Beiträge von Jota

    Hallo Charon

    melde mich jetzt auch mal zu Wort. Entfernt erinnert mich Samuel in seiner Anlage ja an Stephen Kings Carrie, in der Verbindung mit emotionaler Ausnahmesituation und dem Erscheinen der Magie :)

    Inhaltlich, das sage ich ganz offen, ist das einfach nicht "my cup of tea". Sowas liegt mir nicht - aber egal! Denn zum Inhalt gibt es eh schon genug qualifizierte Anmerkungen :)

    Ich hätte eher eine Frage technischer Natur: Ich habe das Gefühl, dass du dich ofmtals von der Dynamik deiner Szenen beim Schreiben mitreißen lässt und relativ schnell schreibst. Vor allem die Übergangs- und Stimmungspassagen geraten dadurch etwas ins Hintertreffen, weil du schnell zum Höhepunkt kommen willst (ja, ich weiß, wie sich das grade anhört.) Gerade die braucht es aber, damit die - teils sehr extremen - Höhepunkte auch beim Leser entsprechend wirken können (eine Höhepunkt muss sich ja abheben, sonst ist es ja keiner :) ). Also hier vielleicht ein bisschen an den Spannungsbogen denken :)

    Nur mals als Beispiel das aktuelle Kapitel:

    Der Einstieg mit dem Blumenpflücken und dem Auftrag für die Blumendekoration ist sozusagen Füllmaterial. Er bereitet die entscheidende Szene vor und soll alle benötigten Figuren auf dem Handlungsort zusammenführen. Da kann man glaub ich etwas mehr rausholen. Verhält sich seine Familie Samuel gegenüber anders, weil ein Fremder dabei ist? Oder kennt auch der Fremde Samuels Ruf schon und hat Angst vor ihm? Grade die sanfte Tätigkeit des Blumenpflückens könnte man etwas verdeutlichen, damit das nachherige Einbrechen der Gewalt umso krasser wirkt. Das meinte ich vorhin :)

    Dann müsste man vielleicht über den Übergang noch etwas nachdenken. Eldons Grausamkeiten sind immer etwas unmotiviert. Sie erscheinen quasi aus dem Nichts, einfach weil der Typ halt ein Arsch ist, dem man die Pest an den Hals wünscht. Gut, soll so sein! Aber ich persönlich würde es schön finden, wenn sich das Verhältnis der Brüder zueinander etwas aufschaukelt und steigert. Du bist hier quasi von 0 auf 100. Samuel könnte sich auch vorher - und sei es mit Worten - ein wenig wehren, woraufhin Eldons Aktionen immer einen Grad an Schärfe zunehmen.

    Nur so als allgemeine Gedanken, hau in die Tasten und sieh zu, dass du es fertigbringst :) Lg Jota

    Ah schön, es geht weiter!

    Ich bin ein wenig befangen, weil ich - warum auch immer, wahrscheinlich tiefenpsychologische Ursachen - Szenen liebe, in denen die Figuren frühstücken :D Vielleicht weil ich finde, dass in Romanen generell zu wenig gefrühstückt wird und es manchmal gerade diese, scheinbar, profanen Dinge sind, in denen Namen und Buchstaben für mich zu lebendigen Figuren werden. (Hildesheimer schreibt in Marbot mal, was in der Geschichtsschreibung eine zu geringe Rolle spielt, ist die Frage: Wer wusch sich wann und überhaupt?)

    Ich finds stimmungsvoll und der Dialog "rollt gut ab", es ist also nicht irgendwie gezwungen sondern läuft locker-flockig durch. Was mir besonders gefällt, ist dass du die Szene als Gelegenheit nutzt, um den Hintergrundkontext (mit dem Pakt, den Bath, etc.) einzuflechten. Sowas landet sonst häufig in Prologen, die sich wie ein Sammelsurium an Kontext-Informationen lesen, die die AUtorin / der Autor sonst nirgendwo mehr untergebracht hat (ganz abgesehen davon, dass ich finde, die Aufgabe eines Prologes ist es, Fragen aufzuwerfen anstatt Vorab-Antworten zu geben).

    Freue mich auf mehr, lg

    Ein paar stilistische Vorschläge im Spoiler. Alles Kleinkram-Gemäkel, kannst du dir mal anschauen, musst du aber nicht :)

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    Es ist eine alte Wahrheit, daß im Licht eines neuen Morgens die Dinge anders sind als in der Dunkelheit der Nacht.

    Anders gesagt: Am Morgen ist alles nur mehr halb so schlimm :) Ich würde es graduell umformulieren in:
    "Es ist eine alte Wahrheit, dass im Lichte eines neuen Morgens die Dinge anders scheinen als im Dunkel der vergangenen Nacht."

    Auf einem flachen Stein in der Glut ihres Lagerfeuers der vergangenen Nacht lagen/brutzelten mehrere handgroße Teigfladen, die sich in der Hitze des Feuers langsam bräunten und einen appetitlichen Duft verströmten.

    Würde ich so umstellen (sonst ist "lag" quasi doppelt für den Stein und die Teigfladen gebraucht) und den Bezug zum Geruch nochmal suchen.

    „Ich gebe zu, der Scherz war grob. Aber vergesst nicht: Ich hatte Euch gewarnt.“

    :phatgrin:Als Alernative ist mich angesprungen: "Vergesst nicht: Ich hatte Euch gewarnt. Zwergen-Humor ist einstweilen ein wenig grob."

    Rasch holte er die fertigen Brote aus der Glut und legte sie zum Abkühlen auf das große Blatt eines Butterbur, das er vorher vom Bach geholt haben musste.

    Als Vermutung kennzeichnen, Relian kann es ja nicht wissen, weil er geschlafen hat.

    Hinter dem dichten Gestrüpp von Dyndins Bart machte sich ein Grinsen breit.

    Top :thumbup:

    als sie zu Ende gegessen hatten

    Die einzige Formulierung, die mich wirklich stört. Man isst nicht zu Ende, man beendet sein Mahl ;)

    dann hob er den Kopf.

    „Es ist ein alter Pakt, der uns an Canthares bindet,“ entgegnete er dann.

    dann dann

    weiß ich nichts darüber. Außer dass er nichts von seiner Gültigkeit verloren hat.“

    Das weiß er ja, also kann er ja nicht nichts darüber wissen. Klar soweit :D ?

    mit emporhochgezogenen Augenbrauen.

    bis er sich in den Malde ergiesst.“

    Wenn der Malde auch ein Fluss ist, würde ich sagen: sich mit ihm "vereinigt".

    Er wies mit dem Finger in das Grün des Waldes, unbestimmt.

    Ist das "unbestimmt" hier von einem anderen Satz übriggeblieben?

    „Zwei Tagesmärsche etwa.“ Der Waldläufer musterte den stämmigen Dyndin von Kopf bis Fuß und fügte breit grinsend hinzu: "Zumindest mit normal langen Beinen".

    Das würde ich nutzen, dass Relian ihm als kleine Rache zumindest eine reinserviert. So ganz ungeschoren soll er ja auch nicht davonkommen :D

    Ich bin mal so frech und grätsche hier dazwischen (und hoffe, dass es mir Feron oder der Thread-Starter nicht übel nehmen :) ).

