Ich könnte wetten, dass es Scott ist, der da jetzt stört
Dingdingdin! Einhundert Punkte für Lady 
An
der Seitenlinie warteten, gemeinsam mit Moira, Abigails Brüder und
winkten die Wölfin hektisch heran. Keiner der drei schien den
Beinahe-Kuss als solchen wahrgenommen zu haben. Vor allem Scott hatte
das ganz offensichtlich nicht getan. Koljas Freund zupfte auffordernd
am Kragen seines Trainingsoutfits herum und rief quer über den
halben Platz: „Wird das heute nochmal was?“
Unzufrieden
legte Abigail die Stirn in Falten, eilte letztlich aber trotzdem zu
Scott und Colin herüber. Kolja folgte ihr nicht sofort. Zuallererst
musste er das Chaos an Gedanken, Emotionen und Hormonen entwirren,
dass ihm, wie ein nasses Knäuel Haare den Duschabfluss der WG, die
Gehirnwindungen verstopfte. Abigail wollte ihn küssen. Wieso? Sie
hatte Monate verstreichen lassen, ohne einen Annäherungsversuch zu
unternehmen. Weshalb also gerade jetzt? Was war passiert, dass sich
Abigail ihm aus heiterem Himmel an den Hals warf? Gab es überhaupt
einen Auslöser oder entsprang ihr Kuss bloß einer spontanen Laune?
Als eine Auswirkung ihres sprunghaften Wesens?
Unweigerlich
kehrten Erinnerungen an die Zeiten zurück, in denen Kolja in
Abigails Alter war. Damals hielt er seine Zauberin für die Frau
seines Lebens, um sie gleich in den ersten Wochen seines
Auslandssemesters praktisch zu vergessen. Wahrscheinlich durchlebte
Abigail gerade dieselbe Illusion von Liebe. Ihre Zuneigung zu Kolja
beschränkte sich auf reine Oberflächlichkeit und geriet ohne die
passenden Anlässe in Vergessenheit. Eine Schwärmerei, mehr steckte
schwerlich dahinter. Das genügt Kolja nicht. Er wollte keine
kurzlebige Affäre sein. Niemals würde er sich mit einer temporären
Romanze zufriedengeben können, unter deren vorhersehbarem Ende seine
Freundschaft zu Scott litt.
Somit
blieb Kolja nur das übrig, was er seit langer Zeit tunlichst
vermieden hatte: Er musste das Thema Gefühle auf den Tisch bringen.
Ihm fehlte jedwede Vorstellung, welches Resultat aus dieser
Konfrontation hervorgehen sollte; irgendetwas musste er jedoch
unternehmen, wollte er rechtzeitig die Kurve kriegen, um nicht direkt
in den massiven Berg aus Missverständnissen zu schlittern, der sich
zwischen ihm und Scott aufzutürmen drohte.
Aber
nicht jetzt. Heute ging es um Scott und das Fußballspiel. Außerdem
hielt Kolja es für klüger, Abigail unter vier Augen zur Rede zu
stellen. Also trottete der Bär zu seinen Freunden herüber und
schnappte beim Näherkommen den Rest des Gesprächs auf.
„Na
endlich“, nörgelte Scott gerade ungeduldig herum. „Ging das
nicht schneller? Wir mussten uns schon von Hayes dumm anmachen
lassen, weil wir immer noch nicht umgezogen sind.“ Die anderen
Spieler flitzten in ihren farbigen Spielertrikots über das
Spielfeld, wohingegen Scott und Colin ihre neutrale Trainingskleidung
trugen und somit zwischen ihren Mannschaftskameraden herausstachen.
„Entschuldigt
bitte, ich war abgelenkt.“ Abigail kramte in ihrer Umhängetasche
herum und förderte schließlich zwei Ballen fein säuberlich
gefaltete Stoffe daraus zu Tage, welche sie den Wolfsrüden
aushändigte. Mann… . Für so was herrschte neben dem ganzen
anderen Krempel in ihrer Tasche noch Raum?
Abigails
Brüder teilten die Bündel unter sich auf und Kolja identifizierte
nunmehr, worum es sich überhaupt dabei handelte: Trikots. Weiße
Schrift auf grünem Textil wiesen die Spielernummern aus, sowie den
Namen des Vereins, für den Scott und Colin antraten. Dass Abigail
die Outfits der beiden wusch und ihnen anziehfertig vor die Nase
schleppte, musste wohl eine weitere Eigenart geschwisterlicher
Fürsorge sein, die für Kolja wohl auf ewig unbegreiflich bleiben
würde.
Colin
fackelte nicht herum. Er entledigte sich an Ort und Stelle des
Oberteils, das er am Leibe trug, und schlüpfte kurzerhand in sein
Trikot hinein. Gerade streifte er das grüne Polyestershirt über
seinen Bauch, als neben ihm unangekündigt der Auslöser einer
Digitalkamera eifrig einen piepsenden Jingle anstimmte. Das sich
mehrfach wiederholende, künstlich klingende Geräusch provozierte
Colin. „Nimm die scheiß Kamera runter, bevor ich mit dem Ding
Dribbeln übe“, knurrte er genervt.
Tatsächlich
senkte Moira ihre Kamera. Pikiert verzog sie den Mund. „Wenn du mir
freiwillig für dein Porträt Modell stehen würdest, müsste ich
dich nicht so überfallen.“
Wie
vorauszusehen, fiel Colins Erwiderung darauf gewohnt unhöflich aus.
„Ich hab' dir gesagt, ich hab' keinen Bock auf diese Foto-Scheiße,
also lass mich in Ruhe. Schon mal was vom Persönlichkeitsrecht
gehört?“
„Auf
das hast du doch verzichtet.“ Verwundert blinzelte Moira ihn an und
als Colin verständnislos zurückblinzelte, wollte die Banshee
wissen: „Hast du dir die Einverständniserklärung denn nicht
durchgelesen, die du abgegeben hast?“
„Was
faselst du da? Was für 'ne Einverständniserklärung?“
Auf
seine Frage hin rief Moira Colin im versöhnlichen Tonfall die
Umstände in Erinnerung. „Ich rede von dem Zettel, den du bekommen
hast. Mister Hayes hat die ganze Mannschaft dafür unterschreiben
lassen, dass ich im Rahmen der Spiele und des Trainings Fotos von
euch machen darf.“
„Du
meinst doch nicht etwa den Wisch, den er uns mit den Worten
hingeknallt hat 'unterschreibt gefälligst die Scheiße, oder ich
schmeiß euch im so hohem Bogen aus der Mannschaft, dass der
behinderte Regenbogen, der zu meinem Goldtopf führt, dagegen wie 'ne
Erektionsstörung aussieht'?“
Da
nickte Moira. „Doch, den meine ich.“
„Das
ist doch Bullshit!“ Gereizt warf Colin die Hände in die Luft.
„Warum sollte ich mir den Mist durchlesen?! Wer hat Zeit für so
was?“
„Tut
mir leid, Colin“, erklärte Moira abschließend. „Mister Hayes
erwartet Fotos und du hast mir das schriftliche Einverständnis
gegeben, diese Fotos zu schießen. Das heißt, dass ich dich
jederzeit und überall fotografieren darf.“ In einem Versuch,
Colins Gemüt zu besänftigen, scherzte die Banshee: „Wenn ich
wollte, dürfte ich dich sogar unter die Dusche verfolgen.“
„Wag
es und die glitschigen Bodenfliesen werden dein geringstes Problem
sein.“ Tja, das durfte man dann wohl als Fehlschlag bezeichnen.
Nach
dieser Drohung nahm Kolja nicht an, dass Moira ihren Disput mit
Abigails Bruder bis zum Schluss austragen wollte. Sowieso wurde Colin
von Scott abgelenkt, wodurch das Gesprächsthema einen anderen Kurs
einschlug. „Lass gut sein“, sagte Scott. „Wir müssen uns
umziehen gehen.“
Nickend
willigte Colin ein. Ehe er Scotts Aufforderung folgte, blickte er
suchend zum Parkplatz.
„Wartest
du auf jemanden?“, fragte Abigail und schaute ihrerseits zu den
abgestellten Autos herüber. Mh. Dort drüben hielt sich niemand auf,
der Kolja bekannt vorkam.
„Er
wartet auf Gwen.“ Scott grinste vielsagend und verpasste Colin
einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen. Dieser schlug den Arm seines
Bruders beiseite.
„Ich
warte nicht auf sie. Ich hab' mich bloß gefragt, ob sie noch vor dem
Anpfiff auftaucht.“
„Ooh!“
Begeistert renkte nun auch Abigail ihren Hals dabei aus, den Sukkubus
unter den Leuten ausfindig zu machen. „Gwen hat angekündigt,
vorbeizukommen?“
„Colin
hat sie eingeladen“, verriet Scott seiner Schwester und das Grinsen
auf seinem Gesicht wurde sogar noch ein Stück breiter. Damit feuerte
er Abigails Neugierde tüchtig an.
„Ist
das wahr?“
„Sie
hat gemeint, sie interessiert sich für Fußball“, rechtfertigte
sich Colin. „Es wäre echt mies von mir gewesen, es nicht zu tun.“
Hm-hm. Natürlich wäre es das. Weil Colin ja schon immer als ein
Paradebeispiel für Höflichkeit und gutes Benehmen galt. So, so.
