Kapitel 2
- Arbeiten mit Profis -
«Nehmen Sie es nicht persönlich, aber ich gebe Vampiren niemals die Hand. Auch nicht den Hals.»
Dmitrij war in seinem Leben schon öfters in den fragwürdigen Genuss der magischen Sonderpolizei gekommen. Seiner unfehlbaren Meinung nach war die MSP nichts weiter als ein Haufen uniformierter Irrer. Das letzte Mal, als ihn diese charmanten Genossen erwischt hatten, hatten sie ihm zwischen Tritten und Schlägen angeraten, seine Nase aus ihren Angelegenheiten herauszuhalten. Anschließend hatten sie Dmitrij noch seine Lizenz als Detektiv entzogen und seine kleine, wenn auch schäbige Agentur demoliert und ihn auf die Rote Liste verfrachtet. Der Name war Programm, denn die Roste Liste war die Waffe der magischen Bürokratie. Sie beherbergte all die Namen derer, denen man auf Grund magiefeindlicher Ansichten die Ausreise aus dem Land verweigerte. Während der Verlust seiner Lizenz eine echte Misere für Dmitrij war, machte ihm sein Status als Gefangener im eigenen Land nur wenig zu schaffen. Er war ein echter Heimscheißer, durch und durch, und weder an Weltreisen interessiert, noch ein großer Freund von überteuerten Flugreisen. War ja eh alles schlecht für die Umwelt, dieser ganze Kerosin-Dreck. Außerdem war es nahezu unmöglich, als Werwolf ein gültiges Visum zu bekommen. Aber verdammt, wem machte er hier was vor? Wenn diese Arschlöcher von der MSP mit ihm fertig waren, würde er so oder so nirgendwo mehr hinreisen können.
Der nächste Faustschlag saß. Dmitrijs ganz persönlicher Folterer wusste, wie man Proportionen neu verteilte. Vermutlich war der Kerl neu bei der MSP, frisch aus einem Gefängnis oder aus dem Militär rekrutiert und wollte sich nun bei seinen Kollegen einen Namen als harten Macker machen. Der Kerl würde es in diesem Scheißverein sicher noch weit bringen, denn er hatte eine wirklich miese Rechte. Zudem schien er auch ein ernsthaftes Problem mit Dmitrijs Gesicht zu haben.
«Verdammte Werwölfe.» Der Polizist war hörbar außer Atem und roch nach Erschöpfung und Wut. Er schlug immer verzweifelter auf Dmitrij ein. «Machen die eigentlich niemals schlapp?»
«Weitermachen», befahl eine schmierige Stimme. Sie kam aus einer dunklen Ecke, irgendwo zu Dmitrijs Linken. Er kannte diese ölige Stimme. Er mochte ihren Tonfall ebenso wenig, wie den aufgeblasenen Saftsack, zu dem sie gehörte. Egal wie schön ein Tag auch war, man konnte sich darauf verlassen, dass Spiridon Below einen Weg fand, diesen innerhalb nur weniger Minuten in einen Alptraum zu verwandeln. «Auch Knochen aus Granit brechen. Man muss sie nur lange genug bearbeiten.»
«Sir, bei allem Respekt-»
«Ich sagte, dass Sie weitermachen sollen.»
Ein erneuter Faustschlag beförderte Dmitrijs Kopf zur Seite. Er roch und schmeckte sein eigenes Blut. Wunderbar, so viel zum guten Aussehen. Ein zweiter Schlag folgte. Dann ein dritter, vierter und fünfter -
Er brach zusammen.
