Das war ein wichtiger Abschnitt für mich. Ich habe viele Fragezeichen wegradieren können, einfach weil Gustav meine Fragen gestellt und die rote Witwe sie beantwortet hat. Sehr gut. Jetzt bin ich gespannt, was in der Alten Mühle passieren wird.
Kräuter und die Mondelfen
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Kräuter und die Mondelfen
26.Kapitel
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Teil 4
Hellmuthia warf mir einen mit Feuereiern prall gefüllten Sack mit einer solchen Wucht zu, dass ich in die Knie ging. Ihr den Berserkertrank zu verabreichen, war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen.
"Nicht schlecht, das Zeug", meinte sie. "Hätte ich bei verschiedenen Gelegenheiten gut gebrauchen können. Sehen wir mal, was Vater so macht."
"Ist klar, Heli", antwortete ich. So wollte sie genannt werden. Ihren offiziellen Vornamen hasste sie, was ich zugunsten meiner Lebenserwartung berücksichtigte.
Sie öffnete die Tür und blieb sogleich stehen. Als ich ihr über die Schulter blickte, verstand ich, warum. Da schwebte ein Kutschpferd in der Luft! So schien es jedenfalls. Erst beim zweiten Hinsehen gewahrte ich, dass es jemand in die Höhe stemmte.
"Sieh mal, einarmig", rief der Söldnerhauptmann begeistert. "Berserkertrank!"
"Ist das peinlich", stöhnte Heli. "Lass endlich den armen Gaul herunter!" Während das Ross erleichtert wieherte, sobald es endlich wieder festen Boden unter den Hufen spürte, warf ich einen Blick in die Kutschenkabine. Eine solche Ansammlung von Waffen hatte ich auf so engem Raum noch nie wahrgenommen. Weitere Säcke, die vermutlich ebenfalls Feuereier enthielten, Bögen und Pfeile, Schwerter und Äxte, sogar zwei Armbrüste.
"Was erwartet sie denn?", fragte die junge Söldnerin.
"Überraschungen", erwiderte ihr Vater. "Die gibt es immer."
"Ganz genau", bemerkte die Rote Witwe. Wie stets hatte sie sich völlig lautlos bewegt. Sie hätte jeder Katze Konkurrenz machen können. "Fahren wir los. Schließlich werden wir erwartet."
Nachdem ich meinen Waffensack verstaut hatte, quetschte ich mich mit Mühe und Not in die Kabine, genauso wie die Rote Witwe, bei der dies aber wesentlich eleganter aussah. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Mein Begleiterin nutzte die Zeit, indem sie im Buch der Namen herumstöberte.
Die Kutsche hielt an. Wir hatten den Kontrollposten erreicht, der den Übergang zwischen der Oberstadt und der Unterstadt überwachte. Scherzworte flogen hin unf her. Offenbar kannten die Gardisten den Hauptmann schon und hielten ihn für einen harmlosen, lustigen Gesellen. Damit hatten sie zur Hälfte recht.
Eine längere Fahrt schloss sich an, bis das Gefährt erneut stehen blieb.
"Es gibt ein Problem", dröhnte die Stimme des Söldners in unsere Kabine hinein. Wir stiegen aus. Abgesehen von dem dunklen Himmel, in dem immer noch blutrote Leuchterscheinungen aufflackerten, bemerkte ich nichts Bedrohliches. Da war der Weg, der zur Alten Mühle führte. Gesäumt von den Wachbäumen. Dass diese Ungeheuer gefährlich werden konnten, hatte ich zwar schon erlebt. Doch jetzt wirkten sie harmlos. Wie echte Pflanzen.
"Was ist los?", fragte ich. "Die Bäume scheinen uns nicht angreifen zu wollen. Und warum sollten sie auch. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund, denn schließlich braucht uns Meister Nossfu lebend. Wir haben ein Abkommen."
"Kein vernünftiger Grund", wiederholte der Mann. "Aber darauf verlasse ich mich nicht. Sondern auf das hier." Mit diesen Worten klopfte er auf seinen beachtlichen Wanst. "Bauchgefühl. Innere Stimme, siebter Sinn. Nenne es, wie du willst. Hat mich noch nie getäuscht."
"Das stimmt", gab ihm Heli recht.
Die Rote Witwe wirkte nachdenklich. "Es sind jetzt mehr Wachbäume", stellte sie fest. "Zwölf Paare. Und sie stehen näher am Wegesrand. Nicht allzu auffällig. Trotzdem, es kann eine Absicht dahinter stecken."
"Einen Augenblick mal", warf ich ein. "Wenn das eine Falle darstellt, wo sind dann die Verschlinger? Ich sehe sie hier nicht."
"Hinter uns ist etwas eigenartig", bemerkte der Hauptman. "Etwa in zwanzig Schritten Entfernung scheint mir der Erdboden ein wenig dunkler zu sein."
"Siehst du den Stein, der wie eine Schildkröte aussieht?", fragte Heli. "Als ich vorhin in diese Richtung geschaut habe, befand sich die dunkle Fläche noch hinter ihm. Jetzt ist sie an ihm vorbei. Können sich Verschlinger zusammenschließen? Zu einem?"
Vorsichtig, mit sehr langsamen Bewegungen, förderte die Rote Witwe aus einer Tasche ihres Kampfanzuges ihren Spiegel zutage. Wieder ging dieser besondere Geruch von ihr aus. Wie die Luft kurz vor dem Beginn eines Gewitters. Gedankenschnell huschten ihre Finger über das Glas.
"Augen zu, jetzt," kommandierte sie. Und die Welt wurde violett. Das Licht war so intensiv, dass es durch die geschlossenen Augenlider drang,, Ausser der Farbe konnte ich erst einmal nichts mehr sehen , auch nachdem ich meine Augen wieder geöffnet hatte. Nach einer Weile nahm ich schließlich wahr, dass sich flache Schattenwesen unter Zischen und Kreischen auf eine violette Lichtglocke warfen, die uns eingehüllt hatte. Das schien ihnen Schmerzen zu bereiten. Rauch stieg von ihnen auf, aber sie probierten es dennoch immer wieder.
"Nicht schlecht soweit", meinte der Söldner. "Aber seht mal in die andere Richtung". Der Anblick hatte es in sich. Mit ruckartigen Bewegungen befreiten sich die beiden Gewächse, die uns am nächsten waren, sowie ein weiterer aus der zweiten Reihe aus dem Erdreich. Ihre nun sichtbaren Wurzeln glichen primitiven Füßen, mit jeweils sieben zehenartigen Ausläufern.
"Die können laufen?", fragte Heli ungläubig.
"Feuereier", ordnete ihr Vater an, ohne auf ihren Ausruf einzugehen. "Du den Linken, Gustav den Rechten, ich den Hinteren!"
Ich schnappte mir eines der Mordinstrumente, zog den Stift, zählte bis drei und warf. Genau in dem Augenblick, in dem das Feuerei das Ziel traf, verging das Baumwesen in einem gelbweißen Feuerball. Da Heli und ihr Vater das gleiche Ergebnis erzielten, hätten wir zufrieden sein können. Leider waren noch einundzwanzig Ungeheuer übrig, die sich durchaus nicht dumm anstellten. Anstatt sich blind auf uns zu stürzen, bildeten sie eine hufeisenförmige Formation, wie eine in die Länge gezogene Schützenreihe.
"Du links, Gustav die Mitte, ich rechts", rief der Söldner.
Das klang nach einem guten Plan. Leider hatten wir die Reaktionsschnelligkeit der Monster unterschätzt. Im letzten Augenblick wichen sie zur Seite aus, so dass sie von unseren Wurfgeschossen bestenfalls angesengt, aber nicht ernsthaft verletzt wurden.
Das beeindruckte unseren Kommandeur wenig. Er ordnete seelenruhig einen Taktikwechsel an.
"Immer nur einen angreifen. Von links anfangen. Ich werfe direkt auf das Ziel, Gustav etwas weiter links, du nach rechts. So erwischen wir sie auf jeden Fall"
Es funktionierte, auch wenn daraus eine echte Nervenprobe wurde. Ein Wachbaum nach dem anderen ging in Flammen auf, und dennoch stürmten die Übrigen weiter voran, auf uns zu, wobei sie immer schneller wurden. Die letzten erwischten wir erst, als sie uns schon fast erreicht hatten. Vom Feuer der Brandsätze waren unsere Haare versengt.
"Zum Glück hat Frau Bess genug von den Dingern eingepackt", bemerkte Heli.
"Wie sieht es an Eurer Front aus, Frau Bess?", wollte der Hauptmann wissen. "Bei uns alles erledigt."
Was im Wesentlichen stimmte, wenn auch sehr knapp.
"Meine Biester kann ich noch im Schach halten", vermeldete die Rote Witwe. "Aber nur noch etwa eine halbe Stunde lang."
"Und wenn wir meinen Spiegel dazunehmen?", schlug ich vor. "Vielleicht kann der das mit dem violetten Licht ja auch."
"Das sagt er erst jetzt, dass er ihn dabei hat", beschwerte sich die Frau. "Her damit. Halt mal meinen, gib mir deinen."