    Einerseits weil ich den Thread grundsätzlich sehr informativ finde, weil Schlachten ja immer markante Punkte in Fantasy-Geschichten sind. Andererseits, da ich aktuell selbst genau an so einer Schlacht-Beschreibung arbeite und mich der Thread hier sozusagen echt „eiskalt erwischt“ hat. Denn viele der hier genannten Aspekte (eigentlich fast alle :D) haben auch mich bei der Sache irgendwie umgetrieben: Vom unmittelbaren Kampfgeschehen, über die (obligaten?) gedanken-, gefühls- und reflexionsbetonteren Passagen (die Kirisha  Werluchs und @Drachenlady2001 angesprochen haben) bis hin zum erzählerischen „breaking point“.

    Geichzeitig versuche ich aber auch ein bisschen die Rahmenbedingungen zu schildern um Einblick in die Welt zu gewähren, vor allem aber um das problematische Dasein des Protagonisten als Söldnerhauptmann zu veranschaulichen, der sich für einen Feldzug anwerben hat lassen, in dem es kaum Beute gegeben hat – und der versucht, im Rahmen der letzten Schlacht (der Eroberung der gegnerischen Hauptstadt) durch eine waghalsige Aktion alles wettzumachen, was vor allem seinen fragilen Status als Anführer absichern soll. Das ist also seine Vorgeschichte als Figur.

    Ob sich das alles zum „Gesamtbild“, wie Der Wanderer geschrieben hat, fügt - auch was das „nicht-lyrische“ des Kämpfens, wie Cory Thain das genannt hat, und das realistisch Anmutende, über das Thorsten  Asni  spaetzuender  Alcarinque und LadyK diskutiert haben, glaubwürdig ist - weiß ich noch gar nicht so recht, bin aber für Rückmeldungen immer sehr dankbar ^^.

    Von der Aufteilung war es jedenfalls so gedacht, von der Schilderung allgemeiner Umstände und Hintergründe immer „näher“ an den Protagonisten heranzukommen. Gearbeitet ist es zusätzlich auch noch als Rückblende (doh‘!), über die kalkwiese ja unlängst einen Thread gestartet hat :D

    Tja… ich trau mich das hier einfach mal zu posten, weil es ja die Werkstatt ist. Falls das hier der falsche Ort ist, bitte einfach ignorieren.

    0. Einleitung der Rückblende

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    Während sie vor ihm auf dem Boden kniete und nacheinander die von der Kälte versteinerten Lederschnüre löste, betrachtete er ihren grauen Schopf, das schüttere Haar, unter dem die fleckige Kopfhaut durschimmerte. Sie erinnerte in ihrem ganzen Wesen entfernt an jemanden auf der Feste, auch wenn er des Gedankens vorerst nicht völlig habhaft werden konnte. Vielleicht eine der Mägde aus Birgas Gesinde? Es gab so viele davon. Die zahllosen Gesichter, alte und junge, sie kamen und gingen, traten aus dem Dunkel hervor, wurden für einen Moment erhellt, verblassten, verschwanden vom Antlitz der Welt, ohne ihre Spur zu hinterlassen.

    Er selbst war erst vor zwei Jahren in Wâlrichs Dienste getreten, vieles auf der Feste war ihm noch unverständlich, manches würde ihm wohl für immer rätselhaft bleiben. Er erinnerte sich an die ersten Wochen nach seiner Ankunft, wie ihn die stumpfe Gleichförmigkeit der Tage innerhalb der Mauern anfänglich befremdet, ja fast abgestoßen hatte. Oftmals erwachte er nachts schweißgebadet mit fliehendem Herzen, verließ getrieben von Unrast seine Kammer, begab sich im silbernen Mondschein auf den Wehrgang, um durch die Zinnen Ausschau zu halten und den schwarzblauen Horizont mit aufmerksamen Blicken abzutasten. Was oder wen erwartete er?
    Er wusste es nicht, aber er fühlte sich gefangen ohne es zu sein.

    Am meisten beunruhigte ihn, dass er zu träumen begann. Bis dato glich sein Schlaf einem See aus Nacht, einer allumfassenden, schwarzen Hand, die ihn umhüllend aufnahm und erst am Morgen wieder freigab, ohne dass er sich der Stunden in ihrem Griff entsinnen konnte. Auf der Feste schlichen sich seltsame Bilder in seinen Schlaf, ein Gemisch aus Vergangenem und vagen Vorausdeutungen auf eine nebulöse Zukunft, das er nicht recht einzuordnen wusste.
    Erst allmählich begann Heldrik die Sicherheit und Ruhe innerhalb der Mauern zu genießen, dem verlockenden Gefühl von Heimat oder zumindest von Zuflucht nachzugeben, das nach dem Desaster von Rokaduinn auf ihn wirkte wie ein willkommenes Narkotikum.



    I. Vorgeplänkel, Rahmenbedingungen

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    Der Fall von Rokaduinn…

    oft sah er in seinen Träumen die gewaltigen Steinmauern der prunkvollen Stadt wieder vor sich erstehen, mit magischem Schwung ziegelten sich die geschleiften Türme hoch und die zersprengten Torflügel fanden aus seiner Erinnerung erneut ihren angestammten Platz in den mächtigen Angeln. Der langsam verblassende Mittelpunkt eines zerfallenden Reiches, dessen Schätze sagenhaft sein sollten und dessen Ruf wie ein einziges Märchen klang – und wie ein Köder wirkte, der Begehrlichkeiten von diesseits und jenseits der Grenzen weckte. Letztlich ein Opfer seiner eigenen Herrlichkeit aus vergangenen Zeiten, ein unrühmliches Ende für eine glanzvolle Dynastie und ein mächtiges Reich.

    Nach zwei Monaten kräftezehrender Belagerungsarbeit war ihnen schließlich die Erstürmung des geschwächten Osttors geglückt, begünstigt durch den glücklichen Zufall eines wohl durch Nachlässigkeit im Torhaus ausgebrochenen Brandes, der binnen weniger Stunden die Torflügel fast vollständig vernichtet hatte. Kurz vor dem drohenden Wintereinbruch zeichnete sich dadurch die Entscheidung in einem endlos langen Kriegszug ab, der bis dato so viele Opfer gefordert aber kaum Beute zutage gefördert hatte. Auch für Heldrik nicht. Natürlich, sie hatten in mehreren Schlachten gesiegt, das Sandfeld von Unin gegen vier Attacken behauptet, am Pass von Ato-Ator die Verteidigung zermürbt und die Bastionen überwunden – aber was galten Siege ohne Beute? Leere Triumphe, die vielleicht dem Ruhm von Königen oder Generälen dienen mochten. Für Heldrik und seinesgleichen kamen sie hingegen Niederlagen gleich, schwere Arbeit für kargen Lohn. Vielleicht ging es bei diesem ganzen vermaledeiten Krieg überhaupt nur darum: Überlegenheit zu demonstrieren, eine alte Ordnung hinfortzuspülen. Und die Männer spürten es. Der Unmut im Lager wuchs seit Wochen, breitete sich von Zelt zu Zelt wie eine Seuche aus und konzentrierte sich schließlich auf diesen finalen Akt: die Erstürmung von Rokaduinn, ihre allerletzte Chance auf Beute, bevor das Heer seinen Zweck erfüllt hatte und aufgelöst wurde. Eine gefährliche Mischung aus Ungeduld, Gereiztheit und verzweifeltem Übereifer hatte von ihnen Besitz ergriffen – und entlud sich wie ein Blitzschlag in diesem heiß herbeigesehnten Moment, als fast das gesamte Heer durch die schmale Bresche ins Innere der Stadt drängte. Hindurchgesaugt vom Verlangen nach Beute und befeuert vom Ruf der sagenhaften Schatzkammern der Stadt.

