Der Auftrag [Arbeitstitel]

Es gibt 109 Antworten in diesem Thema, welches 28.046 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (23. Januar 2018 um 22:26) ist von Tariq.

  • melli: Wirklich tolle Geschichte. :thumbsup: Und gut Attentäter hätte nicht so gut gepaßt, aber ich werde im Kampfsportthread mal einen Clip reinsetzen, wie früher Attentäter ausgebildet wurden, vielleicht kannst du da ja einiges dafür für deine Geschichte nutzen, keine Ahnung. Aber zumindest weißt du dann mehr über Attentäter. :P
    LG Maitreya

  • Der Barbier begann geübt, Kians vier Tage Bart zu Leibe zu rücken. „Aber der Rest der Nachbarschaft in der Schmiedegasse ist ganz tadellos, wirklich, alles ganz vorzügliche Menschen, die dort leben. Und es ist sehr sicher dort. Ich wage zu sagen, die Schmiedegasse gehört mit zu den letzten wirklich sicheren Gegenden in dieser Stadt, in denen man leben kann, der Herr.“
    Ein paar Sekunden kratzte der Mann schweigend und konzentriert an Kians Bartstoppeln herum, dann führte er das Gespräch weiter, als wäre Stille ein Feind in seinem Laden, den es zu besiegen galt.
    „Ihr habt ja sicher auch schon davon gehört, dass in den letzten Wochen immer wieder Bürger dieser Stadt spurlos verschwinden.“ murmelte er. „Inzwischen wird in fast jedem Stadtteil ein Bürger vermisst, außer in der Gegend um die Schmiedegasse.“
    Das Rasiermesser verdammte Kian dazu, stumm zu bleiben,aber ein Stirnrunzeln reichte aus, um den Barbier zum Weitersprechen zu animieren.
    „Zuletzt wurde die Tochter des Hauptmannes der Stadtwache vermisst gemeldet, der arme Mann ist ganz verzweifelt, es ist sein einziges Kind. Er hat spät geheiratet und seine Frau hat nun schon das Alter überschritten, in dem eine Dame noch Kinder kriegen kann. Tragisch, so etwas, sehr tragisch.“ Er würdigte die Tragik mit ein paar Schweigesekunden. „Wer tut auch so etwas? Menschen verschwinden lassen? Wahrscheinlich wird irgendwann eine Lösegeldforderung eintreffen, und dann hoffen wir, dass alle Vermissten wohlbehalten zurückkehren können.“

    Zwei Stunden später verließ Kian den Barbierladen. Er war so gepflegt wie selten, sein dunkelbraunes Haar akkurat geschnitten, sein schmales Gesicht glatt rasiert und seine Hände hatten saubere, kurze und glänzende Fingernägel. Der Barbier hatte darauf bestanden, die Nägel mit einem pflegenden Öl einzureiben. Kian grinste. Er sah nun wirklich aus wie ein Mann der höheren Gesellschaft, und er roch auch so.
    Der Besuch bei dem Barbier war das Geld wert gewesen, er hatte dem Mann sogar noch einTrinkgeld dagelassen.
    Wie Mücken im letzten Sonnenstrahl eines Tages schwirrten die erhaltenen Informationen in seinem Kopf herum.
    Das Mädchen war bildschön. Sie schien eine Gefangene zu sein. Bewacht von sieben finsteren Gestalten. Sieben! Das spurlose Verschwinden von Menschen. Das Mädchen hatte Beziehungen zur Königsfamilie.
    Ein ungeheurer Verdacht kam in ihm hoch, prickelte durch seine Adern und sein Instinkt sagte ihm, dass dieser Verdacht begründet war.
    Arconier!

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • melli: Dein Zitat: ...seine Hände hatten saubere, gekürzte und glänzende Fingernägel.
    Mit gekürzten Fingernägel ist es leider nicht getan und leider auch im wahren Leben mein Problem. Die Fingernägel müßen so kurz wie nur möglich sein, ansonsten verletzt man sich beim Schwertkampf selbst damit, da die Fingernägel sich einem in die Handflächen bohren und dann die Handflächen aufreißen.
    Ich würde also, so kurz wie möglich, schreiben.
    Ansonsten, mach weiter so, wirklich toll geschrieben :thumbsup:
    LG Maitreya

  • Arcon war eine Stadt im Süden gewesen, bevor Hamrun sie vor knapp einem Jahr bis auf die Grundmauern niederbrennen ließ. Ein Akt, der bis zum heutigen Tage als grausame Tyrannei verschrien war, gab es unter den Toten doch auch viele Frauen und Kinder.
    Die Stadt hatte 60.000 Einwohner gehabt und gehörte zu Hamruns Reich.
    Der König selbst hatte sich dahingehend geäußert, dass Arcon der schwarzen Magie anheim gefallen war und deshalb zerstört werden musste.
    Das Ganze hatte zur Folge, dass ein Gesetz erlassen worden war, welches die Ausübung schwarzer Magie bei Todesstrafe verbot und außerdem jeder wegen Hochverrats hingerichtet wurde, der zu behaupten wagte, Arcon sei aus anderen als den genannten Gründen zerstört worden.
    Das war der offizielle Teil.
    Und dann gab es Drunstan. Drunstan gehörte zum Heer, das gegen Arcon gelegen hatte. Drunstan verließ nach der Rückkehr des Heeres umgehend dasselbe und Liargan und siedelte sich in Wistran an, nahm ein schäbiges Zimmer direkt gegenüber vom „Kleinen Hund“ und versuchte, sich so schnell wie möglich in dieser Kneipe zu Tode zu saufen.
    Seine Seele war gebrochen, er hatte immer den Blick eines Gehetzten. Wenn diese Hetze im Schnaps ersoffen war, begann er zu erzählen. Nicht wirklich erzählen, so konnte man das nicht nennen, aber er gab Sätze von sich.
    Man hätte nicht wissen können, was in Arcon los war, wiederholte er ständig. Das Heer wäre dort hin wegen der vielen spurlos verschwundenen Bürger.
    Die Frage, ob man diese Bürger denn nun wiedergefunden hatte, veranlasste ihn regelmäßig zum Kotzen. Die Wistraner machten sich natürlich einen Scherz daraus, ihn so oft wie möglich spucken zu lassen.
    Außerdem wurde er fast hysterisch und fing direkt eine Schlägerei an, sobald er sieben Menschen zusammen stehen sah. „Sieben“, lallte er oft mit schwerer Zunge, „haben Macht über die acht.“
    Und er hatte einen tiefsitzenden Abscheu vor Ratten. Sobald er eine Ratte sah, wurde er immer ganz grau im Gesicht.
    Vor zwei Monaten hatte er in seinem besoffenen Wahn dann versucht, Wistran niederzubrennen. „Wir werden das Böse ausräuchern!“ waren seine letzten Worte. Wistraner haben es nicht gern, wenn man versucht, ihre schäbigen Häuser anzuzünden. Selbst die mit den windschiefen Bretterbuden reagierten sehr ungehalten.
    Als der Leichensammler ihn am nächsten Tag aufsammelte, hätte ihn selbst seine Mutter nicht erkannt.


    Kian machte sich auf den Weg zu seiner Herberge, holte sein Schwert, fragte den Mann an der Rezeption, wie lange die Herberge abends geöffnet sei und ließ ihn wissen, dass er zu einer geschäftlichen Besprechung eingeladen wäre, die sich möglicherweise über die ganze Nacht hinziehen würde.
    Das würde ihm gerade noch fehlen, dass die Herberge ihn als vermisst meldete.
    Sein nächster Weg führte ihn zu einem Aufbewahrer, einem Mann, bei dem man gegen ein kleines Entgelt Dinge in einer verschließbaren Kiste aufbewahren konnte, die man nicht unbedingt immer dabei haben wollte.
    Kian hatte dort eine Taschenuhr, einen Dietrich, Gifte, Giftpfeile und ein kleines, gerade mal handgroßes Blasrohr sowie ein Fernrohr untergebracht, alles Dinge, die er jetzt vielleicht brauchen könnte.
    Um 17 Uhr war er pünktlich in der Schmiedegasse am Haus Nr. 112. Die Zeit war deshalb wichtig, weil zwischen 17 und 18 Uhr die Wachablösung stattfand und die Wachmänner sich zu einer Übergabe in ihrem Revierhaus trafen. Da es immer noch stark regnete, war wenig los auf der Straße. Kian brauchte nur zwei Kutschen abzuwarten, dann konnte er sich ungesehen über den schmiedeeisernen Zaun schwingen und im Schutz der Büsche die Türe des Dienstboteneingangs öffnen.
    Schale, abgestandene Luft schlug ihm entgegen.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Obwohl ich für gewöhnlich nicht der Leser von Darkfantasy bin, du hast mich begeistert
    besonders der Anfang war echt epic :thumbsup:

    nur zwei geringfügige Dinge

    1. Ich finde es ist nicht zeitgenössisch das Wort "Okay" zu benutzen. Es kommt einmal am Anfang und damm da vor, wo er den Keller benutzt