"Nicht übel", bemerkte sie erfreut, als sie das Artefakt untersuchte. "Der ist besser als meiner".
"Wir tauschen aber nicht", bestimmte ich. Was ihr ein Lächeln entlockte.
"Wieder die Augen schließen, bitte. Und am besten hinsetzen", rief sie.
Erneut wurde die Welt violett. Diesmal dauerte es länger, bis mein Gesichtssinn zurückkehrte. Dafür bekam ich allerdings etwas Erfreuliches zu sehen. Wo eben noch die mordgierigen Schattenwesen angegriffen hatten, wirbelten nun Ascheflocken im Wind. Leider nur in der unmittelbaren Umgebung der Lichtglocke. Dahinter lauerten noch genug der Ungeheuer, auch wenn sie sich erst einmal nicht mehr in unsere Nähe wagten.
" So geht es leider nicht. Jedenfalls nicht ganz. Wenn wir die beiden Spiegel nacheinander zum Einsatz bringen, hält die Lichtkuppel noch eine Stunde," verkündete die Rote Witwe. "Bis dahin sollte uns etwas einfallen."
"Die Wettertafel", antwortete ich und holte das Ding hervor. Ich wies auf das Blitzsymbol. " Das sollte ihnen einheizen."
"Ich glaube nicht, dass wir ihnen mit Blitzen ernsthaft zusetzen können", zweifelte die Frau.
"Dann das Sonnensymbol", schlug ich vor. "Ich wollte immer schon mal wissen, was passiert, wenn ich das benutze. Geht dann eine zweite Sonne auf? Oder wird es taghell? Das dürfte diesen Kreaturen der Nacht zu schaffen machen. Ich fange mal mit ein paar Blutstropfen an."
"Ich glaube nicht, dass dieses Zeichen Sonnenlicht erzeugt", überlegte die Rote Witwe. "Ich denke da eher an weißes..."
Diesen Satz konnte sie nicht mehr zu Ende bringen. Denn die Welt wurde weiß. Weißer als der weißeste Schnee, den ich je erblickt hatte. Den man nicht länger als einen Moment ansehen konnte, ohne schneeblind zu werden. Und das wurde ich, zumindest zeitweise. Vorsichtig ließ ich mich auf dem Erdboden nieder und wartete, schon zum dritten Mal an diesem Tag, auf die Wiederkehr meines Augenlichts.,
"Was war das denn nun wieder?", rief Heli.
"Die Mondelfen", erwiderte die Rote Witwe trocken. "Endlich haben sie eingegriffen. Mit weißem Feuer. Sie dürften uns schon die ganze Zeit von ihren Flugwesen aus beobachtet haben."
"Sie wollten zuerst wohl sehen, wie wir uns schlagen", vermutete ich.
"Vielleicht", erwiderte sie. "Von den Verschlingern und den Wachbäumen ist jedenfalls nichts mehr übrig. Fahren wir weiter, und bleibt schön wachsam."
"Könnt Ihr Euch das erklären?, fragte ich die Rote Witwe, als wir wieder in der Kutsche saßen. "Das kann nicht von Meister Nossfu ausgehen. Er braucht uns lebend. Und die Schwarze Witwe würde das nicht wagen. Sie ist viel schwächer als er.Oder doch nicht?"
Sie sah mir in die Augen. "Gewöhne dir das Spekulieren ab, Junge", riet sie. "Sei im Augenblick und reagiere auf das, was dir widerfährt. Wie der Hauptmann sagte. Höre auf dein Bauchgefühl."
"Nächster Halt Alte Mühle", ließ sich selbiger vernehmen. "Und weitere Probleme".
"Ich bin ja so gespannt", bemerkte ich. Zur Abwechslung bekamen wir es diesmal nicht mit Monstern zu tun, sondern mit, zumindest ehemaligen, Menschen. Vor der Eingangstür der Mühle hatten sich über hundert in dunkle Gewänder gehüllte Wiedergänger in einer Art Schlachtformation aufgestellt. Es war klar, dass sie uns keinen Zutritt gewähren wollten.
"Was jetzt", fragte der Hauptmann knapp.
"Haltet Feuereier und die Pfeile bereit", befahl die Rote Witwe. "Abwarten. Gustav und ich versuchen es erst einmal im Guten."
Ruhig und selbstbewusst schritten wir auf die Wandler zu, wobei die Rote Witwe wohl wirklich so empfand. Ich eher nicht. Aus der Masse der Wandler löste sich einer, der im Gegensatz zu den meisten anderen nicht vermummt war. Ich erkannte ihn sofort. Seinen abgerissenen Kopf hatten sie ihm wieder anmontiert, wie eine Naht bewies, die sich um seinen Hals hinzog. Der Gärtner und mutmassliche Frauenmörder Waldemar.
"Da ist er ja, der feine junge Herr", rief mein alter Bekannter. "Lebt ja immer noch!"
"Leider habe ich wieder deinen Namen vergessen", behauptete ich wahrheitswidrig, um ihn zu ärgern. "Du kannst dir vorstellen, dass ein Wasa sich nicht jeden Gärtner merkt. Gesinde ist eben nur Gesinde."
Die Rote Witwe packte mich an der Schulter. "Nicht provozieren lassen", zischte sie.
"Ah, da ist sie ja, die rothaarige Hure", setzte Waldemar seine freundliche Begrüssung fort. "Die mit den grossen Glocken".
Mit diesen Worten griff er nach ihren Brüsten. "Wollte ich immer schon mal machen", verkündete er. "Gefällt es dir?".
"Wie gefällt dir das?", fragte sie zurück, packte seinen Kopf, drehte ihn um einmal um 360 Grad, bis sie ihn abgerissen hatte, und kickte ihn gekonnt ins Abseits.
"Mädchenfussball", erläuterte sie. "War sehr populär in meiner Jugend."
"Wie war das mit nicht provozieren lassen?", wollte ich wissen.
"Was zu weit geht, geht zu weit", gab sie zurück.
Dieser Meinung waren wohl auch zwei der Genossen des Gärtners. Drohend kamen sie auf uns zu. Die Rote Witwe hob den linken Arm, und zwei Pfeile kamen angeflogen. Offenbar hatte man sie sehr großzügig mit verstärktem Berserkertrank behandelt, denn die beiden Wandler gingen sofort in Flammen auf. Das schien die anderen zu beeindrucken. Sie wichen aber auch nicht zurück.
"Jetzt hört mir einmal zu", rief die Rote Witwe. "Da drinnen wartet der Meister Nossfu auf uns. Durch seinen Ruf seid ihr aus euren Gräbern erweckt worden. Er hat euch wieder einen Lebensfunken gegeben. Und nur er vermag es, euch ganz und gar ins menschliche Dasein zurückzuholen. Mit unserer Hilfe kann er die Kraft gewinnen, dies zu vollbringen. Warum haltet ihr uns auf. Wollt ihr denn so bleiben, wie ihr seid?"
"Wir trauen ihm nicht mehr", rief einer aus der Menge. "Wir hören auf sie. Sie ist eine von uns. Eine aus dem Grab."
"Er meint tatsächlich die Schwarze Witwe", stellte die Rote Witwe erstaunt fest. "Sie hat eine Revolte angezettelt."
Ich trat einen Schritt vor.
"Sie", erklärte ich und wies auf die Rote Witwe, "ist auch eine von euch. Aus dem Grab, wo sie achtzig Jahre lag, unter der Erde. Genauso wie ihr wurde sie erweckt. Sie nahm auch an dem ersten Treffen teil, in der Alten Mühle. Sie war nackt! Daran müsst ihr euch doch erinnern!"
Ein Murmeln bahnte sich seinen Weg durch die Menge. "Ja, die Rothaarige", erinnerte sich einer. "Sie war nackt."
Andere grummelten zustimmend. Sogar einige der Skelette klapperten anerkennend mit ihren Kieferknochen.
Die Rote Witwe nutzte die Gelegenheit. "Ich weiß, wie ihr euch fühlt", beteuerte sie. "Ich habe erlebt, was ihr durchmacht. Genauso wie die Witwe Tyr. Lasst mich mit ihr reden. Ich kann euch nicht versprechen, dass wir etwas finden werden, was euch das Leben zurück gibt. Aber wir werden es versuchen."
Wieder verliess einer den Schutz der Menge und ging auf uns zu. Auch ihn erkannte ich.
"Meister Rem", sagte ich erstaunt. "Ich wusste gar nicht, dass ihr gestorben seid!"
"Wer kümmert sich schon um Kunstlehrer", seufzte der ältere Herr, der, von einer ausgeprägten Blässe abgesehen, noch recht frisch aussah. "Die musischen Fächer wurden seit jeher vernachlässigt. Vor vier Monaten bin ich gestorben, und sie haben noch nicht einmal meine Stelle wieder besetzt."
Er wandte sich an die Rote Witwe. "Ich stand gar nicht so weit weg von euch, damals in der Mühle. Ihr wart nackt! Zu Lebzeiten hätte ich Euch gerne einmal gemalt. Ich erinnere mich aber auch daran, dass ihr uns auf dem Friedhof bekämpft habt. Einige habt ihr vernichtet."
