Kurzgeschichten schreiben - wie geht ihr daran?

Es gibt 26 Antworten in diesem Thema, welches 7.680 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (1. Dezember 2017 um 13:47) ist von Miri.

  • Man könnte meinen, die meisten Freizeit-Schreiberlinge schreiben ohnehin, wie es ihnen in den Sinn kommt. Vermutlich ist das auch genau der Fall, gerade bei Leuten, die sich ganz frisch ans Schreiben wagen. Womöglich fühlen sich solche durch die Einschränkungen und Bedingungen, die an bestimmte Textsorten gestellt werden, in ihrer Kreativität eingeschränkt.
    Tatsächlich sind die Rahmenbedingungen eines Textes aber auch eine Hilfe deshalb kann es ja nicht schaden zu wissen, was man da überhaupt für eine Textart schreiben will.

    !!Achtung - An den Haaren herbeigezogene Analogie ^^ !!
    Man könnte sich eine Textsorte wie ein Fortbewegungsmittel vorstellen.
    Ein Roman ist eine Luxuslimousine mit allen Bequemlichkeiten, um eine lange Fahrt durchzustehen. Ein Gedicht wäre eine Enduro-Maschine, perfekt für das Durchqueren eines unübersichtlichen, holprigen Geländes und ein Dragster ist die Kurzgeschichten-Rennmaschine, perfekt um schnell loszukommen und schnell fertig zu sein.
    Man wählt also sein Fahrzeug für die Erfordernisse des Weges, auch wenn man den Weg wahrscheinlich auch barfuß zurücklegen könnte.
    Warum sich also nicht die klugen Gedanken schlauer Vordenker wie Edgar Alan Poe oder Mark Twain für sich nutzen? Wir brauchen das Rad bzw. die Fahrzeuge, um bei der Analogie zu bleiben, nicht neu zu erfinden und können gleich richtig aufs Gas treten ... ok, ok, genug von diesem Bild!

    Natürlich werden die folgenden Angaben über die Kurzgeschichte weder vollständig noch in allen Punkten über jeden Zweifel erhaben sein. Wahrscheinlich werden gestandene Literaturwissenschaftler das eine oder andere Mal tief durchatmen müssen, aber das hier soll (auch nur) ein brauchbares Handwerkszeug für Hobby-Literaten werden.
    Wer sich wirklich, wirklich (,wirklich!) tief in die Materie versenken will, möge auf Sachliteratur wie zum Beispiel das Sachwörterbuch der Literatur (Gero von Wilpert, Kröner-Verlag) zurückgreifen.
    Und ja, der Knabe heißt wirklich so.


    Also dann, die Kurzgeschichte:

    Herkunft:
    Den Namen hat die Gattung von den Short-Stories, die im Zuge des Aufstiegs der Zeitschriften entstanden sind. Die Autoren erkannten, dass man in Zeitschriften leichter an die Masse der Leser herankommt, oder anders ausgedrückt, man konnte damit Geld verdienen. Logischerweise will niemand, während er im Wartezimmer darauf wartet, dass ihm der Dentist gleich auf den Zahn fühlt, nur die ersten 10 Seiten eines ganzen Romans lesen, der zufällig mit 12 anderen dort herumliegt. Und ein Dutzend Mal ins Wartezimmer sitzen bis man den (schmalen) 120 Seiten-Roman dann durch hat, will man schon gar nicht. Eine witzige Geschichte über anderthalb Seiten ist da schon weitaus eher geeignet einen Leser anzusprechen.