    Unter ihnen auch Heldrik, an der Spitze seiner berittenen Schar. Rücksichtslos vorwärtspreschend fuhren sie wie ein Pflug durch das eigene Fußvolk, entgegen aller Befehle, die Kavallerie außenvorzuhalten. Niemals hätte er seine Männer jetzt noch bändigen können. Heldrik schien es besser, er führte sie wenigstens selbst, trotz des enormen Risikos zu Pferd in eine fremde, unbekannte Stadt einzureiten – und sich damit zusätzlich geltenden Befehlen zu widersetzen. Mit steinerner Miene hatte er am frühen Nachmittag die Anweisung im Zelt der Heerführer empfangen, nur auf ausdrückliches Kommando ihre geschützte Position in den östlichen Hügeln aufzugeben. Für seine Treue versprach man ihm einen gerechten Anteil, wobei die Verteilung unter seiner Truppe die eigene Sache wäre. Sollte also heißen: Nachdem sie monatelang ihre Schuldigkeit getan und ihre Dienste geleistet hatten, wollte man ihnen jetzt, wo es endlich an der Zeit war, sich gütlich zu tun, ihr Recht auf Plünderung vorenthalten und sie mit Brotkrumen abspeisen. Mit dem, was übrigblieb. Was meistens nichts war. Einer der Wortführer im Kriegsrat, über und über in wallendes Purpur gekleidet und auf einem reich verzierten Holzstuhl thronend, herrschte ihn brüsk an, ob er verstanden habe, was man von ihm verlange. Heldrik zügelte seine Wut, antworte mit einem gehorsamen Nicken und wurde nach einem lange währenden, prüfenden Blick mit einem Wink entlassen. Unverzüglich gab er den Seinen Befehl, heimlich aufzusatteln und sich bereitzumachen.

    Rasend schnell verbreitete sich die fatale Kunde vom erzielten Durchbruch innerhalb der Reihen der Verteidiger. Noch hätte sich die Eroberung sicherlich aufhalten oder zumindest wirksam verzögern lassen. Immerhin verfügte Rokaduinn auch im Inneren, wie Heldrik nach und nach feststellte, über ein wahrlich ausgezeichnetes System an Gräben, befestigten Toren, Wehrgängen und gestaffelten, wallverstärkten Verteidigungslinien – gespickt mit tückischen Mordlöchern und Fallgittern. Die Stadt war auf ihr Eindringen gut vorbereitet, zudem Rokaduinn seine Streitmacht noch einmal entschieden verstärkt hatte. Kurz bevor sich der Belagerungsgring endgültig schloss, hatte ihr Herrscher für aberwitzige Summen Söldner angeworben, in dem Versuch, einen Teil seines Reichtums preiszugeben, um den Großteil davon bewahren zu können. Auch an Heldrik ergingen heimlich solch verlockende Angebote zum Seitenwechsel, ausstaffiert mit Schmeicheleien und volltönenden Versprechungen. Der Versuch sich vom Untergang freizukaufen. Und wäre er nicht möglich gewesen? Hätte Rokaduinn ihn nicht tatsächlich von Kopf bis Fuß in kostbare Gewänder hüllen, ihn mit Edelsteinen übergießen, ihm reiche Ländereien gewähren können, wie es ihm zugesagt wurde? Waren es wirklich nur die übertriebenen Versprechungen eines Dahinsiechenden, der beteuert, alles für die bitter benötigte Medizin und seine Genesung geben zu wollen, wenn er nur jemals wieder vom Lager hochkam? Weder Heldrik – noch sonst jemand im Lager – konnte es tatsächlich wissen.

    Eben das wurde der gigantischen Stadt letztlich wohl zum Verhängnis: die Uneindeutigkeit der Lage gepaart mit der verbreitete Kunde ihres unsagbaren Reichtums. Unerheblich ob es die goldgefüllten Palastkammern und die perlenbesetzen Gewänder nun tatsächlich gab oder nicht, allein die bloße Möglichkeit ihres Vorhandenseins war wirkungsvoller als jede Belagerungswaffe. Sie vereitelte eine gelingende Verteidigung ebenso, wie eine halbwegs kontrollierte Eroberung, denn nur wenige Minuten nach dem Moment der Erstürmung – als klar wurde, der Durchbruch würde sich vergrößern und die Stadt war nicht völlig zu halten – begannen die Armeen der Angreifer und Verteidiger schon zu zerfallen. Wie auf ein vereinbartes Signal hin lösten sich Banner und Formationen auf, zersprengten sich in einzelne Gruppen, die innerhalb der Stadtmauern rasch auf eigene Faust zu marodieren begannen, vorangetrieben und beseelt von nur einem einzigen, brennenden Wunsch: dem nach reicher Beute. Die Truppen verließen ihre Posten und lösten sich in einer Orgie der Gier auf, der Gier nach Reichtum, Gier nach Fleisch, Gier nach Gewalt, gleichgültig, ob sie die Mauern zuvor verteidigt oder erstürmt hatten. Fast alles Söldner vom selben Schlag, die zu einer einzigen, raubenden Meute wurden, die durch die Straßen zog. Im Vorüberreiten sah Heldrik aus den Augenwinkeln, dass nun auch das Haupttor im Begriff war zu fallen, auf dem weitläufigen Platz wogte bereits ein chaotisches Getümmel, in dem keinerlei Frontlinien mehr erkennbar waren. Ringsum regneten Pfeile aus den Fenstern der Stadthäuser, von der Burgmauer herab feuerten Bogenschützen wahllos in die Menge.



    II.a. Eigentliche Schlacht und Plünderung

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    Die wenigen Stunden dieses scheidenden Tages – und vor allem der darauffolgenden Nacht – hatten Heldrik mit der Schärfe eines Brennglases gezeigt, dass alle Götter, zu denen sie demütig um Beistand flehten, schwach und machtlos sein mussten. Vielleicht waren sie wahrlich nicht mehr als Geschichten, um Kinder und Alte zu ängstigen, oder Erfindungen, um die Armen zu knechten. Falls sie wirklich verborgen in den Nebeln auf den Bergspitzen hausten, waren ihre Ohren taub und ihre Herzen hart. Wahrscheinlich lachten sie über das Elend der Menschen. Denn der einzige Gott, der leibhaftig auf dieser Erde wandelte und dem sie alle völlig Untertan waren, hieß: das Gold. Ihm dienten ihre Schwerter, für ihn gaben sie bereitwillig ihr Leben oder nahmen ein anderes. Es war kein wohlwollender Gott. Unablässig dürstete es ihn nach Blut und Verderben, sein Verlangen war unstillbar, sein Hunger wuchs mit jedem Hieb, Gnade war ihm fremd.

    Heldriks Trupp schlug sich zuerst auf den breiten, sacht ansteigenden Hauptstraßen voran, in verbissene Häuserkämpfe mit versprengten Resten der Verteidigungsarmee verwickelt, aber auch im Handgemenge mit anderen Angreifern, die ihnen das Plündergut streitig machen wollten, oder Einwohnern der Stadt, die ihre Häuser und das letzte bisschen ihres Besitzes zu schützen suchten. Es gab keine Angreifer und Verteidiger mehr, es gab nur mehr Gegner: Hindernisse, die auf dem Weg zum größtmöglichen Gewinn ausgeräumt werden mussten.

