Fortsetzung hab ich ja schon in der Tasche, allerdings als unbearbeitete Rohfassung.
Ich weiß nicht, ob sich Alastair zu diesem Zeitpunkt schon ernsthaft Gedanken zu seiner Zukunft macht. Er ist kein Sklave mehr, hat aber auch nichts gelernt. Ich hab versucht ihn sehr jung zu schreiben. Er kommt aus dem Waisenhaus, hat wenig Ahnung von der Welt und zieht mit Gembries, der ein wenig Vaterersatz einnimmt, erst einmal herum.
Sie sind ein junges Volk. Noch stehen sie am Anfang ihrer Entwicklung. Sie lernen unsere Sprache und interessieren sich für unsere Kultur. Natürlich machen sie auch Fehler, aber sollten wir nicht Nachsicht üben wie bei unseren Kindern? Deshalb bitte ich um Mäßigung!” “Mäßigung? Mäßigung? Der Herr Elb hat leicht reden mit seiner Mäßigung, ihm rücken diese albernen Kreaturen ja auch nicht ins Haus. Sie sind keine Kinder der Ewigen und sie sind auch keine Söhne Ursas, ihr Gott heißt Energie und er frisst Erze und schwarze Steine namens Kohle, die unseren Brennsteinen ähnlich sind. Und diese Menschen lassen nichts unversucht, um in unsere Hallen einzudringen und uns die Erze und Brennsteine zu klauen. Das können und werden wir nicht dulden. Mögt ihr sie mit eurer Mäßigung und Nachsicht erfreuen, wenn sie einst zu tausenden eure Wälder überlaufen, denn wir werden dieses Gesocks aus unseren Bergen jagen.
Auszug eines Protokolls einer großen Versammlung aus der Sammlung “Die Anfänge”
“Regnet es hier eigentlich immer?” Seit 4 Tagen waren sie ununterbrochen durch einen feinen Nieselregen gezogen, und die dicken, grauen Wolken ließen das Land darunter farblos und trist aussehen. Die Luft war so feucht, dass selbst innerhalb des Wagens alles klamm geworden war, und es war unangenehm kalt dabei. Geräuschvoll zog Alastair die Nase hoch. “Ich war bisher etwa 10 mal hier und davon hats 8 mal geregnet.” brummte Gembries gleichmütig. Alastairs Blick schweifte ungeduldig über die Landschaft. Abseits der breiten, überraschend guten und festen Strasse verschwand der Boden zum größten Teil in einer feinen, weißlich grauen Nebelschicht, aus der die hohen Ähren verschiedenster Gräser lugten. Im Hintergrund streckten knorrige Bäume ihre Kronen dem trüben Himmel entgegen, die Äste silbrigweiß geschmückt und behangen mit langen, grau grünen Bärten. “Ich könnte jagen gehen.” schlug Alastair vor. “Hier gibt es bestimmt viel Kleinwild.” Amüsiert zuckten Gembries Mundwinkel, und er warf dem Jungen einen spöttischen Blick zu. “Du wirst schön artig auf dem Kutschbock sitzen bleiben und keinesfalls die Strasse verlassen, noch nicht mal zum Pinkeln, ist das klar?” “Warum nicht?” schnappte Alastair etwas pikiert. “Siehst du nicht die Bäume da hinten?” “Doch, natürlich sehe ich die Bäume da hinten, ich bin ja nicht blind. Und?” “Das sind Weiden.” “Und? Sind die gefährlich? Greifen die mich an, wenn ich hinter einem Busch stehe? Oder wenn ich jagen gehe?” “Nein, natürlich nicht.” grinste Gembries genussvoll. “Aber Weiden wachsen da, wo der Boden sehr feucht ist.” “Und?” forderte Alastair ihn heraus. “Ich weiß ja, dass es einem jungen und tatendurstigem Mann schwer fällt, ruhig auf seinem Hintern sitzen zu bleiben, wenn er einen guten Langbogen sein Eigen nennt.” spöttelte Gembries “aber da wir gerade durch einen der tückischsten Sümpfe ziehen, wird sich dein Hintern wohl ans Sitzen gewöhnen müssen. Denn sobald du die Strasse verlässt, geht deine Geschichte mit “Blubbblubb weg war er“ zu Ende. Und auch wenn du grad eine furchtbare Nervensäge bist, wärs doch irgendwie schade um dich.” Enttäuscht sackte der Junge etwas zusammen. “Wann sind wir….” “Nein, frags nicht!” hob Gembries abwehrend die Hand. “Ich kann es nicht mehr hören.” “Aber wir haben nichts mehr zu essen.” warf Alastair vorwurfsvoll ein. “Das ist mir sehr wohl bewusst.” erwiderte Gembries mit steifem Rücken und gerunzelter Stirn. “Und zwar seit dem Moment, als ich das Brot verschimmelt fand, weil so ein jugendlicher Nichtsnutz in seiner nervösen Ungeduld keine Zeit gefunden hatte, es ordentlich ins Wachstuch einzuschlagen.” Alastair stöhnte auf. “ Ich weiß es langsam, Gembries und es tut mir ja auch wirklich leid, aber wie lange willst du mir das noch vorwerfen?” “Solange du mir mit deinem Geheul wegen Hunger und der blöden Frage, wann wir endlich da sind, auf die Nerven gehst.” Sein harscher Ton brachte ihm einen empörten Blick ein, und verletzt schwieg Alastair. Gembries genoss den Moment der Stille, doch der währte nicht lang. “Du Gembries, warum weiß dein Onkel eigentlich so viel über die alten Geschichten?” “Weil ers halt gelernt hat.” “Du meinst, er hat eine Schule besucht?” fragte der Junge mit einem fast ehrfürchtigen Ton. “Quatsch, er wurde von seinem Vater unterrichtet, wie jedermann. Und sein Vater wusste es von seinem Vater und so weiter und so fort, und irgendwann kommen wir dann in die Zeit, wo die Väter die großen Kriege persönlich miterlebt haben. Das nennt man Überlieferung.” “Aber dann wird dir dein Vater doch auch etwas überliefert haben!” “Nur, dass man Pferden nicht trauen sollte.” “Wie meinst du das?” “Er starb noch vor meiner Geburt, kam wortwörtlich unter die Hufe von so einem blöden Gaul.” “Oh, das tut mir leid.” Alastairs Betroffenheit währte zehn Sekunden. “Und deine Mutter? Hat sie dir nichts überliefert?” “Sie starb bei meiner Geburt.” “Oh.” Echtes Mitgefühl zeigte sich in den Augen des Jungen. “Und deine Eltern, Junge? Du sprichst nie von ihnen. Leben sie noch?” Diesmal währte die Stille so lange, dass Gembries sich erstaunt nach dem Jungen umsah. “Ich weiß es nicht. Ich wurde als Baby in einem Waisenhaus abgegeben. In einer weißen Decke aus feinstem Stoff, in die mein Name gestickt war.” sagte er leise, dann lächelte er bitter. “Immerhin! Ich hab mir jahrelang vorgestellt, dass sie mich lieb hatten und sich auf meine Geburt freuten, und dass ich nur wegen schrecklicher Umstände ins Waisenhaus musste. Und ich hab jahrelang gewartet, dass sie kommen um mich zu sich zu holen. Aber sie kamen nicht.” Er zuckte die Schultern. “Wer weiß, was mit ihnen ist.” “Hast du die Decke noch?” “Was? Nein, die hat die Hausmutter verkauft, kaum dass sie die Türe zugemacht hat. Meine große Schwester hats mir erzählt.” “Wie jetzt, du hast eine Schwester?” “Nein, nicht wirklich. Ich nannte sie nur immer so, sie war ein älteres Mädchen aus dem Waisenhaus und hat sich immer um mich gekümmert, als ich noch klein war.” “Und was ist mit ihr?” Alastair seufzte tief. “Was soll schon mit ihr sein, Gembries? Sie wurde verkauft, als ich etwa 12 Jahre alt war. Ich hab sie nie wieder gesehen.” Gembries zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag in den Magen erhalten. “Die verkaufen die Kinder?” Alastair lachte bitter. “Nur die großen. Die bringen dann das Geld rein, um die kleinen Rotznasen großzuziehen. Wie sonst sollte ein Waisenhaus funktionieren?” Gembries knirschte mit den Zähnen. “Gut, dass du mir das sagst, Junge. Sollte ich je wieder auf ein Waisenhaus treffen, werde ich reingehen, der Hausmutter die Zähne in den Hals schlagen und mir die ganzen Rotznasen auf die Karre laden. Kinder in die Sklaverei zu verkaufen ist ja wohl das allerallerletzte. Wo steht dieses beschissene Waisenhaus?” “Ich weiß es nicht. Es steht allein an einem Waldrand. Als Junge hab ich es nie verlassen und weiß deshalb nicht, welche Ortschaften in der Nähe waren. Und als ich verkauft wurde, sind wir lange gereist. Und jetzt will ich nicht mehr drüber sprechen, Gembries. Bitte.”
