Zehn Minuten später ließ er sich ausgepumpt erneut an den Zaun fallen. Nur eine kurze Runde, doch er war nicht aufgewärmt gewesen und trotz Astras Licht mehrmals beinahe gestürzt. Außerdem zerrte die Müdigkeit an ihm.
Die junge Frau mit der außergewöhnlichen Fähigkeit stand in der Mitte des Daches, gleich neben dem Eingang zur Treppe. Von hier aus hatte sie ihn beobachtet und nun, da er seinen Lauf beendet hatte, kehrte das Leuchten zu ihr zurück. Er sah, wie sich ihre Finger um die schmale Kugel schlossen und der Schimmer plötzlich verschwand.
“Wenn ich dich frage, wie du es anstellst, erklärst du es mir dann?”
Sie schüttelte den Kopf, ein wenig bedauernd, aber entschlossen.
“Ich werde dir nichts sagen, was euch in Gefahr bringen würde. Es ist wahrscheinlich schon schlimm genug, dass du es gesehen hast.”
Er schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück.
“Warum hast du es mir dann gezeigt?”
Sie schwieg, lange. Beunruhigt sah Nate auf. Astra blickte verwirrt zu Boden. “Ich weiß es nicht. Vielleicht … weil ich dir vertraue.”
Er dachte an Ivy, an Kay und Rett, die irgendwo da unten im Dunklen schliefen. Sie hatten sich ihm anvertraut. Doch wenn er jetzt dieser Frau Zuflucht bot, was würde das für seine Familie bedeuten?
Astra streifte die Kapuze ab und er sah ihr helles Haar schimmern, als wäre dieses selbst aus Licht gemacht.
“Hör mir zu, Nate. Ich brauche einen, vielleicht auch zwei Tage, um mich zu erholen. Dann verschwinde ich und niemand wird wissen, dass ihr jemals etwas mit mir zu tun gehabt habt. Aber ich … bitte dich solange um ein Versteck. Einen Ort, an dem mich niemand vermuten würde, weil es von solchen Orten Tausende in The Downs gibt.”
Er rieb sich mit der Hand über die Stirn.
“Ich kann das nicht allein entscheiden, Astra. Für heute Nacht hat Kay dir ihr Bett überlassen. Also schlage ich vor, du nutzt es und dann sehen wir weiter.”
Er erwachte, weil sich ein warmer Körper neben ihm regte und Haar seine Nase kitzelte. Beruhigend brummend strich er mit der Hand darüber, in der Hoffnung, dass Ivy einfach noch einmal einschlief. Doch dann fiel ihm ein, dass er ja gar nicht in seinem Bett lag, sondern -
Er riss die Augen auf und fand sein ganzes Blickfeld von Silberhaar ausgefüllt. Astra hatte ihm den Rücken zugewandt und sich wie eine Katze zusammengerollt. Ihr Atem ging ruhig. Seine Hand ruhte auf ihrer Seite, doch jetzt zog er sie hastig zurück.
Scheinbar war er irgendwann vor dem Bett kniend eingeschlafen.
Gerade rechtzeitig, denn in diesem Moment wurde die Tür aufgeschoben und Kay steckte den Kopf herein. Verwundert musterte sie einen Moment die beiden Menschen , dann setzte sie ihr “Dienstgesicht” wieder auf. “Es gibt Frühstück.”
Nate nickte und wartete, bis sie wieder verschwunden war. Dann rüttelte er Astra behutsam an der Schulter. “Astra. Wach auf.”
Sie murmelte etwas und drehte sich im Schlaf. Unter ihren geschlossenen Lidern zeichneten sich Augenringe ab. Die unterbrochene Nacht hatte nicht viel zu ihrer Erholung beigetragen.
Nate beschloss, sie erst einmal weiterschlafen zu lassen und verließ Kays Schlafraum. Im Wohnzimmer waren die restlichen Mitbewohner schon auf dem großen Teppich versammelt, der ihnen als Esstisch diente. Ivy hockte bei Rett auf dem Schoß und hatte ihren kleinen Kopf vertrauensvoll an seine breite Brust gelehnt. Rett berührte ihre Finger, nahm jeden einzelnen in seine immer schmutzigen Hände und übte mit ihr Zählen. Doch als das kleine Mädchen Nate hörte, schoss sie hoch.
“Nate!”
