Ich trau mich auch mal eine schon ziemlich alte Kurzgeschichte von mir einzustellen, die vermutlich eher hierhin passt. Sie besteht aus mehreren (nicht chronologischen) Teilen, die erst zusammen ein Ganzes ergeben. Das nur als Vorwarnung. Sie ist mal entstanden als Charakterbeschreibung für einen Rollenspielabend und lungert seidem bei mir auf der Festplatte rum, wobei das Orinal noch auf 3,5-Zoll-Diskette gespeichert war. Das nur für die Älteren unter euch.
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Am Anfang war die Dunkelheit.
Dann kam das Licht.
Zuerst war es nur ein schmaler, kaum sichtbarer Streifen am Horizont. Dann schob es die Dunkelheit der Nacht langsam, aber stetig hinfort. Seine Präsenz war jetzt schon fast greifbar. Zuerst erleuchtete es die höchsten Gipfel der Eisenberge, dann die Spitzen der Bäume am Südhang dieser langgestreckten Bergkette. Schließlich flutete es in die Täler und spülte die letzten Schatten der vergangenen Nacht fort.
Die Sonne kroch über den Horizont und schaute nach dem Licht, das sie auf die Welt geschickt hatte. Auch wenn sie die Nacht in die Flucht geschlagen hatte, noch reichte ihre Kraft nicht aus, um mit ihren Strahlen auch die Kälte zu vertreiben.
Die ersten Tiere trauten sich aus ihren Nachtverstecken und genossen die taukühle Stille des Frühlingsmorgens. Hoch über den Wipfeln der höchsten Kiefern kreiste ein Bussard. Mit fast provozierend langsamen Flügelschlägen schraubte er sich in die Höhe und spähte in das Gehölz unter sich. Am Saum des Waldes entdeckte er ein junges Karnickel, das vom taubedeckten, frischen Gras auf der Wiese angelockt wurde. Es schnüffelte vorsichtig in alle Richtungen, aber der Bussard über ihm war für das Tier unsichtbar, unhörbar und unriechbar. Bald würde das junge Karnickel, von der falschen Sicherheit der frühen Stunde getäuscht, das Unterholz verlassen und fressen.
Dies war die Stunde des Jägers.
Und der Bussard wusste es.
Mit weit ausgebreiteten Flügeln kreiste der majestätische Vogel über dem Saum des Waldes. Noch konnte er nicht zustoßen. Der Wald mit seinem dichten Unterholz war zu nah. Aber nur noch wenige Augenblicke, und es würde für das Opfer kein Entrinnen mehr geben. Das hohe Gras der Wiese allein würde das junge Karnickel nicht beschützen können. Der Bussard fühlte eine unbestimmte Zufriedenheit. Der Tag würde gut werden.
Das junge Tier hatte sich weiter auf die Wiese gewagt und begann zu fressen. Der Bussard machte sich bereit.
Plötzlich hob das Karnickel den Kopf und spitzte die Lauscher. Es drehte den Kopf und schnüffelte nervös in alle Richtungen. Der Bussard drehte ab und schraubte sich wieder etwas höher in die Luft. Irgendetwas dort unten schien sein Opfer nervös gemacht zu haben. Aber was? Er wollte kein Risiko eingehen und flog noch einmal den Waldsaum ab. Es gab kaum etwas, das sich vor seinen Augen verbergen konnte, allerdings konnte auch er das Dickicht der Blätter im tieferen Wald nicht durchdringen. Inzwischen hatte sich das Karnickel wieder beruhigt und fraß weiter. Der Bussard machte sich erneut bereit.
Plötzlich wusste er es.
Es gab keinen bestimmten Anhaltspunkt. Keinen Hinweis. Aber er wusste instinktiv, dass er jetzt keine Beute machen würde. Irgendetwas war dort unten im Wald. Irgendetwas, das ihm seine Beute streitig machen wollte. Irgendetwas Bedrohliches. Er schwebte unschlüssig im ersten kleinen Aufwind, den die Sonne inzwischen geschaffen hatte.
Und wartete.
Er wusste nur nicht worauf.
Als das junge Karnickel das Sirren des Pfeils hörte, schlug sein Herz gerade zum letzten Mal. Der Pfeil durchschnitt das hohe Gras und drang in die Flanke des Tieres ein. Von der Wucht des Aufpralls wurde das junge Karnickel umgeworfen und ein kurzes Stück über den Boden geschleift.
Der Bussard war enttäuscht. Irgendetwas hatte sein Opfer getötet und seinen Morgen ruiniert. Er wollte sich an dem Wesen oder dem Ding rächen, das ihn seiner Mahlzeit beraubt hatte.
Aber er hatte auch Angst.
Das, was sein Opfer getötet hatte, konnte vielleicht auch ihn töten. Rache war zu gefährlich. Seinen Instinkten konnte er vertrauen.
Der majestätische Vogel spürte, dass es hier nichts mehr für ihn zu tun gab. Mit einem lauten Rufen, wie um seiner Verärgerung Ausdruck zu geben, beschleunigte er seinen Flügelschlag und entfernte sich von der Lichtung. Vielleicht hatte er im nächsten Tal mehr Glück. Es gab genug Tiere in diesen von der Natur verwöhnten Bergen, und der Tag war noch jung.
Etwas im Wald beobachtete zufrieden, wie die Silhouette des Bussards vor dem strahlend blauen Morgenhimmel immer kleiner wurde.