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Dmitrij fühlte sich beschissen. Es war eine äußerst beschissene Beschissenheit. Das letzte Mal, als er sich so mies gefühlt hatte, war er mit voller Wucht von einem Lastwagen erfasst, ungünstig hängen geblieben und einige Kilometer mitgeschleift worden. Kurzum; es tat verflucht weh. Die Schmerzen waren zwar ein fieses, trotz allem aber nicht das zentrale Problem. Hauptsächlich nervte es Dmitrij, dass man seine Hände und Füße mit versilberten Handschellen und Lederriemen an einen massiven Stuhl befestigt hatte, der unangenehme Ähnlichkeit mit einem elektrischen Verwandten aus einem amerikanischen Todestrakt hatte. Dieses Ding hier war so gewaltig, dass man selbst Trolle darauf festschnallen konnte. Dmitrij versuchte vergeblich seine gefangenen Hände und Füße zu befreien. Keine Chance. Man hatte ihn straffer geschnallt und gezogen, als Cher ihre Gesichtshaut. Kinky. Diese Arschlöcher von der Sonderpolizei hatten ganz eindeutig einen Faible für schlechte Fesselspielchen. Jede Menge Handschellen, Ketten und Leder. Mal ganz zu schweigen von diesen verstörenden Lederpeitschen mit Silberkugeln gespickt, mit denen sich selbst der unerfahrenste MSP-Rekrut für Indiana Jones hielt.
Generell wurde Dmitrij für seinen Geschmack viel zu oft geschlagen, gefesselt und angekettet. Es war einfach nicht richtig. So etwas gehörte verboten. Wieso zur Hölle nochmal gab es Gesetze, die reichen Magischen quasi die Carte blanche auf dem Tablett servierten, aber keine, die Wesen wie ihn vor sinnloser Polizeigewalt schützten? Es hatte mal andere Zeiten gegeben. Zeiten, noch lange vor dem Ende der Zaren und der blöden Weltkriege. Zeiten, in denen sich Wesen gegen die Magischen gewehrt hatten. Es hatte zwar nicht sonderlich viel gebracht und war stets in einer schrecklichen Tragödie geendet, aber man hatte wenigstens versucht zu rebellieren. Heute kaufte man, ganz der abgestumpfte Konsument der man war, jedes magische Produkt aus der Werbung, trank Zaubertränke und Wundermittel wie Wasser und feierte die großen und reichen Magier wie Hollywood-Stars. Die Schattenseite der Magie jagte der Bevölkerung zwar ordentlich Angst ein, aber in erster Linie wurde die Zauberei konsumiert. Sie versprach ein besseres Leben. Straffere Haut. Volleres Haar. Mit diesem magischen Trick verlieren Sie vierzig Kilo in nur zwei Wochen!
Die Angst der Menschen versteckte sich unter purer Bequemlichkeit. Und Bequemlichkeit, so hatte Dmitrijs Vater immer gepredigt, war nur der erste Schritt in Richtung Sieben-Tage-Jogginghose, löchrigem Unterhemd und unrasierter Erscheinung. Senior Sorokin hatte Bequemlichkeit für eine Sünde gehalten. Er war ein Mann gewesen, der mit seinen Händen hart gearbeitet hatte. Es hatte keinen Tag gegeben, an dem Dmitrijs alter Herr nicht in der Werkstatt gestanden und bereits längst aufgegebene Autos von den Toten zurückgeholt hatte. Jelisej Sorokin, der beste Automechaniker der Stadt, hatte nicht verdient, was die Magischen ihm angetan hatten. Ebenso wenig wie Dmitrij diese verfluchten Handschellen verdiente. Er riss und zerrte erneut, aber seine Fesseln blieben standhaft. Langsam aber sicher hatte er gewaltige Scheißlaune.
«Ey, ihr hässlichen Arschlöcher!» Dmitrij bedauerte zutiefst, keinen freundlichen Fingergruß in Richtung der Kamera senden zu können, die blinkend in einer Ecke hing. Sie war neben dem gruseligen Folter-Stuhl das einzige Objekt in dem grauen Raum. Abgesehen von einer schweren Eisentür. «Ich habe irgendwie das unangenehme Gefühl, dass ich hier schon seit einigen Stunden abhänge. So sehr wie ich unsere gemeinsame Zeit auch liebe, würde ich so langsam echt gerne nach Hause.»