"Ich habe mich schon damals gegen den Ruf aufgelehnt", gab sie zurück. "Wie ihr es jetzt tut. Weil ihr dem Meister Nossfu genausowenig traut. Dass ich damals gegen euch vorgehen musste, war Selbstverteidigung. So wie gerade eben. Wir sind auf derselben Seite. In gewisser Weise könnt Ihr in mir die Mutter Eurer Revolution sehen. Wenn ihr nicht mehr gegen mich vorgeht, werde ich mich bemühen, dem Meister Nossfu abzutrotzen, was er euch versprochen hat."
Der Mann sah sie nachdenklich an. "Ihr seid stark. Wenn überhaupt, könntet am ehesten Ihr etwas erreichen. Leicht wird das aber nicht. Ihr werdet nicht glauben, was da drinnen los ist.
Die Wandler machten den Weg frei. Wir schritten zum Eingang der Alten Mühle.
"Falls uns dort Probleme erwarten sollten, die Ihr im bekleideten Zustand nicht bewältigen könnt, habt Ihr immer noch die andere Option", sagte ich zur Roten Witwe.
"Träum weiter, Junge", erwiderte sie. "Und jetzt mach gefälligst einer Dame die Tür auf."
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Kräuter und die Mondelfen
26. Kapitel
Der Avatar
Teil 5
Vor sieben Jahren hatte ich der Alten Mühle zum ersten Mal einen Besuch abgestattet. Als kleiner Junge. Für eine Mutprobe.
Eine ganze Nacht allein mit der Dunkelheit und meiner Einbildungskraft. Vielleicht auch mit Gespenstern. So ganz sicher war ich mir da nicht gewesen. Dennoch schätzte ich mich glücklich, das unheimliche Gemäuer endlich verlassen zu dürfen, und schwor mir, niemals dorthin zurückzukehren.
Daraus wurde nichts. Beim nächsten Mal hatte ich es mit ihren Gräbern entstiegenen, lebenden Leichnamen zu tun, an derem realen Vorhandensein leider nicht gezweifelt werden konnte. Sie hatten gut zur Alten Mühle gepasst.
Und nun fand ich mich zum dritten Male an diesem Ort wieder. Und blickte in einen Thronsaal.
Die Wände erglänzten in strahlendem Gold, beschienen von unzähligen, bunten Lampen. Bis auf die Wand am anderen Ende des Raumes, die von einer riesigen Fahne bedeckt war. Sie präsentierte auf grünem Grund einen roten Drachen. Er trug eine goldene Krone.
Davor stand immer noch das Podium, auf das Schlichter und ich seinerzeit geklettert waren. Jetzt ebenfalls vergoldet und mit einer Treppe versehen. Agnathas gläserner Sarg war verschwunden. Den Platz nahm ein langer Tisch aus schneeweißem Marmor ein, hinter dem Meister Nossfu auf einem Prunksessel residierte. Ein Diadem zierte sein Haupt. Diamanten glitzterten im Licht der Lampen. Dazu passten purpurne Gewänder, in die er sich gehüllt hatte.
Plötzlich setzte Musik ein. So machtvoll, als ob zehn Orgeln gleichzeitig den Saal mit ihren Klängen geflutet hätten. Ich glaubte, den Krönungsmarsch zu erkennen, der in der Alten Kaiserstadt immer anlässlich der Thronbesteigung eines neuen Herrschers gespielt wurde.
Neben dem Marmortisch stand Meister Lurra, der von der Schwarzen Witwe entführte Vorsteher unseres Heimatmuseums, und machte sich an dem Opferstein zu schaffen, den Schlichter und ich seinerzeit entdeckt hatten. Mir wurde klar, dass es das Artefakt war, von dem die Töne ausgingen. Das Ding funktionierte auch als Musikinstrument. Wer hätte das gedacht?
Dann nahm ich den Geruch wahr. Ein abscheuliches Gemisch aus Blut und Traumweiss, das mir fast den Atem raubte. Ich hatte Mühe, mich nicht zu übergeben. Der Gestank ging von einem in den Boden eingelassenen Becken aus. Vier Vermummte stocherten mit langen Stangen in der Brühe herum. Angeleitet wurden sie von einer kleinen, schwarz gekleideten Person. Als sie uns entdeckte, kam sie sofort in schnellen Schritten auf uns zu.
"Narren", zischte die Schwarze Witwe. "Warum seid ihr hier? Obwohl ich euch signalisiert hatte, dass ihr fern bleiben sollt?"
"Signalisiert?", gab die Rote Witwe kühl zurück. "Ihr habt versucht, uns umzubringen!"
"Ihr lebt ja noch", rechtfertigte sich die Schwarze Witwe. "Aber nicht mehr lange. Der Meister ist verrückt geworden. Er hält sich jetzt schon für einen Gott. Alles hat sich verändert. Niemand ist mehr sicher."
"Ihr meint, wegen des Prunks und des Pomps hier?", fragte ich. "Das mag überspannt sein, aber doch nicht geistesgestört. Immerhin steht er kurz davor, tatsächlich so etwas wie ein unsterblicher Gott zu werden."
"Dann schau dir doch einmal genauer an, was er da auf seinem Tisch zu liegen hat"
"Das sind Köpfe", stellte die Rote Witwe befremdet fest. Nun sah ich es auch. Vor sich hatte der ehemalige Lehrer fünf Häupter in einem Halbkreis angeordnet, mit denen er sich angeregt zu unterhalten schien.
"Unvermutet fiel ihm ein, dass er einen Beraterstab benötigte", erläuterte die Schwarze Witwe. "Er suchte die fünf Klügsten unter uns aus und köpfte sie eigenhändig, denn, so sagte er, ohne ihre störenden Leiber könnten sie sicher besser denken. Die Himmlischen behandelt er wie Laufburschen. Das werden sie sich nicht mehr lange gefallen lassen. Ich verstehe das nicht. Wie kann jemand von einem Moment auf den anderen den Verstand verlieren?"
"Der sechste Schritt", sagte ich zur Roten Witwe. "Ihr habt gesagt, dass die ersten fünf Schritte zur Unsterblichkeit trügerisch einfach waren. Der Sechste gestaltete sich als schwieriger, aber als machbar. Die eingebaute Falle war gut verborgen. Ihr habt sie nicht bemerkt. Wie schnell ging das mit Eurer Lähmung?"
"Von einem Augenblick zum anderen", antwortete sie nachdenklich.
" Euer Körper war gelähmt, aber Euer Verstand hellwach. Wenn es bei ihm nun umgekehrt ist?"
"Das kann sein", meinte die Schwarze Witwe. " Sollte er dennoch den siebten Schritt bewältigen, hätten wir einen wahnsinnigen Gott auf die Menschheit los gelassen. Wir müssen ihn aufhalten. Ihr dürft ihm auf keinen Fall zum Aufstieg verhelfen, Frau Bess!"
Ihr plötzlich erwachtes Verantwortungsbewusstsein nahm ich ihr nicht ab. Es dürfte wohl eher die Furcht gewesen sein, als abgeschlagenes Haupt im Rat des Lehrers zu landen, die sie antrieb.
Endlich bemerkte uns Meister Nossfu. Mit einer huldvollen Geste winkte er uns zu sich heran.
"Nennt ihn Meister", zischte die Schwarze Witwe. "Verbeugt euch, redet nur, wenn er euch anspricht, unterbrecht ihn nicht. Seid vorsichtig."
Langsam setzten wir uns in Bewegung. Als wir vor ihm standen, fiel mir ein seltsamer Glanz in seinen Augen auf. Das erinnerte mich an das Narrenhaus. An einigen Insassen, schweren Fällen, hatte ich Ähnliches beobachtet."
"Ah, die ehrenwerte Frau Bess", begrüsste er uns, nachdem wir uns tatsächlich verbeugt hatten. "Und der junge Gustav. Das Buch der Namen hat er auch mitgebracht. Gib doch mal her."
Ich reichte ihm das Werk. "Nun", wandte er sich an seine Ratsmitglieder "Wollen wir den Elflein bei ihrem Bemühen beistehen, diesen ominösen Auserwählten zu finden, der sie einst vernichten wird? Oder den Dingen ihren Lauf lassen? Wäre doch viel interessanter. Was meint ihr?"
Etwas Leben war noch in den abgeschlagenen Köpfen. Einer schaffte es sogar, etwas zu sagen, auch wenn ich ihn nicht verstand. Drei andere versuchten es wenigstens, während der Fünfte stumm blieb.
"Den werde ich austauschen müssen", seufzte der Lehrer. "Das ist Eure Chance, Frau Tyr. Ich hätte mich gleich für Euch entscheiden sollen."
Die Schwarze Witwe wurde noch blasser, als sie ohnehin schon war. "Eine große Ehre", bedankte sie sich. "Vielleicht solltet Ihr aber zuerst die Zeremonie hinter Euch bringen, bei der sich die Elfen ja doch als hilfreich erweisen könnten. Nicht, dass Ihr sie benötigen würdet. Aber sollten nicht auch niedrige Geschöpfe wie sie die Gelegenheit bekommen, sich nützlich zu machen?"