Demnach stimmte also, was Scott erzählte. Colin entwickelte ein
Interesse an der schönen Gwen. Wer sollte es ihm bei so einer Frau
verdenken? Kolja schmunzelte vor sich hin, unterdessen Scott seinen
kleinen Bruder noch etwas mehr triezte:
„Ist
klar. Und du glotzt sie auch nur an, als wäre sie ein
frischgeräuchertes Schweineohr, weil du nett sein willst.“
„Blödsinn“,
wehrte Colin diese Unterstellung ab. „Warum sollte ich Gwen
anglotzen? Sie ist gar nicht mein Typ. Immer trägt sie diese Kleider
und hohen Schuhe. Ich steh echt nicht auf diese Schickimickischei-…
heilige Scheiße.“ Mitten im Satz klappt Colin der Kiefer herab,
als wolle er sich das stoppelige Kinn von den Grashalmen des
Fußballfeldes kitzeln lassen. Was hatte er denn jetzt entdeckt, dass
es ihm abrupt die Sprache verschlug? Automatisch wandte Kolja sein
Augenmerk in dieselbe Richtung, in die der Rüde gaffte und… .
Sapperlot.
Da war
Gwen.
Und
sie sah… anders aus.
Statt
den gewohnten High Heels und einem engen Kleid, trug Gwen schwarze
Doc Martens, ziemlich ähnlich den Schnürboots, in denen Colins Füße
meistens steckten, eine aus eindeutig modischen Gründen löchrige
schwarze Strumpfhose und darüber dunkle Hot Pants. Ihr Bandshirt der
Foo Fighters hatte Gwen sehr, sehr knapp unterhalb der
Brust zusammengebunden und gewährte somit ungeniert freie Sicht auf
ihren flachen Bauch. Immerhin blieb sie sich dahingehend treu: Ihre
Kleiderwahl fiel genauso freizügig aus, wie Kolja es von ihr kannte.
Freizügig, figurbetont, nur… nun ja. Eben anders.
Vom
Parkplatz aus schlenderte der Sukkubus den Weg zum Spielfeld entlang
und der Faszination der umstehenden Männer, sowie den Blicken der
Frauen an ihrer Seite nach zu urteilen, würde Gwen heute noch der
Auslöser für viele, viele Ehestreits sein. Einer der Kerle ließ
sich derart von ihrer Aura einnehmen, dass er geistesabwesend
versäumte, wie sein Hund ihm das Eis aus der Hand wegfraß und ein
anderer fuhr ungebremst mit dem Fahrrad gegen die Spielfeldbarrieren,
woraufhin er im spektakulären Bogen einen Vorwärtssalto mit
Bruchlandung auf dem Rasen vollführte. Tja. Der Anziehungskraft
eines Sukkubus' konnte Mann einfach nichts entgegensetzen. Colin
durfte davon wohl ein Liedchen singen.
Zum
ersten Mal im Laufe ihrer Bekanntschaft erlebte Kolja Gwen mit
zusammengebunden Haaren und durch den seitlich gefassten Zopf trat
ihr Sidecut besonders deutlich hervor. Mit einer grazilen
Handbewegung warf sie die gebündelten Haarsträhnen über ihre
Schulter, als sie schließlich bei ihren neuen Freunden ankam. „Ich
grüße euch.“
„Du
siehst großartig aus, Gwen!“, sprach Abigail sie direkt auf ihr
unübliches Outfit an. Wozu auch Zeit mit Begrüßungsfloskeln
verschwenden? Jedenfalls freute sich Gwen über das Kompliment.
„Danke.
Heute ist mein freier Tag, also muss ich mich zur Abwechslung nicht
für andere verkleiden.“
„Bist
du geschrumpft?“ Verwirrt betrachtete Scott den Sukkubus, weil ihr
Gesicht unterhalb seiner gewohnten Augenhöhe hing.
Sie
klärte ihn auf: „Nein, Schätzchen. Ich trage keine Absätze.“
In der Tat wirkten sich die flachen Sohlen merklicher auf Gwens
Körperhöhe aus, als Kolja vermutet hätte. Ohne High Heels
überragte Gwen die zarte Moira gerade mal um eine Handbreite.
Anschließend
wanderte Gwens Aufmerksamkeit zu Colin. „Hi“, grüßte sie den
staunenden Wolf und setzte für ihn ein besonders anziehendes Lächeln
auf.
Er tat
es ihr gleich. „Hi.“ Hernach verbrachten die zwei einige Sekunden
damit, sich wortlos gegenseitig anzuschmachten. Ohne jeden Zweifel
fand Colin großen Gefallen an Gwens Freizeitgarderobe. Der Mann war
schlichtweg von ihrem Anblick überwältigt.
Nach
einem Moment fand Colin seine Sprache wieder. „Freut mich, dass du
es einrichten konntest.“
„Wie
sollte ich nicht?“, meinte Gwen. „Hätte ich gewusst, dass ihr
regelmäßig spielt, hätte ich schon viel öfter vorbeigeschaut.“
„Colin
hat erzählt, du interessierst dich für Fußball?“ Zwar antwortete
Gwen auf Abigails Frage, ließ ihre Liebäugelei mit Colin allerdings
für keine Millisekunde abreißen.
„Das
kann man so sagen. Ich habe jahrelang selbst regelmäßig auf dem
Platz gestanden.“
„Du
hast in einer Fußballmannschaft gespielt?“ Abigail staunte und
auch Kolja musste zugeben, Gwen gedanklich nie in
Kompressionsstrümpfen und mit Grasflecken auf den Knien gesehen zu
haben. Das hieß… zumindest nicht in Bezug auf Sport.
Colin
teilte die Überraschung seiner Schwester. „Das hast du gar nicht
erzählt“, worauf ihm der Sukkubus einen vielsagenden
Augenaufschlag schenkte.
„Mein
Mund wollte eben andere Dinge tun, als Small Talk zu halten.“
Puh.
Das nannte Kolja zielorientiert. Dann hörte er jemanden unbehaglich
nach Luft schnappen und stellte Blickkontakt zu Moira her. Die
Banshee hatte das Pech, von den beiden Turteltäubchen eingepfercht
zu werden, während diese über ihren hellhaarigen Schopf hinweg
einander angurrten. Wäre es nicht ausgerechnet Moira gewesen, die
zwischen Gwen und Colin stand, hätte Kolja eine gewisse
Symbolträchtigkeit in die Szene hineininterpretiert, aber so tat
seine Mitbewohnerin ihm einfach nur leid. Arme Moira. Sie war der
ökologisch abbaubare Papiertrinkhalm in einem überquellenden
Hormoncocktail.
Entweder
blendete die sprichwörtliche rosarote Brille auf Colins Nase Moira
komplett aus, oder – und das kam Koljas Meinung nach gleichermaßen
in Frage – ihre unangenehme Situation ging ihm grundsätzlich am
Allerwertesten vorbei. Er grinste Gwen breit an und hätte es
vermutlich auch noch für den Rest des Tages getan, doch sie wollte
von ihm wissen: „Auf welcher Position spielst du?“
Auf
einmal schien Colin die Erinnerung an seine Versetzung kein bisschen
mehr die Laune zu verderben. „Ich übernehme die Abwehr. Ab heute
sogar wieder ohne Maulkorb.“
„Wozu
musstest du denn einen Maulkorb tragen?“, wunderte sich Gwen und
bekam die Antwort von Scott geliefert.
„Das
war seine Strafe, weil er mitten im Spiel den Torwart gebissen hat.”
„Du
hast allen Ernstes den gegnerischen Torwart angegriffen?”
„So'n
Quatsch. Ich hab' nicht den gegnerischen Torwart gebissen”, wies
Colin alle Behauptungen umgehend von sich. „sondern unseren
eigenen.” Und wie er sprach, deutete er über seine Schulter hinweg
auf einen der Marderpolymorphen des Teams, welcher Colin kurz
anfauchte und folglich das Weite suchte. So viel zum Zusammenhalt
unter Mannschaftskameraden.
Gwen
spielte Missbilligung vor, indem sie ein paar Mal mit der Zunge
schnalzte, den Kopf schüttelte und Colin rügte: „Man beißt doch
nicht seine Mitspieler. So was tut man nicht. Beiß' lieber mich. Ich
beiße auch zurück.“ Uhrm, wie bitte? Sodann schlug Gwen den Bogen
zurück zu dem, was sie eigentlich von Colin wissen wollte: „Hm,
die Abwehr also. Nicht meine Lieblingsposition. Ich fand sie immer
langweilig“, gab sie zu. Nachfolgend taxierte sie Colin intensiv.
„Aber gerade gewinnt sie extrem an Attraktivität.“
„Fitzpatrick!“
Hayes unverkennbares Grölen schalte vom Spielfeld herüber. Mit
seinen kurzen Koboldfingern gab er Scott und Colin
unmissverständliche Signale, endlich mit ihren Aufwärmübungen zu
beginnen und ebenso unmissverständlich fielen die Gesten aus, die
den Wölfen die Konsequenzen vermittelten, sollten sie noch weiter
herumbummeln.
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