Niemand reagierte. Nicht, dass Dmitrij damit gerechnet hätte.
«Ey, Halbmondlinge. Ich weiß, dass ich auf Sendung bin. Wäre also nett, wenn mich jemand losmachen könnte. Ich habe noch einiges zu erledigen. Ihr wisst ja, wie das ist. Termine, Termine, Termine.»
Nichts passierte. Die Kamera blinkte fröhlich weiter. Die Tür blieb verschlossen.
«Ich habe eine Katze, die gefüttert werden muss. Wollt ihr etwa, dass dieses arme Tier verhungert? Ich schwöre, wenn mein Koschka nicht mindestens viermal am Tag Futter bekommt, fällt er komplett ins Elend.»
Überraschenderweise entpuppte sich ausgerechnet das schmierige Arschloch Below als Katzenfreund. Die schwere Sicherheitstür wurde geöffnet und mit dem Boss des Reviers drangen auch die ganzen Gerüche und Geräusche in den isolierten Raum, welche die magische Tür bis dato abgefangen hatte. Es stank nach Schweiß, Poliermittel und kaltem Kaffee. Below selbst verströmte wie immer seinen üblichen Haargel-Geruch, den Dmitrij ebenso verabscheute wie seine schmierige Stimme. Zudem war Below ein Mann, der sich nach dem Pinkeln nie die Hände wusch. Dmitrij hasste ihn.
«Sorokin, du lästige Pestfliege. Kaum bei Bewusstsein, schon wieder groß die Fresse am aufreißen.»
Below umkreiste Dmitrijs Stuhl mit langsamen und sichtlich genussvollen Schritten. Die schwere Tür schloss sich wieder und der Lärm verklang, ebenso wie die Gerüche von außerhalb des Raumes. Dmitrij fühlte sich fast ein wenig geschmeichelt, dass sich die MSP den Aufwand gemacht hatte, ihn im ohnmächtigen Zustand in einen magischen Isolationsraum zu sperren. Wer hier im Gewahrsam landete, hatte es wirklich krachen lassen.
«Du steckst in der Scheiße, Werwolf.» Below blieb direkt vor Dmitrij stehen und durchbohrte seinen Gefangenen mit einem starren Blick aus grauen Augen. Es waren die Augen eines Mannes, der sich an den Qualen anderer ergötzte. Below war selbst für einen Sonderpolizisten ein echtes Stück Scheiße. «Und dieses Mal, Sorokin, wirst du dich nicht aus der Sache herauswinden können. Die obere Etage ist ziemlich verärgert.»
Below beugte sich so weit in Richtung Stuhl, dass sein öliger Haargel-Gestank kaum noch zu ertragen war. Dmitrij hielt verzweifelt die Luft an. Nicht kotzen, dachte er fiebrig. Jetzt bloß nicht kotzen.
«Ich habe meine Befehle, Werwolf. Im Moment will man dich lebend. Aber glaube mir. Ein Wort von meinem Vorgesetzten und ich lasse an dir ein Exempel statuieren, wie es diese verdorbene Stadt noch nie zuvor erlebt hat.» Dmitrij glaubte jedes Wort, denn Below war kein Mann leerer Drohungen. «Meine Männer haben dich in direkter Nähe von Anna Nikitinas Leiche verhaftet. Es gibt weder Zeugen, noch ein Alibi. Selbst so einem Idioten wie dir müsste klar sein, dass es nicht gerade gut um dich steht, Sorokin. Nikitinas einflussreiche Freunde wollen Antworten. Man wird dich früher oder später nach Moskau schicken. Und du weißt, was sie mit verurteilten Kreaturen wie dir in der Hauptstadt machen.»