Darüber dachte der künftige Gott nach. "Ja, ich sollte mich als gnädig erweisen", verkündete er und schnippte mit den Fingern. Aus einem Schatten, den ich bislang gar nicht bemerkt hatte, traten zwei Mondelfen heraus. Rote Augen, Grüne Augen. Statt ihrer üblichen weißen Gewänder trugen sie farblich passende Roben.
Meister Nossfu übergab mir das Buch. "Dann erfülle ihnen mal ihren Wunsch", sagte er. "Niemand soll behaupten können, es fehle mir an Großzügigkeit!"
In wenigen Augenblicken hatte ich die Seite gefunden, auf der der Name und der Heimatort des Auserwählten verzeichnet waren. "Hier bitte",erklärte ich und reichte des Werk weiter. Die Himmlischen vertieften sich in den Text und nickten mir schließlich zu. Sie schienen zufrieden zu sein. "So gut bin ich zu euch", lobte sich der Meister. Es war nicht leicht, die fremdartige Mimik dieser Wesen zu deuten. Doch glaubte ich etwas wie Wut zu erkennen. Und Hohn. Die Lage drohte außer Kontrolle zu geraten. Ich musste etwas unternehmen, und zwar schnell."
"Es wäre mir eine Ehre, Euch dieses Buch zum Geschenk zu machen," sprach ich die Mondelfen an. "Zweifellos könnt ihr damit viel mehr anfangen als ich."
"Einen Augenblick mal", mischte sich Meister Nossfu ein. "Das geht nicht ohne meine Genehmigung! Es handelt sich nur um eine Leihgabe, die zurück zu geben ist, wenn ich es verlange. Ist das klar?"
Die Mondelfen verbeugten sich tief. Doch der Ausdruck von Hohn in ihren Gesichtern verstärkte sich. Zum Glück bemerkte der Lehrer davon nichts. "Bleibt es beim Geschenk?", fragte mich die Grünäugige, wobei sie sich der wohl nicht so geheimen Gestensprache unserer Miliz bediente.
"Es bleibt ein Geschenk", antwortete ich lautlos. Die Wesen schienen sich zu beruhigen. Vorerst.
"Gute Idee", signalisierte die Rote Witwe. Ebenfalls in der Gestensprache.
"Nun denn", rief Meister Nossfu munter. "Lasset uns diese Formalität erledigen! Mit diesen Worten erhob er sich und schritt die Treppe herunter, gefolgt von den beiden Frauen, den Mondelfen und mir. Letztere gingen mit schnellen Schritten auf das Becken zu. Als sie dort angelangt waren, knieten sie nieder. Sie legten ihre Hände auf die Flüssigkeit, die zu brodeln begann. Etwas tauchte auf. Agnatha. Sie trug ihr blaues Kleid. Und das blaue Halsband. Ihre Augen waren geschlossen.
"Hoffentlich funktioniert Euer alter Plan", flüsterte die Schwarze Witwe der Roten Witwe zu. "Hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde."
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Kräuter und die Mondelfen
26.Kapitel
Der Avatar
Teil 6
Zweifellos spielte Agnatha eine wichtige Rolle im Plan der Roten Witwe. Aber in welcher Weise? Wenn die Mondelfen das blaue Halsband der Sverrigtochter durchtrennten und die darin gefangene Seelenenergie freisetzten, würde dann ihr Traum-Ich in ihren Körper zurückkehren? Und den Kampf mit dem Lehrer aufnehmen und ihn besiegen? Konnte es so einfach sein?
Mit einer eleganten Geste entledigte sich Meister Nossfu seines Krönungsmantels und warf ihn mir zu. "Schön zusammenlegen und auf meinem Tisch platzieren", trug er mir auf. "Lurra", wandte er sich an den Leiter unseres Heimatmuseums, "mit der Musik anfangen auf mein Zeichen. Gustav, du beginnst daraufhin mit dem Rezitieren der Texte. Ebenfalls mein Signal abwarten. Mach es ordentlich, und ich werde in Zukunft vielleicht Verwendung für dich haben. Hoch jetzt mit dir auf das Podium. Ihr beiden, Frau Bess und Frau Tyr, begleitet ihn. Und ihr Himmlischen erledigt Euren Teil, sobald ich es sage." Er klatschte in die Hände. "Auf geht`s"!
"Jetzt wirkt er eigentlich ganz normal", murmelte ich, während wir die Treppe hinauf kletterten. "Abwarten", flüsterte die Schwarze Witwe noch leiser. "Das kann sich blitzschnell ändern." Meister Lurra hatte während dessen ein Stehpult aufgebaut und auf diesem ein aufgeschlagenes Buch platziert. Er sah ausgesprochen schlecht aus. Sein Gesicht schillerte in Rot- und Blautönen. Einige Zähne hatte man ihm auch ausgeschlagen. Die Hände sahen verbrannt aus, als ob er sie in ein Feuer gehalten hätte. "Hier anfangen zu lesen", erklärte er und wies auf eine Zeile. " Falls dir ein Fehler unterlaufen sollte, fände ich das nicht so schlimm", bemerkte die Schwarze Witwe. "Auf keinen Fall", mischte sich die Rote Witwe ein. "Ein unter den Augen der Himmlischen geschlossener Pakt muss eingehalten werden. Jedenfalls solange, wie ihn Meister Nossfu respektiert.""
Das schien der Fall zu sein. Als der Lehrer in die bräunliche Brühe watete, zückte die rotäugige Mondelfe ein glühendes Messer. Weißes Feuer. Damit wollte sie wohl Agnathas Halsband zu Leibe rücken. Der Mann ließ sich langsam in die Flüssigkeit sinken, bis er direkt neben der immer noch bewusstlosen Agnatha schwamm. Er streckte seine Hand nach dem Halsband aus. "Musik", rief er. Sofort setzte der Triumphmarsch ein, der seinerzeit immer dann erklungen war, wenn das Heer des Alten Kaiserreichs einen Sieg errungen hatte. "Lesung", ordnete er an. Ich begann, die Worte der Alten Sprache zu intonieren, ganz so, wie sie in dem Buch geschrieben standen. "Und nun", fuhr der Lehrer fort, "das Weiße Feuer!" Die Mondelfe machte es kurz. Eine rasche Bewegung, mit bloßem Auge kaum wahrzunehmen, und das Halsband lag zerschnitten in dem Gebräu aus Blut und Traumweiss. Es löste sich auf. Eine blaue Flüssigkeit breitete sich in dem Becken aus, um sich dann langsam auf den Lehrer zuzubewegen. Der sie in sich aufnahm. Er erhob sich, aber nicht, indem er sich aufrappelte wie ein Mensch, sondern direkt aus der Waagrechten in die Senkrechte. Auch stand er nicht mehr in der Brühe. Sondern auf ihr.
"Das vermag die Seelenenergie", rief er. "Seht, ich gehe über das Wasser. Doch kann das nicht alles gewesen sein. Wo ist die restliche Kraft, die da Band aufgenommen hat in all den Jahren? Ich habe da eine Vermutung. "Auf der Wand ihm gegenüber bildete sich ein blauer Fleck, von dem ein Rinnsaal ausging. Ich vernahm das Rauschen von Wellen, wie ich sie in Agnathas Traumwelt gesehen hatte. Und dann war sie plötzlich da. Ich starrte sie fassungslos an. Wie hatte sie es geschafft, so schnell aus dem Becken harauszukommen? Mein Blick fiel auf das Bassin. Immer noch lag sie mit geschlossenen Augen in der Flüssigkeit. Während sie gleichzeitig vor dem Lehrer stand.
"Ich wusste es", triumphierte Meister Nossfu. "Ein Avatar! Da ist sie also geblieben, die verschwundene Kraft." "Avatar", wiederholte ich in Gedanken und erinnerte mich an Lothars Lexikon der lächerlichen Lügenmärchen. "Avatar. Mythisches Wesen, das sich aus der Seelenkraft übernatürlich begabter Menschen herausbilden kann. Zum Beispiel aus Sturmtöchtern. Eine Art Geisterdoppelgänger. Was für ein Unsinn! Manche Leute haben einfach zu viel Phantasie."
So weit Lothar, der wieder einmal völlig falsch lag. "Nun", fuhr der Lehrer fort", es ist mir gleich, welche Form die Energie annimmt, die ich brauche. Dann verschlinge ich eben den Avatar". Er holte tief Luft und versuchte, die Erscheinung in sich aufzusaugen. Für einen kurzen Augenblick schien sie zu flackern, ehe sich eine dünne, blaue Linie bildete, die von der Adelstochter zur Wand führte. Auf dieser erschien ein Gemälde. Agnathas Bildnis, das wir im Sommerhaus der Sverrig gesehen hatten.
"Ein Anker", stellte die Schwarze Witwe beeindruckt fest. "Aber einer wird nicht reichen."
"Ganz genau", bestätigte die Rote Witwe. "An ihrem Selbstportrait hängt sie sehr. Eine starke Verbindung. Und an ihm". Dabei wies sie auf mich. Eine weitere blaue Linie wurde sichtbar, sich von der Adelstochter zu mir erstreckend. Oder besser, von dem Avatar zu mir.