Jedes Mal, wenn sie seinen Namen rief, tat sie dies mit einer Freude, als hätte sie ihn ewig nicht gesehen. Lächelnd kam er ihr entgegen, nahm Kay unterwegs das Kaffeetablett ab und stellte es just in dem Moment auf den Boden, als Ivys Arme fordernd ausgestreckt wurden. Er hob sie hoch und drückte einen Kuss auf die kleine Stirn. “Guten Morgen , Kleines.”
Kay brachte die Büchse mit Brotschreiben und einen Teller mit akribisch dünn geschnittener Wurst. Rett steuerte zwei Äpfel bei, ebenfalls in winzigen Spalten.
“Hier. Mit besten Grüßen vom Chef.”
Kays Augenbraue wanderte skeptisch nach oben. “Weiß er, dass er uns gegrüßt hat?” , fragte sie spitz und reichte ihm einen Becher Kaffee.
Der Fünfunddreißigjährige schüttelte den Kopf. “Mit Sicherheit nicht. Aber da er uns mal wieder den Lohn verweigert, war ich einfach so frei.”
Rett arbeitete in der einzigen Werkstatt in The Downs, die so ziemlich alles reparieren konnte, das man dort vorbeibrachte. Schon im Großen Krieg, der vor sechs Jahren sein wenig ruhmreiches Ende fand, hatte der gelernte Mechaniker Panzer wieder in Gang gesetzt, Radare fixiert und verstummte Uhren zum Leben erweckt. Jetzt nutzte er sein Talent weiter. Allerdings war sein Chef, für den der bärtige Mann mit der wilden Haarmähne nicht selten Kraftausdrücke fand, der Meinung, er würde nicht arbeiten, sondern eher einem Hobby nachgehen. Weshalb Rett jede Woche erneut für den Lohn streiten musste und nicht selten eigene Gerechtigkeit walten ließ.
“Du sollst das doch nicht machen”, meinte Ivy jetzt bekümmert. “Kay sagt immer, wenn der alte Sack dich rauswirft, dann gehst du kaputt.” Sie wandte den Kopf in Retts Richtung, der ihr beruhigend über den blonden Schopf strich und Kay dabei einen bösen Blick zuwarf.
Diese zuckte ungerührt die Schultern und drückte Ivy eine Scheibe Brot in die Hand. “Hier Blümchen, damit du groß und stark wirst.”
Die Kleine widmete sich fröhlich ihrem Frühstück. Auch die Erwachsenen genossen es, ungestört essen zu können. Der Sonntag war etwas besonderes. Unter der Woche, wenn die Männer arbeiten gingen, gab es kaum eine gemeinsame Mahlzeit. Retts Arbeitszeiten hingen von der Laune seines Chefs ab. Manchmal kam er zum Mittagessen heim, manches Mal auch erst spät in der Nacht. Und Nate musste so lange Dienst schieben, bis die Scheune für diesen Tag geleert war, was gerade am Samstag bis zu zwölf Stunden dauern konnte. Doch heute hatten sie frei - theoretisch zumindest.
“Ich muss noch einmal zur Scheune”, teilte Nate mit. “Einige Sachen sind noch im Spind und ich will sie nicht länger als nötig dort lassen.” Kay verzog den Mund, nickte aber. Es gefiel ihr nicht, dass Nate nie länger zuhause bleiben konnte, doch es war nötig.
“Was ist mit dieser Frau?” Ihr Blick verriet dem jungen Mann, dass sie den nächtlichen Ausflug der beiden sehr wohl mitbekommen hatte und es nun zu klären galt, was sie mit dem Schlafgast anstellen sollte.
Ivys Kopf ruckte hoch. “Sie ist gerade aufgestanden.”
Wie auf Kommando flogen die Blicke der Erwachsenen zur Schiebetür, die noch immer geschlossen war. Doch man konnte das Geräusch von nackten Füßen auf den alten Holzdielen hören. Gleich darauf betrat Astra das Wohnzimmer.
Ihr Haar war offen und floss ihren Rücken hinab wie ein silberner Wasserfall. Sie trug ein weißes Top und die schwarze Hose, von der Kay den Dreck notdürftig heruntergebürstet hatte. Als sie sich mit den Blicken der Frühstücksrunde konfrontiert sah, blieb sie stehen.