Mir reicht es! Fort mit diesem Geschmeiß. Sie reden geschmeidig wie mit Elbenzungen und doch haben sie keinen Sinn für die Ordnung der Dinge. Und dem nächsten, den ich mit der Hacke an meinem Berg erwische, spalte ich das Haupt bis zum Arsch, so wahr ich ein Mann Ursas bin.
Auszug aus dem Protokoll einer Clanversammlung, aus der Sammlung “Die alten Völker”
Die Wachstube war tatsächlich leer. Nisha atmete auf. Ein morscher Stuhl und ein mit Staub bedeckter Tisch ließen vermuten, das schon lange niemand mehr hier war. Mehrere Schlüsselbunde hingen an Haken an der Wand, aber sie waren rostig und von dichten Spinnweben überzogen.
Was, wenn die Verschwörer die Schlüssel der Verliese, in denen ihre Gefangenen waren, stets mit sich führten? Die Scholare trugen immer große Ringe mit vielen Schlüsseln an ihren Gürteln. Es würde gar nicht auffallen.
Eine Fackel erhellte den Raum mit seltsam blauer Flamme, die sich kaum bewegte. Nisha vermutete ein magisches Feuer und verspürte leises Unbehagen, als sie die Fackel aus ihrer Halterung nahm. Dann schalt sie sich eine dumme Gans und steckte die Fackel wieder zurück. Sollte jemand kommen, während sie hier durch die Gänge schlich, würde das Licht sie verraten. Aufmerksam sah sie sich in dem Raum um, aber außer dem Tisch ´gab es hier nichts. “Etwas zu Essen und eine Waffe wären nicht schlecht gewesen, so für den Anfang.” dachte sie. “Und ein Bad, etwas Wundsalbe, eine Haarbürste und ein frisches Kleid. Herrje, ich glaube, ich bin verwöhnt.” Es musste auch so gehen. Nisha besann sich auf das, was sie konnte. Die Natur hatte sie mit einem sehr feinen Gehör ausgestattet. Und sie konnte sich fast lautlos bewegen. Geschmeidig wie eine Katze verschwand sie im Dunkel des nächsten Ganges. Ihre Fingerspitzen ließ sie über die felsige Wand gleiten, um die Orientierung nicht ganz zu verlieren und um Türen finden zu können. Aber außer der Wand gab es nichts.
Das Licht der Wachstube war nur noch als kleiner, weit entfernter Fleck zu erkennen, als sie innehielt und lauschte. Absolute Stille, hier tropfte noch nicht einmal Wasser. Seufzend lief sie, die Wand gegenüber abtastend, zurück und probierte ihr Glück im nächsten, von der Wachstube abgehenden Gang. Auch hier ging sie mit der gleichen Methode lange Zeit durch die Finsternis, ohne etwas anderes als glatten Fels zu spüren. Wenigstens war der Boden überall eben und sie musste nicht befürchten, zu stolpern. Der Lichtfleck hinter ihr war kaum noch sichtbar. Einen Moment kämpfte sie mit der Versuchung, noch weiter zu gehen, aber die Furcht siegte. Sie war hier noch nie zuvor gewesen und kannte sich nicht aus. Eliazar hatte ihr einmal erzählt, dass die Feste an einen alten Zwergenstollen angebaut wurde. Damals ´war sie von der Vorstellung fasziniert, die Relikte eines alten Volkes so nahe zu wissen, aber Eliazar hatte ihr das nicht erzählt, um sie zu unterhalten, sondern um sie eindringlich zu warnen. “Es ist nicht sicher, dass in den alten Tagen der Feste wirklich alle Zugänge zum Zwergenreich verschlossen werden konnten. Deshalb geht hier niemand tiefer als in die obersten zwei Kelleretagen, und darum möchte ich auch dich bitten.” “Hat denn nie jemand die Stollen erforscht?” “Deshalb warne ich dich ja. Es sind verschiedene Male im Laufe der Jahrhunderte Expeditionen aufgebrochen, allein schon in der Hoffnung, einen der sagenhaften Schätze der Zwerge zu finden. Aber nie kam auch nur ein Mensch zurück. Es ist zu vermuten, dass sie umkamen. Die Zwerge waren Meister im Erbauen tödlicher Fallen und sie haben alles ihnen mögliche getan, um ihr Reich vor uns zu schützen. Deshalb: gehe nie in den tiefen Keller. Dort ist es dunkel und so weitläufig, dass man sich sehr leicht verirren kann - und vielleicht sogar unwissentlich in den Bereich der Zwerge gerät.”