"Zwei Anker", korrigierte sich die Schwarze Witwe. "Sehr raffiniert. Damit wird er nicht fertig. Entweder er gibt auf, oder er platzt!"
Leider stand noch eine dritte Alternative zur Auswahl. "Lurra!", brüllte Meister Nossfu. "Die Blutenergie!" Meister Lurra folgte dem Befehl und ließ seine Finger über die Symbole auf dem Blutstein gleiten. Von dem Ding ging ein rötliches Glühen aus. Ein Geräusch war zu hören, als ob Wasser durch ein Rohr floss. Nein, nicht Wasser. Blut. Es sickerte in das Becken hinein und wurde zu rotem Licht, das dem Lehrer zustrebte und ihn zu stärken schien, genauso wie vorhin die Seelenenergie.
"Er bricht den Pakt", stellte die Rote Witwe fest. Sie sah mich an. "Geh an den Opferstein und beeende das. Oder die ganze Welt fliegt uns um die Ohren!"
Ich packte Meister Lurra an den Schultern und zerrte ihn von dem Artefakt weg. "Welche Symbole habt Ihr berührt?", herrschte ich ihn an. "Das ist doch jetzt sowieso egal", gab er zurück und zeigte mir seine verbrannten Hände. "Wer diesen Stein ungeschützt berührt, stirbt. Dazu haben sie mich gezwungen. Ich bin tot. Lass mich in Ruhe."
"Und Eure Familie?", setzte ich nach. "Ihr habt fünf Kinder. Wenn die Blutenergie ausser Kontrolle gerät, brennt die ganze Stadt! Wollt Ihr das riskieren?"
"Wisst Ihr, wie niedrig das Hinterbliebenengeld für Stadtangestellte ist?", fragte er zurück. "Sie werden ohnehin im Elend leben. Dann lieber tot."
Das durfte nicht wahr sein. Der Putz rieselte schon von der Decke, durch die Wände zogen sich feine Risse, der Avatar drohte den Kampf gegen den Lehrer zu verlieren, und ich scheiterte an einem weinerlichen Bürokraten?
"Ich bin reich", verkündete ich. "Meine Alles-Weg-Salbe verkauft sich wie verrückt, und seit meiner Heirat darf ich über das Geld verfügen. Falls Ihr wirklich sterbt, versorge ich Eure Familie."
"Ihr versprecht es?"
Ich hob die rechte Hand zum Schwur. "Bei meiner Ehre als Mitglied der Jugendmiliz".
"So, und bevor ihr jetzt auch noch anfangt zu feilschen, zeigt ihm gefälligst, welche Zeichen er anfassen muss, und in welcher Reihenfolge", schrie ihn die Rote Witwe an.
"Na schön", gab er nach. "Aber das wird ihn umbringen".
"Macht schon", drängte ich, in der Hoffnung, dass er vielleicht übertrieb. Je mehr der Symbole ich berührte, desto heftiger wurden die Schmerzen, die mir der Blutstein zufügte. Meine Hände fühlten sich an, als ständen sie in Flammen. Etwas stach in meine Brust.
" Muss ich wirklich sterben?", fragte ich die Rote Witwe. "Was du gerade tust, ist tödlich", bestätigte sie. "Ohne einen Schutz den Blutstein in dieser Weise zu bedienen. Doch ich zwinge dich zu nichts. Solltest du jetzt aufhören, überlebst du vielleicht."
Die Frau hatte leicht reden. Sie wusste genau, dass ich nicht den Untergang meiner Heimat und das Leben meiner Familie riskieren konnte, nur um mich selbst zu retten. In den patriotischen Geschichten, die sie uns in der Schule bis zum Erbrechen eingetrichtert hatten, starben die Soldaten immer gerne. Voller Stolz und in Vorfreude auf die Ehren, die man ihnen nach dem Heldentod erweisen würde. Das konnte ich nicht bestätigen. Schließlich war ich erst siebzehn. Ein paar Jahre mehr wären schon nett gewesen.
Langsam beruhigte sich der Opferstein. Als ich auf das letzte Zeichen drückte, überwältigte mich das Gefühl, als ob jemand meine Brust mit einem Brenneisen bearbeitete. Hastig riss ich mir die Jacke und das Hemd vom Leib und atmete tief ein. Auf meiner Haut hatte sich tatsächlich etwas eingebrannt. Ein Bild von einem Einhorn.
"Seht, was sich unten tut", rief die Schwarze Witwe. Die blutrote Substanz hatte sich bis zu der Avatar-Agnatha ausgebreitet und drohte, das blaue Leuchten zu ersticken, das von ihr ausging. Jetzt zog sie sich zurück, um sich schließlich aufzulösen. Der Lehrer versuchte immer noch, die Erscheinung aufzusaugen. Es gelang ihm nicht. Der Avatar war zu stark verankert. Das Wesen sah kurz zu mir auf und nickte mir zu. Ich grüßte zurück. Mein unsichtbares Kindermädchen, das mir unzählige Male das Leben gerettet hatte. Endlich hatte ich etwas für sie tun können. Sie wandte sich wieder dem Lehrer zu. Ihre Augen schimmerten wie blaues Eis. Auch sie konnte übers Wasser gehen. Oder besser über diese scheußliche Brühe. Langsam, sehr langsam, schritt sie auf den Lehrer zu. Mit einer Hand packte sie ihn am Hals und hob ihn aus der Flüssigkeit heraus. Es dauerte lange, bis er starb. Nachdem sein Röcheln verstummt war, sagte die Schwarze Witwe. "Das war es dann wohl."
"Nicht ganz", widersprach die Rote Witwe. "Der kritische Punkt ist noch nicht erreicht."
Am Rande des Bassins standen immer noch die beiden Mondelfen. Um sie herum schimmerte die Luft in grün und rot. Die Avatar-Agnatha sah sie an, umgeben von eisblauem Leuchten. Sie machten sich kampfbereit.
"Natürlich", erinnerte ich mich. "Sie haben Agnatha entführt, in den Sarg gesteckt und ihr die Jugend gestohlen. Sie muss sie genauso hassen wie den Lehrer. Natürlich will sie Rache".
"Avatare sind mächtige Wesen, gemacht nicht aus Fleisch und Blut. Sondern aus reiner Energie. Den Mondelfen wohl ebenbürtig", überlegte die Rote Witwe. "Wie auch immer so eine Auseinandersetzung ausgeht, von uns wird wohl nicht viel übrig bleiben."
Meister Lurra klopfte mir auf die Schulter. "Jetzt stirbst du wenigstens nicht allein."
"Wo bin ich hier?", war plötzlich jemand zu hören. " Was ist das für ein widerliches Zeug? Und wieso siehst du aus wie ich?".
Das war Agnathas Stimme. Die der echten Sverrigtochter. Sie ging auf ihre Doppelgängerin zu. Sie sahen sich in die Augen. Der bläuliche Schimmer um den Avatar erlosch. Die Mondelfen schienen sich auch zu beruhigen. Dafür hattem wir jetzt ein neues Problem.
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Kräuter und die Mondelfen
26.Kapitel
Der Avatar
7.Teil
Die beiden Agnathas standen einander gegenüber. Nicht kampfbereit, aber auch nicht freundschaftlich. Eher abwartend. Vielleicht misstrauisch. Fremd.
"Das kann gefährlich werden", sagte die Rote Witwe. "Der Avatar hat sich noch vor Kurzem für Agnathas Seele gehalten, die schließlich in ihren Körper zurückkehren würde. Um dann ein neues Leben zu beginnen. Jetzt wird ihr klar, dass sie nur ein Ebenbild ist. Ein Abklatsch. Noch nicht einmal ein Mensch. Sollte sie von der echten Sverrigtochter abgelehnt werden, weiss ich nicht, wie sie reagieren wird".
"Ich habe Einiges über Avatare gelesen", ergänzte die Schwarze Witwe. "Sie sind nicht stabil. In den meisten überlieferten Fällen wurden sie wahnsinnig und zerstörten sich selbst. Einer hat eine Insel im fernen Westmeer mitgenommen. Eine große Insel!"
"Auf dich hört sie vielleicht, Gustav", vermutete die Rote Witwe. "Du hast eine Verbindung zu ihr. Unternimm etwas."
"Was soll ich denn sagen?", wollte ich wissen.
"Ich habe dich schon einmal darauf hingewiesen", antwortete sie. "Mach keine Pläne. Verlasse dich auf deine spontanen Einfälle. Folge deinem Gefühl. Dann bist du am besten."
"Und Beeilung, bevor wir noch alle in die Luft fliegen", ergänzte die Schwarze Witwe.
Was sie betraf, hätte ich das gar nicht so übel gefunden. Aber da es auch um andere Leben ging, nicht zuletzt meines, machte ich mich auf den Weg. Die beiden Frauen hätte man nicht voneinander unterscheiden können, wenn eine von ihnen nicht völlig durchnässt gewesen wäre. Ihre Kleider klebten an ihrem Körper. Der Geruch, der von ihr ausging, war auch nicht gerade angenehm. Blut und Traumweiß. Das widerliche Gebräu, das der Lehrer hatte anrichten lassen.
Als sie mich bemerkte, wies sie auf ihre Doppelgängerin und fragte: "Wer ist das? Was ist das?"