    2. ich glaube 5 Silberlinge für die abgestandenen Huren ist ziemlich wenig. Im Grunde hatten Dirnen im Mittelalter meist nie mehr als 3 Freier am Tag und die schon gar nicht. Wenn dann einmal Eselpisse schon 10 Silberlinge kostet, dann ist das aber ziemlich knapp. Vielleicht hast ja darüber nachgedacht aber falls nciht, dann bitteschön ^^


    Ich bin unendlich wie ein Ring.
    Ich bin der Schwarze Schmetterling.
    Und mein Gefühl, das keiner kennt
    glüht kurz auf

    und verbrennt.

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  • Rheuen, ich denke mal, die Eselpisse ist wegen der Besonderheit des Lokals unverschämt teuer - und die Damen leiden wirklich Not. ;)


    Er schloss sorgfältig die Türe hinter sich und machte sich in der einbrechenden Dunkelheit daran, vorsichtig das Haus zu erkunden.
    Hohe Decken, große Räume, mit Laken abgedeckte Möbel.
    Endlich fand er eine Treppe in die oberen Geschosse. Der Raum, von dessen Fenster aus ihm ein guter Blick auf das Haus Nr. 73 und das Grundstück gewährt wurde, war ein Schlafzimmer im zweiten Stock.
    Das Fenster war ein Erkerfenster, und in diesem Erker standen ein kleiner Tisch und zwei hochlehnige Sessel. Perfekt!
    Kian nahm auf einem der Sessel Platz und zog seine Beine hoch. Selbst, wenn jemand von draußen versuchen sollte, in dieses Fenster hineinzusehen, könnte er ihn nicht entdecken. Seine Silhouette war vor der hohen Rückenlehne nicht auszumachen. Die Fenster von Nr. 73 waren erleuchtet.
    Kian nahm sein Fernrohr und versuchte, etwas zu erkennen, aber die kleinen Öffnungen und die Gitter gaben nur kleine Ausschnitte der Einrichtung preis. Dafür sah er etwas anderes.
    Auf dem Grundstück, nahe am Haus, stand eine einfache, einspännige Kutsche. Die war gestern Nacht nicht da gewesen.
    Kian überlief es kalt, als ihm klar wurde, wie viel Glück er gehabt hatte.
    Wäre diese Kutsche in der Nacht zurück gekommen, hätte er sich nirgends verstecken können. Ein Pferd stand auf der Wiese und rupfte am spärlichen Gras. Der Regen prasselte auf das Tier herunter, und es machte einen erbärmlichen Eindruck.
    Es war kalt in dem unbewohnten Haus.
    Gegen 19 Uhr, Kian war bereits durchgefroren, fuhr die inoffizielle Kutsche der königlichen Familie vor. Die Haustüre öffnete sich und drei Menschen gingen zum Tor.
    Kian verstand den Barbier und sein Reden.
    Die alte Frau war kräftig gebaut, ohne dick zu sein.Ihr weißgraues Haar trug sie zu einem strengen Dutt frisiert und ihr Gesicht war ein steinerner Ausdruck von Bösartigkeit. Das schlimmste aber waren ihre fanatisch funkelnden Augen.
    Flankiert wurde sie von einem großen, hageren, leicht gebeugten Mann, der völlig schwarz gekleidet war, und einem leicht debil wirkenden Glatzkopf.
    Im Gesicht des Hageren prangte eine lange Hakennase und große Tränensäcke verliehen seinen dunklen Augen etwas eulenhaftes.
    Der Glatzkopf hatte hingegen kugelrunde Augen, seine rechte Schulter stand etwas höher als die linke, unter der knolligen Nase waren dicke Lippen leicht geöffnet und gaben ein lückenhaftes Gebiss frei.
    Der Glatzkopf war der muskulöseste der drei Gestalten.
    Die Alte öffnete das Tor, die Kutsche bewegte sich und zum ersten Mal konnte Kian seinen Auftrag erkennen, wenn auch erst nur von hinten. Selbst von hinten war Adra Niran ein starker Kontrast zu den Figuren, die sie empfingen.