Und wie Dmitrij das wusste. Es hatte seine Gründe, wieso Skeptiker der magischen Regierung einen großen Bogen um die russische Hauptstadt machten. Nicht nur, weil man in Moskau keine Bierflasche werfen konnte, ohne irgendeinen superwichtigen und stinkreichen Magischen zu treffen, sondern weil das wahre Herzstück der Stadt nicht der Rote Platz war - sondern das verfluchte Asylum. Dort landeten alle, die bei den Magischen auf der Abschussliste standen. Das Asylum war mehr als nur ein Gefängnis. Es war ein düsterer und trostloser Ort, von dem es keine Rückkehr gab.
«Ich war mal als junger Rekrut im Asylum.» Belows widerlicher Plauderton verpasste Dmitrij eine Gänsehaut. «Man wollte uns Neulingen den Ort zeigen, von dem wir so viel gehört hatten. Von dem jeder Vorgesetzte sprach, als wäre es die Hölle auf Erden. In Wahrheit ist es tausendmal schlimmer. Die Wärter brechen dort keine Knochen, sondern Seelen. Die knacken deinen Lebenswillen wie eine faule Walnuss.»
Dmitrij schwieg.
Jeder noch so dumme Spruch, jede noch so kleine Reaktion, wäre nichts anderes als ein Zugeständnis. Ein Zugeständnis dafür, dass er Below und seinem Gelaber tatsächlich zugehört hatte. Dass es ihm eine echte Scheißangst einjagte. Dmitrij würde sich eher beide Eier abreißen und sie anschließend am Stück runterwürgen, als hier und jetzt vor Below einzuknicken. Dieses miese Arschloch war nicht der neue Polizeichef der Sondereinheit geworden, weil er einen umwerfenden Charakter und ein unbestechliches Streben nach Gerechtigkeit hatte. Below war der Chef in diesem Laden, weil er ein Händchen für Manipulation besaß und die richtigen Leute geschmiert hatte. Er war der Alpha-Rüde eines bissigen Rudels voller Psychopathen, weil er am kräftigsten zubeißen konnte. Below war vielleicht kein Vampir, dennoch taten seine verbalen Bisse höllisch weh. Männer wie Below waren beim Militär rausgeflogen, weil sie ihren Vorgesetzten zu intrigant waren. Man konnte ihnen nicht trauen, besonders nicht mit einer Waffe in der Hand. Und wie die meisten Irren, die selbst das russische Militär nicht haben wollte, war Below bei der Sonderpolizei gelandet. Und weil Below nun einmal Below war, gab er Dmitrij gnadenlos den Rest.
«Meine Männer haben deine Wohnung durchsucht.» Below packte seinen Gefangenen grob am Kinn. «Hast du gehört, Sorokin? Meine Leute haben die Tür eingetreten und alles auf den Kopf gestellt, während du hier dein Nickerchen gemacht hast. Man hat zwar keine Katze gefunden, dafür aber die Kopien von Polizeiakten. Und da frage ich mich, Werwolf, wie kommt ein dreckiger Detektiv ohne gültige Lizenz an Kopien von Polizeiunterlagen?»
Dmitrij schwieg.
«Entweder du bist hier eingebrochen und hast stundenlang Unterlagen kopiert, was ich ernsthaft bezweifle, oder aber du hast einen meiner Männer geschmiert.»
Dmitrij schwieg.
«Ich habe eine sich automatisch ergänzende Übersicht über sämtliche Druckvorgänge in diesem Revier. Ich weiß ganz genau, wer was wann und wo kopiert. Niemand scannt und kopiert hier seinen Arsch, ohne dass ich es weiß. Die Unterlagen, die meine Leute bei dir gefunden haben, wurden irgendwo anders ausgedruckt. In deiner Wohnung gibt es weder einen Kopierer, noch einen Laptop. Beides fehlt auch bei deiner kleinen Agentur, wenn man diesen schäbigen Schuhkarton denn so nennen kann. Merkwürdig. Als Detektiv keinen Drucker zu haben. Nicht mal einen Computer.»
Kurze Fingernägel bohrten sich drohend in Dmitrijs Kinn.