    Merkmale:
    Die Kürze
    Ja, es klingt ziemlich doof es extra zu sagen, aber eine Kurzgeschichte IST eine kurze Geschichte!
    Wie lang ist kurz und wann ist kurz zu kurz?
    So ganz einig sind sich darüber nicht einmal die Gelehrten. Mein Tipp dazu ist die WC-Regel:
    Was man auf einer gemütlichen WC-Sitzung lesen kann, bis man sein Geschäft ohne Hektik und zur völligen Zufriedenheit von Darm und Blase vollendet hat, ohne dass man vor Kälte oder der unbequemen Haltung einen Krampf bekommt, das kann man getrost als kurzgeschichtenlang/kurz bezeichnen.
    Wer unbedingt die Stoppuhr stellen will, kann sich auch auf eine Lesezeit zwischen 2 und 10 Minuten einstellen. Langsame Leser brauchen länger, Schnell-Leser nicht so lange ^^
    Jedenfalls soll man die Kurzgeschichte in einem Rutsch durchlesen können, der Wissenschaftler spricht da vom Leseakt (tztz, klingt für mich ziemlich unanständig!).

    Thema
    Eigentlich gibt es hier keine Einschränkung, jedoch sollte das Thema eine besondere (eigenartige/lustige) Begebenheit beinhalten. Im Nicht-Fantasy-Bereich wird auch eine alltägliche Situation als Ausgangspunkt erwartet, quasi ein Schnappschuss vom Leben. Inwieweit das für eine Fantasy-Geschichte zutreffen kann (soll) mag man diskutieren oder auch ignorieren ^^

    Form
    Kurz und knapp heißt natürlich, dass man hinten und vorne sparen muss. Unter Umständen heißt das auch, sich auf Meta-Ebenen auszudrücken. Ein Beinbruch könnte so zum Beispiel nicht nur einen Gips nach sich ziehen, sondern zugleich auch das Abkommen vom moralischen Weg symbolisieren. Überhaupt darf/soll der Leser fehlende Informationen im Text ergänzen. (Kopfkino!)

    Keine Einleitung
    Personen und Orte werden nicht lange vorgestellt und schon gar nicht groß beschrieben. Wenn man das überhaupt macht, dann skizzenhaft, mit wenigen Merkmalen. Der Charakter der Charaktere(?!) wird meist aus ihren Handlungen oder den (Mono-)Dialogen deutlich.

    Kurzer Zeitraum
    Die Handlung erstreckt sich über wenige Minuten oder Stunden, seltener über Tage. Oft ist auch der genaue Zeitpunkt unklar, quasi ein Irgendwann im Sommer (Krieg, Studium,etc).

    Eingeschränkter Ort
    Ort der Handlung ist meist eine Szene, seltener auch einmal zwei.

    Wenig Personen
    Es gibt selten mehr als zwei oder drei wirklich handelnde Personen. Natürlich kann ein Heer von Orks auf ein Heer von Elfen (im Hintergrund) treffen, aber für die echte Handlung spielen sie keine Rolle. Selbst in einer kleiner Gruppe von Personen werden nicht alle eine handlungstragende Rolle haben.
    Die Personen, die auftreten, sind oft typisiert und stehen dann eher für eine bestimmte Art Charakter, als für einen sauber ausgearbeiteten Protagonisten. (der kluge Magier, der edle Ritter, der fiese Ork ...) Allerdings haben viele Autoren bei einer Kurzgeschichte einen oder mehrere Protagonisten aus einer ihrer anderen Geschichten im Sinn, was das Verständnis für jene erschwert, die diese nicht kennen.

    Handlung
    In der Regel besteht die Handlung aus einem Handlungstrang, seltener auch einmal aus zwei, die aufeinander zulaufen.

    Schluss mit Knall
    Eine Kurzgeschichte sollte entweder eine Pointe am Ende haben, oder der Schluss ist offen (und regt zum Nachdenken an, wie man in der Schule immer so schön schreiben durfte!).
    Solch einen Luxus, wie ein Nachwort, einen Ausblick, wie es weitergehen könnte oder gar einen Cliffhänger, der auf Auflösung in der nächsten Geschichte hoffen darf, gibt es hier nicht.
    Oft wird eine Frage oder ein Problem vom Beginn der Kurzgeschichte am Ende aufgelöst, allerdings nicht immer auf für den Leser befriedigende Weise.