    Eine schlanke Figur in einem modischen Kleid mit eleganten Bewegungen. Glänzend hellblondes Haar war am Hinterkopf zu einer Frisur hoch gesteckt, aus der sich ein üppiger Zopf lockig bis in die Taille ergoss.
    Adra drehte sich noch einmal zur Kutsche um und sagte etwas.
    Kian erstarrte.
    Noch nie hatte er ein so perfektes Gesicht gesehen. Das Wort Schönheit wirkte blass gegen ihre Züge. Sie war der helle Typ, blond, blass, mit einer Haut wie Porzellan. Betonte Wangenknochen, zierliche Nase, große Augen und schön geschwungene Lippen waren bei ihr vereint zu einem engelsgleichen Antlitz. Sie strahlte Reinheit aus, eine Reinheit und Unschuld, die Kian noch nie an einem lebenden Menschen gesehen hatte. Sie schien wirklich ein wenig in einer anderen Welt zu schweben, ihre Augen und ihr Lächeln wirkten leicht abwesend.
    Das Tor wurde geschlossen, die Kutsche fuhr ab und die drei finsteren Gestalten geleiteten den Engel ins Haus.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Kian überlegte. Das Mädchen sah nicht aus wie eine, der es vorzeitig zwischen den Beinen juckte. Sie sah auch nicht aus wie eine, die sich zum alten Hamrun legen würde.
    Vermutlich war sie der Grund, warum der Prinz noch immer nicht um die Hand der fünfzehn Jahre älteren Tochter von König Tibran angehalten hatte, eine Verbindung, auf die das ganze Reich wartete.
    Tibran trommelte sozusagen schon mit den Fingerspitzen auf der Lehne seines Throns herum. Seine Tochter war nicht gerade eine Augenweide und die Tage ihrer Fruchtbarkeit neigten sich auch dem Ende zu.
    Die diplomatischen Verbindungen zwischen Salassir und Nuriac gestalteten sich seit Jahrzehnten schwierig, und zwei Mal war es in der jüngeren Vergangenheit schon zu bewaffneten Konflikten gekommen. Von daher schien die Verbindung der beiden Königsfamilien segensreich, zumindest versprach sie Frieden und eine starke Allianz, sollte sich Ardanien mal wieder angriffslustig zeigen.
    Mored von Ardanien hatte auch einen Sohn, aber der war erst zwölf und damit viel zu jung, um Tibrans Tochter zu ehelichen. Obwohl...in drei Jahren war der Bengel fünfzehn und damit alt genug, eine Frau zu besteigen, und Ira von Nuriac war dann mit neununddreißig wahrscheinlich immer noch fruchtbar.
    Aber das sollten nicht Kians Sorgen sein.
    Natürlich konnte es passieren, dass sich Prinz Jarel vorher in eine andere verliebte. Das war bei dem Gesicht und der Figur Iras sogar sehr wahrscheinlich.
    Aber es brauchte schon einen Engel wie diese Adra, um aus dieser Verliebtheit etwas mehr werden zu lassen als ein schäbiges kleines Verhältnis.
    Wahrscheinlich kniff das Mädel ihre Schenkel fest zusammen und machte Jarel klar, dass bei ihr ohne Ring nichts zu holen war.
    Die Frage war nun, ob sie das alles freiwillig tat.
    Es war schon seltsam, dass eine so außergewöhnliche Schönheit ausgerechnet jetzt auftauchte, um Jarel den Kopf zu verdrehen.
    Vor allem die Begleitung des Mädchens war seltsam.
    Keinesfalls war sie die Tochter der hässlichen Alten.
    Das leicht Entrückte, dass sie auszuzeichnen schien, könnte entweder das Ergebnis von Drogen sein, die man ihr verabreichte, irgend welche Auszüge von Belladonna oder Pilzen zum Beispiel. Oder aber sie stand unter dem Bann eines Zaubers.
    Sieben haben Macht über die Acht.
    Bisher hatte Kian nur drei der Bewacher gesehen. Er war gespannt auf die anderen.

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    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Im Haus gegenüber wurden langsam die Lichter gelöscht, nur noch zwei Fenster im Erdgeschoss waren erleuchtet.
    Plötzlich öffnete sich die Haustüre noch einmal und die Alte trat mit einem Eimer vor die Türe, ging durch die Dunkelheit bis an die Seite des Hauses und kippte den Eimer aus.
    Angewidert verzog Kian das Gesicht. Hatten die keine Sickergrube?
    Die Alte verschwand wieder im Haus und schloss die Türe, die letzten Lichter wurden gelöscht.
    Dunkle Punkte auf der weißen Mauer, die sich bewegten. Verdutzt sah Kian, wie sich Ratten die Steine hoch bemühten.
    Ob in dem Eimer Essensreste gewesen waren?
    Aber dann gleich so viel Ratten?
    Das Pferd wich in die äußerste Ecke der Mauer zurück und schien beunruhigt. Eine Ratte quetschte sich unter dem Tor durch und lief hastig mit einem dicken weißen Wurm über die Straße, verfolgt von ein paar Artgenossen.
    Im Schein einer Laterne wurde sie von einer anderen Ratte angegriffen und ließ den weißen Wurm fallen, um sich zu verteidigen. Kian richtete sein Fernrohr auf das Ding. Es hatte drei Glieder und ganz eindeutig einen Fingernagel.
    Kian hielt die Luft an. Das war ein Finger. Der Form des Nagels nach ein Frauenfinger. Sehr gepflegt, der Nagel war sauber und geschnitten, nicht abgebrochen oder kurz gekaut.
    Damit hatte er nicht gerechnet.
    In der Zeit seiner Überraschung hatte eine der Ratten den Kampf entschieden und huschte mit dem Finger in den Schatten.
    Arconier? Auf einmal fand es Kian sehr bedauerlich, dass Drunstan tot war.
    Wie konnte ein Heer so versagen, dass Hamrun eine ganze Stadt mit allen unschuldigen Menschen darin verbrennen ließ?
    Was waren das für Zauber, über die diese Magier verfügten?
    Jedenfalls erhärtete sich sein Verdacht, es hier mit Arconiern zu tun zu haben. In Liargan verschwanden Menschen. Es gab eine Rattenplage.
    Ein amüsiertes Lächeln spielte um seine Lippen, als er an Adras vermutlichen Verehrer dachte. Jarel war einundzwanzig Jahre alt. Volljährig. Wenn er sich ernsthaft in den Kopf gesetzt hatte, diese Adra zu ehelichen, könnte er dies selbst gegen den Willen seiner Eltern durchsetzen. Da er das einzige Kind der beiden war, würden sie ihn noch nicht mal aus der Thronfolge ausschließen können.
    Und dann hätten die Arconier hinten herum einen direkten Einfluss auf das Regierungsgeschehen in diesem Lande. Eine Königin, die ganz unter ihrem Bann stand.
    Das hörte sich nicht nach rosigen Zeiten an. Als Kian an die versprochene Belohnung für diesen Auftrag dachte, fand er sie nicht mehr großzügig, sondern viel zu niedrig angesetzt.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Zitat

    Aber das sollten nicht Kians Sogen sein.

    Hier hast du das r bei Sorgen vergessen :)

    Super Teil, super Geschichte :)

    Ich lese seit kurzem nur noch deine Geschichte, mein Buch hab ich an Seite gelegt :)

    Ich bin gespannt was es mit diesen Leuten auf sich hat und was mit dieser Adra ist :)

  • Er runzelte die Stirn. Es würde ausreichen, jetzt einen Wachmann aufzusuchen und dem zu berichten, dass eben eine Ratte mit einem abgetrennten Frauenfinger in der Schnauze unter dem Tor von Nummer 73 hergekrochen war. Kian war sicher, dass eine Durchsuchung zum jetzigen Zeitpunkt noch Überreste der Hauptmannstochter zu Tage bringen würde. Damit wären alle Bewohner des Hauses so gut wie tot. Bis morgen hätten die Ratten den Inhalt des Eimers komplett vernichtet.
    Aber eine öffentliche Hinrichtung würde ihn ums Geld prellen.
    Außerdem hatte ihn die Neugier gepackt. Unschuldige Menschen hinterlistig zu ermorden war relativ einfach. Es langweilte ihn schon manchmal.
    Das hier hatte ein anderes Format. Es war eine Herausforderung.
    Er spürte, wie alle seine Sinne äußerst wach waren.
    Es ging ihm nicht um den Engel. Es ging um die finsteren Gestalten. Die Kollegen sozusagen, wie ihm mit grimmigem Lächeln auffiel.
    Würde er mit seiner Fähigkeit, hinterrücks und eiskalt zu töten gegen ihre schwarze, mörderische Magie bestehen können?
    Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, rief er sich zur Ordnung. Er würde zuerst ihren Engel in den Himmel schicken, der Rest wäre Arbeit aus Leidenschaft.