Nisha erlaubte sich noch hundert Schritte in die Dunkelheit, dann wechselte sie die Wand und ging enttäuscht wieder zurück. Sie war sich sicher, aus der Richtung der Wachstube in ihr Verlies gebracht worden zu sein. Irgendwo musste es hier einen Weg nach oben geben. Unbewusst streckte sie ihr Kinn vor. Sie würde diesen Weg finden. Und sie würde Eliazar finden. Sie hatte nichts zu verlieren. Plötzlich war Leere unter ihren Fingerkuppen. Aufgeregt hielt sie an und ertastete einen glatten Torbogen. Ein Nebengang! Na also! Ein Grinsen legte sich auf ihr Gesicht, jedenfalls so lange, bis ihr nackter Fuß schmerzhaft vor eine steinerne Stufe stieß. Nisha unterdrückte sowohl einen Fluch wie auch ein Jubeln. Sie hatte eine Treppe nach oben gefunden.
Die Treppe war lang und steil, und sie musste mehrfach Pause machen, da ihr Atem laut und damit hörbar wurde. Verdammt, sie war schwach geworden. Plötzlich mündeten die Stufen auf ebenem Boden. Nisha hielt die Luft an und lauschte. Es war nichts zu hören. Es war leider auch nicht zu sehen, völlige Schwärze umfing sie. “An der Wand bleiben.” mahnte sie sich. Nach drei Schritten ertastete sie eine Ecke, die Wand ging nach Rechts. Und nach weiteren drei Schritten wieder. Nisha erstarrte. Vor ihr lag eine weitere Treppe. Und am Ende derselben schien es für den Ausschnitt eines Durchgangs etwas heller zu werden.
Es war ein sehr schwaches Licht oder besser gesagt, das Schwarz wurde zu einem Grau. Was bedeutete, dass nicht unmittelbar an der Treppe jemand mit einer Fackel stand oder der obere Gang beleuchtet war, weil er häufig benutzt wurde. Gut. Zuversichtlich schlich sie hoch und sah sich um. Ihre Augen hatten sich so sehr an die völlige Dunkelheit des unteren Geschosses gewöhnt, dass sie in dem Grau Konturen erkennen konnte. Weit hinten auf der linken Seite war ein hell erleuchteter Fleck zu sehen, dort schienen die Verschwörer für Licht gesorgt zu haben. Der Gang vor ihr war lang, die Decken gewölbt und hoch. Das rechte Ende verschwand in Dunkelheit. In regelmäßigen Abständen waren auf der anderen Seite Gittertüren in die Wand eingelassen. Nisha konzentrierte sich auf ihre Ohren, aber alles, was sie hören konnte war ein flüchtiges Tapsen kleiner Pfoten und ein leises Quitschen. Ratten. Niemand schien hier zu atmen. Vorsichtig näherte sie sich einem Verlies und sah hinein.
Dort drin war es dunkler als auf dem Gang und sie konnte nicht viel erkennen. Eine Gestalt lag in der Nähe des Gitters auf dem Boden, einen Arm ausgestreckt bis fast zur Türe. Eliazar? Sie hörte immer noch keinen Atem. Nisha ging in die Hocke und tastete ganz vorsichtig nach der Hand, die sie erreichen konnte. Erleichterung und Entsetzen durchfuhren sie zugleich, als sie blanke Knochen ertastete. Offenbar wurden diese Verliese seit langem nicht mehr genutzt. Langsam, ihre Sinne aufs äußerste angespannt, ging sie auf den hellen Fleck zu.
Je eine Fackel links und rechts von einer schweren Holztüre, in der auf Kopfhöhe eine vergitterte Öffnung eingelassen war, und zwei Fackeln an der gegenüberliegenden Wand. Die normal gelb orangen Flammen tanzten in einem kaum spürbaren Luftzug. Unter den Fackeln an der Wand saß ein Mann, den Rücken an die Wand gelehnt, der Kopf hing zur Seite, die Augen waren geschlossen. Er trug eine Kettenhaube, seine Wangen waren im Schlaf leicht gerötet, sein Gesicht unter dem sauber gestutzten schwarzen Bart entspannt. Zum Schutz vor der Kälte hatte er eine leichte, graue Decke um seinen Oberkörper gelegt, seine ausgestreckten Beine steckten in einer mehrfach geflickten grünen Hose und seine Stiefel hatten Löcher in der Sohle. Neben ihm stand ein irdener Topf, aus dem ein Löffel ragte. Nur eine Wache. Und die sah nicht so aus, als erwarte sie Ärger. Ganz langsam, den Mann nicht aus den Augen lassend, bewegte sich Nisha auf die Holztüre zu. Die Türe war mit einem Riegel gesichert, durch den eine schwere Eisenkette gezogen war, und an dieser Eisenkette prangte ein dickes Schloss. Nisha schickte ein Stoßgebet an die Ewige, die Wache nicht gerade dann aufwachen zu lassen, wenn sie ihm den Rücken zukehrte. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um durch die Öffnung in das Verlies sehen zu können. Verdammter Mist. Die Öffnung war nicht groß genug, um Licht in die Zelle zu lassen und es war so dunkel darin, dass Nisha nichts erkennen konnte. Aber sie hörte jemanden atmen, flach und unruhig. Das Gefühl der Überforderung sprang sie an wie ein hungriges Tier und jagte ihr einen kalten Schauer durch die Adern. Hastig zog sie sich in den dunkleren Gang zurück und blieb ratlos dort stehen. In der Zelle wurde jemand gefangen gehalten, der wichtig genug war, ihn zu bewachen. Ein normaler Sträfling konnte es nicht sein, denn die Verbrecher saßen in den Türmen und die Wärter dort trugen stolz ihr Uniformen in den Farben der Feste, rot und blau. Egal, wer in dem Verlies saß - er war ein Feind der Verschwörer und damit ein Verbündeter. Aber wie konnte sie ihn befreien? Sie konnte sich ja schlecht durch die Tür nagen. Nisha fühlte sich erbärmlich, während ihre Gedanken fieberhaft nach einem Ausweg suchten. Und dann hörte sie, erst leise, dann lauter werdend, Schritte. Vorsichtig zog sie sich noch ein Stück weiter in die Schatten zurück und versuchte, mit der Wand zu verschmelzen. Jemand kam hierher. Obwohl die Schritte sehr energisch immer lauter wurden, rührte sich der Wachposten nicht. Es gab einen kurzen Moment der Stille, dann waren die Schritte sehr nah. Nisha hörte einen Tritt und gleich darauf zerschellte etwas klirrend an der Wand. Ein Geruch nach Eintopf machte sich breit und löste bei ihr ein schmerzhaftes Ziehen im Magen aus. “Hey, Mann, was soll das?” fuhr die Wache erschreckt aus dem Schlaf. “Du kannst von Glück reden, dass ich dich so gefunden habe. Bist du eigentlich wahnsinnig, hier zu schlafen?” Obwohl sehr wütend, hielt der andere seine Stimme leise. “Ich kann nichts dafür, Mann, das Baby hat die ganze Nacht geschrien, ich hab keine Auge zugetan. Da hat mich der Schlaf hier einfach übermannt.” Auch der Wächter sprach gedämpft. “Lass dich nie wieder beim Pennen erwischen! Und jetzt mach, dass du nach Hause kommst, ich übernehme. Grüß Gerrit und die Kinder.” Nisha konnte hören, wie der Wächter aufstand und sich gähnend streckte. “Danke, Oleg. Wir sehen uns dann morgen früh.”