Der Avatar wich vor ihr zurück, offenbar tief verletzt. In ihrer Miene zeichneten sich Enttäuschung ab und Zorn . Es wurde kritisch.
Gefragt war ein spontaner Einfall.
"Das", verkündete ich, "ist deine Tochter."
Agnatha sah mich verständnislos an. "Du spinnst wohl!", rief sie. "Ich bin ein anständiges Mädchen. Ich habe doch kein Kind. Das auch noch genauso aussieht wie ich. Im selben Alter ist!"
"Woran erinnerst du dich?", fragte ich. "Deine Entführung durch die Mondelfen? Und wie sie dich in ein Grab gelegt haben? Das blaue Halsband schnürte dir die Luft ab? Bis du es nicht mehr ertragen konntest? Und dann? Was geschah danach?"
Sie schwieg nachdenklich. "Danach", sagte sie langsam, "kam mir alles vor wie ein Traum. Als ob ich all dies gleichzeitig erlebt und aus der Ferne beobachtet hätte."
"Du hast die ganze Zeit in deinem Sarg gelegen", stellte ich fest. " Was sie getan und unternommen hat", ich wies auf den Avatar", glaubtest du zu träumen. Wer sie ist? Meister Nossfu und die Mondelfen haben dich dieser schrecklichen Prozedur unterzogen, um Seelenenergie zu gewinnen. Und aus dieser ist eine zweite Agnatha entstanden. Kinder entspringen dem Körper ihrer Mutter. Sie sind Fleisch von ihrem Fleisch. Und sie entstand aus deiner Seele. Das ist im Prinzip das Gleiche. Aus dir ist sie hervorgegangen. Auf ungewöhnliche Weise, zugegeben. Und trotzdem ist sie deine Tochter."
Während diese Worte meinen Mund verliessen, kamen sie mir schon verrückt vor. Das würde sie mir nie abnehmen. Zu meiner Überraschung schien ihr diese Erklärung aber einzuleuchten. Was sie sofort zur nächsten, äußerst nachvollziehbaren Frage führte.
"Wenn sie meine Tochter ist", forschte sie, "wer ist dann der Vater?"
Ich wandte mich an den Avatar. " Du musstest einmal am Tag atmen", erinnerte ich mich. "Warum war das erforderlich? Was wäre geschehen, wenn du diese Möglichkeit nicht gehabt hättest?"
"Ich hätte mich aufgelöst", vermutete sie.
"Dann könnte man also sagen, dass du aus Agnathas Seele und meinem Atem entstanden bist", schlussfolgerte ich.
Jetzt schlug mir von seiten des Avatars Unglauben entgegen.
"Du willst behaupten, dass du mein Vater bist? Ich habe dich als Neugeborenes kennengelernt! Deine ganze Kindheit begleitet! Du hast mich nicht zu Unrecht dein unsichtbares Kindermädchen genannt. Und nun sehen wir beide aus wie siebzehn. Wie Geschwister. Aber doch nicht wie Vater und Tochter!"
"Vielleicht", kam mir die ursprüngliche Agnatha zur Hilfe, "sollten wir uns nicht so sehr auf Äußerlichkeiten kaprizieren. Meine Seele und sein Atem. Das ist nicht so anders als der übliche Weg. Das Fleisch der Mutter und der Samen des Mannes. Aber dafür nicht so eklig. Was ich in dem Sarg erleiden musste, kam außerdem den Qualen einer Geburt durchaus gleich. Ja, in gewisser Weise bist du meine Tochter."
"Aber unehelich!" Jetzt wurde es ernst. Damals hatten wir uns in der Bergstadt für sehr fortschrittlich gehalten. Die Folter war abgeschafft, ebenso wie die Todesstrafe. Geisteskranke landeten nicht mehr angekettet in dunklen Kerkern, sondern durften sich einer Heilbehandlung erfreuen. Witwenverbrennungen lagen so weit zurück, dass viele Leute an ihrer Geschichtlichkeit zweifelten. An einem Übel hatte sich aber nichts geändert. Uneheliche Kinder fristeten immer noch ein trauriges Dasein am Rande der Gesellschaft, als Geächtete. Nicht anders als ihre Mütter.
"Das ist kein Problem", verkündete ich. "Als Ersterbe des Hauses Wasa habe ich das Recht, von mir gezeugte KInder zu legitimieren. Dafür muss ich lediglich eine entsprechende Urkunde anfertigen und versiegeln. Die reiche ich beim Familienrat ein, wo sie archiviert wird. Das Kind erhält eine zweite Ausfertigung. Die muss es nur vorlegen, und schon erfolgt die Eintragung in die Bürgerliste. Aber die Legitimierungswirkung tritt schon mit der Einreichung der Ersturkunde ein."
"Aber dann ist sie jetzt, in diesem Augenblick, immer noch unehelich", beharrte Agnatha.
"Nicht, wenn er jetzt mündlich, vor drei Zeugen, das Versprechen abgibt, die Legitimierung vorzunehmen", widersprach der Avatar.
Die ursprüngliche Agnatha nickte sachverständig. Im Familienrecht kannte sich jeder Bergstädter aus. Wer mit wem wie verwandt war, nichts faszinierte die Leute mehr. Darüber konnten sie stundenlang fachsimpeln.
"Nun denn", verkündete ich. "Ich sehe hier drei Zeugen. Die Damen Bess und Tyr sowie den Meister Lurra. Hört ihr mich?" Die Angesprochenen nickten. Die Rote Witwe mit einem Lächeln. Die Vorstellung schien ihr Spass zu machen.
Ich sagte mein Versprechen auf, wobei mich die beiden Agnathas mehrfach unterbrachen und korrigierten. "Ich habe protokolliert", rief die Rote Witwe und schwenkte ein Stück Papier.
Agnatha breitete die Arme aus. "Während ich hilflos in meinem Gefängnis lag, hast du für uns beide gekämpft", sagte sie ernst. "Komm zu mir, Tochter".
Ich hatte nicht gewusst, dass Avatare weinen konnten. Der Avatar-Agnatha liefen die Tränen über das Gesicht. Schließlich ging sie auf ihr Ebenbild zu. Die beiden lagen sich lange in den Armen.
"Igitt", rief Agnatha plötzlich. "Jetzt habe ich dich mit dem selben widerlichen Zeug eingesaut, mit dem ich besudelt bin".
"Warte", erwiderte der Avatar. Sie streckte ihrer Hände aus, von denen ein blaues, aber dennoch wärmendes Licht ausging. Ihr Gegenüber schloss die Augen und ließ sich bereitwillig trocknen,"
"Nicht schlecht", kommentierte sie. "Was kannst du noch, Agnatha?"
"Eine ganze Menge, Agnatha. Was hälst du davon, wenn wir nach Hause gehen und uns etwas ausruhen?".
Beide nickten und fassten sich an den Händen.
"Danke für alles, Gustav", sagte der Avatar. " Ich soll dich von Großmutter grüßen. Zu gegebener Zeit wird sie dich ansprechen."
Bevor ich ihnen eine Frage stellen konnte, wandten sich die Frauen ab und gingen auf die Wand zu, auf die Stelle, auf der Agnathas Selbstportrait zu sehen war. Für einen kurzen Moment glaubte ich, Meeresrauschen zu vernehmen. Dann waren sie verschwunden.
Hinter mir ertönte Beifall. Ich drehte mich um. Die Rote Witwe und die Schwarze Witwe standen nebeneinander und klatschten.
"Habe ich dir doch gesagt", bemerkte die Rote Witwe. "Sei spontan. Verlasse dich auf deine Eingebungen!"
"Auch wenn sie noch so irrsinnig sind", fügte die Schwarze Witwe hinzu. "Du bist der jüngste Vater aller Zeiten. Als Säugling! Aber es hat geklappt, das muss ich zugeben."
Ich stellte die Frage, die mir am meisten auf der Seele brannte. "Lebt meine Mutter noch?"
"Was glaubst du, wer dir das Amulett gegeben hat?", fragte die Rote Witwe ruhig zurück. "Es hat dich vor der tödlichen Strahlung des Opfersteins geschützt. Schon seit einiger Zeit stehe ich mit ihr in Kontakt. Du bist ihr schon mehrfach begegnet. Ohne es zu merken."
Ich dachte an meine Begegnung mit Tante Meg auf Onkel Bernies Dachboden. Sie war ein durch und durch gesetzestreuer Mensch, und doch hatte sie mich aufgefordert, die Sammlung des Onkels verschwinden zu lassen, anstatt sie ordnungsgemäß den Behörden zu übergeben. Auch wäre Tante Meg niemals während der Arbeitszeit über den Markt geschlendert, um Gewürze zu kaufen. Und ihren Neffen um Geld anzugehen. Das war Mutter gewesen. Sie hatte darauf bestanden, dass ich das Amulett trug.
"Ich wusste es", triumphierte die Schwarze Witwe. "So leicht stirbt sie nicht. Bei einem simplen Unfall. Natürlich hat sie ihren Tod vorgetäuscht."
"Aber warum?", fragte ich ratlos.