    Die beschlagenen Pferde von Heldriks Männern fanden auf dem glatten Straßenpflaster kaum Halt, die Tiere gerieten ins Rutschen und Funken stoben unter den metallenen Hufeisen hervor. Trotzdem ritten sie in scharfem Galopp einen steingepflasterten Weg hoch, von dem sie meinten, er müsste direkt zu den Tempelhallen und ihren Kostbarkeiten führen. Fliehende hetzten quer über die Straßen, wer sich nicht rechtzeitig zur Seite in eine Gasse oder einen offenstehenden Hauseingang warf, wurde Opfer der Hufe. Immer wieder blickte Heldrik prüfend nach oben, umschiffte Türme und Wehrgänge, damit er sie nicht in einen tödlichen Pfeilhagel oder ein Gewitter aus Speeren und Steinen führte.

    Auf dem Tempelhügel hatte sich eine wohl letzte Widerstandslinie der Reserve formiert, eine diszipliniert agierende Garde schlug zwei ihrer wütend vorgetragenen Angriffe mit langen Spießen zurück. Heldrik brüllte vor Zorn, ließ aber von dem aussichtslosen Scharmützel ab. Einen großen Verlust an Kriegern, Pferden und vor allem Zeit konnte er sich keinesfalls leisten. Es musste schnell gehen, wenn er Erfolg haben wollte, sie mussten ihr Werk schon vollendet haben, bevor der Hauptteil der Armee die oberen Viertel der Stadt überhaupt erreichte. Darum trieb er seine Männer die Innenseite der Hauptmauer entlang, in ein Stadtviertel, in dem prunkvolle, oftmals sogar zwei Stockwerke hohe Wohnhäuser und Werkstätten standen. In heißer Erwartung brachen sie die Türen auf, erschlugen, plünderten, vergewaltigten, schonten niemanden. Heldrik hetzte seine Mannen von Haus zu Haus und hieb wie im Rausch vom Sattel herab auf jeden ein, der in seine Reichweite gelangte. Er keuchte und von seinem Schwertarm troff das Blut.

    Die Nacht geriet zu einem einzigen Inferno, bald taghell vom Wüten einer gewaltigen Feuersbrunst erleuchtet. Die Flammen schossen meterhoch aus brennenden Dachstühlen in den Himmel auf, große Teile der Befestigungsanlagen standen alsbald im Vollbrand. Rhokaduinn zerfiel förmlich, löste sich wie ein glosender, zerfallender Leichnam auf. Die Hitze auf den Straßen war mörderisch, der fast schwarze Qualm zog als beißende Schwaden durch die Gassen. Flach wirkende, körperlose Schatten liefen hektisch umher, scharf vom Gegenlicht der Feuerwände abgezeichnet, Metall blitzte zwischen ihnen auf, die Umrisse stürzten, blieben liegen, bis sie Trümmer einstürzender Gebäude begruben.

    Die Dunkelheit verwischte alle Unterschiede und ließ die letzten Schranken fallen. Immer öfter wurde Heldriks Einheit selbst das Ziel von Angriffen. Vielleicht erregten die erst halb gefüllten Satteltaschen, die bei jeder Bewegung hell und verlockend klimperten, trotz des ohrenbetäubenden Lärms zu viel Aufmerksamkeit? Heldrik befahl, zusätzlich Stroh zur Dämpfung in die Taschen zu stopfen, alles was zu sperrig und zu schwer war, musste ohnehin zurückbleiben. Trotzdem büßten sie wieder große Teile ihrer gemachten Beute im Kampf ein, allein bei einem blutigen Scharmützel um eine Münzstätte verloren sie binnen kürzester Zeit sieben Mann und ein Dutzend Pferde, ohne den Platz letztlich behaupten zu können. Ein weiterer Fehlschlag.



    II.b. Visionärer Moment

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    Nach Stunden des Brandschatzens wurde Heldrik allmählich klar, dass sie sich verrannt hatten und kaum etwas gewonnen, aber viel verloren hatten. Die Stadt musste schon vor ihrer Ankunft weitgehend ausgeblutet gewesen sein. Als er schnaufend an einer Steinmauer lehnte, mit der Rechten sein scheuendes Pferd am Zaumzeug hielt und mit der Linken den Schild erhob, da einmal mehr von der gegenüberliegenden Seite eines kleinen Platzes Pfeilsalven in ihre Richtung abgeschossen wurden, überfiel ihn ein Moment fast visionärer Klarheit: Der Krieg mochte ihn, Heldrik, vielleicht an seinem Busen nähren – aber er ließ ihn nicht lange genug trinken, um fett und satt werden; er spuckte Gold, Silber und Geschmeide für ihn aus, nur um sie ihm kurz darauf wieder aus den Fingern zu reißen: Handgeld für die Anwerbung neuer Männer, Sold für die bestehende Truppe, Geld für Informationen, Quartier, Verpflegung, Unmengen an Wein, Vergnügungen… Er durfte vom süßen Reichtum bloß kosten, um ihn nach einem flüchtigen Moment wieder abtreten zu müssen. Der Krieg nährte den Krieg – nicht ihn als Krieger.

    Heldrik schloss für einen Moment die Augen, durch die Lider zuckten die Reflexe des Feuers, er spürte dumpfe Einschläge auf der Fläche seines Schildes, hörte das Splittern des Holzes, das Reißen des Leinens, als die Pfeilspitzen eindrangen. Eilig zogen sie sich hinter eine Häuserkante zurück. Mit einem Male kam er sich endlos deplatziert vor. Sein ganzes Dasein gemahnte ihn an die Legende des gelehrten Wanderers, der einen Wüstenmarsch vor sich hat und dafür so viel an Wasser benötigt, dass er schließlich ein Maultier braucht, um es tragen zu können. Allerdings muss auch das Maultier trinken, somit ist mehr Wasser vonnöten und ein weiteres Maultier, um das Gewicht der zusätzlichen Wasserschläuche durch den Sand schleppen zu können. Desto mehr Maultiere, desto mehr Wasser. Desto mehr Wasser, desto mehr Maultiere. Er kannte das Ende der Geschichte nicht, womöglich hatte sie gar keines, aber in diesem Moment schien ihm nur ein einziger Schluss denkbar: Der Wanderer würde verdursten, kläglich im Sande zugrunde gehen, umgeben von saufenden und schmatzenden Maultieren. Heldrik war sich mit einem Mal sicher, dass es auch für ihn schlussendlich nichts zu gewinnen gab. Die Früchte des Krieges rannen ihm durch die Finger wie Wasser – aber erkaufen musste er jedes bisschen davon mit warmem, klebrigem, pulsierendem Blut. Seine überreizten Nerven ließen ihn gequält auflachen, die Trockenheit seiner ausgedörrten Kehle verwandelte den Laut in ein hohles, klägliches Krächzen.