«Du hältst dich wohl für clever, mmh? Aber glaub mir, Sorokin. Du bist ruiniert. Ich werde dafür sorgen, dass du dir bis zu deiner Überführung ins Asylum wünschen wirst, niemals geboren worden zu sein.»
Dmitrij vermied es zu blinzeln. Und schwieg.
«Na gut», knurrte Below und ließ Dmitrijs Kinn ruckartig los. «Du willst Krieg? Ich gebe dir Krieg. Du wirst in eine Zelle gebracht und dort so lange eingesperrt und durchgeprügelt, bis man dich nach Moskau bringt. Deine Wohnung? Die fackeln wir ab. Deine lächerliche Agentur? Die wird ebenfalls brennen.»
Below machte ein paar Schritte zur Tür, hielt jedoch inne und drehte sich noch ein letztes Mal zu seinem Gefangenen um.
«Oh, und bevor ich es vergesse. Wir wissen, wo deine verfluchte Mutter steckt. Schöne Datscha, die sie da hat. Klein, aber fein. Ruhige Lage. Kein Lärm. Keine Nachbarn. Niemand, der sie schreien hört. Traumhaft.»
Dmitrij riss so heftig an den Handschellen und Riemen, dass der wuchtige Stuhl ein paar Millimeter vom Boden abhob. Below wirkte für einen kurzen Moment ehrlich überrascht. Dann lächelte er schleimig.
«Ich wusste, dass du ein Muttersöhnchen bist. Aber keine Sorge. Ich werde mich gut um sie kümmern. Ich habe eine Schwäche für große und starke Frauen. Je heftiger die Gegenwehr, umso größer der Spaß.»
Die schwere Sicherheitstür öffnete sich und Below verließ den Raum, dicht gefolgt von Dmitrijs wütenden Verwünschungen. Er wusste, dass dieses kranke Arschloch nicht bluffte. Man würde sein Leben ohne jeden Zweifel in Schutt und Asche legen - und das seiner Mutter gleich mit. Zwar war Olga Sorokina keine Frau, mit der man es sich gerne verscherzte, aber auch sie hatte keine Chance gegen ein ganzes Aufgebot der Sonderpolizei. Dmitrij hatte nicht gerade das beste Verhältnis zu seiner Mutter, sie war immerhin ernsthaft verrückt, aber sie war seine Mama. Außerdem hatte sie rein gar nichts mit diesem ganzen Ärger zu tun. Sie hatte schon vor Jahren Sankt Petersburg den Rücken gekehrt und sich ganz in ihre Datscha auf dem Land zurückgezogen. Frauen wie sie schätzten ihre Ruhe. Eine Ruhe, die schon sehr bald äußerst massiv gestört werden würde, wenn Below Wort behielt. Und das würde er. Dmitrij brüllte und zerrte an den Fesseln, bis ihm die Luft ausging. Oh, wie er sie alle hasste. Below. Die MSP. Diese verdammten Hurensöhne in Moskau. Aber allen voran verabscheute er Anna Nikitina. Wieso hatte es ausgerechnet ihr Körper sein müssen, über den Dmitrij mehr oder weniger gestolpert war? Wieso hatte sie sich überhaupt umbringen lassen? Wieso zur Hölle war es Dmitrij, dem nun alles um die Ohren flog? Er hatte doch nur einen Fall lösen und etwas Geld abgreifen wollen.
Der Strom fiel aus.
Es passierte so plötzlich, dass es Dmitrij im ersten Moment gar nicht wirklich realisierte. Er blinzelte mehrmals, da er kurz glaubte, dass er sich die schlagartige Dunkelheit nur einbildete. Es war jedoch keine Einbildung. Es herrschte absoluter Totalausfall und selbst das lästige Blinken der Kamera war abrupt zum Stillstand gekommen. Irgendetwas stimmte nicht. Das hier war keine Masche. Keine Methode der Folter, immerhin war diese Dunkelheit um einiges angenehmer als das grelle und künstliche Licht, welches bis eben noch in dem spartanisch eingerichteten Raum geherrscht hatte. Dennoch brauchten Dmitrijs Augen einen Moment, um sich an die Schwärze zu gewöhnen. Er konnte spüren, wie sich seine Pupillen vergrößerten. Die Dunkelheit wich einer klaren Nachtsicht, die alles in ein verblasstes Grau tauchte. Hin und wieder hatten Dmitrijs Werwolf-Gene doch den ein oder anderen Nutzen. Die Sicherheitstür öffnete sich.
Lärm und Gestank strömten in den Raum, wie sie es schon zuvor bei Belows Besuch getan hatten. Hektisches Stimmengewirr war zu hören, ebenso wie das Geräusch unzähliger Stiefel, die rasch entfernte Gänge entlang liefen. Der Besucher, der sich von Dunkelheit umgeben in den Raum schob, war weder Below, noch einer seiner sympathischen Schläger. Es war ein junger Mann, höchstens achtzehn oder neunzehn Jahre alt, der eine ziemlich harte Jugend hinter sich zu haben schien. Er war dürr, schreckhaft und hatte den wahnsinnigen Ausdruck eines Mannes, der schon lange die Kontrolle über sein Leben verloren hatte. Er war ein Vampir, auch wenn man ihm die meisten Zähne herausgeschlagen und gezogen hatte. Er stank nach Angst, Krankheiten und einem Körper, der schon seit Ewigkeiten in den immer gleichen und abgetragenen Klamotten steckte.
«Rauslassen», nuschelte der Vampir, sichtlich neben der Spur. Er hatte einen Schlüsselbund in den mageren und zittrigen Fingern. Er klappte förmlich vor Dmitrijs Thron aus Silber und Ketten zusammen. Die zittrigen Finger des Vampirs hatten Mühe die Schlüssel ins Schloss zu bekommen. «Schnell, schnell», murmelte er scheinbar zu sich selbst, während er immer fahriger mit den Schlüsseln herumstocherte. «Sonst wird er wütend.»
Dmitrij hatte da so eine Ahnung, wer wütend zu werden drohte. Wer für den Stromausfall verantwortlich war und einen scheinbar irgendwo aufgegriffenen Stricher als Schlüsselkurier auserkoren hatte. Dieser Mistkerl Graf konnte Dmitrij schlecht selbst retten, wie ein edler Ritter aus einem beschissenen Märchen, sondern schickte eine entbehrliche Marionette. Das sah ihm ähnlich. Der junge und zahnlose Vampir tat Dmitrij fast schon ein wenig Leid. Sicher hatte ihn Graf irgendwo in der Nähe der Pushkinskaya Ulitsa aufgegriffen und ihn wegen Prostitution oder Drogenbesitz an den Eiern. Vielleicht auch wegen beider Vergehen. Vielleicht hatte sich der jüngere Vampir überhaupt nichts zu Schulden kommen lassen, sondern war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Dmitrij traute es Graf durchaus zu, einen Unschuldigen vor die Hunde gehen zu lassen, nur um seine eigene Haut zu retten. Immerhin wäre der Polizist geliefert, sollte Dmitrij in Plauderlaune kommen und ihren Deal auffliegen lassen.
Irgendwo fielen Schüsse. Dmitrij konnte das Blut von einem Menschen riechen und den Gestank eines alten Ghuls. Wie es schien, war nicht nur der Strom ausgefallen, sondern auch die gesamte Notversorgung in sich zusammengebrochen. Neben seiner Tür hatten sich noch weitere Räume und Zellen geöffnet, die besser verschlossen geblieben wären. Ein Polizist schrie einige Meter entfernt nach Verstärkung. Noch mehr Schüsse erklangen. Schwere Stiefel näherten sich. Dmitrij zappelte nervös. Er konnte die Wut und Anspannung der näher kommenden Polizisten bereits riechen. Einer war verletzt und humpelte leicht.