Ihre Augen huschten hin und her und blieben an Kay hängen.
“Mein Name ist Astra. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir Obdach gewährt haben.”
Dankend neigte sie den Kopf.
Kay musterte sie schweigend, dann ruckte sie mit dem Kinn auf den freien Platz neben sich.
“Setz dich doch.” Wortlos goss sie Kaffee ein und schob eine Brotscheibe herüber.
Ivy rutschte von Nates Schoß, umrundete vorsichtig den Teppich und blieb direkt vor dem Gast stehen. “Ich bin Ivy!” Sie streckte die kleine Kinderhand aus und Astra drückte sie herzlich. “Freut mich , Ivy.”
Das Mädchen blieb lächelnd stehen. “Warum leuchtest du, Astra? Ich kann dich nämlich sehen.”
Die junge Frau schaute die Kleine verdutzt an, dann blickte sie verwirrt zu Nate.
“Ivy ist blind”, half der ihr weiter.
“Und trotzdem kann sie…?”
Nate nickte und berichtete von ihren Erlebnissen am gestrigen Morgen. Astras Miene wurde immer finsterer. Schweigend erhob sie sich und lief ein paar Schritte hin und her.
“Das ist schlecht”, flüsterte sie schließlich tonlos. “Wenn sie mich sieht, dann vielleicht auch…” Abrupt wandte sie sich um. “Nate, ich muss gehen. Sofort.”
Seine Hand mit der Kaffeetasse erstarrte auf dem Weg zum Mund. Kay und Rett wechselten einen misstrauischen Blick.
“Was? Wieso?”
Astra schüttelte leicht den Kopf. “Wenn sie herausfinden, dass es jemanden gibt, der mich sehen kann, selbst wenn ich mich verstecke …” Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. “Nate, ich muss JETZT fort. Ich bringe euch alle in Gefahr.”
Der junge Mann machte ein finsteres Gesicht. Er hatte es gestern selbst gesagt, wenn sie den Seinen gefährlich wurde, würde sie verschwinden müssen. Doch da wusste er noch nicht, welche Fähigkeit sie besaß und dass sie selbst in Gefahr war. Er konnte sie jetzt nicht rauswerfen.
“Nate …”, begann Kay, doch sie wurde von Rett unterbrochen.
“Du kannst nicht einfach vor die Tür gehen, Mädchen.”
Astra runzelte die Stirn bei dieser Anrede, doch der Mann mit den klugen Augen nahm davon keine Notiz.
“Du fällst da draußen auf. Man sieht sofort, dass du eine Fremde bist. Jeder, der dich gesehen hat, wird sich an dich erinnern, wenn jemand nach dir fragt. Wo willst du hin? Wovon leben?”
“Das ist doch erst einmal unwichtig …”, sie rang nach Worten. “Wenn meine Verfolger hier landen und herausfinden, dass Ivy mich sehen kann, obwohl sie blind ist, werden sie sie mitnehmen. Sie werden sie fort schleppen. Sie werden an ihr forschen und sie auseinander nehmen. Und sie werden nicht zimperlich sein!” Ihre Stimme war immer lauter geworden.
Ivy hatte hilfesuchend die Hände ausgestreckt und klammerte sich an Rett, während sie Astra mit bangem Blick lauschte. Was die Frau sagte, machte ihr Angst und sie barg das Gesicht an Retts Schulter. Der erhob sich und tätschelte sanft über den blonden Kinderkopf.
“Keine Sorgen, Blümchen, wir passen auf dich auf …”, murmelte er und brachte das Kind ins Hinterzimmer.
Astra sah ihnen kurz nach, dann wandte sie sich an die beiden, die mit versteinerten Mienen noch immer auf dem Teppich hockten.
“Ich weiß, ich habe keinerlei Anspruch auf eure Hilfe. Und ich danke euch von Herzen für eure Gastfreundschaft. Wenn ich es jemals wieder gut machen könnte …. aber ich … ich hoffe für euch, dass wir uns nie mehr wiedersehen.” Hilflos hob sie die Hände, ließ sie dann aber wieder sinken.
Kay trank ihren Kaffee aus, nahm Astras unangetastete Brotscheibe und erhob sich seufzend. Auffordernd hielt sie der jungen Frau das Frühstück hin und zog sie mit sich.
“Dann wollen wir dich wenigstens ordentlich tarnen.”