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Nachdem dieses Thema im Forum gerade zu einigen Diskussionen führt, habe ich mir gedacht, ich mache mal einen Thread speziell dazu auf.
Nach einigen Gesprächen mit Acala darüber hat sie mir empfohlen, mich mit Erzähltheorien auseinanderzusetzen, um diese Dinge besser zu durchblicken und was soll ich sagen ... es klappt
Ich denke, dass dem Forum ein bisschen Theorie nicht schadet (ich nehme mich selbst da nicht aus ), daher habe ich in Zusammenarbeit mit ihr den folgenden Text zusammengestellt (sie primär, cookies where cookies are due) und versucht, das Thema mal ein bisschen näher zu beleuchten.
Achso: weiter unten kommen ein Paar Beispiele und Aussagen, die hier im Forum so zu lesen waren - wenn ihr eine davon als Eure wiedererkennt, nehmt das bitte nicht persönlich, es geht nur um die Aussage an sich (darum ist das Zitat auch jeweils neutral).
Vorbemerkung: Achtung, dieser Beitrag enthält ein paar theoretische Absätze. Ich verspreche, dass der Großteil dieses Beitrags zugänglich(er) und mit praktischen Anwendungsbeispielen versehen ist. Allerdings bin ich der Meinung, dass es spätestens, wenn man es so ernst meint, dass man eine Publikation anstrebt, Zeit wird, sich mit dem Schreiben als Form des Handwerks zu befassen. Das schließt für mich die Kenntnis über grundlegende literaturwissenschaftliche Zugänge ein. Keinesfalls muss das eine trockene oder dröge Lektüre sein. Inzwischen gibt es sehr viele gute und online verfügbare Ressourcen, in denen diese Ansätze für Laien aufbereitet werden. Nein, man muss dafür nicht studiert haben. Bei näherem Interesse empfehle ich eine Google Suche mit den Begriffen: narrative Distanz, narrativer Modus, dramatischer Modus, Erzähltheorie von Gérard Genette, Erzähltheorie von Franz Stanzel. Und auf Englisch: narrative distance, limited point of view, tight point of view.
Narrative Distanz – was ist das eigentlich?
Der Begriff der narrativen Distanz kann unter anderem auf die strukturalistische Erzähltheorie Gérard Genettes zurückgeführt werden – er spricht hier von Distanz/Mittelbarkeit und unterscheidet zwischen dem narrativen Modus sowie dem dramatischen Modus. Der narrative Modus ist gleichbedeutend mit hoher narrativer Distanz, der dramatische Modus mit geringer narrativer Distanz. Der Unterschied? Nun, im narrativen Modus wird das Geschehen von einem deutlich hervortretenden Erzähler berichtet, wohingegen der Erzähler im dramatischen Modus hinter den PoV-Charakteren zurücktritt. Beide Modi des Erzählens existieren auf einer Skala – das bedeutet, es ist möglich, die narrative Distanz zu modulieren, indem man ran- oder rauszoomt.
Beispiele: Schrittweise Verminderung der narrativen Distanz
Enorme narrative Distanz
ZitatEs war der 15. August 1686, als Sir Bob Bobby Bobson das Haus verließ. Der junge Aristokrat hasste die Sommerhitze.
Bemerkung: Das ist sehr distanziert. Der Erzähler berichtet objektiv und aus der Außenperspektive heraus: Die beiden Sätze lesen sich, als würde der Erzähler von oben auf das Geschehen herabschauen und die Emotionen des Charakters schlichtweg behaupten (telling) ohne sich wirklich in den Charakter hineinzuversetzen.
Woran merkt man das? Da wäre einmal die genaue Datumsangabe. Wie viele Menschen kennt ihr, die jedes Mal, wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit machen, denken: „Heute ist der X. des Monats Y des Jahres Z“? Ich würde behaupten, dass kein organischer Gedanke ist, den ein durchschnittlicher Mensch tagtäglich hegen würde. Dazu kommt die Nennung des vollen Personennamens unter Zusatz des Titels. Selbes Prinzip wie zuvor: Ist es ein organischer Gedanke für eine durchschnittliche Person, auf sich selbst mit ihrem vollen Namen zu referieren? Vermutlich eher nicht. Und der letzte Aspekt: die Verwendung des Synonyms der junge Aristokrat für Sir Bob Bobby Bobson. Auch hier würde ich behaupten, dass die wenigsten Leute über sich selbst in solchen Synonymen nachdenken.
(Ja, ich weiß: Die meisten Menschen werden in ihrem inneren Monolog wohl ein ich verwenden – oder gar kein Pronomen, weil das ein reflektierender Zwischenschritt über das Selbst wäre. Aber ich möchte hier die These vertreten, dass auch personale Erzähler (oder: Er/Sie-Erzähler) so nah (ha, oder so fern …) an die Charaktere heranrücken können wie Ich-Erzähler (zu den Gesellen später mehr), bloß dass die verwendeten Pronomen statt ich eben er/sie lauten und regelmäßig der Charaktername genannt wird. Also: Mir ist schon klar, dass ich in meinem eigenen inneren Monolog nicht mit meinem Vornamen auf mich selbst verweise. Es geht mit lediglich darum, zu zeigen, wie man bei personalen Erzählern schreibtechnisch möglichst nah an eine authentisch anmutende Selbstwahrnehmung herankommt.)
Große Narrative Distanz
ZitatSir Bob Bobby Bobson verließ am 15. August 1686 das Haus. Die Sommerhitze war ihm ein Graus.
Bemerkung: Wir kommen ganz langsam näher heran. Das auktorial wirkende [e]s war vor der Datumsangabe ist getilgt. Der Erzähler wirkt jetzt weniger allwissend, aber noch immer sehr distanziert.
Moderate narrative Distanz
ZitatAm 15. August 1686 trat Sir Bob Bobby Bobson vor die Tür und verzog das Gesicht. Diese brütende Sommerhitze – unerträglich!
Bemerkung: Wir zoomen ran. Mit verzog das Gesicht haben wir nun eine konkrete physische Reaktion von Bob vor Augen. Der Ausruf im zweiten Satz gibt uns zudem einen, wenn auch noch immer etwas gefilterten, Einblick in Bobs Gedankenwelt.
Geringe narrative Distanz
ZitatDie Hitze schlug ihm entgegen, sobald er die Tür öffnete. Bob kniff die Augen zusammen. Vermaledeite Sommerhitze!
Bemerkung: Wir sind jetzt ganz nah dran. Keine Datumsangabe und kein voller Personenname mehr. Stattdessen erhalten wir einen Einblick in Bobs direkte sinnliche Wahrnehmung (Hitze schlug ihm entgegen), seine physische Reaktion (kniff die Augen zusammen) und seine ungefilterten Gedanken ([v]ermaledeite Sommerhitze).
Bewusstseinsstrom
ZitatHaustür. Klinke quietscht. Müsste geölt werden – Dienstpersonal fragen. Sonne blendet, schmerzt. Vermaledeite Sommerhitze.
Bemerkung: Und hier haben wir etwas, das einem Bewusstseinsstrom/stream of conciousness ähnelt – einer direkten Wiedergabe (ggf. ungeordneter) Gedanken, die ungefiltert auf den Leser einprasseln.
Und Fokalisierung?
Auch Fokalisierung ist ein Begriff, der auf Gérard Genette zurückgeht. Ja, okay, ich gebe zu, ich bin ein Fan – sowohl von Fokalisierung als auch von Gérard Genette. Aber mehr von der Fokalisierung, denn Gérard Genettes strukturalistische Erzähltheorie hat ein paar Schwachstellen, die mich unglücklich machen. Sein Verständnis von Fokalisierung allerdings zählt meiner Meinung nach nicht dazu.
Nach Gérard Genette lässt jeder einzelne Erzähltext Rückschlüsse darüber zu, wer die Geschichte erzählt und wer sie wahrnimmt. Das kann ein fundamentaler Unterschied sein – muss es aber nicht. Die Fokalisierung beschreibt dabei das Wissensverhältnis zwischen den in der Geschichte auftauchenden Figuren und dem Erzähler. Klingt abstrakt? Ist eigentlich ganz simpel: Wer weiß in der Geschichte eigentlich wie viel?
Weiß der Erzähler mehr als die Figuren? Dann haben wir es mit einem auktorialen/allwissenden Erzähler (nach Franz Stanzel) bzw. mit einer Nullfokalisierung (nach Gérard Genette) zu tun.
Beispiel: Nullfokalisierung
ZitatBob, Bobby und Bobette tratschten. Gleich würden sie um die Straßenecke biegen, nicht ahnend, dass in der schlecht beleuchteten Gasse fünf zwielichtige Gestalten darauf warten, leichter Beute den Geldbeutel abzuknöpfen.