    Lange tat sich nichts mehr in dem dunklen Haus auf der anderen Straßenseite. Umso überraschter war Kian, als gegen drei Uhr morgens ein kleiner Mann des Weges kam und das Tor der Nummer 73 ohne zu zögern mit einem Schlüssel öffnete.
    Der vierte im Bunde der sieben. Kian war fast beleidigt durch dessen schmächtige Figur. Was für ein kümmerlicher Gegner. Der Mann schirrte ganz selbstverständlich das Pferd vor die kleine Kutsche und brachte beides auf die Straße, bevor er das Tor wieder sorgfältig verschloss. Dann fuhr er fort.
    Wahrscheinlich würde am nächsten Morgen wieder ein Bürger dieser Stadt als vermisst gelten.

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    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Es bleibst weiterhin spannend :)

    Ich finde die Wendung von der Wut auf den Auftrag zum gefallen daran, weil er anspruchsvoll ist, richtig gut, das lässt den Protagonisten abenteuerlustig wirken und irgendwie auch skrupellos, ich habe das Gefühl das er noch viel Spaß mit diesem Auftrag haben wird, wenn er diese Einstellung beibehält :)

  • Bis fünf Uhr tat sich nichts im und um das Haus. Kian merkte, wie seine Lider immer schwerer wurden.
    Irgendwann fuhr er erschrocken aus dem Schlaf hoch. Mist. Es schien schon zu dämmern, was bei den dunkelgrauen Wolken am Himmel schwer auszumachen war. Er warf einen Blick auf die Taschenuhr. Schon acht Uhr. In dem Haus gegenüber brannte bereits Licht.
    Kian fühlte sich steif und durchgefroren. Für die nächste Nacht würde er etwas zu essen und zu trinken mitnehmen. Sein Mund fühlte sich klebrig an und er hatte einen üblen Geschmack. Hungrig war er auch.
    Kian nahm das Fernrohr und suchte die Fenster ab. Im zweiten Stock erkannte er Bewegungen hinter der Scheibe. Eine Gestalt trat an das Fenster und sah hinaus. Adra. Sie war noch nicht frisiert, ihre Locken umspielten offen das Engelsgesicht. Prüfend sah sie in den Himmel, selbst dabei wirkte sie noch entrückt.
    Kian verschlug es den Atem bei ihrem Anblick. Erst recht, als sich ihre Augen genau auf sein Fernrohr zu heften schienen, als sähe sie ihn an. Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter, es war ein sehr freundliches Lächeln. Dann wandte sie sich ab und ging vom Fenster weg.
    Kian schluckte hart. Sie konnte ihn nicht gesehen haben. Das war Zufall.
    Trotzdem war es seltsam, wenn ein Auftrag so schön war und ihm einen so freundlichen Blick zu schenken schien. Wäre er nicht der, der er war und wäre sein Leben anders verlaufen....fort mit den Hirngespinsten. Er war der, der er war. Und er hatte sein Leben selbst so gestaltet. Ein Auftragsmörder hatte keine Freunde und erst recht keine Freundinnen. Mal eine Hure, wenn sie gut war, aber Gefühle durften nie ins Spiel kommen. Gefühle waren schlecht fürs Geschäft.
    Kian entdeckte die Alte im Erdgeschoss, konnte aber nicht erkennen, was sie dort tat.
    Den alten Mann und den Glatzkopf sah er nicht.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    • Offizieller Beitrag

    :thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    Bin immer noch begeistert. Dein Stil finde ich klasse, weil es alles vereint. Von guten Metaphern, bis hin zu amüsanter Umgsangssprache, die jeder versteht.
    Du kannst echt Spannung aufbauen und ich lese es einfach TIERISCH gerne. Der Hauptcharakter ist mal ganz anders wie in deinen Geschichten davor. Man hat das Gefühl du lässt deine dunkle Seite mal raus :D