«Beeile dich, Mann. Wir bekommen gleich Gesellschaft.» Der Vampir verzog das schmale Gesicht. Seine nervösen Finger ließen den Schlüssel fallen. Ganz große Nummer, dachte Dmitrij gereizt. Einmal arbeiten mit Profis. «Junge», flüsterte Dmitrij bemüht beherrscht. Die Polizisten waren nur noch wenige Meter entfernt. Er konnte hören, wie einer der Männer hektisch Munition nachlud. Der andere spannte seine Armbrust. «Wenn du mich nicht in weniger als zwei Sekunden befreit hast, schwöre ich dir, dass alles, was dir unser gemeinsamer Freund angedroht hat, ein Witz im Gegensatz zu dem ist, was ich mit dir tun werde, wenn der nächste Vollmond fällig ist.»
Die Finger des Vampirs zitterten immer stärker, jedoch schaffte er es trotz seiner aufkeimenden Panik, Dmitrij zu befreien. Er löste die Ketten und Handschellen und auch das viel zu eng geschnallte Leder gab endlich nach. Dmitrij sprang in dem Moment auf die freien Beine, als die zwei längst gewitterten Polizisten durch die offene Tür stürzten. Das grelle Licht einer Taschenlampe zuckte kurz hektisch hin und her, dann drückten die Männer ab. Dmitrij entkam nur knapp einem ziemlich hässlichen Kopfschuss und ging hinter dem massiven Stuhl in Deckung. Mehrere Kugeln und ein mit Silber gespickter Bolzen schlugen lärmend in der grauen Wand über ihm ein. Die Halbmondlinge im Dienst waren Menschen, somit blind außerhalb des Lichtpegels der Taschenlampe. Ein Umstand, den sich Dmitrij zu Nutzen machte. Er rollte sich wie James Bond an seinen besten Tagen hinter dem Stuhl hervor, ging leicht in die Hocke und sprang den Polizisten mit der lästigen Knarre aus der Dunkelheit an. Der Beamte fluchte, ließ jedoch nicht wie erhofft seine Waffe fallen. Er war jung, aber kein Anfänger. Er ballerte um sich, als gäbe es keinen Morgen mehr, wobei er den erneut in Deckung hechtenden Dmitrij verfehlte, dafür aber seinen Kollegen erwischte. Der Getroffene schrie schmerzerfüllt auf, als die Kugel seinen Oberschenkel durchbohrte, stolperte ungeschickt nach hinten und löste dabei den Abzug seiner Armbrust aus.
Der bereits frisch gespannte Bolzen sauste durch die Luft und verfehlte nur um wenige Millimeter den Kopf des Vampirs, der sich in der Dunkelheit dem zweiten Polizist genähert hatte. Mit einem wütenden Kreischen stürzte sich der Blutsauger auf den verletzten Mann. Man hatte dem jungen Vampir vielleicht seine Zähne und seine Würde genommen, aber nicht seine Wut und seine Instinkte. Der Polizist mit der Armbrust ging zu Boden, halb im Isolationsraum und halb im Flur liegend, und versuchte verzweifelt den irre kreischenden Vampir von sich zu schieben. Dieser war wegen des Blutgeruchs längst in Raserei verfallen und schlug wie ein wild gewordenes Tier auf den Mann ein. Bedauerlich, durchaus, aber absolut nicht Dmitrijs Problem. Er knockte den hysterischen Schützen mit einem gezielten Fausthieb aus, schnappte sich dessen Waffe, - die natürlich längst leer war, weil hallo, das hier war nicht Hollywood -, und rannte, wie er noch nie zuvor gerannt war.