    Der anfängliche Vorteil der Schnelligkeit und Beweglichkeit zu Pferde, auf dem er den Erfolg dieses ganzen Handstreichs aufgebaut hatte, gereichte ihnen längst zum Nachteil. Zu anfällig waren sie in ihren Sätteln für Geschosse, außerdem scheuten die Tiere vor den brennenden Fassaden und dem fettigen Rauch, der sich ihnen in die Augen biss. Handtellergroße Ascheflocken senkten sich herab, schwebten zu Boden wie segelnde Krähen, unablässig regnete es scharfkantige Steinsplitter, die Hitze der Brände zersprengte allmählich die Mauern, Geschosse schwirrten durch die Luft. Ein tödlicher Glutofen.
    „Zu Pferd in eine belagerte Stadt einreiten – das ist der blanke Wahnsinn“, wagte Wulph noch vor ihrer Attacke zögerlich einzuwenden, während er den Kinnriemen seines Helms fixierte und sie gegenseitig den straffen Sitz der Bänder und Schnallen an ihren Rüstungen ein letztes Mal überprüften.
    „Ja, vielleicht“, hatte ihm Heldrik ungerührt beigepflichtet, „aber ich schätze den Wahnsinn, Wulph. Denn obwohl er allgegenwärtig ist, rechnet nie jemand mit ihm. Dieser Wahnsinn, Wulph, ist unsere einzige Chance, für die ganze Mühsal doch noch angemessen entlohnt zu werden.“
    Nicht er selbst, sondern Wulph hatte Recht behalten, auch wenn ihm das nichts mehr nützte. Er lag begraben unter seinem niedergestochenen Pferd irgendwo tot in den Trümmern dieser Stadt. Heldrik fragte sich, ob das nicht auch für ihn das bessere Schicksal gewesen wäre.



    II.c. Höhepunkt

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    Verschwommen durch eine Mauer aus Qualm und Rauch gewahrte er zu seiner Linken plötzlich eine dahinstolpernde Gestalt in einer engen Häuserschlucht, die mit hektischen Bewegungen eine wuchtige Kiste hochstemmte und sie in Sicherheit zu bringen versuchte. Heldrik schnalzte mit der Zunge und bedeutete zwei seiner Gefolgsmänner, dem glücklichen Fang von der anderen Seite her den Weg abzuschneiden.
    Er selbst schwang sich mit einer fließenden Bewegung in den Sattel, gab dem Pferd unbarmherzig die Sporen und preschte hinter dem Flüchtenden in die schmale Gasse. Vom Geräusch der näherkommenden Hufe alarmiert, sah der Mann mit erschrockener Miene über seine Schulter zurück und gewahrte den in vollem Galopp heranstürmenden Heldrik. Von der schieren Panik beflügelt verdoppelte er sofort seine Anstrengungen und begann mit weit ausgereiften Schritten fieberhaft zu rennen. Trotzdem schmolz sein beachtlicher Vorsprung rasch zusammen, insbesondere da er sich beharrlich weigerte, endlich die Last der schweren Truhe fallenzulassen. Heldrik schrie triumphierend auf: Ihr Inhalt musste äußerst kostbar sein, wenn der Flüchtende dafür so offenkundig sein Leben riskierte.
    In der engen Gasse gab es für den Verfolgten keine Gelegenheit seitlich auszuweichen, seine einzige Rettungsmöglichkeit bestand darin, schneller als Heldrik an deren Ende anzukommen, um in scharfem Winkel abzubiegen und sich irgendwo zu verbergen. Vielleicht hätte er es sogar tatsächlich geschafft – nur eine Handvoll Schritte trennte ihn noch von der rettenden Öffnung in der Häuserfront – wären nicht in diesem Moment Heldriks abkommandierte Reiter mit erhobenen Schildern und Schwertern in dem rettenden Durchgang erschienen. Heldrik richtete sich bereits im Sattel etwas auf und klemmte den Schaft seiner Stoßlanze zur besseren Stabilisierung unter die rechte Achsel, während er mit der Spitze auf den Rücken des Fliehenden zielte und gleichzeitig versuchte, das wellenartige Auf und Ab der Reitbewegung auszugleichen. Als der Rhokaduinner erkannte, dass es auch nach vorne für ihn kein Entkommen mehr gab, bremste er abrupt ab, umschlang die Truhe schützend mit beiden Armen und sah sich verzweifelt nach einem neuen Fluchtweg um. Gerade als er herumfuhr, war Heldrik heran – und stieß mit voller Kraft zu. Der wuchtige Lanzenstoß traf den Mann von oben direkt in den Hals, die geschmiedete Spitze fuhr fast ohne spürbaren Widerstand zwischen Schlüsselbein und Kehle in das Gewebe und das Blatt durchstieß den Körper auf mehr als einer Armeslänge. Heldrik ließ sogleich den lederumwickelten Schaft los, andernfalls hätte ihm der Schwung seiner eigenen Reitbewegung die Waffe aus der Hand gerissen oder ihn schlimmstenfalls aus dem Sattel gehoben. Wie vom Blitz geschlagen brach der Getroffene in die Knie und schlug vornüber, seine Truhe polterte zu Boden und schlitterte einige Meter über das glattpolierte Straßenpflaster.

    Heldrik brachte zufrieden sein Ross zum Stehen, sprang aus dem Sattel, zog mit einem kräftigen Ruck seinen Speer aus dem leblos werdenden Körper und sprengte mit zwei wuchtigen Schlägen des Schildrands das Schloss auf der Vorderseite der messingbeschlagene Kiste auf. Erwartungsvoll riss der den Deckel aufzureißen – nur um sekundenlang völlig verständnislos ins Innere des Behältnisses zu starren. Er hatte Gold, Pokale aus Silber, Schmuck, vielleicht Münzen oder zumindest kostbares Werkzeug oder gefärbtes Tuch erwartet. Irgendetwas, das es wert war, sein Leben dafür zu geben. Aber alles was ihm aus der Truhe entgegenblickte, war das verweinte Gesicht eines kleinen Mädchens mit angstgeweiteten Augen. Sonst war die Kiste völlig leer. Beschämt presste Heldrik seine Lippen zu zwei schmalen Strichen zusammen und senkte die Waffe. Das Kind war vielleicht drei oder Jahre alt, von zierlichem Wuchs und sein verständnisloses Antlitz von braunen, vollen Locken gerahmt. Aus einer Schramme auf seiner weißen, zarten Stirn lief ein kleines Rinnsal aus hellem Blut und mischte sich mit den Tränen zu einem blassen Rot. Mit einem Male schien Heldrik das Getöse der Schlacht unendlich fern, das Brüllen der Welt ringsum nahezu am Verstummen. Eine Hand hinter seiner schweißnassen Stirn begann das Bild der trümmerübersäten Häusergassen und des rotglühenden Firmaments über den Dächern zu drehen, versetzte es in einen Wirbel, der schneller und schneller zu werden drohte. Nur mit Mühe fing sich Heldrik wieder, indem er sich schwer auf seinen Speer stützte und seinen schnellgehenden Atem in eine kontrollierte Regelmäßigkeit zurückzwang.
    Sein Blick fiel auf den leblosen Körper des Erschlagenen: War es seine Tochter, die er so in Sicherheit hatte bringen wollen, vom Holz der Kiste vor den umherfliegenden Geschossen und Splitter geschützt? Oder hatte er inmitten des Tumults ein fremdes Kind geraubt und es darum in der Truhe verborgen? Womöglich war er ein Diener einer adeligen…- In diesem Moment spürte Heldrik eine Berührung an seinem Knie, die ihn reflexartig zurückzucken ließ. Irritiert sah er nach unten: Das Mädchen hielt die Hand nach ihm ausgestreckt, hatte sein Gewand zu fassen bekommen und blickte zu ihm. Ihre Augen schimmerten. Da sagte es etwas zu ihm, etwas wie Qua? oder Gua?, ein ganz leiser, fragender Laut, fast von den Tränen erstickt und in einer Sprache, die Heldrik völlig fremd war. Und doch verstand er den Inhalt ihrer Frage nur allzu genau. Schweigend starrte sie an und überlegte für eine Weile, bis er spürte, dass seine zwei Männer mittlerweile hinter ihn getreten waren und offenbar seinen Befehl erwarteten. Natürlich, sie konnten hier nicht blieben. Einer hob fragend seine Klinge und deutete mit der Spitze auf das Kind. Heldrik zuckte unentschlossen die Achseln, schüttelte aber nach einem kurzen Zögern entschlossen den Kopf. Mit einem lange währenden Blick auf das weinende Mädchen ließ er sich schließlich selbst auf die Knie sinken und drückte den Deckel der Truhe wieder zu, sacht und sorgsam, als bette er behutsam sein eigenes Kind auf einem Lager zur Ruhe.

    Dann endlich gab er das Kommando zum Rückzug. Es war genug.


    II.d. Überfall und Flucht

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    Seine Truppe war auf eine halbe Hundertschaft an Getreuen zusammengeschmolzen, der Rest war gefallen, versprengt oder drang auf eigene Faust tiefer in die Ruinen der Stadt vor. Sie würden nicht fiel ernten, außer ihren eigenen Tod, dachte Heldrik bitter.
    Kurz vor Morgengrauen entkam er mit dem kläglichen Rest seiner Männer durch eine Lücke in der südlichen Festungsmauer, nahe einem brennenden Stallgebäude, aus dem das gequälte, panische Brüllen des Viehs kam. Mit den erschöpften, verängstigten Pferden setzten sie umständlich über die Reste eines verkohlten Holzgerüstes hinweg und ritten im toten Winkel unter der Festungsmauer entlang.

    In einem letzten, verzweifelten Manöver wagte Heldrik noch den Versuch, den Tross des vormals eigenen Heeres zu überfallen und die Soldgelder im Handstreich zu rauben, um allen Verlust wettzumachen.
    Offenbar war die Disziplin ihres Heeres bereits völlig zusammengebrochen, denn es gab kaum Widerstand, als sie in das verwaist scheinende Lager eindrangen. Aber jemand war ihnen wohl zuvorgekommen. Die Kriegskasse war bereits fort. Die Schatzkisten lagen mit zerschlagenen Schlössern und gesprengten Eisenbändern verstreut umher, geleert bis auf den letzten Rest. Dort und da fand sich eine vereinzelte Münze im Staub, blinkte im Licht der Fackeln wie ein höhnischer Gruß. Zu spät.

    Wieder hagelte es Pfeile von irgendwoher, eine Falle? Heldrik riss einmal mehr seinen Schild hoch, Geschosse zischten an ihm vorbei, die Salve bohrte sich hinter ihm in das Erdreich, jemand schrie gequält auf, zwei Pferde rissen sich los und rannten alles nieder, was ihnen auf der Flucht im Wege stand, ehe sie als hetzende Schatten in die Nacht verschwanden.

    Die fast vollständige Dunkelheit in dem Lager verstärkte sich durch den übermächtigen, rotlodernden Schein der brennenden Stadt in ihrem Rücken. Um kein Ziel zu bieten, hatte Heldrik befohlen, all ihre Fackeln sofort zu löschen. So war es allerdings fast unmöglich, die Lage richtig einzuschätzen. Heldrik starrte mit gehetzten Augen in die mondlose Nacht hinaus, sein Herz schlug als würde es zerspringen, in seinem Mund sammelte sich bitterer Speichel. Er hatte das Gefühl zu kochen, gleichzeitig breitete sich aber eine schneidende, stechende Kälte in seiner Brust aus und legte sich schließlich wie ein eiserner Ring um ihn. Das panische Gefühl, nicht mehr atmen zu können erfasste ihn und soeben wollte er sich den Helm vom Kopf reißen, als sich Schritte im Marschtakt hinter einer Reihe an Zeltwänden näherten, begleitet vom metallischen Rasseln Gerüsteter und dem Klirren von Waffen. Heldrik scheuchte seine Männer so rasch wie möglich in eine provisorische Schlachtlinie aus erhobenen Schilden, Klingen und Speeren. Eine Gruppe überraschter Plänkler lief ihnen in die Arme, sie machten ein Dutzend von ihnen im Nahkampf nieder, der Rest floh nach einigen Augenblicken erfolglosen Kampfes kreischend in die Nach hinaus. Während sie noch die Taschen der Sterbenden durchwühlten, ertönte im Hintergrund schon der dumpfe Klang von Hörnern, Kommandos in einer fremden Sprache von zwei Seiten, womöglich schloss sich eine tödliche Zange um sie. Sie mussten weg, schoss es Heldrik panisch durch den Kopf, sonst würde dieser Kessel ihrer aller Grab. Mit aller Macht kämpfte er gegen den roten Schleier vor seinen Augen an, der ihn tiefer in diesen Sturm führen wollte, ihn lockte, gänzlich in diesen Rausch aus Blut und Tod zu verfallen, zu versinken in einem letzten, kolossalen Rasen. Unterzugehen wie in einem Meer aus Hieben, Lärm und Schmerz. Die völlige Auflösung. Ein Ende. Seines? Der Krieg breitete seine Arme für ihn aus, lud ihn zu dieser letzten Umarmung.

    Heldrik musste seine letzten Kräfte aufbieten, um wieder Herr seiner Sinne zu werden. Er zwang sich zur Ruhe, sog die kalte, prickelnde Nachtluft tief in die Lungen, strich sich mit der behandschuhten Rechten über die Augen und kniff die Lider fest zusammen, um so allmählich die roten, tanzenden Punkte aus seiner Sicht zu vertreiben. Es half. Wie erwachend blickte er sich um. Als er den Zustand seiner verbleibenden Männer realisierte, erschrak er regelrecht: Viele standen am Rande der völligen Erschöpfung oder waren schon über diese gefährliche Grenze hinaus. Nur eine explosive Mischung aus rasender Wut und maßloser Enttäuschung hielt sie noch auf den Beinen. Die meisten waren verwundet, hatten Hiebe oder Pfeilwunden einstecken müssen und Teile ihrer Ausrüstung eingebüßt. Ein Dutzend lief gehetzt von Zelt zu Zelt, schlitzte die Leinenbahnen mit langen Messern auf, um so im Inneren des verlassenen Lagers noch irgendetwas zu finden, was des Raubes wert war. In das reißende Geräusch mischte sich vereinzelt Kampflärm. Heldrik wandte sich mit Schauder ab, als er gewahrte, dass einer seiner Krieger wie in Trance immer wieder auf eine fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche am Boden einhieb. Auch wenn er in den vergangenen Stunden weitaus Schlimmeres gesehen hatte, war es dieser Anblick, der ihn die kommenden Nächte verfolgen würde und für ihn zum Inbegriff der Schlacht um Rokaduinn wurde: die völlig sinnlose Rache an einem Toten, der sich nichts anders zuschulden hatte kommen lassen, als nichts zu besitzen, was man ihm noch nehmen konnte.

    Wieder erklang der dumpfe Ton eines Horns, näher diesmal, druckvoller, mächtiger. Er spürte, dass irgendwo Truppen in Marsch gesetzt wurden und sich näherten. Heldrik wusste später nicht mehr wie: Aber unter Aufbietung all seiner Autorität und Befehlsgewalt hatte er die meisten Männer dazu gebracht, von ihrem Tun abzulassen, wieder ihre Pferde zu besteigen und sich mit ihm zur Flucht zu wenden, hinaus aus diesem Sturm, der nichts von ihnen übriglassen würde und sie allmählich aufrieb, wie eine Mühle das Korn. Nicht alle waren ihm gefolgt.


    III Raus aus der Hölle und Outro

    Spoiler anzeigen

    Mit letzten Kräften entkamen sie schließlich westlich, das brennende Rokaduinn im Rücken, den betäubenden Lärm der noch immer tobenden Schlacht, die Schreie, das Rauschen des gewaltigen Brandes, gesäumt vom Bersten der Mauern. Ein wankender Titan, der alles unter sich begraben würde, wenn er im Todeskampf der Länge nach umschlug.
    Sie jagten durch freien, fremden Raum, der ihnen nach dem Fall Rokaduinns nun offenstand, wie durch ein geöffnetes Tor. Heldrik achtete allerdings kaum auf die sich verändernde Landschaft, die immer mehr von der steinigen Dürre der Steppe verlor und langsam in sacht gezogene, grasbewachsene Hügelkämme überging. Fast bewusstlos hing er tief gebeugt über dem schweißnassen Hals seines Pferdes. Irgendwann musste er seinen Schild einfach fallengelassen haben. Seine linke Schulter schmerzte höllisch, er schob die Hand unter den zersprengten Kettenpanzer und zog sie mit einem scharfen Einsaugen der Luft wieder hervor. Blut schimmerte auf seinem Handschuh, glänzte im Mondlicht wie schwarzes Öl.

    Schlussendlich konnten die Pferde einfach nicht mehr weiter, nur mehr äußerst widerwillig setzten sie sich erneut in Bewegung, nachdem sie auf einer Hügelkuppe Halt gemacht hatten, um Ausschau ins Umland zu halten. Zwar war es ihnen vor ein paar Stunden gelungen, die Tiere in einem Innenhof von Rokaduinn bei einem gemauerten Steinbrunnen notdürftig zu tränken, aber das Zittern ihrer Flanken und die Schaumflocken vor den Nüstern waren für Heldrik das deutliche Signal, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie verenden mussten. Ihre Tritte wurden schon fahrig und unrund, eines der Pferde glitt – schon kurz nachdem er den Befehl gegeben hatte, weiterzureiten – auf dem schlüpfrigen Untergrund einer taufeuchten Wiese aus und kam zu Sturz. Wie durch ein Wunder blieb der abgeworfene Reiter unverletzt und konnte noch weiter. Ein kleines bisschen Glück inmitten dieses kolossalen Fehlschlags, dachte Heldrik bitter.

    Sie fanden notdürftig Zuflucht in einen langgezogenen Hain aus Birken und dicht gewachsenem Gestrüpp, stürzten zu einem trüben, sumpfigen Weiler hin, um auf Knien ihren quälenden Durst zu stillen. Im Osten spiegelte das Firmament den Schein des brennenden Rokaduinns wider, der sich langsam in der Ferne mit dem Licht der aufgehenden Sonne vermischte. Die blutige Geburt eines neuen Tages, einer neuen Zeit.
    Heldrik selbst fiel regelrecht aus dem Sattel, übergab sich quälend und verlor fast das Bewusstsein. Minutenlang lag er keuchend auf dem Bauch, das Gesicht fest auf das stoppelige Gras des Untergrunds gepresst, lauschte er in das Pochen seines überhitzten Körpers hinein. Erst dann war er allmählich fähig, wieder einen ersten, halbwegs klaren Gedanken zu fassen: Das Wenige an Beute würde nicht lange reichen, um die Männer zu besänftigen. Er musste Gold beschaffen – und zwar schnell.

    Der Wanderer Gratuliere zum Rate-Ergebnis.

    Nummer drei kenne ich nur als Fernsehfilm...

    Solltest du mal das Buch irgendwo liegen sehen: gönn es dir. Ich habe es als Erwachsener ein zweites Mal gelesen und gestaunt, wie gut das tatsächlich ist. Nicht nur unter der Perspektive Kinderbuch, sondern generell ist das ein wirklich wunderbares Stück Literatur. Schon allein der Untertitel "Wolfgang Hogelmann erzählt die Wahrheit, ohne auf die Deutschlehrergliederung zu verzichten" ist nen Lacher wert. Ganz klare Empfehlung :thumbup:

    Hier sind sehr seltsame Schwingungen am Werke... ^^ ^^

    Das passt doch perfekt zur Fantasy, muss also am Thema liegen :D:D:D

    Neu herausgegeben und mit Anmerkungen versehen

    von

    J. Schreyvogel,


    Ich dachte eher, ob es da eine zweite, "konkurrierende" Erzählinstanz aus sozusagen neuzeitlicher Perspektiv gibt (wegen Schreyvogl als Aufklärer gegen das mittelalterlich Mythische). Zumindest hat der Titel in mir diese Erwartungshaltung geweckt. Falls nicht, auch nicht schlimm, war nur eine Frage :)

    Grundsätzlich find ich das köstlich: Der volksbuchartig, derbe Charakter zusammen mit der adeligen Figur ist gut getroffen. Das Spiel mit den Anmerkungen könnte man in weiterer Folge vielleicht noch ein wenig vertiefen :) Wie planst du das? Weiter im Episodischen oder gibts ein Hauptstück?

    Sind insgesamt 6 Individueen, und da sie auch ein etwas transzendentes Ziel verfolgen, sollte der Name eben auch so etwas metaphorischer sein

    Die Zahl wäre doch auch ein Aufhänger? A la "Die Sechs vom reinen Blut"


    Offtopic: Ich erinnere mich noch, als wir mal für ein Team von 5 Personen einen Namen gesucht haben und schließlich "Das vollbeknackte halbe Dutzend" draus wurde...

    Stadtnymphe Pipi war super :D

    Miri

    Ein großes Schwein erklärt einem kleinen Schwein die Welt.

    Gutes kann manchmal so einfach sein!

    Mich treibts momentan beruflich ziemlich um, komme kaum zum Lesen - geschweige denn zum Schreiben. Die sind mir aber zwischendurch für euch eingefallen ;)!

    Orientierungsloses Geschwisterpärchen beschädigt trotz Diabetesgefahr dental die Immobilie einer einsamen Zauberwerkerin und veranstaltet schlussendlich mit ihr ein Grillfest.

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    Hänsel und Gretel


    In völliger Unkenntnis physikalischer Gesetzmäßigkeiten reitet dieser Herr auf ballistischen Projektilen über die Köpfe der Leserschaft hinweg.

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    Baron von Münchhausens wahre Geschichten


    Sprechende Feldfrucht im Exil legt Familienkonflikt frei und verliert Adelstitel.

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    Christine Nöstlinger - Wir pfeifen auf den Gurkenkönig


    Kleinwüchsiger Perkussionist macht die Gürtellinie zur Augenhöhe und endet anfänglich im Irrenhaus.