    Weiterschreiben bitte!!!!!! :thumbup:


    Gruß
    Kadjen
    :love:

  • ... und ich bin sprachlos. Ich bin absolut so überhaupt ganz und gar nicht Fan von gruseligem oder ekligem oder Horror, außer ,ja außer Johnny Depp spielt mit, aber auch nur dann drück ich n Auge zu.^^ Aber das hier ist so verdammt spannend und mystisch und fesselnd , dass man nach einer Fortsetzung lechzt. Du hast anscheinend ein natürliches Talent für die perfekte Menge an Spannung und zwar an der richtigen Stelle. Und Respekt, dass du sogar zwei Geschichten simultan weiterspinnen kannst , ich wär da überfordert^^ Freu mich wie immer natürlich auf MEHR! LG annichan

  • Er war versucht, nochmal in Adras Zimmer zu sehen, doch das verbot er sich. Sein Auftrag schien sich gerade fertig zu machen.
    Kian freute sich schon auf seine Herberge und dachte mit Genuss an den kleinen Ofen.
    Sobald er hier fertig war, würde er sich so richtig aufwärmen.
    Tatsächlich schien es mal nicht mehr zu regnen. Der Himmel versprach aber Nachschub. Die Menschen nutzten die kleine Regenpause, um schnell ihre Besorgungen zu machen.
    Plötzlich war viel Volk unterwegs, hastig, mit gesenktem Kopf.
    9 Uhr 15 war es, als die vierspännige Kutsche die Straße längs kam.
    Aufgrund der vielen Passanten musste sie größeren Abstand von der Mauer des Hauses Nr. 73 nehmen. Sie hielt an dem Tor, stand jetzt aber drei Meter davor.
    Kian straffte sich.
    Im Haus öffnete sich die Eingangstüre. Der Glatzkopf, die Alte, der alte Mann und in der Mitte Adra traten heraus. Sie gingen auf das Tor zu. Kian stutzte. Die Alte sah heute etwa zehn Jahre jünger aus als gestern. Auch der alte Mann hielt sich gerader und wirkte dynamischer. Seine Tränensäcke waren deutlich gemindert. Der Glatzkopf schien unverändert, und Adra war wieder bezaubernd schön.
    Kian sah der Alten noch mal ins Gesicht. Die fehlenden zehn Jahre hatten es nicht hübscher gemacht. Ihre Haut war nicht mehr so knittrig wie gestern. Straffer. Das fiel besonders am Hals auf. Die Falten im Gesicht waren weniger tief. Nur die Bösartigkeit schien unverändert.
    Der Glatzkopf ging mit einem Schlüssel auf das Tor zu und verschwand aus Kians Sicht. Der Kutscher sprang von seinem Bock, um die Türe der Kutsche zu öffnen.
    Kians Puls beschleunigte sich. Von hier aus konnte er dabei die ganze Zeit den Oberkörper des Kutschers erkennen.
    Hastig nahm er sein Blasrohr und legte einen Giftpfeil ein.
    Dann schob er die Fensterscheibe vorsichtig hoch. Es war ein gutes Fenster, er konnte es geräuschlos öffnen. Kian achtete darauf, im Schatten zu bleiben. Er holte tief Luft und führte das Blasrohr an seine Lippen. Und wartete.
    Das Tor öffnete sich. Adra schritt vorneweg und lächelte dem Kutscher zu. Ihre finsteren Begleiter hielten sich im Hintergrund. Jetzt blieb Adra stehen und sprach den Kutscher an.
    Kian zielte und stieß mit einem Mal die Luft aus. Blitzschnell nahm er das Fernrohr zu Hilfe.
    Er erkannte den Pfeil als schwarzen Punkt in der Luft, der genau auf Adras Dekolleté zuraste.
    Wunderbar. Der Hals war von hier zu schwer genau zu treffen, aber das Dekolleté bot genug Angriffsfläche. Das Gift war absolut tödlich. Einmal getroffen, egal wo, würde sein Opfer binnen dreißig Sekunden sterben. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Adra bewegte immer noch ihre Lippen. Der schwarze Punkt hob sich immer noch vor ihrem hellen Kleid ab.
    Erst, als Adra ihren Blick hob, ahnte er, dass etwas schief gelaufen war. Der Pfeil. Er stand in der Luft und rührte sich nicht. Adra konnte ihn sehen, ihre Pupillen weiteten sich ein wenig. Dann sah sie an dem Pfeil vorbei auf sein Fenster. Ihre Augen kamen aus der entrückten Ferne zurück. Ihre Lippen formten wortlos ein Wort in seine Richtung. Bitte.
    Nicht mehr.