Bemerkung: Der Erzähler ist offensichtlich über Dinge im Bilde, von denen Bob, Bobby und Bobette zu diesem Zeitpunkt nichts ahnen. Die drei sind immerhin noch nicht um die Straßenecke gebogen und können somit gar nicht wissen, dass dort fünf Ganoven lauern – geschweige denn, was diese Gauner vorhaben.
Weiß der Erzähler genauso viel wie die Figuren? Dann haben wir es mit einem personalen Erzähler (nach Franz Stanzel) bzw. mit einer Internen Fokalisierung (nach Gérard Genette) zu tun.
Beispiel: Interne Fokalisierung
ZitatBob, Bobby und Bobette bogen um die Straßenecke. Bobettes Herz schlug schneller, als sie in die dunkle Gasse sah. Schatten bewegten sich dort – waren das Menschen? Bobby schielte nervös zu Bob. „Was meinst du, sollten wir hier wirklich durchgehen?“ flüsterte er, aber Bob antwortete nicht.
Bemerkung: Der Erzähler folgt den Figuren und zeigt nur das, was sie wahrnehmen und wissen (können). Die Existenz der Gauner wird hier nicht als Fakt präsentiert – Bobette sieht lediglich Schatten umherhuschen und fragt sich, ob sie zu Menschen gehören. Bobettes Gedanken und Gefühle (das Herzklopfen, die Wahrnehmung der Schatten) lassen den Schluss zu, dass wir uns in einer internen Fokalisierung befinden.
Weiß der Erzähler weniger als die Figuren? Dann haben wir es mit einer Externen Fokalisierung (nach Gérard Genette) zu tun – Franz Stanzels Erzähltheorie hat meines Wissens keine Entsprechung für einen solchen Erzähler. Gemeint ist jedenfalls ein Erzähler, der entweder keine Introspektion besitzt/betreibt (also nicht in die Figuren und ihre Gedankenwelt „hineinschaut“) oder sie einfach nicht mitteilt.
Beispiel: Externe Fokalisierung
ZitatDie drei näherten sich der Straßenecke. Bobette blieb einen Moment stehen, bevor sie mit den anderen weiterging. Bobby warf einen kurzen Blick hinter sich, sagte etwas zu Bob, das der Wind verschluckte. Ein leises Klackern von Schuhen hallte in der Gasse, aber wer dort war oder was sie dachten, blieb im Dunkeln.
Bemerkung: Der Erzähler berichtet einzig das, was von außen beobachtbar ist: Bewegungen, Geräusche, Handlungen. Einblicke in die Gedanken oder Gefühle der Figuren werden gänzlich ausgeklammert – die Worte, die Bobby an Bob richtet, bleiben genauso unbekannt wie die Identität und Pläne derer, die sich in der dunklen Gasse aufhalten. Das Wissen des Erzählers ist somit auf eine objektive Ebene beschränkt; er agiert als reiner (und weit entfernter) Beobachter des Geschehens.
Für die in diesem Beitrag angestrebte Verknüpfung der Konzepte narrative Distanz und Fokalisierung ist die Interne Fokalisierung von besonderer Relevanz. Ich bin der Ansicht, dass man Gérard Genettes diesbezügliches Verständnis zuspitzen kann. Bei der Internen Fokalisierung nach Gérard Genette geht es primär um das Was des Erzählens: Ein personaler Erzähler kann nur berichten, was der PoV-Charakter weiß – Erzählerwissen und Figurenwissen stimmen miteinander überein. Ich möchte an dieser Stelle argumentieren, dass man das Was des Erzählens um ein Wie des Erzählens erweitern und auf diese Weise die narrative Distanz zum jeweiligen PoV-Charakter minimieren kann. Und damit – PoV/Point of View – klingt bereits an, worauf ich hinaus möchte.
Der PoV-Charakter ist die Figur, durch deren Augen wir die Geschichte erzählt bekommen – zumindest, wenn die narrative Distanz groß ist. Ist sie dagegen gering, dann erleben wir die Geschichte Seite an Seite mit dem Charakter. Der Point of View oder die Perspektive fließt idealerweise (sofern eine geringe narrative Distanz angestrebt wird) in die Wortwahl bei Beschreibungen, Handlungen, Gedanken, und wörtlicher Rede ein – kurz: in so ziemlich alles, was den Charakter betrifft, dem wir folgen.