Einer der Männer ging fort und begann, dabei ein fröhliches Lied zu pfeifen, der andere schnaubte kurz. Nisha hörte erst, wie eine Fackel aus ihrer Halterung gezogen wurde, dann wenige Schritte. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild auf, wie die neue Wache die Fackel an die Öffnung der Holztür hielt und nach dem Gefangenen sah. Wieder Schritte. Aber die Fackel wurde nicht wieder zurückgesteckt. Der Lichtschein am Anfang des Ganges nahm zu. Der Neue machte einen Kontrollgang.
Und er kam auf ihren Gang zu. Voll Panik drehte sich Nisha um und rannte, so schnell sie konnte, in die Dunkelheit.
Die Schritte hinter ihr verstummten kurz - dann beeilte sich der Mann. Offenbar hatte er sie hören können. Unbarmherzig fraß sich das Licht seiner Fackel den Gang entlang, und es würde nicht mehr lange dauern, bis er sie sehen könnte. Die Angst drückte ihr den Hals zu, und ihr Atem bekam einen leise pfeifenden Unterton. Bald würde sie keuchen müssen, und dann war sie geliefert. Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie blindlings dem Licht entfloh, und plötzlich konnte sie wieder etwas vor sich erkennen. Es wurde dort etwas heller, sie sah schwache Konturen. Die Schritte hinter ihr wurden zögerlicher und verstummten schließlich. Auch Nisha blieb stehen, um jetzt bloß keinen Lärm zu machen. Sie drehte sich um. Die Fackel weit vor sich haltend starrte der Mann in ihre Richtung, ohne sie zu sehen. Er sah irgendwie ängstlich aus. Mit einem leisen Fluch drehte er sich um und ging zurück. Erst, als er die Wachstube erreicht hatte und aus dem Gang verschwunden war, gab sie ihren weichen Knien nach und sank auf den Boden. ”Ich bin nicht zum Helden geboren.” dachte sie bitter. “Ist alles in Ordnung mit dir?” Die Stimme war so leise, dass Nisha nicht sicher war, ob sie real oder nur in ihrem Kopf war. “Ja.” flüsterte sie kaum hörbar zurück. “Fein. Kannst du mich hier los machen?” Verwundert stand sie auf und sah sich um. “Wo bist du denn?” “Geh den Gang runter und bieg hinten links ab, dem Licht nach. Ich bin in der Kammer, die Tür ist offen, aber ich bin festgebunden.” Wie konnte sie ein so leises Flüstern hören, wenn er noch so weit weg war? Oder war die Stimme doch in ihrem Kopf, schnappte sie jetzt über? Zögernd bewegte sie sich vorwärts. Es dauerte, bis sie links abbiegen konnte, aber da war tatsächlich eine Türe, aus der ein flackernder Lichtschein fiel. Und je näher sie der Türe kam, desto seltsamer wurde ihr zumute. Schon der erste Blick in die Zelle ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Der Boden war mit seltsamen Zeichen aus Blut bemalt, auf denen kleine schwarze Kerzen in einem bestimmten Muster aufgestellt waren. Die fremdartige, böse Macht, die von diesen Runen ausstrahlte, erfüllte sie mit blankem Entsetzen. Dunkle Magie. “Hab keine Angst, dir kann hier nichts geschehen.” Diesmal war die Stimme etwas lauter. Sie war jung und weich und klang völlig entspannt. Gegen ihren inneren Widerstand zwang sich Nisha, näher ran zu gehen und nach dem Sprecher Ausschau zu halten. In der Mitte des Kerkers stand inmitten der Zeichen eine schwarze Schale auf einem Dreibein. Blut tropfe von oben hinein. Nishas Augen folgten den Tropfen nach oben. Unter der Decke hatte man einen Mann an den Füßen aufgehängt, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Reglos hing er da und sie war froh, sein Gesicht nicht sehen zu müssen. Da sie es nicht über sich brachte, den Raum zu betreten, suchte sie von der Schwelle aus nach dem Sprecher. Aber der Raum war leer. “Ich bin wirklich verrückt geworden.” fuhr es ihr durch den Kopf. Dann erstarrte sie. Der Körper unter der Decke hatte sich gedreht. Aus einem milchweißen Gesicht glänzten sie schwarze Augen an, und rote Lippen gaben lächelnd die weißesten Zähne frei, die sie je gesehen hatte. “Ich freue mich sehr, dich kennen zu lernen.” sagte er mit seiner weichen Stimme und strahlte sie an. Nisha spürte, wie ihr Herz vor Angst ein paar Schläge aussetzte. Man hatte ihm mit einem Messer eine der entsetzlichen Runen tief in die Stirn geschnitten, und fast nebenbei bemerkte sie, wie ein weiterer Blutstropfen aus dem Schnitt hervorquoll und langsam in die schwarzen Haare lief, bevor er von dort in die Schale tropfte.
Was hatte man da nur heraufbeschworen? Das war doch kein Mensch. Das Wort Schatten kam ihr in den Sinn und sie fragte sich, ob die Runen dazu dienten, ihn in diesem Raum festzuhalten.
“Machst du mich bitte los?”
Stumm den Kopf schüttelnd, wich sie zurück bis an die Mauer des Ganges. “Oh.” Die Stimme klang überrascht und enttäuscht zugleich. “Warum nicht? Habe ich dir etwas getan? Habe ich dich vielleicht gekränkt?” Nisha presste ihre Lippen fest zusammen, ihre Haare richteten sich am ganzen Körper auf. Die böse Aura des Raumes schien nach ihr zu greifen. Mit Sicherheit kam sie von diesem Wesen, dass sie mit seiner seidenweichen Stimme einzulullen versuchte. Sie spürte förmlich, wie es nach einem neuen Trick suchte. “Ich werde dir auch helfen, hier heraus zu kommen, wenn du mich los machst. Alleine schaffst du es nicht. Und ich verspreche dir, dass du keine Angst vor mir haben musst, ich tue dir nichts. Wirklich.” Nisha rührte sich nicht, presste sich an den kalten Stein in ihrem Rücken. Sie glaubte ihm kein Wort. “Schade.” flüsterte er leise. Plötzlich erschallten Stimmen, der Wächter sprach mit jemanden. “Jetzt kommen sie. Sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst, Mädchen.” Diesmal hörte er sich wirklich ängstlich an. Und irgendwie auch sehr traurig. “Jemand hat ihm mit einem Messer in die Stirn geschnitten. Wer weiß, was sie als nächstes tun.” schoss es ihr durch den Kopf. Man hörte Schritte im Gang. Der Schatten guckte sehr überrascht, als Nisha wieder in der Türe stand. Noch bevor sie drüber nachdenken konnte, eilte sie über die grässlichen Runen zu der Blutschale, stellte diese beiseite und lief dann zu dem Ring an der Wand, wo das Seil festgemacht war, dass ihn oben hielt. Sie brauchte bloß fest an einer Schlaufe zu ziehen, um es zu lösen, und dann keuchte sie unter der Anstrengung, ihn langsam herunter zu lassen. Die Schritte kamen näher. Der Schatten ließ sich auf dem Boden abrollen, brachte in der gleichen Bewegung seine Arme nach vorne und löste die Handfesseln mit den Zähnen. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Nisha, sich hinten in die Ecke zu stellen.
Die Schritte hielten vor der Türe überrascht inne, als der Schatten aus der Hocke auch schon mit einem gewaltigen Satz auf die Männer zusprang. Nisha hörte einen Ast knacken und ein ersticktes “Nein”, dass in einem Gurgeln endete. Geschmeidig kam der Schatten in den Kerker zurück. Verwischtes Blut zog sich über sein Kinn und die Wangen. Aber seine Miene zeigte keine Grausamkeit, fast schüchtern sah er Nisha an. “Wir könnten jetzt gehen. Kommst du?” Über die Runen zu gehen war, als ob sie auf dünnen Ästen über eine Fallgrube lief. Mit schreckengeweiteten Augen sah sie zwei Männer vor der Türe liegen. Des einen Kopf stand in einem unnatürlichen Winkel zur Schulter, der Schatten hatte ihm das Genick gebrochen. Der andere hatte ein klaffendes, blutiges Loch im Hals. Nisha legte unwillkürlich ihre Hand schützend über ihren eigenen und sah den Schatten entgeistert an. “Was hast du getan?” hauchte sie. Er zuckte die Schultern. “Was sollte ich denn machen, ich hatte keine Waffe. Aber jetzt habe ich eine.” Lächelnd und stolz hielt er einen Dolch hoch. “Kannst du sie nicht einfach k.o. schlagen? Musst du sie gleich töten?” Überrascht sah er sie an. “Aber wenn ich sie nur k.o. schlage, werden sie wieder wach. Und dann machen sie uns nur Ärger.” “Trotzdem….” Nisha erschauerte. “Wir könnten sie doch fesseln.” Amüsiert starrte der Schatten sie aus seinen dunklen Augen an. “Mädchen, sie sind Zeuge dessen, was hier unten geschieht. Solange sie uns bewachen ist es gut, aber was glaubst du geschieht mit ihnen, wenn wir hier weg sind?” “Dafür sind wir dann aber nicht verantwortlich.” blieb sie fest. Seufzend verdrehte er die Augen. “Na gut, wenn du so ein großes Problem damit hast, werde ich mir Mühe geben, niemanden umzubringen. Und jetzt lass uns fliehen.” “Moment.” “Was ist denn noch?” Nisha schluckte. “Sie halten meinen Freund gefangen, wir müssen ihn befreien. Er sitzt wahrscheinlich in einem Verlies bei der Wache. Ohne ihn gehe ich nicht.” Zum ersten Mal glitt Unmut offen über das bleiche Gesicht. “Sonst noch was?” fragte er kühl. “Nein.” “Na, da bin ich aber froh. Und jetzt komm.”
Sie folgte ihm, bis er ihr ein Zeichen gab, stehen zu bleiben. Er selbst verschwand völlig geräuschlos in das erleuchtete Rund des Wachraumes. Nisha hörte einen überraschten Ausruf und direkt darauf Geräusche eines Kampfes, die mit einem harten Schlag und dem Fall eines Körpers endeten. Sie war erleichtert, dass es der Schatten war, der sie schließlich zu sich winkte.
“Wir müssen das Schloss öffnen.” sagte Nisha und begann hektisch, die Taschen des Wächters nach einem Schlüssel zu durchsuchen. Während dessen machte sich der Schatten mit der Spitze seines Dolches am Schloss zu schaffen. Kurz darauf ertönte ein Klicken. “Ta - da!” grinste er und zog die Kette geräuschvoll vom Riegel. Nisha schickte ein Stoßgebet zur Ewigen, dass sie Eliazar in der Zelle finden würden. Der Schatten war schon in der Zelle verschwunden, bevor Nisha sich vom Boden erhoben hatte. Und gerade als sie ihm folgen wollte packte eine Hand ihr Fußgelenk und versuchte, sie zu Fall zu bringen. Sie schrie erschrocken auf. Der Wächter hatte sich mit hassverzerrtem Gesicht schon zu Hälfte erhoben, als etwas sehr dicht an Nisha vorbei flog. Mit einem eklig stumpfen Geräusch bohrte sich der Dolch bis ans Heft ins Auge des Mannes. Nisha biss in ihre Faust um einen Schrei zu unterdrücken. Ein Ausdruck von Erstaunen glitt über das Gesicht des Wärters, bevor er tot zusammenbrach. Nisha spürte, wie seine Hand an ihrem Fußgelenk noch einmal krampfhaft zuckte, dann gab er sie frei. “Ich bedaure, dein Freund ist nicht in der Zelle.” sagte der Schatten leise. Mit Tränen in den Augen drückte sich Nisha an ihm vorbei, um sich selbst davon zu überzeugen. In der Mitte des Raumes lag gekrümmt eine Gestalt auf dem Boden. Das lange weiße Haar verdeckte das Gesicht und der lange Bart war mit Erbrochenem besudelt. Vor Erleichterung schluchzte Nisha auf. Eliazar! Sie kniete sich zu ihm, strich das Haar aus seinem Gesicht und bettete seinen Kopf auf ihren Schoss. Er atmete noch, wenn auch flach. “Ewige Mutter, ich danke dir.” flüsterte sie unter Tränen. Der Schatten sah sie schockiert an. “Dieses senile Gereck ist dein Freund?” fragte er nach einer Weile ungläubig. “Nicht so, wie du denkst.” gab sie errötend zurück. “Mädchen, der Mann ist fertig, der steht nicht mehr auf. Lass uns gehen!” “Nicht ohne ihn!” Beschwörend sah der Schatten sie an. “Ist er es denn wirklich wert, für ihn zu sterben? Wo er so alt ist, dass er jeden Tag von selbst tot umfallen könnte? Und würde er wollen, dass du dein junges Leben für seine letzten paar Tage aufs Spiel setzt?” “Du verstehst das nicht.” flüsterte Nisha, den Blick fest auf das Gesicht Eliazars gerichtet. “Sein Überleben ist wichtiger als unser beider Leben zusammen. Mehr kann und will ich dir nicht dazu sagen.”
“Du traust mir nicht, oder?” Verlegen zuckte Nisha die Schultern. “Okay.” Der Schatten seufzte tief. “Verrätst du mir denn wenigstens deinen Namen? Oder ist der auch ein Geheimnis?” Gegen ihren Willen musste sie grinsen. “Ich heiße Nisha. Und du?” “Vaine. Werte Dame Nisha, es ist mir eine Ehre, eure Bekanntschaft zu machen.” Elegant verneigte er sich. “Wenn auch unter finsteren Umständen, die einzig von Eurer Schönheit erhellt werden.” Dabei lächelte er sie auf betörende Weise an, als ob er seine Worte ernst meinte. Nisha spürte, wie ihr erneut flammende Röte ins Gesicht schoss. “Danke für das Kompliment, Vaine, mein Retter in der Not, aber zufällig habe ich schon eine Vorstellung davon, wie ich grad aussehe.” Sein Lächeln blieb betörend. “Mir gefällst du.” sagte er ernst. “Und jetzt lass uns aufbrechen.” Er zog seinen Dolch aus der Leiche des Wächters, säuberte ihn an dessen Wams, nahm ihm sein Schwert ab und fand noch einen Dolch in einer Armscheide, den er Nisha übergab. “Für den Fall der Fälle, trag ihn bei dir.” Widerwillig steckte sie ihn in ihre Schürze. “Wie kriegen wir meinen Freund hier weg? Er scheint sehr krank zu sein.” Vaine zuckte die Achseln. “Na, wie wohl?” Er hob den alten Mann auf, als wiege er nichts, und legte in sich über eine Schulter. Eliazar war zwar hager, aber groß, größer als Vaine. Trotzdem lief dieser leichtfüßig voraus. Nisha eilte sich, ihm zu folgen. Anscheinend kannte er sich gut hier unten aus, nicht einmal zögerte er, irgendwo abzubiegen oder eine Treppe zu nehmen. Nisha war sich sicher, ihn noch nie zuvor in der Feste gesehen zu haben. Und mit seiner milchweißen Haut und seinen dunklen Augen wäre er ihr bestimmt aufgefallen.
Ohne, dass sie einem weiteren Wächter begegneten, erreichten sie den Teil der Feste, der ihr bekannt war. Vaine lief weiter zügig voran, aber Nisha merkte, wie ihre Beine von Schritt zu Schritt stärker zitterten. Ihre Lungen brannten, ihr Hals war ausgetrocknet, ihr Herz raste stolpernd in der Brust und schwarze Nebel zogen an ihren Augen vorbei. “Vaine, lass uns in die Waschküchen gehen, da ist jetzt niemand, es ist tiefe Nacht. Ich brauche dringend eine Pause, ich kann nicht mehr.” japste sie kläglich. Als sie zu schwanken begann, war er sofort an ihrer Seite und stützte sie mit seinem freien Arm. Nisha bekam das kaum noch mit. Ihre Welt versank in Schwindel und Schwärze. Mühsam quälte sie sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, dann gaben ihre Beine unter ihr nach.
Sie erwachte auf einem Stapel ungewaschener Decken. Erschrocken fuhr sie in die Höhe. Jemand hatte in sicherer Entfernung von den Decken eine kleine Kerze auf den Boden gestellt. In ihrem Licht konnte Nisha erkennen, dass Eliazar ein Stückchen neben ihr lag. Ängstlich strengte Nisha ihre Ohren an. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie hier gelegen hatte. Wenn die Nacht schon vorbei war, würde es gleich hier von Personal nur so wimmeln. Man würde sie erkennen und sofort wieder festnehmen, und diesmal wahrscheinlich sicherstellen, dass sie nicht mehr lange genug leben würde, um erneut eine Flucht zu versuchen. Ein grimmiges Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Die Verschwörer hätten allerdings Schwierigkeiten, das Auftauchen eines zweiten Eliazars zu erklären. Außer dessen Atemzügen hörte sie nichts. Besorgt beugte sie sich zu dem alten Mann. Sein Gesicht war immer noch bleich und er schien weiterhin in einer tiefen Bewusstlosigkeit gefangen zu sein, aber seine Atmung war weniger flach und regelmäßiger als zuvor. Es schien ihm etwas besser zu gehen. Mutlos sank sie zusammen. Offenbar hatte sich der Schatten davon gemacht. Nisha konnte es sogar verstehen. Eine Flucht aus der Feste war bestenfalls sehr schwer, und Eliazar und sie waren für Vaine nichts als unnützer Ballast und machten sein Entkommen so gut wie unmöglich. Jetzt war sie mit Eliazar allein und hatte keine Ahnung, wie sie ihn von hier fortbewegen sollte. Tragen konnte sie ihn nicht. Und ihn an den Armen hinter sich herschleifen, versprach auch wenig Aussicht auf Erfolg. Nun hatte sie den Preis dafür zu zahlen, dass sie in all den Jahren ein sehr zurückgezogenes Leben geführt hatte. Nisha hatte keine Freunde in der Feste. Anfangs hatten viele aus der Dienerschaft den Kontakt zu ihr gesucht, aber nur, um sie nach Eliazar auszufragen oder über sie Bitten an ihn heranzutragen. Sie hatte sich so reserviert verhalten, dass die Menschen schließlich aufgegeben hatten.
Angestrengt überlegte sie, wer von den Scholaren noch vertrauenswürdig genug war, um ihn um Hilfe zu bitten und ihm die Situation zu erklären. Sie seufzte tief, als ihr niemand einfiel. Das Risiko, sich unwissentlich an einen der Verschwörer zu wenden, war zu hoch. Vaine würde die Flucht allein bestimmt gelingen. Hätte sie sich ihm anvertraut, hätte er vielleicht sogar von außen Hilfe geholt. Wie von selbst tauchte vor ihrem inneren Auge das Bild auf, wie Vaine an den Füßen über diesen grässlichen Runen hing. Wahrscheinlich schon seit vielen Stunden, bevor sie ihn fand. Und sein Gesicht hatte sich nicht rot verfärbt, wie es bei einem Menschen der Fall gewesen wäre. Wenn er wirklich ein Schatten war, dann war er im Kern böse. Und der Hüter der Feste sein natürlicher Gegenspieler. Nein, es war richtig gewesen, sich Vaine nicht anzuvertrauen. Wer weiß, ob er ihr dann überhaupt geholfen hätte. Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, dass er dem einen Mann die Kehle durchgebissen hatte. Sie sollte sich nicht von seinem Charme und seinen dunklen Augen einlullen lassen.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Zu Tode erschrocken fuhr Nisha zusammen und griff reflexartig nach dem Dolch in ihrer Schürze. “Ich bins doch nur.” flüsterte Vaine. “Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Geht es dir wieder besser?” Nisha zitterte am ganzen Körper und konnte ihn nur verstört anstarren. “Wieso hilfst du uns eigentlich? Ohne uns wärst du doch längst schon draußen.” entfuhr es ihr spontan. “Vielleicht.” lächelte er ihr amüsiert zu. “Aber du hast mich doch befreit. Und ich habe dir versprochen, dir zu helfen. Erinnerst du dich nicht daran?” Verlegen wandte Nisha den Blick von diesen dunklen Augen ab. “Doch, ja, aber unter diesen Umständen hätte es mich nicht gewundert, wenn du dich davongemacht hättest.” Für ein paar Sekunden blieb es still. “So denkst du also von mir?” Er klang erschüttert und verletzt. Plötzlich schämte sie sich abgrundtief. Er hatte sich ihr gegenüber bisher stets freundlich verhalten. Und sie hatte ihn gerade beleidigt. Dabei nutzte sie ihn aus, um seinen Erzfeind unter Einsatz seines Lebens hier heraus zu bringen. Falls er überhaupt sterblich war. Eines Tages würde Vaine sie dafür hassen. Und obwohl er ein Schatten war, schmerzte der Gedanke.