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    Günter Grass - Die Blechtrommel


    Der Wanderer Na dann probier ichs mal :D

    "Die sandlose Sanduhr"

    Ein einzigartiger, unglaublich gefährlicher Artefakt, nach dem niemand sucht. Denn wer ihn findet, hat ein gigantisches Problem: Er kann ihn herumdrehen so oft er will - es geschieht nichts, weil keine Zeit vergeht. Und das wäre dann ja wohl das Ende jeder Queste.

    Effekt: Time stands still - Forever!

    Neben dem Versuch, Luft zu vakuumieren, gilt die sandlose Sanduhr als eines der zwei großen, fehlgeschlagenen Experimente des verrückten Alchemisten Horan Parta dem Schrulligen, dessen Nachlass – Gott sei Dank! – als verschollen gilt. Dennoch ist die Legende von der sandlosen Sanduhr, mit ihrer Funktion die Zeit anzuhalten, im Volksglauben fix verankert und Ursprung zahlreicher populärer Redewendungen, darunter das bekannte: „Wer hat an der Uhr gedreht?“, das landläufig gebraucht wird, wenn während besonders langweiliger Ereignisse – wie Schreibtischarbeit, Schwiegermutter-Kaffee oder Papstwahlen – die Zeit scheinbar völlig stillsteht. Wissenschaftlich besehen ist die Sanduhr allerdings gar nicht fähig, die Zeit anzuhalten, sondern lediglich, sie am weiteren Vergehen zu hindern.

    Führende Köpfe empfehlen, die sandlose Sanduhr bei unerwartetem Auffinden ausschließlich mit Zeitschutz-Handschuhen (der Schutzklasse IV oder höher) oder einer eigenen Zeitschutz-Zange anzufassen. Denn jeder, der dieses Artefakt jemals in die nackten Finger bekommt, wird sich unweigerliche die Frage gefallen lassen müssen:

    „Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir in einer Schleife gefangen? Sind wir …“

    Und das für immer.


    Temporäre Extradaumen. Magischer Spruch, der dem Träger pro vorhandener Hand einen extra Daumen sprießen lässt. Färbt sich nach rund drei Stunden dunkelblau und fällt ab, wie ein welkes Blatt. Wird gemeinhin verwendet, um der „Daumen-hoch“-Geste das gewisse Extra an Nachdruck verleihen zu können. Besonders unter Studenten beliebt. Zeitweilig kommt es zu Komplikationen.

    Bonus: + 3 in Charisma durch gewonnene Ausdrucksstärke. Malus: -11 auf Klavierspiel, Vorabdisqualifikation in sämtlichen Turnieren der Daumenwrestling-Liga.

    Ich habe kein Germanistik studiert und bin kein großer Autor.

    Sensenbach Die Kombi kommt ohnehin seltener vor, als man denkt :)
    Wenn es jetzt rein um Fingerübungen und die Entwicklung schreibtechnischer Fertigkeiten geht, ist das natürlich alles anders zu bewerten. Da hilft zum Beispiel sowas: https://www.amazon.de/Die-Suppe-Herr…r/dp/3896673130 Also zu versuchen, als Übung die Schreibart eines anderen Autors augengleich zu imitieren - bei gleichzeitig völliger Inhaltsleere. Kann man ja auch mit seinen Fantasy-Lieblingsautoren durchexerzieren, wenn man möchte :) Acht Mal Kutschenunfall (einmal süß-sauer, einmal niedlich, einmal....).

    Meiner Erfahrung nach ist das aber ohnehin nicht voneinander zu trennen. Technische und erzählerische Fähigkeiten entwickeln sich Hand in Hand, weil sie einander eigentlich bedingen. Anders gesagt: Gutes Schreiben beginnt da, wo man nicht nur weiß, was man sagen möchte, sondern auch wie. Im Prinzip kann man sich Schreiben nur im Schreiben beibringen - und man sieht ja dann selbst, wo man die vorgezeichneten Pfade verlassen und wo man ihnen folgen möchte :) Ich glaub es ist learning by doing. Und so wie du sagt: Gelungene Erstversuche sind rar. Dafür braucht man schon eine Gabe. Ich habe sie nicht.

    "Die sandlose Sanduhr"

    Ein einzigartiger, unglaublich gefährlicher Artefakt, nach dem niemand sucht. Denn wer ihn findet, hat ein gigantisches Problem: Er kann ihn herumdrehen so oft er will - es geschieht nichts, weil keine Zeit vergeht. Und das wäre dann ja wohl das Ende jeder Queste.

    Effekt: Time stands still - Forever!

    Der Wanderer Die find ich genial. Bin gespannt, was Miri draus macht!

    Erinnert mich übrigens lose an Gianni Rodaris Grammatik der Phantasie - mit dem Bleistiftabspitzer und dergleichen :D

    Ganz klares JEIN.


    Das unterstütze ich vollinhaltlich und mit Nachdruck, weil es auch genau meine Antwort ist :D

    Aber mal so: Ich glaube, dass man zwar schon, aber nie zu stark auf die gemutmaßte Erwartungshaltung eines impliziten Lesers (also etwas verkürzt gesagt, die LeserInnen, die man als Zielgruppe im Kopf hat) hinschreiben sollte.
    Meistens will das Publikum ohnehin nicht das, von dem wir glauben, dass es das will ;) Sonst wären Bucherfolge ja relativ leicht kalkulierbar.

    Die Sache hat für mich zwei Seiten:
    Einerseits: Wenn man jetzt zu stark etablierten Leitlinien (auch sprachlich) folgt, dann neigt man natürlich dazu, Genre-Traditionen eher zu vertiefen - und ich persönlich mag ein gerüttelt Maß an Innovation: sei es in puncto Sprache, Form oder Inhalt. Du musst variieren, damit etwas Lesenswertes rauskommt, der Mix aus Bekanntem und Unbekannten machts, Altes in neuem, Neues in altem Gewand. Wir alle kennen das sehr gefährliche "Anderswo schon besser gelesen"-Gefühl, das meistens das Todesurteil für einen Text ist.

    Andererseits finde ich es wichtig, dass der Text für die LeserInnen verort- und einordenbar ist. Du gehst mit Neuerungen leichter um, wenn du weißt, in welchen Kontext sie gehören. Dann nur dann sind sie als solche erkenn- und bewertbar. Nur Neues ohne bekannten Hintergrund verprellt eher und schreckt ab, da fehlt der Kontrast.

    Für mich ist die Kunst, dass Neuerungen nicht als willkürliche Entscheidung einer Autorin oder eines Autors rüberkommen, sondern sie müssen sich aus einer Notwendigkeit des Text ergeben. Du willst science-Fantasy schreiben? Warum nicht, aber hör auf mir als Autorenstimme eine Fantasy-Welt mit wissenschaftlichen Parametern auszuleuchten, sondern wirf lieber eine Gelehrten-Figur ins Getümmel, die schlicht und ergreifend kein anderes Deutungsmuster für die Realität als eben die Wissenschaft hat, weil sie die letzten dreißig Jahre in der Fachbuch-Abteilung einer Bibliothek eingeschlossen war oder dergleichen. Dann schluck ich das, dann find ichs gut - weil ich verstehe, warum die Wortwahl und Stilistik so ist, wie sie ist.