Den Geräuschen nach, von denen Dmitrij immer weiter floh, schlug und kratzte der Vampir den Polizisten mit der Armbrust zu Brei. Dmitrij war kein Freund der Sonderpolizei, aber noch weniger war er ein Befürworter von irrer Mordlust. Jedoch würde er ganz sicher nicht umkehren und eine dumme Heldennummer für ein Arschloch in Uniform abziehen. Es gab immerhin genug Arschlöcher in Uniformen - aber nur einen Dmitrij. Weitere Halbmondlinge näherten sich, angelockt von den Geräuschen eines Kameraden in Not. Dmitrij konnte die Polizisten riechen. Und hören. Diese Typen waren vielleicht auf der Straße harte Kerle und im Einsatz organisiert, aber in ihrem eigenen Revier wirkten sie wie kopflose Hühner. Der Stromausfall hatte sie nicht nur überrascht, sondern das gesamte Gebäude in ein komplettes Chaos gestürzt. Sämtliche elektronischen Türen ließen sich entweder nicht mehr öffnen - oder schließen. Polizisten waren eingesperrt, während sich die ein oder andere Zelle geöffnet hatte.
Dmitrij stolperte und stürzte auf einem der langen Korridore an einem tätowierten Zwerg und einem Halbtroll vorbei, die ebenfalls optimale Fluchtbedingungen gewittert und ihre sich plötzlich geöffneten Zellen verlassen hatten. Während sich der Zwerg mit übel zugerichtetem Gesicht einigermaßen in der Dunkelheit zurechtfand, stieß der massige und breite Halbtroll gegen jede Kante und Ecke. Meistens mit dem Schienbein.
«Ist doch alles scheiße», beschwerte sich der Zwerg. «Wo ist der verfluchte Ausgang, huh? Hier ist auch echt gar nichts ausgeschildert. Nicht mal einen Notausgang hat dieses Scheißhaus. Bei einem Feuer sind hier alle am Arsch. Und ich dachte schon, in den Ausnüchterungszellen würden miese Standards herrschen.»
«Mmpf», sagte der Halbtroll trocken, während er blind und sichtlich verzweifelt der Zwergenstimme folgte. Sein linkes Schienbein machte krachend mit einem Wasserspender Bekanntschaft. «Nur gut, dass es nicht brennt.»
Dmitrij ließ die zwei Ausbrecher ebenso hinter sich zurück, wie er es zuvor bei den zwei Polizisten und dem Vampir getan hatte. Das Chaos im Revier war zwar heftig, würde dafür aber nicht lange anhalten. Sicher hatte man irgendwie Verstärkung beim zweiten Halbmond-Revier im Außenbezirk angefordert.
«Lasst mich raus!», kreischte es irgendwo aus einer der noch verschlossenen Zellen. Das Kreischen war hell und hysterisch. Sirene. Dmitrij hasste diese niederträchtigen Kreaturen. Diese Schlampen saugten einem schneller die Seele aus, als empörte Mittvierziger nach einer halben Flasche Wein über Politik schwadronieren konnten. «Lasst mich raus! Ich kann euch hören!»
Der Gang endete in einem weiteren Gang. Der Geruch nach Regen, nassem Asphalt und Stadt kam immer näher. Dmitrij musste sich irgendwo im dritten oder vierten Stock befinden. Der Ausgang war im Erdgeschoss. Er war nah dran. So verdammt nah. Jemand schoss auf ihn. Mal wieder. Der Schütze war jedoch um einiges talentierter als der schießwütige Revolverheld von gerade eben, denn die Silberkugel verfehlte nur knapp Dmitrijs Kopf. Es wurde nicht hysterisch herumgeballert, sondern sauber auf ihn gezielt.
«Nicht der Kopf, ihr Idioten! Moskau will ihn lebend. Zielt auf den verfluchten Rest!»
Es war Belows schmierige Stimme, die Dmitrij nach einem überstürzten Sprung aus einem nahe liegenden Fenster in die Freiheit entließ. Dmitrij entkam so zwar einer Kugel in den Allerwertesten, fiel dafür aber überraschend tief. Ein Feuerwerk aus Schmerzen explodierte in Dmitrijs Körper, als er mit voller Wucht auf einem weiter unten geparkten Polizeiwagen landete. Knochen und Dach gaben gleichermaßen nach. Die Alarmanlage des Autos heulte los.
Was für ein beschissener Tag.