"Mit ihren Kampfstoffen hat sie viele feindliche Soldaten getötet", antwortete die Frau. " In den Flusslanden nennen sie sie den Weißen Tod. Dort ist sie verhasst. Nach dem Krieg schickten sie ihr Mordkommandos. Zwar hat sie alle erledigt, aber schließlich musste sie ein Kind schützen. Dich. Da war es in der Tat klüger, sich tot zu stellen. So gewann sie auch Zeit, in Ruhe zu forschen. Wer weiß, was sie seitdem zusammengebraut hat. Sicher nichts Harmloses." Sie kicherte hämisch.
Meine Mutter lebte, und sie hatte eine begeisterte Bewunderin. Eigentlich ein Grund zur Freude. Die sich irgendwie nicht einstellen wollte.
"Nun zum Geschäft", sprach die Schwarze Witwe ihre Erzfeindin an. "Ihr wisst, dass ich dem Meister Nossfu treu gedient habe. Bis er sich gegen mich und meine Leute wandte. Ich biete Euch dasselbe an."
"Eure Leute", erwiderte die Rote Witwe, "werde ich bis zum zweiten Schritt bringen. Das bedeutet volle, wiederhergestellte Lebendigkeit, aber keine Verjüngung. Natürlich wird sich die Einnahme verstärkten Berserkertrankes als notwendig erweisen. Davon kann ich genug beschaffen. Euch, Frau Tyr, gestatte ich den vierten Schritt. Verjüngung, langsames Altern, verbesserte Gesundheit. Falls Ihr Euch bewährt. Verrat wird mit dem Tod bestraft. Oder Schlimmerem."
Die Schwarze Witwe nickte. "Das ist akzeptabel"
"Euer erster Auftrag lautet", fuhr die Rote Witwe fort, "dieses Gebäude hier auszuräumen. Nichts darf zurückbleiben. Habt Ihr Transportkapazitäten?"
"Fuhrwerke und Kutschen, hinter der Mühle versteckt"
"Und Räumlichkeiten?"
"In den Bergen gibt es eine verlassene Residenz aus dem Alten Reich".
"Gut", schloss die Rote Witwe. "Dann werden wir Euren Leuten jetzt die veränderte Lage erläutern. Gustav, ich weiß, dass du mit Frau Tyr noch eine Rechnung offen hast. Ich verlange von dir, dass du deine Rache auf Eis legst, solange dieses Bündnis besteht. Dessen Notwendigkeit ich dir noch erläutern werde. Sieh jetzt bitte nach den Kindern. Ich hoffe, dass Meister Nossfu sein Versprechen hielt und ihnen nicht noch mehr Blut abnahm. Dann leben sie vielleicht noch."
Das hoffte ich auch. Im ersten Stock der Mühle wartete ein ganzer Saal voller entführter Kinder auf mich. Toter Kinder, wenn ich Pech hatte. Vor mir erstreckten sich zwei lange Reihen von Betten. Ich lauschte angestrengt, in der Hoffnung, Atemzüge zu vernehmen. Aber es war nichts zu hören.
" Teilen wir uns die Arbeit", sagte da jemand. "Jeder eine Reihe".
"Danke, Meister Lurra", erwiderte ich.
Ich arbeitete mich von Bett zu Bett vor, stets voller Hoffnung, dass das entsprechende Kind noch lebte, und voller Furcht, eine Kinderleiche berühren zu müssen. Aber ich hatte Glück. Bei einigen der Kleinen waren die Lebenszeichen zwar sehr schwach. Doch handelte es sich um robuste Bauernkinder. Sie würden überleben, sofern sie rechzeitig medizinische Hilfe erhielten.
"Bei mir alles in Ordnung", berichtete Meister Lurra. "Bei mir ebenso", antwortete ich.
Als wir wieder im Erdgeschoss angelangt waren, wimmelte es dort von Vermummten, die sich voller Arbeitseifer ans Werk machten. Angefeuert von der Schwarzen Witwe. Frau Meg Bess beschränkte sich aufs Zusehen.
"Die Kinder sind noch allesamt am Leben", berichtete ich. "Die Schwächsten werden aber nicht länger als einen Tag durchhalten."
"Das reicht", gab sie zurück. "Sobald die Mühle leer geräumt ist, Gustav, wirst du mit der Wettertafel die dunkle Wolkenwand beseitigen. Meine Söldner, als Bauern verkleidet, werden der Miliz mitteilen, dass sie die Kinder in diesem Bau entdeckt hätten und dass diese dringend behandelt werden müssen. Es werden alle Heiler aufgeboten werden, die sich finden lassen. Du und ich, Gustav, werden uns unauffällig anschließen. Für Euch, Meister Lurra, habe ich auch eine Aufgabe."
"Warum sollte ich für Euch arbeiten?", wehrte sich der Mann.
Sie wies auf seine verbrannten Hände. "Ich kann Euch nichts versprechen. Aber wenn Euch jemand helfen kann, dann ist es Mia Wasa. Ihr habt gehört, dass sie noch lebt."
Meister Lurra sah mich Hilfe suchend an.
"Ich werde sie darauf ansprechen, sobald ich sie treffe", versicherte ich.
"Was soll ich tun?", wollte er wissen.
"Ihr kommt der Miliz entgegen", antwortete die Rote Witwe. "Und behauptet, dass Ihr von Leuten entführt wurdet, die den Dialekt der Flussländer gesprochen hätten. Sie hätten Euch gesagt, dass Ihr als Ersatzmann für Meister Thing vorgesehen wäret, falls diesem etwas zustieße. Die ganze Zeit über seit Ihr gefesselt gewesen, mit einer Kapuze über dem Kopf. Leider hättet Ihr nichtts gesehen. Die Schurken seien schließlich abgezogen und hätten Euch zurückgelassen. Ihr konntet Euch endlich befreien. Eine einfache Geschichte. Bleibt einfach dabei."
"Wie geht es eigentlich Meister Thing?", wollte ich wissen.
"Die Witwe Tyr hat ihre Leute bereits aus seinem Haus abgezogen", antwortete die Rote Witwe. "Ihm geht es gut".
"Meister Lurra", fuhr sie fort. "Wenn Ihr uns jetzt entschuldigt. Gustav und ich haben noch etwas zu besprechen."
Wie immer machte sie es kurz.
"Du denkst, mit Nossfus Tod sei alles vorbei?", begann sie. "Dieser Narr hat uralte Kräfte geweckt, welche lange schliefen. Bedrohlicher als alles, was du bisher erlebt hast. Denke an die Masken im Versteck deines Onkels. Dann hätten wir noch Ingrid Sverrig, die ebenfalls mit Artefakten aus dem Alten Reich experimentiert und auf einen Bürgerkrieg hinarbeitet. Die Flusslande, die zum Angriff rüsten. Den nach wie vor unberechenbaren Avatar. Die Mondelfen. Glaube mir, wir brauchen jede Unterstützung, die wir bekommen können. Warum gehst du nicht nach draußen, etwas Luft schnappen?"
Ob ich ihr glauben konnte? Vielleicht erfand oder übertrieb sie diese Gefahren ja, und es ging ihr nur um Macht. Andererseits, neben Agnathas Mutter wirkte sie wie ein harmloses Blumenmädchen. Diese Frau stellte wirklich eine Bedrohung dar. Wie auch immer, Luft schnappen hörte sich an wie eine gute Idee.
Meister Lurra leistete mir Gesellschaft. Vor der Mühle bildeten Kutschen und Fuhrwerke eine lange Reihe. Dunkle Gestalten waren dabei, die Gefährte zu beladen. Dafür, dass sie größtenteils tot waren, legten sie ein beachtliches Tempo vor. Die Kutsche, mit der wir gekommen waren, war verschwunden. Vermutlich erledigten die Söldner bereits ihren Auftrag. Dafür waren die beiden Mondelfen noch da. Eifrig stöberten sie im Buch der Namen.
"Achtung", warnte Meister Lurra. "Sieh nach oben." Aus dem dunklen Himmel stürzten gewaltige Schatten auf die Erde. Kurz vor dem Aufprall bremsten sie ihre Abwärtsbewegung ab und landeten sicher.
"Riesenfledermäuse", staunte mein Begleiter. "Größer als Pferde. Sogar mit Sätteln und Seitentaschen!"
Eine Mondelfe verstaute das Buch vorsichtig in einer dieser Taschen und schwang sich sodann auf ihr Reittier. Ihre Gefährtin tat es ihr gleich. Mit gewaltigen Sprüngen katapultierten sich die Flugwesen ohne sichtbare Anstrengung senkrecht in den Himmel. Ihre Schwingen breiteten sie erst aus, nachdem sie eine beachtliche Höhe erreicht hatten. Dann nahmen sie Kurs auf die Endlosen Berge. Nach Osten.
"Wo sie wohl hinfliegen?", rätselte Meister Lurra.
Diese Frage hätte ich beantworten können. Ihr Ziel war das Reich der Sieben Inseln. Wo der Auserwählte lebte, den ich Ihnen ans Messer geliefert hatte. Hoffentlich war er wenigstens ein Schurke, der es verdient hatte."
EIN KLEINES KAPITEL FOLGT NOCH. ES HEISST "DER AUSERWÄHLTE".
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Kräuter und die Mondelfen
27.Kapitel
Der Auserwählte
"So aktiv waren sie schon lange nicht mehr", bemerkte Nase. "Seht nur. Mindestens zehn habe ich schon gezählt, und dabei haben wir Neumond. Ob sie wohl diesen sagenhaften Auserwählten suchen, hinter dem sie schon lange her sind?"
Kleiner winkte ab. "Du sagst es selbst. Sagenhaft. Der ist doch nur eine Märchenfigur. Was immer die Himmlischen da oben veranstalten, hilft uns beim entscheidenden Spiel auch nicht weiter. Und das ist schon übermorgen."
"Dann sollten wir besser ins Bett gehen, anstatt nachts hier herumzuhängen", gab Soße zu bedenken. "Wenn wir morgen müde durch die Übungen stolpern,wird uns der Ausbilder nicht aufstellen. Wir kämen nie zum Turnier der Sieben Inseln."
"Falls wir überhaupt in die engere Auswahl gelangt sind", sagte Nase. "Das wollte Schlange doch herausfinden. Ah, da kommt er ja. Wie sieht es aus?"
"Frohe Botschaft. Wir sind drin", erwiderte Schlange. "Für dich habe ich übrigens auch eine interessante Nachricht, Nase. Ich habe mich ein wenig in die Frauengemächer geschlängelt und herausgefunden, für wen sich deine Mutter entschieden hat. Nach den drei Trauerjahren für deinen ehrwürdigen Vater. Willst du es wissen?"
"Nun spuck es schon aus", drängte Nase. "Nachdem du damit angefangen hast."
"Also", fuhr Schlange fort. "Es hätte wesentlich schlimmer kommen können. Dein neuer Vater mag ein wenig langweilig sein und ist auch nicht mit viel Humor ausgestattet, aber dafür gutmütig und ehrenhaft. Wie es unsere Sitten verlangen, wirst du nach der Hochzeit seinen Namen tragen, als einziger Sohn. Ein guter Name. Bald heißt du Kyoto Takana!"
ENDE DER GESCHICHTE.
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Hallo, 20thcenturyman, ich muss dir zur Fertigstellung deiner Geschichte gratulieren.
Sie hat mich sehr gut unterhalten und ich fand sie wirklich spannend. Falls du sie veröffentlichst - einen Käufer von Buch hättest du mit mir schon mal.
Allerdings will ich dir auch sagen, dass dieses Ende mich maximal verwirrt zurücklässt. Besonders die Unterhaltung am Schluss - wofür ist die gut? Ich befürchte, ich habe da irgendwas nicht verstanden, weil bei dem japanischen Namen für Nase nix geklingelt hat bei mir. Ich hätte es prima und rund gefunden, wenn du nach dem Abflug der Mondelfen Schluss gemacht hättest. Man hat da so Kopfkino, wie die dastehen und ihnen hinterherschauen ... Aber das Gespräch, hm. Vielleicht erklärst du mir ja, wo ich falsch abgebogen bin? Ich würde es wirklich gerne verstehen.
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Hallo Tariq,
diese Schlusszene spielt auf Kräuters Hoffnung an, dass der Auserwählte, dessen Namen und Wohnort er den Mondelfen übermittelt hatte, ein Schurke sei, der es verdient habe, von ihnen heimgesucht zu werden. Er hat deshalb ein schlechtes Gewissen.
Aber derjenige ist eben kein Bösewicht, sondern ein ganz normaler Jugendlicher wie Kräuter, mit Freunden, die sogar ähnliche Spitznamen haben.
Das hielt ich für einen ganz netten Schlusstwist.
Diesen japanisch klingenden Namen hatten die Rote Witwe und Kräuter beim Studium des Buches der Namen ermittelt. Der Junge hat aber noch eine Galgenfrist, weil er den Namen erst später erhalten wird.
Letztendlich ist die Geschichte noch nicht abgeschlossen, weil viele Fragen offen sind.
Aber vielleicht lasse ich diese Szene beim Überarbeiten auch weg, wenn sie zu verwirrend wirkt.
Ansonsten danke für deine Mitteilung. An eine Veröffentlichung denke ich nicht, weil die Geschichte viel zu weit weg ist vom Mainstream. Es gibt keine Romantacy, erst recht keine Sexszenen, keine Drachen, Zwerge und Riesen, noch nicht mal eine Heldenreise. Alles spielt in einer kleinen Stadt.
Ich werde mir jetzt alles ausdrucken und noch mal ansehen.
Eines würde mich aber interessieren: Mithilfe von KI Bilder der Charaktere und auch einzelner Szenen erstellen. Hast du einen Tipp, wie ich das angehen könnte?
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Diesen japanisch klingenden Namen hatten die Rote Witwe und Kräuter beim Studium des Buches der Namen ermittelt. Der Junge hat aber noch eine Galgenfrist, weil er den Namen erst später erhalten wird.
Hm, ich denke, das liegt am portionsweisen Lesen, dass ich mich daran nicht erinnern kann. Sicher ist das anders, wenn man die Geschichte am Stück liest. Ist die Galgenfrist von Belang?
Letztendlich ist die Geschichte noch nicht abgeschlossen, weil viele Fragen offen sind.
Was planst du? Kommt eine Fortsetzung? Oder willlst du die Fragen beim Überarbeiten noch beantworten und in den Text aufnehmen?
Ansonsten danke für deine Mitteilung. An eine Veröffentlichung denke ich nicht, weil die Geschichte viel zu weit weg ist vom Mainstream. Es gibt keine Romantacy, erst recht keine Sexszenen, keine Drachen, Zwerge und Riesen, noch nicht mal eine Heldenreise. Alles spielt in einer kleinen Stadt.
Ich finde es schade. Mainstream ist so gar nicht mein Ding und High Fantasy kein Muss bei mir. Wenn die Story mich fesseln kann, die Charaktere interessant sind und die Beschriebungen für Bilder im Kopf ausreichend sind, hat sie alles, was ich mir wünsche. Vielleicht magst du es ja in Buchform bringen, ohne es zu veröffentlichen? Nur ein Exemplar für dich selbst. Und eins für mich.
Eines würde mich aber interessieren: Mithilfe von KI Bilder der Charaktere und auch einzelner Szenen erstellen. Hast du einen Tipp, wie ich das angehen könnte?
Da muss ich passen, tut mir leid. Aber da Ki hier im Forum schon öfter Thema war, schaust du vielleicht mal in den betreffenden Threads, ob es da kompetente Leute gibt, die dir weiterhelfen können. Ich bin sicher, da gibt es welche.
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Ja, die Galgenfrist ist von Belang. Denn die Mondelfen suchen nach einem Kyoto Tanaka, und so heißt er ja noch nicht. Erst nach der Hochzeit seiner Mutter.
Eine Fortsetzung plane ich in der Tat. Nach Abwicklung meiner Rechtsanwaltskanzlei gehe ich in den Ruhestand, dann habe ich viel Zeit. Und du hast recht, die Sache mit dem Auserwählten passt besser in eine Fortsetzung. Ich lasse daher die jetzige Geschichte mit dem Abflug der Mondelfen enden.
Das mit dem einen Buch nur für mich- und eines für dich- ist eine witzige Idee. Ich erinnere mich dunkel an meine Examenshausarbeit, die ich binden lassen musste. Das sah aus wie ein richtiges Buch.
Wie mache ich denn das? Den Text bei einer Buchbinderei einreichen? Ein Cover brauche ich dann ja auch noch.
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Antwortbox
Wie mache ich denn das? Den Text bei einer Buchbinderei einreichen? Ein Cover brauche ich dann ja auch noch.
Ich selbst habe meine Bücher bei Bookmundo verlegt (damals noch Sweek). Dort wirst du faktisch an die Hand genommen und durch den Prozess geleitet. Autorenname auswählen, Kurz-Bio verfasssen, geplanten Buchtitel eingeben, Buchspezifikation auswählen (Hardcover und Taschenbuch mit gewünschter Größe oder Ebook). Das mit der ISBN kann man einfach überspringen, wenn man nicht in Deutschland veröffentlichen möchte. Man lädt sein Manuskript hoch. Ein paar Vorgaben sollten befolgt werden, aber Bookundo erklärt das alles super sicher. Auch Vorlagen stehen zur Verfügung.
Am besten, du schaust dir das Ganze in Ruhe mal an. Für die Cover gibt es ebenfalls Vorlagen, wo du nur deinen Text einfügen musst, aber die habe ich nie benutzt, sondern eigene erstellt. Preis festlegen ist ebenfalls nur relevant, wenn du durch Verkäufe Gewinne erzielen möchtest. Allerdings verlangt Bookmundo einen kleinen Obulus, um es überhaupt zu drucken. Verständlich. Bei Fragen zu Bookmundo, meld dich einfach.
Wenn dir Bookmundo (Sitz in den Niederlanden, aber reibungslose Kommunikation bisher bei mir) nicht so zusagt: Sensenbach hat die beiden Forums-Anthologien bei Tredition veröffentlicht (also eine, die zweite fast). Dort kennt er sich aus. Frag ihn, wenn dir das mehr zusagt.
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