit unter Untoten. Wer hätte so etwas erwartet.
Ich erinnerte mich an meinen ersten Aufenthalt an diesem unheimlichen Ort. Damals war ich zehn Jahre alt gewesen, und, wie alle Jungs aus meinem Jahrgang, immer bereit, zu einer unserer Mutproben anzutreten. Dazu gehörte natürlich eine Nacht in der Geistermühle, wie sie hinter vorgehaltener Hand auch genannt wurde. Es war gruselig gewesen. Mit dem Rücken zur Wand, damit mich nichts von hinten anfallen konnte, hatte ich mit einem Messer in der Hand bis zum Morgengrauen ausgeharrt. In die Dunkelheit hinein lauschend. Wo ich flüsternde Stimmen zu vernehmen glaubte, hämisches Kichern, Weinen, Seufzen und Atmen. In den schlimmsten Momenten hatte ich das Gefühl verspürt, dass jemand direkt vor mir stand und mich anstarrte. Natürlich erzählte ich meinen Freunden nichts von diesen Erlebnissen und spielte statt dessen den Gelangweilten, der für Albernheiten wie Gespensterspuk und Hexenwerk nur ein müdes Lächeln übrig hatte.
Jeder Junge, der auf sich hielt, lieferte einen solchen Auftritt ab. Vermutlich glaubten sie alle, genau wie ich, dass ihnen ihre Einbildungskraft einen Streich gespielt hatte. Niemals wäre mir eingefallen, dass ich nur sieben Jahre später wieder zurück sein würde, um eine Versammlung von wandelnden Toten auszukundschaften.
Wir traten ein. Anders als damals war es nicht stockdunkel in der Alten Mühle. Ein paar an den Wänden befestigte Fackeln verbreiteten ein sehr schwaches Licht. Ohne die Augentropfen hätte es uns nichts genützt. So waren wir imstande, zu erkennen, was sich hier abspielte. Oder, besser gesagt, was sich nicht abspielte. Es herrschte tiefe Stille. Von den etwa hundert Vermummten, die sich im Erdgeschoss des Gebäudes aufhielten, sprach keiner ein Wort. Sie bewegten sich nicht. Regungslos standen sie da. Wie Marionetten, denen man die Fäden abgeschnitten hatte.
"Vorsichtig weiter gehen", signalisierte Schlichter . "Achte darauf, keinen von denen zu berühren. Das könnte sie aus ihrer Starre wecken. Am anderen Ende des Raumes haben sie etwas aufgebaut. Sehen wir es uns einmal genauer an."
Ich erblickte ein aus Holz gezimmertes Podium, groß genug, um als Bühne für ein Theaterstück dienen zu können. Als wir uns der Konstruktion näherten, fielen mir drei Gegenstände auf, die man nebeneinander auf ihr platziert hatte. In der Mitte befand sich ein prachtvoller Stuhl, ausgestattet mit einer hohen Lehne, bei dessen Herstellung an nichts gespart worden war. Weder an Gold und Silber, und erst recht nicht an Samt und Seide. Sollte das einen Thron darstellen? Für die Schwarze Witwe? Oder für Meister Nossfu?
"Das Ding links neben dem Möbel?",fragte Schlichter lautlos. "Könnte das ein Blutstein sein?"
"Durchaus möglich", gab ich auf dieselbe Weise zurück. "Wir werden es genau wissen, wenn wir uns auf die Plattform geschwungen haben."
Da weder eine Leiter noch eine Treppe nach oben führten, waren unsere Kletterkünste gefragt. Obwohl wir uns die größte Mühe gaben, möglichst leise zu sein, drängte sich mir der Eindruck auf, nie etwas Lauteres gehört haben als meinen Atem. Zweifellos musste er in jeder Ecke der Mühle einwandfrei zu vernehmen sein. Doch niemand rührte sich. Unangefochten gelangten wir an unser Ziel. Ich widerstand dem albernen Verlangen, mich auf den Thron zu setzen, und sah mir das Objekt näher an, das Schlichter für einen Opferstein hielt.
Er lag richtig. Ich erkannte die Inschrift wieder. Das war ohne Zweifel das Exemplar aus dem Sommerhaus der Sverrig.
"Du wirst nicht glauben, was ich eben entdeckt habe", ließ ich Schlichter wissen.
"Dann schau dir mal das hier an", gab er zur Antwort.
Ich ging zu ihm herüber und stand schließlich vor einem gläsernen Sarg. Darin lag eine junge Frau, vielleicht siebzehn Jahre alt. Sie trug ein blaues Sommerkleid, zu dem ein Halsband in derselben Farbe passte. Es war mit Symbolen aus der Alten Sprache verziert. "Tak Ulik", las ich. "Sturmtochter". Ich mußte nicht mehr nach Agnathas Körper suchen. Hierher hatten sie sie gebracht. Dazu bestimmt, in einem Ritual eine Rolle zu spielen, dessen Sinn und Zweck mir völlig schleierhaft war. Ein Blutstein, eine Scheintote und ein Thron. Welche Art von Schauspiel sollte hier geboten werden? Für ein Publikum, das aus wieder erweckten Leichen bestand?
Und was würde geschehen, wenn es mir schließlich gelingen sollte, Agnatha von ihrem Halsband zu befreien? Würde sie zu neuem Leben erwachen? Würden sich Körper und Geist vereinigen? Oder würde sich die Agnatha, die ich kennen gelernt hatte, einfach auflösen?
"Sie sieht aus, als ob sie schlafen würde", meinte Schlichter. "Aber sie muss tot sein. Vor siebzehn Jahren gestorben, aber so sorgfältig konserviert, dass keinerlei Verwesungsspuren zu sehen sind. Retten können wir sie nicht mehr. Wir haben alles gesehen, was hier zu sehen ist. Ziehen wir uns zurück."