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    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • melli!!!!! Und jetzt läßt du uns alle warten???????? ?(
    Die Pause in dieser Situation ist Folter! :D
    Jetzt weiß ich wie es sich anfühlt. BBBiiiiittttttttttteeeee!!!!! :D

    Mehr aus meiner Feder: Gefangen im High Fantasy Bereich.

    Der Tag an dem alles begann findet ihr im Urban Fantasy Bereich auf fleißige Leser. ^^

  • Sie konnte ihn nicht gesehen haben, aber sie wusste, wo er war. Wo derjenige sich versteckt hielt, der sie zu töten versucht hatte. Sie verlor kein Wort darüber. Machte niemanden auf den Pfeil aufmerksam, der immer noch in der Luft zu kleben schien, kurz über dem Dach der Kutsche, so kurz vor seinem Ziel.
    Adra stieg in die Kutsche und ließ sich davon fahren, und fast im gleichen Moment begann ein Platzregen.
    Die finsteren Gestalten schlossen das Tor und gingen eilig in das Haus zurück.
    Kian machte das Fenster zu und verließ nach ein paar Minuten das Haus. Der Regen hatte die Straße geleert, und ungesehen konnte er über den Zaun springen.
    Dort, wo der Giftpfeil in der Luft stand, hatten sich viele Regentropfen gefangen. Auch sie standen regungslos in der Luft. Kian hob vorsichtig seine behandschuhte Hand. Die Luft bot immer mehr Widerstand und war im direkten Bereich um den Pfeil so dick wie Sirup. Offenbar hatten die Arconier einen Schutzzauber um ihren Engel gewoben. Dieser Zauber durchdrang seinen Handschuh und löste ein schmerzhaftes Prickeln auf der Haut aus.
    Leise fluchend riss Kian seine Hand zurück. Zwei Münzen a zwei Gramm hatte dieser Pfeil ihn gekostet. Ein wahres Meisterwerk, hergestellt von einem Spezialisten. Und jetzt für die Katz, weil so ein blöder Zauber wirkte. Er drehte sich auf dem Absatz um und machte sich auf den Weg zur Herberge. Drei Stunden Schlaf und vor allem Wärme war das Einzige, dass diesen Tag jetzt noch retten konnte.
    Er war so in seine Gedanken versunken, dass er den Regen kaum spürte, der ihm in dicken kalten Tropfen ins Gesicht fiel. Der stets so entrückt wirkende Engel hatte ihn um den Tod gebeten. Das erschütterte ihn mehr, als er sich das hätte vorstellen können.
    Das ein Auftrag kooperierte, war noch nie vorgekommen. Vor allem nicht ein Auftrag in ihrer Situation. Sie würde es vielleicht schaffen, Königin zu werden. Statt dessen zog sie es vor, zu sterben. Gut, Prinz Jarel war jetzt kein besonders schöner Mann, aber auch nicht hässlich genug, um sich den Tod zu wünschen.
    Was immer sich hinter den Mauern des Hauses Nummer 73 abspielte, musste schrecklicher sein, als ein normaler Mensch ertragen konnte.
    Kian lächelte grimmig. Er war kein normaler Mensch. Aber der Schutzzauber zeigte, dass den Arconiern bewusst war, dass ihre hochfliegenden Pläne auf Gegenwehr stießen.
    Für ihn bedeutete es das Aus für alle Fernwaffen, solange dieser Zauber existierte.
    Und wahrscheinlich auch das Aus für alle Nahkampfmittel, denn sonst hätte sich Adra ihren Todeswunsch längst selbst erfüllen können.
    Sieben haben Macht über die acht.
    Kian presste die Lippen zusammen. Dann würde er eben auch zaubern müssen, auf seine Art. Hex, hex hex, da waren es nur noch sechs. Der Gedanke gefiel ihm.
    Mal sehen, ob dieser Zauber noch hielt, wenn er den Kreis der Arconier verkleinerte.
    Eine Woche.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker