Ich stelle leider fest, dass mir 1Q84 keinen guten Nachgeschmack hinterlassen hat, so sehr ich viele Passagen auch mochte. Ich hoffe, dass meine nächste Lektüre das wieder ausbügeln kann und dass anderes von Murakami befriedigender ist.
Jetzt lese ich also Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez. Genau wie Murakami ist Marquez magischer Realist (meistens). 1Q84 war Fantasy, weil da fantastische Elemente überall in der Geschichte waren. Bei Marquez ist das ähnlich, nur sind sie da ein selbstverständlicher Teil der Lebensrealität der Figuren. In einer Episode geht eine Epidemie von Schlaflosigkeit durch das Dorf Macondo und die Leute vergessen langsam die Dinge um sich und auch ihr Leben. Aber vorher sehen sie traumähnliche Gestalten durch das Dorf und die Häuser gehen, und nicht nur die eigenen, sondern auch die der anderen. Zigeuner kommen vorbei und haben allerlei Kuriositäten - unter anderem funktionsfähige fliegende Teppiche. Eine Figur hatte magische Fähigkeiten, starb, kam zurück und verlor als Strafe für seine Treue zum Leben seine magischen Fähigkeiten. Das ist schon cool.
So wird natürlich ein sehr verklärtes Bild von Lateinamerika gezeichnet (Marquez war Kulumbianer), aber es zeigt auch wie Mythenwelt und Aberglaube selbstverständlicher Alltag für diese Figuren sind.
Ich lese dieses Buch aus zwei Gründen. 1) Reif Larsen ("Die Karte meiner Träume", eng. "The Selected Works of T. S. Spivet") nannte Marquez als einen seiner Einflüsse. 2) Angeblich war es das frühe Schaffen von Günter Grass, in dessen Blechtrommel und Hundejahren auch reale bzw. realistische Ereignisse gleichwertig neben phantastischen passierten, das Marquez den Mut gab, dieses Buch zu schreiben. Es ist unheimlich spannend, diese Beziehungen hier jetzt nachzulesen. Ist die kleine Waisin Receba eine Hommage an das zigeunerische Findelkind Jenny Brunies aus Grass' Hundejahren? Mal sehen.
Was Marquez auch wie Grass kann, sind die fließenden Übergänge zwischen Zeitebenen. Schon der erste Satz:
Zitat von Gabriel Garcia MarquezViele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendia sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen.
Der Rest des Kapitels ist diese Episode über das Eis. Hin und wieder wird man daran erinnert, dass Oberst Aureliano vor dem Erschießungskommando seinem Ende entgegensieht. Sowas finde ich irgendwie immer sehr befriedigend zu lesen, wie diese Übergänge flüssig gestaltet sind und man dem einfach folgen kann.
Bisher bin ich nicht sicher, was genau diese Geschichte sein wird. Es scheint eine Familiensaga zu sein und andererseits auch um das fiktive Dorf Macondo zu gehen.
Was erstmal irritiert, sind die Namen der Figuren. Da ist der Großvater Aureliano Buendia, der hat einen Sohn, Jose Arcadio Buendia, dieser hat zwei Söhne: Jose Arcadio und Aurelio, ersterer hat ein Kind gezeugt, das sie Jose Arcadio nennen, aber nur Arcadio rufen ... Von einer Spanierin habe ich mir sagen lassen, dass der in spanischsprachigen Gegenden durchaus üblich ist. Wenn sie die wenigstens nummerieren würden, wie die preußischen Friedrichs, Wilhelms und Friedrich-Wilhelms. Aber auch ein Wilhelm der Zweite ist nicht gleich Wilhelm der Zweite ...
Die Erzählperspektive ist sehr berichtend und distanziert, erlaubt aber dafurch die fluide Übergänge zwischen den Episoden der Figuren, ganz ohne Leerzeilen. Das ganze ist nicht unbedingt szenisch geschrieben. Man steckt nicht in den Köpfen der Figuren, es geht viel mehr um die Ereignisse an sich. Viele modernere Bücher, die ich gelesen habe, sind viel näher an den Figuren dran. Man fühlt viel mehr mit. Aber da geht es dann auch um dieses kleine Set von Figuren und nicht um ein ganzes Dorf oder mehrere Generationen einer Familie. Es ist interessant, wie die Art der Geschichte die Perspektive und den Stil diktiert.
Ich bleibe dran, den das hier ist bisher einfach furchtbar interessant.