“Es tut mir leid, ich hab es nicht so gemeint.” flüsterte sie ehrlich zerknirscht. “Man hat übrigens unser Verschwinden entdeckt.” sagte er kühl. “Es fiel auf, dass die beiden Männer, die zu mir wollten, nicht zurück kamen. Noch zögern sie, einen wirklich großen Alarm auszulösen, warum auch immer. Aber etwa zwei Dutzend Soldaten durchstöbern den tiefen Keller.” “Oh.” hauchte Nisha entsetzt. “Ich habe sie noch für eine Weile da unten beschäftigt gehalten.” grinste Vaine. Nisha sah ihn fragend an. “Ich bin an ihnen vorbeigeschlichen und habe die Männer getötet, die sich am weitesten nach unten vorgewagt hatten. Sie werden uns also eher auf dem Weg in die Stollen vermuten als hier. Das sollte uns etwas Zeit verschaffen.” Nisha schluckte. “Du bist sehr mutig.” brachte sie hervor und verscheuchte das Bild von durchgebissenen Hälsen. Erst jetzt bemerkte sie, dass er zwei Schwerter an den Hüften trug und mehrere Dolche in seinem Gürtel hatte. Provozierend sah er ihr direkt in die Augen. “Ich habe dir versprochen, dich und deinen Freund hier heraus zu bringen, Nisha, und ich werde mein Wort halten. Auch wenn du mir nicht traust. Wir haben noch etwa eine Stunde, bis die Sonne aufgeht, und ich habe eine Idee. Wo ist der Friedhof?” “Der ist unten im Tal.” sagte sie überrascht. “Das habe ich gehofft.” lächelte er. “Ich habe ein paar Sachen geholt, zieh dich um. Deinen Freund nähe ich hier in einen Sack ein, und hinten steht ein Handkarren. Wir werden als kleiner Totenzug die Feste verlassen. Ich vorneweg in einem dunklen Umhang mit Kapuze und einer Ratsche, die die Menschen warnen soll, dass unser Toter an einer ansteckenden Krankheit starb, ich denke an Lepra. Du ziehst den Handkarren als Heiler verkleidet, ich hab für dich eine Hose und ein Wams gefunden. Und den grünen Heiler Umhang, auch mit Kapuze, unter der du deine langen Haare verstecken kannst. Bind dir dann hier das weiße Tuch um Nase und Mund. Du hast Verletzungen im Gesicht, die werden oben rausschauen und die Leute glauben machen, dass du dich mit Lepra angesteckt hast. Aber wasch dir vorher die Stirn, Heiler sind nicht so schmutzig.” Munter begann Vaine, den langen Körper Eliazars in einen Jutesack zu packen. “Das könnte klappen.” hauchte Nisha begeistert. “Wir müssen nur schnell und ungesehen aus den Waschräumen hier raus. Noch geht das, wo alle schlafen, also beeil dich.” sagte Vaine und holte Nadel und Faden aus einer Tasche. Nisha unterdrückte ein Kichern. Es war so absurd, dass ein mordender Schatten Nähzeug dabei hatte. Beflügelt von der Aussicht auf ein Entkommen begab sie sich zu dem Waschzubern, säuberte ihr Gesicht und zog sich dann hinter einem Zuber versteckt um. Ihre alten Sachen vergrub sie tief unter einem Haufen schmutziger Wäsche. Ihren Dolch steckte sie seitlich in ihren Gürtel. Als sie zu Vaine zurück kam, hatte er den Totensack bereits mit wenigen, groben Stichen geschlossen. “Perfekt.” nickte er ihr anerkennend zu. “Es gibt hier ein Seitengelass, wo sonst immer die Seifen hereingebracht werden.” sagte Nisha. “Vielleicht haben wir Glück und die Türe ist offen.” “Ich kann auch verschlossene Türen öffnen.” grinste Vaine. “Und denk dran: den Blick immer schön zu Boden gesenkt halten, egal, was passiert. Ich werde schon auf uns aufpassen.”
Kurze Zeit später setzte sich im beginnenden Morgengrauen gemessenen Schrittes ein Leichenzug in Bewegung. Laut rumpelte der Handkarren über das Kopfsteinpflaster. Die ersten Geräusche drangen aus den Häusern in den Hof. Man hörte Gähnen, das Rauschen von Wasser, das Klappern von Türen und irgendwo krähte ein Hahn. Als die ersten Menschen auf die Strasse traten, begann Vaine, die Ratsche zu drehen. Die Leute traten beiseite und manche verneigten sich kurz mit einer Hand auf der linken Brust, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Nishas Herz gebärdete sich wie ein vor Angst verrückter Vogel und flatterte wild in ihrer Brust, aber äußerlich ließ sie sich nichts anmerken. Starr auf dem Boden blickend folgte sie dem Geräusch der Ratsche. Die Feste war groß und es war schon fast taghell, als sie endlich aus den Augenwinkeln die Stiefel der Wachleute am Tor erblickte. Erneut schickte sie ein Stoßgebet zur Ewigen. “Bitte, lass die Verschwörer noch keinen Alarm ausgelöst haben.” Die Stiefel fuhren zusammen, die Hacken knallten - die Wachleute erwiesen dem Toten ihren Respekt und ohne Anzuhalten waren sie unter dem Falltor durch. Nisha erlaubte sich ein breites Grinsen unter ihrem Tuch. Aber noch waren sie nicht außer Gefahr. Es gab nur diese eine Strasse, die von der Feste ins Tal führte. Und die Strasse war lang und steil. Der Karren begann, sie von hinten zu schieben. Ungewollt wurden ihre Schritte schneller. Schon war Vaine an der anderen Seite und packte mit an, um den Karren zu bremsen. Beide die Stange des Wagens haltend, erlaubten sie sich einen flotten Schritt. Sie betraten den ersten Tunnel. Und waren noch nicht wieder draußen, als Hörner aus der Feste erklangen. Nisha wartete auf das Geräusch des fallenden Torgitters. Rasselnd fuhr es runter und sein Auftreffen auf den Boden war sogar hier im Tunnel als leichtes Beben zu spüren. Mit dem dumpfen Knall setzen sich Pferdehufe in Bewegung. Ihr Körper bewegte sich weiter, aber ihre Gedanken erfroren in Angst. Es dauerte nicht lange, und die galoppierenden Wachen hatten sie eingeholt. Vaine begann, seine Ratsche zu drehen, kaum dass der Hufschlag näher kam. “He, ihr da!” “Ja bitte?” Vaines Stimme war bewundernswert ruhig. Fast schon zu ruhig für jemanden, der einen Karren bergab zu bremsen versuchte. Fünf Reiter tauchten an ihrer Seite auf und beäugten sie misstrauisch im Schein ihrer Fackeln. “Es sind drei Schwerverbrecher