    Meine Tipps:
    - Bevor man losschreibt, sollte man wissen, welche Reaktion man am Ende hervorrufen will.
    Will man ein Lachen, ein Seufzen oder lieber ein nachdenkliches "Hm..." erreichen?
    - Warum nicht Klischees nutzen? Die kann man einerseits prima einsetzen um sich lange Beschreibungen zu ersparen, andererseits sie am Ende zugunsten der Pointe demontieren.
    - Eine Alltagssituation (was im Fantasy so als alltäglich durchgeht ...) ist oft ein dankbarerer Ausgangspunkt, als eine schon zugespitzte Situation.
    - Wie bei allen Geschichten, ist eine im Vorfeld getroffene Kernaussage sehr hilfreich. "Magier sind zwar mächtig, aber alltagsuntüchtig" , "auch ein Troll braucht mal Liebe", etc.
    - Besonders bei kurzen Geschichten, sollte man darauf achten, dass sie "rund" wirken. Gerade weil es keine echte Einleitung und keinen ausklingenden Schluss gibt, ist es umso wichtiger, dass der Leser sich am Ende der Story abgeholt fühlt.
    - Der Titel ist ein mächtiges Werkzeug. Er gibt das Thema vor, darf aber nicht das Ende vorwegnehmen. Oft ist ein Ende, was den Titel auf unerwartete Weise bestätigt das, was den Erfolg einer Kurzgeschichte ausmacht.
    - Die Pointe besonders sorgfältig formulieren. Die letzten Sätze stellen in der Regel das Herzstück der Kurzgeschichte dar und könnten (beinahe?) auch alleine stehen.

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    Tom Stark
    zum Lesen geeignet

    Einmal editiert, zuletzt von Tom Stark (7. November 2016 um 11:09)

  • Ich bin gerade in der Situation eine Kurzgeschichte zu schreiben für ein Schreibseminar. Die Aufgabe lautet "Schreibe eine phantastische Kurzgeschichte." Max. 7 Seiten.

    Der Kurs mit dem bezeichnenden Titel "Kein Wort zuviel" findet also in zwei Wochen statt. Nicht viel Zeit.

    Vor mir lag ein weißes Blatt, ok, ein weißes Blatt auf meinem Monitor. Bevor ich aber nur ein Wort tippte, füllte ich mir Whiskey ein und startete meine Lieblingsmusik.

    Dann nur noch Gedanken, ich ließ meinen Gedanken freien Lauf, und dachte nur an die Wendung, was ist die Wendung, was ist die Wendung, was ist die Wendung? Denn gerade ein Kurzgeschichte lebt von der Wendung im letzten Teil. Was ist also das Ungeheuerliche?

    Und als ich so dachte, schnappte ich einen Gedanken auf. Ein Lebensfresser, der Menschen die Kraft aussagen kann mit Gedanken. Ok, warum nicht. Dieser Lebensfresser ist alt, jup, passt. Und er lebt unter uns. Er hat seine Frau verloren, hat ein ruhiges schönes Leben geführt, jetzt weil er alt ist, seine Freunde gestorben sind, ist er alleine und allerlei Krankheiten plagen ihn. Er will wieder jung werden, sein Leben von vorne beginnen.

    Supi, dachte ich. Das ist der Prota, ein Lebensfresser.

    Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir den Whiskey nachgeschenkt, die youtube-Schleife duddelte fröhlich weiter.

    Wo lebt eigentlich der Prota? Da das Schreibseminar in meinem Nachbarort Wolfenbüttel stattfindet, kam mir die Idee. Die Handlung spielt in Wolfenbüttel in der Gegenwart. Ok, das war der Ort und die Zeit. Wo frisst der eigentlich die Lebenskraft der anderen?

    Coole Idee, der Lebensfresser besucht ein Schreibseminar, auf dem er seine Kurzgeschichte vorstellt.

    Dann bin ich an den Rechner geeilt.