Wie beschreibt der Charakter seine Umgebung, zum Beispiel eine Landschaft? Ein Feldherr würde die Landschaft vielleicht aus militärischer Sicht betrachten – welche Landmarken könnten strategisch relevant sein? Ein Künstler dagegen würde dieselbe Landschaft ganz anders wahrnehmen. Womöglich denkt er darüber nach, welche Elemente er in einem Kunstwerk verewigen kann. Und ein erschöpfter Wanderer verfällt eventuell in eine wahre Existenzkrise, wenn er sieht, dass sich sein Weg durch die Berge schlängelt – oder aber er setzt zu Freudensprüngen an, weil er endlich an einem kühlen Bach vorbeikommt, lässt die Hüpferei dann aber doch sein, da seine blasenübersäten Füße protestieren.
Wie reagiert ein Charakter in bestimmten Situationen? Auf eine Provokation hin zuckt eine ängstliche Figur vielleicht zusammen und meidet direkten Blickkontakt, wohingegen ein Draufgänger sofort Kontra gibt (oder gleich eine Prügelei anfängt).
Wie formuliert der Charakter seine Gedanken? Im inneren Monolog eines Wissenschaftlers würde ich den einen oder anderen Fachbegriff erwarten – in dem eines verwahrlosten Straßenkindes dagegen eher street slang.
Wie spricht der Charakter? Längere, wohl überlegte Sätze passen zu einem Denker, kurze und derbe zu einem Raubein. Ein zögerlicher Charakter wird dazu neigen, mit ähms und Sprechpausen herumzudrucksen, eine selbstbewusste Figur dagegen kaum.
Anders ausgedrückt: Das Wie bietet unfassbar großes Charakterisierungspotential, ohne dass man ins tellingverfallen müsste. Im Folgenden möchte ich dieses Wie als die Stimme des PoV-Charakters bezeichnen. Die Stimme des Charakters wird durch verschiedene Aspekte geprägt, zum Beispiel: gesellschaftliche Stellung, Kultur, Beruf, Bildungsgrad, Alter, mentale und emotionale Disposition, …
Mit welchen konkreten Methoden können wir nun also die narrative Distanz minimieren und die Stimme des PoV-Charakters in den Vordergrund treten lassen?
Wir können …
- die Erfahrungen des Charakters mit dessen unikaler Stimme schildern,
- den Charakter Meinungen über das Geschehene äußern lassen,
- den Leser die Motivation des Charakters interpretieren lassen, statt sie explizit auszuformulieren (vergleiche: Bob nahm die Tasse, um einen Schluck Tee zu trinken vs. Bob nahm die Teetasse),
- einen gesprächsähnlichen, informellen Stil mit Ellipsen/unvollständigen Sätzen verwenden,
- innere Monologe und direkte Gedanken des PoV-Charakters wiedergeben,
- Bewertungen, Annahmen und Vermutungen des PoV-Charakters über die Ereignisse, die er erlebt, einbauen,
- Filterwörter (z.B. sehen, hören, schmecken, riechen, denken, …) streichen (vergleiche: Bob spürte einen stechenden Schmerz vs. stechender Schmerz bohrte sich in Bobs Wade).
Beispiel: Landschaftsbeschreibungen
Große narrative Distanz, neutrale Stimme
ZitatVor Bob erstreckte sich eine düstere Landschaft. Der Boden war mit schwarzem Sand bedeckt, während am Horizont dunkle, gezackte Berge aufragten. Vereinzelte, knorrige Bäume reckten ihre kahlen Äste in den Himmel. Die Szenerie war still, trostlos und ohne Anzeichen von Leben.
Bemerkung:
Der Erzähler macht eine objektive Beobachtung, mehr nicht. Die Beschreibung enthält keinerlei Emotionen oder persönliche Reflexionen von Bob.
Geringe narrative Distanz, Bob = Krieger
ZitatDer schwarze Sand knirschte unter Bobs Stiefeln, während er die düstere Ebene abschätzte. Die Berge am Horizont bildeten eine natürliche Barriere – kein Entkommen dorthin, wenn es zu einem Kampf käme.
Die knorrigen, toten Bäume aber könnten Deckung bieten. Für Freunde … aber auch für Feinde. Er kniff die Augen zusammen, suchte nach dem verräterischen Aufblitzen von Klingen, das sich an den wenigen Sonnenstrahlen brechen würde, die sich durch die Wolkendecke gekämpft hatten. Nichts. Noch nicht. Doch alles hier schrie nach einem Hinterhalt. Er ließ die Hand auf dem Griff seines Schwertes ruhen. Sicher war sicher.
Bemerkung: Die Landschaft wird aus der Perspektive eines Kriegers beschrieben, der sie sofort auf ihre strategische Bedeutung hin analysiert und Vorsicht walten lässt.
Geringe narrative Distanz, Bob = Künstler
ZitatBob blieb stehen und ließ seinen Blick über die trostlose Ebene schweifen. Der schwarze Sand – ein finsterer Teppich, gleichmäßig und doch voller winziger Unebenheiten, die das Licht schluckten. Die Berge dahinter, gezackt und schwer, wie dunkle Wellen, die in der Ferne gefroren waren. Und diese Bäume! Knorrig und kahl, ihre Äste wie die Finger eines Ertrinkenden, ausgestreckt gen Himmel. Es war hässlich und doch... irgendwie schön. Morbide schön. Ja, die Natur selbst war die größte Künstlerin – mit einer Vorliebe für das Unheilvolle.
Bemerkung: Die Landschaft wird aus einer künstlerischen Perspektive wahrgenommen, mit Fokus auf Details, Formen, Farben und der jeweiligen emotionalen Wirkung. Bob sieht die Landschaft wie ein Gemälde und interpretiert ihre Ästhetik.
Geringe narrative Distanz, Bob = erschöpfter Wanderer
ZitatBob zog seinen Mantel enger um sich. Nicht, dass es viel gebracht hätte: Gegen den schneidend kalten Wind konnte der inzwischen löchrige Fetzen kaum etwas ausrichten. Der Weg schien endlos. Vor ihm nichts als diese trostlose Ebene, schwarzer Sand, tote Bäume und Berge, die wie die Zähne eines verendeten Untiers am Horizont standen. Kein Leben, kein Licht. Er schüttelte den Kopf. Was machte er hier? Wofür kämpfte er sich durch dieses verfluchte Land? Jeder Schritt war ein Kampf mit dem Sand, der seine Füße zu packen und festzuhalten schien. „Nur noch ein Stück“, murmelte er. „Nur noch ein Stück.“
Bemerkung: Die Landschaft wird aus der Perspektive eines erschöpften Reisenden beschrieben, dessen Wahrnehmung von Müdigkeit und Verzweiflung geprägt ist. Jeder Aspekt der Umgebung beeinflusst Bob emotional und wirkt auf ihn bedrückend und feindselig.
Nette Geschichte, Brudi – Aber Was juckt mich das?
Ja, warum überhaupt über narrative Distanz und Fokalisierung nachdenken?
Das moderne Verlagswesen scheint – auf Basis meiner Erfahrungen und Gesprächen mit Leuten, die in dem Bereich tätig sind – in bestimmten Genres eine Präferenz für immersive Werke mit geringer narrativer Distanz an den Tag zu legen. Das war nicht immer so. In älteren Werken (oder: den Klassikern, gerne auch als „echte“ Literatur bezeichnet) begegnet uns stattdessen tendenziell eine hohe narrative Distanz. Offenbar hat sich beim Publikum nach und nach ein Verlangen nach Geschichten herausgebildet, die den Leser viel näher an die Charaktere heranbringen.
Ich will damit nicht sagen, dass die Verwendung eines Erzählers, der aus einer geringen narrativen Distanz heraus berichtet, ein Garant für die Publikation wäre und auch nicht, dass die Verwendung eines Erzählers, der aus einer hohen narrativen Distanz heraus berichtet, ein Garant für das Eintrudeln von Ablehnungen darstellt! Es ist nur eine Beobachtung.
Mir persönlich sind die in diesem Beitrag beschriebenen Konzepte wichtig, weil mir immer wieder Annahmen über bestimmte Erzählformen begegnen, die ich so nicht unterschreiben kann. Gerade Ich-Erzähler scheinen in dieser Hinsicht zu polarisieren. So habe ich etwa die folgenden Aussagen mitbekommen:
Zitat„Ich-Erzähler sind automatisch näher an den Charakteren dran! Muss ja so sein, denn immerhin versetzt man sich in die Charaktere hinein!“
Zitat„Ich-Erzähler wirken immer so, als würden sie von außen berichten! Die sind distanziert!“
Beides ist zugleich richtig und falsch. Oder, wie ein ehemaliger Schulkollege von mir sagen würde: „Das ist schon richtig, aber nur falsch.“ Oder, wie ich sagen würde: „Das ist Schrödingers Ich-Erzähler. Ist er distanziert? Ist er nah? Dafür müssen wir erst den Kasten, äh, die Werkzeugkiste für das Schreiben als Handwerk öffnen!“
Zunächst: Keiner Erzählform wohnt eine zwangsläufige Distanz oder Nähe inne. Und noch einmal lauter: KEINER ERZÄHLFORM WOHNT EINE ZWANGSLÄUFIGE DISTANZ ODER NÄHE INNE! (ich weiß, dass ich (Chaos) in anderen Threads gesagt habe, dass Ich-Erzähler nah am Charakter sind/sein sollten - das widerspricht dem hier nicht, ich (wir) bin (sind) weiterhin der Meinung, dass Ein Ich-Erzähler mit höherer Narrativer Distanz wohlüberlegt sein sollte und nur in Sonderfällen (wie z.B. einem Charakter mit einer psychischen Störung - ja diesen Eindruck macht ein zu neutral erzählender Ich-Erzähler eben) sinnvoll ist. Nur weil man etwas machen KANN, heisst das nicht, dass man es machen SOLLTE, ohne sich darüber ausreichend Gedanken gemacht zu haben.)
Freilich gibt es Tendenzen, die man bei den unterschiedlichen Erzählformen beobachten kann: Auktoriale Erzähler berichten tendenziell distanziert, wohingegen personale Erzähler sowie Ich-Erzähler oftmals näher an den Charakteren dran sind. Das muss aber nicht immer so sein!
Ein allwissender Erzähler kann genauso an die einzelnen Charaktere, über die er alles weiß, heranzoomen wie ein personaler Erzähler oder ein Ich-Erzähler. Auch wenn das nicht unbedingt das Verhalten ist, das man mit einem paradigmatischen auktorialen Erzähler verbindet: Es ist möglich. Ebenso ist es möglich, dass personale Erzähler und Ich-Erzähler aus dem Geschehen herauszoomen. Was den personalen Erzähler anbelangt, habe ich versucht, das in den Beispielen zur schrittweisen Verringerung der narrativen Distanz sowie in denen zur Landschaftsbeschreibungen mit jeweils unterschiedlicher Stimme zu illustrieren. Nun also ein paar Beispiele zu Schrödingers Ich-Erzählern …
Beispiele: Beschreibung eines uralten Tempels
Große narrative Distanz, neutrale Stimme
ZitatIch trat durch das Eingangstor des Tempels, dessen massive Steinwände von Moos und Zeit gezeichnet waren. Die Luft im Inneren war kühler als draußen. Ein feuchter Geruch von alten Steinen und verrottendem Laub lag in der Dunkelheit. Der Raum war groß und leer, abgesehen von einigen zerbrochenen Säulen, die den Boden bedeckten. Überall zeugten verblasste Symbole und Inschriften an den Wänden von einer längst vergangenen Kultur. Ich schaute mich um, nahm alles in mich auf. Es war ein stiller, trostloser Ort, voller Spuren einer alten Welt.
Bemerkung: Was gibt es groß zu sagen? Ein Ich-Erzähler, der uns in allen Details herunterrattert, wie der Tempel aussieht. Bloß über den Charakter an sich erfahren wir herzlich wenig.
Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Anhänger der alten Religion
ZitatKaum hatte ich die Schwelle des Tempels überschritten, setzte mein Herz einen Schlag aus. Die Luft war anders hier – schwer, nein, heilig. Die marmornen Wände hatten die Essenz der Zeit selbst bewahrt: Verewigt in Gravuren blickten die alten Götter erwartungsvoll auf mich herab. Ich kniete nieder, legte meine Hand auf den angenehm kühlen Steinboden. Mit gesenktem Kopf lauschte ich und wagte kaum, zu atmen. Nur wer die Stille ehrt, vermag das Flüstern der Götter zu hören.
Bemerkung: Dieser Ich-Erzähler beschreibt den Tempel nicht in Gänze, sondern nur die Details, die für ihn als Person unmittelbar wichtig sind. Der Fokus liegt auf den Göttern und dem Bestreben, ihnen gefällig zu sein.
Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Archäologe
ZitatIch trat durch das massive Tor und sah mich um. Der Stein – war das Basalt? Nein, zu grobkörnig, vielleicht Schiefer. Vorsichtig ließ ich meine Finger über die kühle Oberfläche gleiten. Werkzeugspuren. Präzise gearbeitet, aber nicht maschinell – eindeutig Handarbeit. Mein Blick wanderte zu den Wänden, die mit seltsamen Symbolen bedeckt waren. Die Kanten der Gravuren waren abgenutzt – Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende von Erosion. Wer hatte das hier erbaut? Welche Kultur war fähig, etwas so Beständiges zu erschaffen? Ich hatte den Tempel gefunden, also würde ich es auch herausfinden. Ich! Mein Herz machte einen Hüpfer.
Bemerkung: Dieser Ich-Erzähler stellt in rascher Abfolge (und in Form von Ellipsen/unvollständigen Sätzen) Mutmaßungen über das Baumaterial und die Einwirkung uralter Zivilisationen an. Offenbar hat er ein wissenschaftlich bedingtes Interesse an dem Tempel.
Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Inquisitor, der die alten Götter verabscheut
ZitatIch trat durch das steinerne Tor und rümpfte die Nase. Der Gestank von Verfall und Staub lag schwer in der Luft – nur zu passend für eine Wiege der Ketzerei. Mein Kiefer spannte sich unwillkürlich an, während ich den dunklen Raum musterte. Blanker Hohn – die in Stein gemeißelte Verherrlichung alter Götzen – prangte an den Wänden. Die Kanten der Gravuren waren abgenutzt, aber man erkannte immer noch genug, nein, zu viel. Aber das würde sich schon beheben lassen …
Bemerkung: Im Grunde das genaue Gegenteil zum ersten Beispiel aus dieser Reihe – der Ich-Erzähler hier hat nichts für die alten Götter übrig.
Beispiele: Im Stau
Große narrative Distanz, neutrale Stimme
ZitatDie Autos stehen dicht an dicht. Ihre Motoren laufen, während sich niemand bewegt. Die Hitze der Sonne spiegelt sich auf den glänzenden Oberflächen der Wagen und gelegentlich höre ich ein ungeduldiges Hupen. Von Zeit zu Zeit schaltet jemand den Motor ab, nur um ihn wenige Minuten später wieder anzulassen. Die Luft riecht nach Abgasen und das Geräusch von Radiodurchsagen dringt leise aus einem der offenen Fenster. Ich habe nichts anderes erwartet: Um diese Uhrzeit ist die Strecke immer die Hölle.
Bemerkung: Ja, jetzt wissen wir, wie so ein Stau aussieht, vielen Dank.
Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = CEO, der seinen Flug verpasst
ZitatDas darf doch nicht wahr sein! Die Autos bewegen sich keinen Millimeter. Ich schlage mit der Hand aufs Lenkrad. Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter. Noch zwanzig Minuten bis zum Check-in. Ich setze den Blinker, drücke mich auf die linke Spur. Der Typ im schwarzen Kombi hupt, als ich knapp vor ihm einschere. Selbst schuld – was fährt der Arsch auch so dicht auf? Er gestikuliert wild, zeigt mir den Mittelfinger. Na, den Gefallen erwidere ich gern! Noch ein Blick auf die Uhr. Neunzehn Minuten bis zum Check-in. Scheiße!
Bemerkung: Dieser Ich-Erzähler hat’s eilig und ist risikobereit. Ich habe versucht, seine Hektik mit kurzen Sätzen nachzubilden.
Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Sohn, der zu seinem entfremdeten Vater fährt
ZitatNatürlich Stau. Natürlich komme ich zu spät. Natürlich werde ich mir anhören dürfen, dass er nichts anderes von mir erwartet hat. So etwas sagt mein Vater immer. Ich starre auf die endlose Reihe roter Rücklichter vor mir und streiche mit den Fingern über das Lenkrad. Ein Seufzen kommt über meine Lippen, vielleicht ein bisschen zu erleichtert. Je später ich ankomme, desto kürzer fällt das ganze Drama aus. Ich starre die Uhr auf dem Armaturenbrett an. Die Minuten schleichen vorbei, langsam, aber immerhin. Es sind jetzt schon fünf Minuten weniger, die ich dort sitzen und mir seine Vorwürfe anhören muss.
Bemerkung: Bei diesem Ich-Erzähler schwenkt der Ton um. Die ersten paar Sätze suggerieren den zu erwartenden Ärger über den Stau – bis der Erzähler erkennt, dass er seiner Situation etwas Positives abgewinnen kann. Via Subtext erfahren wir, dass der Erzähler kein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat.
Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Zyniker, der die Show genießt
ZitatIch lehne mich zurück, mein Fuß entspannt auf der Bremse. Der Kerl im roten Kleinwagen vorne links haut zum dritten Mal auf die Hupe, als ob das irgendetwas ändern würde. Vielleicht mal die zehn Gebote rezitieren. Wer weiß, womöglich spaltet sich dann der Stau wie für Moses das Meer … Die Frau in dem weißen SUV neben ihm gestikuliert wild, während sie auf ihr Handy einredet. Oh je, Ärger im Paradies? Ein Typ hinter mir steckt seinen Kopf aus dem Fenster, um jemandem weiter vorne irgendwas zuzubrüllen. Es ist wie ein Live-Kabarett. Und ich habe die beste Sitzreihe.
„Jetzt: das Wetter“, krächzt eine rauchige Frauenstimme aus dem Radio. Dunstig mit Aussicht auf road rage. Herrlich!
Bemerkung: Hier haben wir einen Ich-Erzähler, der gerne Menschen beobachtet. Was er beschreibt, ist aber keineswegs neutral – er nimmt deutliche Wertungen vor.
Was ist nun also mit Schrödingers Ich-Erzählern? Sind sie distanziert? Sind sie es nicht? Ja und nein.
Selbstverständlich kann man einen Ich-Erzähler so schreiben, als ob er eine Dissoziations- oder Nahtoderfahrung durchmacht, neben seinem Körper steht und neutral berichtet, was ebendieser Körper gerade so sieht, tut und sagt. Man kann, aber man muss nicht – und wenn mein persönlicher Geschmack gefragt ist: vielleicht sollte man nicht (eine Relativierung dessen kommt gleich noch).
Über narrative Distanz und Fokalisierung nachzudenken wird für mein Empfinden umso wichtiger, wenn man mehrere PoV-Charaktere in seiner Geschichte haben möchte – jetzt mal ganz unabhängig davon, ob dafür nun personale Erzähler oder Ich-Erzähler verwendet werden. Wenn die alle distanziert sind und obendrein eine neutrale Stimme haben, dann verschenkt man kostbare Möglichkeiten der Charakterisierung. Und, was noch viel schwerwiegender ist: Der Leser hat unter Umständen Probleme, sich emotional an die Charaktere zu binden und/oder – sofern es sich um Ich-Erzähler handelt – die PoVs auseinanderzuhalten. Das Folgende ist jetzt sicherlich eine Geschmacksfrage: Ich persönlich finde Geschichten immersiver, die mit einer geringen narrativen Distanz arbeiten. Hinzu kommt, dass es Genres gibt, in denen sich eine geringe narrative Distanz gerade wegen der Immersion und der emotionalen Nähe zu den Charakteren anbietet – Romanzen zum Beispiel.
Und wenn ich trotzdem aus der Ferne schreiben will?
Ich sage nicht, dass es falsch wäre, eine größere narrative Distanz zu wählen. Ich sage nur, dass es gewinnbringend ist, eingehend über das Für und Wider nachzudenken. Eine große narrative Distanz kann stilistisch hochgradig interessant sein – aus dem Stegreif wollen mir folgende Szenarien einfallen:
Die Geschichte ist primär plotorientiert/plot-drivenund nicht charakterorientiert/character-driven. Der Fokus liegt auf dem Weltenbau und man will die schiere Dimension der Ereignisse unterstreichen.
Der PoV-Charakter hat ein „stummes“ Innenleben – beispielsweise bedingt durch psychische Erkrankungen. Eine große narrative Distanz würde diese Gefühlstaubheit widerspiegeln.
Der PoV-Charakter ist – auf welche Weise auch immer – von der Gesellschaft, in der er lebt, isoliert. Auch hier könnte eine große narrative Distanz dazu dienen, diesen Umstand zu reflektieren. Wir haben es dann mit einem Charakter zu tun, der emotional kaum auf die ihn umgebenden Menschen eingeht.
Kurzum: Die Wahl der Erzählperspektive und der Narrativen Distanz ist ein sehr wichtiger Schritt in der Erschaffung einer Geschichte und will wohlüberlegt sein. Außerdem kann man damit sehr viel mehr (implizit) sagen/machen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
So, ich hoffe, das hilft dem ein oder anderen dabei, sich zurechtzufinden und zu verstehen, was gemeint ist, wenn Leute kommentieren, dass die Geschichte trotz Ich Erzähler nicht nah am Charakter ist
LG Chaos/Acala by Proxy