entflohen.” sagte der Anführer, betonte dabei das Wort drei und musterte sie prüfend. “Mein Herr, ich muss euch bitten, zurück zu treten. Der Verstorbene litt unter einer sehr ansteckenden Form der Lepra.” bat Vaine höflich. Unbehagen zog über die Gesichter der Wachen, und vier hielten ihre Pferde tatsächlich ein paar Schritte entfernt. Der Anführer zögerte kurz, dann glitt ein listiges Funkeln in seine Augen. Er zog sein Schwert und ließ sein Pferd direkt neben den Karren treten. “Ich werde mich nur davon überzeugen, dass der Verstobene wirklich tot ist, dann könnt ihr unbehelligt weiter ziehen.” sagte er mit frostigem Lächeln und setzte an, die Klinge senkrecht in den Sack zu stoßen. Vaines Dolch fuhr ihm ins Auge, bevor er seine Bewegung zu Ende bringen konnte, und dann brach die Hölle los. Nisha hörte das Klirren von Waffen, konnte sich aber nicht umdrehen, denn Vaine hatte den Karren losgelassen und dieser schob sie mit einer ungeheuren Wucht bergab. Sie ließ ihre Füße weit vortreten, schaffte es aber nicht, ihn abzubremsen. Immer schneller rumpelte er hinter ihr her und drohte, sie zu überfahren. Es war ein ganz einfacher Karren ohne bewegliche Achsen. Nisha klammerte sich an der Stange fest und betete, bloß nicht hinzufallen, während ihre Füße in einem irren Stakkato über den Boden flogen. Sie wusste, dass gleich irgendwann eine Kurve kommen musste, und dann würde der Wagen am Felsen zerschellen. Sie hörte ein Pferd herangaloppieren. Plötzlich wurde der Karren leichter, und gleich darauf umfasste sie ein Arm und hob sie ans Pferd. Das Pferd wechselte so abrupt die Richtung, dass ihre Beine wie die einer Puppe durch die Luft flogen und sie hörte den Karren gegen den Stein knallen. Hart wurde das Pferd zum Stand gebracht. Der Arm ließ sie los und sie wich ängstlich vor dem unruhigen Pferd zurück, bevor sie sich traute, zu dessen Reiter zu blicken. Es war Vaine, der versuchte, das Tier zu beruhigen. Vor ihm lag der Sack mit Eliazar. Nisha hörte ihren eigenen Atem stoßweise gehen und das unruhige Schnauben des Pferdes. “Sitz hinter mir auf. Die anderen Pferde sind leider zurück gelaufen. Die werden gleich noch mehr Häscher schicken, also beeil dich.” Sie hatte noch nie auf einem Pferd gesessen. Mühsam zog sie sich am Sattel hoch, Vaine half, so gut er konnte. “Halt dich gut an mir fest.” Das hätte er ihr nicht zu sagen brauchen, sie hatte ihm die Arme schon um den Bauch geschlungen, bevor er seinen Satz zu Ende gesprochen hatte. Sie spürte, wie ein Ruck durch seinen Körper ging, als er dem Pferd in die Flanken trat, und wie das Tier widerwillig losrannte. Schmerzhaft schlug ihr die Sattelkante im Takt des Galopps in den Bauch und sie kniff die Augen fest zusammen. Tageslicht fiel durch ihre Lider, dann wurde es wieder dunkel und nach einer Weile wieder hell. Das Pferd wurde langsamer und sein Atem zu einem angestrengten Keuchen. Pferdeschweiß hatte Nishas Hose durchnässt und die Flanken des Tieres pumpten unter ihren Beinen. Vaine ließ das Tier anhalten und Nisha öffnete ängstlich die Augen. “Es hat keinen Zweck.” sagte er. “Mit drei Leuten auf einem Pferd haben wir keine Chance, den Soldaten davon zureiten. Kannst du schwimmen?” Sie standen auf einem offenen Stück der Strasse, neben ihnen gähnte ein Abgrund. “Ja, etwas.” “Dann steig ab.” Unbeholfen rutschte sie vom Pferd. Vaine sprang elegant aus dem Sattel und nahm Eliazar runter, dann machte er die Zügel am Sattel fest und ließ das Pferd laufen. Nisha wurde flau, als sie ´Vaine an den Rand des Abgrunds treten sah. “Da unten ist ein See. Wenn wir etwas Anlauf nehmen, schaffen wir es locker. Ich nehme deinen Freund.” “Vaine, das kann ich nicht.” stammelte Nisha entsetzt. “Ich kann da nicht runterspringen, wirklich nicht. Auf gar keinen Fall.” Vaine trat auf sie zu und sah sie liebevoll an. “Ganz ruhig, Nisha.” sagte er fast zärtlich. “Alles wird gut.” “Ich kann das nicht.” Tränen stiegen ihr in die Augen. “Glaub an mich, Nisha.” sagte er leise und wischte ihr sanft eine Träne mit dem Daumen weg. ”Alles wird gut und dir wird nichts Schlimmes passieren, solange ich bei dir bin. Glaub einfach an mich. Versuch es.” Der verträumte Blick seiner dunklen Augen hielt sie gefangen und sie spürte tatsächlich, wie sie ruhiger wurde. Vaine lächelte, nickte ihr kurz zu - und dann griff er sie unter den Armen, wirbelte sie zweimal im Kreis herum und warf sie mit Schwung in den Abgrund. “So ist es also, zu sterben.” dachte sie noch, dann schlug kaltes Wasser über ihr zusammen.
Weiß Gott, das wir in friedlicher Absicht kamen, doch von den Segnungen, die Technik und Fortschritt mit sich bringen, will hier niemand etwas wissen. Neulich versuchte ich, einem Zwerg den Vorteil des modernen Bergbaus zu erklären. Erst hörte er mir schweigend zu, dann wollte er wissen, wie ich es bewerkstelligen würde, einen Stollen zu bauen. Ich glaubte, meine Chance sei gekommen und erklärte ihm in möglichst einfachen Worten, wie so etwas mit Technik geht. Er ließ mich die Maschinen erklären und wollte auch wissen, wie diese gebaut werden und aus welchem Material. Den ganzen Tag habe ich erklärt, in den Sand gemalt, zu überzeugen versucht in der Hoffnung, einen Zugang zu ihm und seinem Volk zu finden. Aber als ich fertig war, legte er mir den Arm auf die Schulter, lächelte mich mitleidig an und sagte nur: “Das Problem deines Volkes ist, dass ihr nicht Ursas Segen habt.” Damit ließ er mich stehen. Es scheint, dass die primitiven Völker so sehr in ihrer Religion verhaftet sind, dass nur Gewalt eine Lösung zu schaffen vermag. Wir leben hier wie im tiefsten Mittelalter, und so kann es nicht weiter gehen.
Auszug aus dem Tagebuch eines Erstlings, aus der Sammlung “Das fremde Volk”