    Ein in die Jahre gekommendes magische Wesen sehnt sich nach seiner Jugend zurück. Er leidet unter seinen Alterskrankheiten. seine Freunde hat er verloren, wie erst vor Kurzem seine Ehefrau. Jetzt besucht er ein Schreibseminar um Opfer zu finden. Er will ihnen die Kraft aussagen, wieder jung zu sein.

    Den zeitlichen Rahmen habe ich dann wie folgt skizziert. Vier Stunden. Drei Szenen: Toilette, Seminarraum und Tankstelle.

    Also zusammengefasst, ich habe mir erst die Wendung überlegt, dann die Grobplanung. Wichtig hier, max. 8 Normseiten.

    Und jetzt bin ich dabei der Idee Worte zu geben.

    Die ersten Sätze schnell hingetippt.

    "Mit Wolfgang hatte er Klopstock mit gelber Tinte in den Schnee gepisst. Wer den Baum aus der Entfernung nicht traf, musste die Niederlage mit einem Fässchen Cabernet begleichen. Der wilde Oscar schrieb noch kunstvoller, besonders dann, wenn die Damen mit errötetem Gesicht an ihnen vorbeieilten. Ein Spaß war´s damals."

    Verdammt, zwei "Mit" im ersten Satz, aber das überarbeite ich später. Der letzte Satz ist wichtig, dachte ich.

    Noch schneller tippte, ich den letzten Satz.

    "Aber in den 500 Jahren hatte er mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, als sich darüber Gedanken zu machen, ob er zuviel Worte verwendet hatte."


    Das ist mein Plan.

    T.

    Einmal editiert, zuletzt von Thot grubenbauer (14. Januar 2017 um 19:52)

  • Ich versuche mich bei Kurzgeschichten immer an diesem Zitat von Ernest Hemingway zu orientieren:

    „Wenn ein Prosaschriftsteller genug davon versteht, worüber er schreibt, so soll er aussparen, was ihm klar ist. Wenn der Schriftsteller nur aufrichtig genug schreibt, wird der Leser das Ausgelassene genauso stark empfinden, als hätte der Autor es zu Papier gebracht. Ein Eisberg bewegt sich darum so anmutig, da sich nur ein Achtel von ihm über Wasser befindet.“

    (ich werfe das jetzt einfach mal so in den Raum :ninja: )

    100% Konsequent!

  • Im Grunde hat @Tom Stark für mich schon eine Antwort gegeben ^^

    Ich starte häufig mit einer einzigen kleinen Idee, meistens dem Effekt, den ich erzielen möchte. Manchmal sind das aber auch einfach irgendwelche Phrasen (Manchmal muss man ins kalte Wasser springen), die mich inspirieren, ohne dass da ein intendierter Effekt dabei ist. Wichtig ist, dass die Motivation eine Kurzgeschichte zu schreiben, erst danach entsteht. Vielleicht ist es aber auch nicht wichtig. Bei mir ist es häufig so. Wenn ich erst ein Vorhaben, aber kein Inhalt habe, dann wird da nie etwas drauß ("Ich schreibe jetzt einen Roman und der verkauft sich dann gut..." würde bei mir nur dazu führen, dass ich auf Netflix Filme und Serien gucken und mich (nicht) wundern würde, warum das nicht klappt :rofl: ).

    Ich denke, dass man wirklich am meisten darauf achten sollte, nicht zuviel drumherum zu erzählen, wenn man nicht möchte, dass die Kurzgeschichte ein längerer Roman wird. ^^ Da kann man vielleicht auch mal probieren, einfach alles für den Effekt unnötige aus einer Geschichte zu streichen :hmm: Ob das funktioniert, ist ne andere Frage, aber probieren kann man es mal :pardon:

    „Alice, man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ [Alice im Wunderland]

  • Uff ehrlich gesagt habe ich mir da noch nie Gedanken drüber gemacht ... :hmm:
    Also ich suche mir meistens einfach einen meiner vielen Charaktere aus und schreibe drauf los und schaue wo mich es hinführt.
    Meistens habe ich eine starke Emotion, die mich animiert etwas zu schreiben :)

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald