Hier eine etwas längere Fortsetzungsgeschichte aus den Jahren 2011/2012. Die Geschichte spielt prinzipiell in Mittelerde, an der Bucht von Belfalas etwa im Jahre 2050 des dritten Zeitalters, enthält aber einige Namen (Orte und Personen) aus der Fantasy-Saga "Das Lied von Eis und Feuer". Die Geschichte entstand als Vorbereitung auf ein Rollenspiel, so dass einige Namen vom Spielleiter vorgegeben waren. Ebenso tauchen die Charaktere der anderen Mitspieler am Rande auf.
Kapitel 1: Abschied
Es war dunkel, und der ganze Raum schwankte. Obwohl er schon eine geraume Zeit hier unten war, hatte er sich immer noch nicht an das wenige Licht gewöhnt, das die einzelne Kerze direkt vor ihm spendete. Er bewegte den Oberkörper vorsichtig vor und zurück, nach rechts und links, um die rollenden und stampfenden Bewegungen auszugleichen. Eben war er unvorbereitet mit dem Kopf gegen eine der vielen grobgezimmerten Holzkisten gestoßen, die ihn umgaben, und diese Erfahrung wollte er nicht unbedingt noch einmal machen. Dann kam die Koriande in ruhigeres Fahrwasser, und die schwankenden Bewegungen hörten auf. Sie hatten die Sandbänke an der Engstelle passiert, und der Anduin floss jetzt wieder breit und ruhig gen Küste. Vom Oberdeck schrie irgendjemand ein Kommando, dann herrschte bis auf das Knarzen des Holzes wieder Stille auf dem Ladedeck. Er wendete sich erneut der unfertigen Zeichnung vor ihm zu und setzte seinen Kohlenstift an. Langsam und vorsichtig zog er die Linien des Porträts, darauf bedacht, an den Rillen und Astlöchern der Bohlen, auf denen er zeichnete, nicht abzurutschen. Schließlich betrachtete er das fertige Bild. Es zeigte einen freundlich lächelnden Mann mittleren Alters, dessen milde Augen Liebe und Verständnis ausdrückten. „Vater,“ murmelte er zitternd, „warum hast du uns verlassen?“
Vom Bug her drangen Stimmen zu ihm hinunter. Er hörte das helle Lachen einer Frau. Er hasste es. Er hörte die tiefe Stimme eines Mannes, und er hasste diese noch mehr. Er hasste diese Stimme, er hasste jedes Wort, er hasste den Mund aus dem sie kamen. Der neue Ehemann seiner Mutter hatte ihm nichts getan. Er war sogar freundlich zu ihm gewesen, zumindest am Anfang. Aber der Mann neben seiner Mutter war eben nicht sein Vater, und das reichte schon, um ihn mit jeder Faser seines Körpers zu hassen.
Mit seiner Mutter hatte er sich seit er denken konnte nicht gut verstanden, ebenso wenig mit seinem älteren Bruder. Genau genommen hatte er nie verstanden, was sein Vater an seiner Mutter gefunden hatte: Sie war immer so oberflächlich. Auf Äußerlichkeiten und den schönen Schein legte sie großen Wert. Sie liebte Schmuck, schöne Kleider und jegliche Art von Tand. Alles Dinge, die für seinen Vater keine Bedeutung hatten. Er kannte seinen Vater nur als ruhigen und besonnenen Mann. Sie dagegen war dauerhaft unzufrieden mit ihrer Situation im Allgemeinen und seinem Vater und dessen Mangel an Ehrgeiz im Besonderen. Und sie war in jeder Beziehung unzufrieden mit ihrem Zweitgeboren. Zumindest schloss er das aus den vielen Streitereien, die er als kleiner Junge heimlich belauscht hatte.
Seinen Vater focht das alles nicht an. Wann immer seine Mutter über ihn schimpfte, weil er nicht gut oder schnell genug lernte, brachte ihm sein Vater geduldig die schweren Schriftzeichen bei und erzählte dazu Geschichten von Elben und Königen. Wenn sie von der gemeinsamen Jagd zurückkamen, sein Vater und sein Bruder mit Wildbrett behangen, er aber ohne eigene Beute, und seine Mutter sein Ungeschick bei der Jagd beklagte, dann beschloss sein Vater, dass es Zeit wäre, mit der ganzen Familie angeln zu gehen. Zunächst beschwerten sich seine Mutter und sein älterer Bruder noch über das aus ihrer Sicht langweilige und Zeit raubende Angeln. Sie verscheuchten mit ihrem Gezeter die Fische und drängten dann zeitig zum Aufbruch. Doch sein Vater blieb immer stoisch am Ufer sitzen und ignorierte alles Wehklagen so lange, bis jeder mindestens einen fetten Fisch am Haken hatte. Nach jedem Angeln ging er stolz und zufrieden heim.
Schließlich kamen seine Mutter und sein Bruder erst gar nicht mehr mit, für sie war Fische fangen Zeitverschwendung und höchstens für Bauern und Tagelöhner schicklich. Diese Angelausflüge waren im Rückblick die besten Momente in seinem Leben: Allein mit seinem Vater am Flussufer sitzen, dem trägen Anduin dabei zusehen, wie er sich an Cair Andros vorbei durch Nord-Ithilien schlängelt. Das Gras der Uferböschung kitzelt an den Beinen, der Korken tanzt träge auf der glitzernden Wasseroberfläche, und die Zeit dehnt sich so sehr, dass sämtliche Probleme bedeutungslos scheinen. Jetzt konnte er mit seinem Vater ohne Angst über alles sprechen, was ihn bedrückte und bewegte. Wann immer er Probleme hatte und sein Vater dies merkte, sagte dieser laut: „Es wird mal wieder Zeit, dass die ganze Familie zusammen angeln geht.“ Dies war ihre geheime Losung: Sie griffen sich dann beide unter den zornigen und verständnislosen Augen ihrer Mutter die Angelruten und zogen los zum Flussufer.
Aber das lag jetzt alles für immer hinter ihm.
Eine Träne fiel auf die Porträtzeichnung in seinen Händen. Er wollte sie wegstreichen und verwischte unbeholfen ein paar Linien. Er betrachtete die beschädigte Zeichnung, und bemerkte, dass seine Erinnerung an den Vater schon langsam verblasste und undeutlich wurde, genau wie die Kohlenstriche unter seinen Tränen. Zornig ergriff er die Zeichnung und zerknüllte sie. Wellen von Wut und Trauer durchströmten ihn und schüttelten ihn durch wie Trollfäuste. Er sprang auf, stieß die brennende Kerze ohne es zu merken um und stürmte zur rückwärtigen Leiter. Dort stieß er die hintere Ladeluke des kleinen Schiffes auf und sprang auf das Oberdeck. Zwei Matrosen des Lastenseglers schauten ihn verständnislos an, sagten aber nichts. Er schüttelte sich noch einmal kurz und ging wie in Trance zur Reling am Heck des Schiffes. Die Stimmen vom Bug waren verstummt, aber er nahm im Moment niemanden und nichts um sich herum wahr. Sein Blick fiel auf die an Backbord liegenden waldreichen Ufer, die sie in langsamer Fahrt flussabwärts hinter sich ließen. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber die Tränenschleier vor seinen Augen ließen nicht zu, dass er eine bestimmte Stelle fokussieren konnte. Es war wie ein Blick in die eigene, verschwommene Geschichte. Ein Blick auf glückliche, unbeschwerte Jugendtage. Und all das, alles, was für ihn bisher Heimat bedeutet hatte, Glück und Geborgenheit, musste er jetzt für immer hinter sich lassen. Gegen seinen Willen. Das war nicht gerecht. Das Leben war nicht gerecht. Die Götter waren nicht gerecht.
Er nahm die zerknitterte Zeichnung und strich sie liebevoll wieder glatt. Stumm stand er am Heck und war eine Zeitlang unfähig, den Blick von ihr abzuwenden. „Auf Wiedersehen, Vater.“ murmelte er, dann ließ er die Zeichnung los und sah zu, wie das Blatt langsam durch die Luft schwebte und schließlich etliche Schritt entfernt auf der kleinen Heckwelle der Koriande landete. Einen Moment lang noch konnte er das helle Blatt gegen die dunklen Fluten des Anduin ausmachen, dann verschwand die Zeichnung aus seinem Blick. Er suchte das Wasser ab, aber überall war nur die gleichförmige Düsternis des tiefen Anduin. Jetzt war er endgültig allein.
Eine dünne Rauchfahne zog unbemerkt aus der geöffneten Ladeluke des Lastenseglers in den klaren gondorianischen Himmel.