Beiträge von Amafiori

    Ich bevorzuge gedruckte Bücher (oder notfalls Lesen an einem Bildschirm) vorm Hören. Warum? In einem Buch kann ich, wenn ich merke, dass meine Konzentration nachlässt, ein paar Sätze zurückspringen und da wieder einsteigen. Beim Hören merke ich nicht so schnell, wenn meine Gedanken mal eben abgeschweift sind, und ich weiß dann nicht, an welcher Stelle ich wieder einsetzen muss. Die Sucherei danach wirft mich dann aus der Geschichte.

    In einem Buch kann ich auch Notizen an den Rand kritzeln oder Stellen unterstreichen.

    Zuhause höre ich eher Podcasts oder Hörspiele (ARD Tatort), wenn ich ruhige Tätigkeiten ausübe. Fingernägel feilen, oder beim Bügeln. Es müssen leise Tätigkeiten sein, andernfalls fehlt mir die Konzentration. Beim Auto fahren oder Laufen, wie so viele andere es lieben, brauche ich offene Ohren, um die größtmögliche Aufmerksamkeit für meine Umgebung zu haben.

    Daher muss ich zugeben, noch nie ein komplettes Buch als Hörbuch konsumiert zu haben. Ein wenig Nele Neuhaus Krimi, ein bisschen Harry Potter auf Niederländisch (um die Sprache besser verstehen zu lernen), immer mal wieder eine halbe Stunde aus verschiedenen Romanen, als der SWR im Kulturprogramm noch "Fortsetzung folgt" sendete, ein paar Märchen aus der ARD-Audiothek, aber mehr gesprochene Prosa kenne ich nicht.

    Ich bevorzuge beim Hören, wenn ich denn mal höre, männliche Stimmen, die aber nicht zu rau klingen sollten. Ob sie mich überzeugen, hängt auch davon ab, ob sie zu einem möglichen Ich-Erzähler passen. Eine jugendliche Stimme sollte nicht aus der Sicht eines reifen, alten Mannes lesen. Und schon gar kein Mann aus der Sicht einer Frau - und umgekehrt. Ein Buch wie beispielsweise "Herr der Ringe" oder "das Lied von Eis und Feuer" könnte ich mir nicht von einer weiblichen Stimme vorgelesen vorstellen, das würde mich irritieren.

    Mir gefällt die Karte gut, und auch auf die Geschichte bin ich nun neugierig.

    Was mich ein bisschen stört: Die Weiten Felder sind für meinen Geschmack zu groß geraten. Zu viel Fläche ohne Namen, Orte, ohne irgendwas. Vielleicht kannst du noch eine Ruine oder eine andere Art von "Lost Place" dort unterbringen, ganz gleich, ob er für die Handlung eine Rolle spielt oder nicht.

    Erstmal wünsche ich dir viel Glück und Erfolg.

    Das förmliche Anschreiben kann man so machen. Besser wäre noch, du findest heraus, wer der Lektor oder die Lektorin für dein Genre oder die zuständige Person für die Auschreibung ist und sprichst ihn oder sie namentlich an.

    Einmal hatte ich auch eine kreative Idee, passend zur Fantasy, die mir aber nicht geholfen hat. Sinngemäß so: Sehr geehrter..., seid gegrüßt und habt Dank, dass Ihr Euch Zeit für mich nehmt. Hier, setzt Euch ans Feuer. Darf ich Euch einen Met kredenzen? Macht es Euch bequem und dann lest über die Erlebnisse des ... und der... und wie sie ... . Lasst nach mir rufen, wenn Ihr fertig seid, auf dass wir darüber sprechen können.

    Tja, wie gesagt: Darauf erhielt ich keine Reaktion. Auf die förmlichen Anschreiben hagelte es Absagen. Ich hatte dann Glück bei einem Klein(st)verlag, aber für dessen Lektor hätte ich zu viel von meiner Geschichte kürzen, aufgeben und ändern müssen, wozu ich nicht bereit war. Aber das gehört hier ja überhaupt nicht her. Nur, dass du dich nicht wunderst, dass hier jemand klugsch...t, der selbst noch nie etwas veröffentlicht hat.

    Ich denke, du bekommst hier auch noch Antworten von erfolgreichen Autorinnen und Autoren. Aber egal, wie es ausgeht: Lass dich nicht entmutigen.

    Hallo Vampira84 ,

    Danke für deinen Text. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie aufgeregt ich nach meinem ersten Text hier auf Reaktionen gewartet habe.

    Das hier ist jetzt eigentlich so gar nicht mein Genre, aber ich war neugierig und habe mal bis hierher gelesen. Du schreibst schön und bildhaft, erschaffst ein schaurig-schönes Szenario für deine Geschichte.

    Ich kann allerdings Auroras Handlungsweise nicht ganz nachvollziehen. Wäre es nicht das Normalste der Welt, wenn sie bei dem kühlen Empfang und all den Warnungen, die sie erhält, sofort beschließen würde, ihr Erbe zu verkaufen und wieder abzureisen? Die Begegnungen mit Angel und Spike finde ich mehr beängstigend als faszinierend. Es kommt nicht klar raus für mich, warum sie bleibt, warum sie überzeugt ist, dass Angel ihr Schicksal ist.

    Und dann finde ich es befremdlich, dass Aurora mit dem Bus in Amaranth ankommt, sich die Menschen dort aber wie im Mittelalter verhalten. Du schilderst eine Schenke mit Kamin. Die Leute sprechen Aurora mit "Ihr" an. Sie aber siezt die Menschen. Es ist vielleicht nicht wichtig für die Geschichte und das was noch folgt, aber ich weiß gerne so ungefähr, in welcher Zeit ich mich beim Lesen befinde. Vielleicht ist aber gerade das typisch für Amaranth (aus der Zeit gefallen?) und ist so gewollt?

    Die Kapitel sind arg kurz. Du könntest die Unterteilung weglassen und alles fließend hintereinander erzählen, bis sich vielleicht ein größerer Einschnitt ergibt, wo dann ein neues Kapitel beginnen könnte.

    Diese Geschichte verspricht spannend zu werden. Von Anfang an düster, zeitweise schon recht unheimlich, weckt sie bei mir Ahnungen von gruseligen Vorkommnissen und Mitgefühl mit Wim.

    Dein Schreibstil und deine Art zu erzählen gefallen mir sehr gut, die Geschichte hat mich gepackt, und ich möchte unbedingt wissen, wie es Wim weiter ergeht.

    Zwei kleine Verbesserungsvorschläge:

    Spoiler anzeigen

    Sie gelangten schließlich in einen runden Raum ohne Fenster, aber dafür doppelt so vielen Türen

    Doppelt so viel wie null ist immer noch null. Das mit den vielen Türen solltest du anders formulieren. Vielleicht "..., aber dafür umso mehr Türen."

    sporadisch eingerichtet

    Du meinst vermutlich "spartanisch" eingerichtet.


    Ansonsten: Gerne weiter so. Ich freue mich darauf, mehr von dir zu lesen.

    Diese Geschichte hat viel Witz und Hintersinn. MIr gefällt sie. Aber es ist zu viel Hintersinn, falls die Märchenanthologie sich an Kinder richten soll. Übrigens finde ich, dass viele sogenannte Kinderbuchklassiker mit ihren skurrilen Figuren und Wortspielen von den meisten Kindern nicht verstanden werden können. Die Mumin-Geschichten von Tove Jansson zum Beispiel oder auch Alice im Wunderland.

    Also die drei Figuren hier sind herrlich, ganz besonders dieser Erkläriker, der das klitzekleine Kätzchen so hochgestochen zuschwallt. Omniszienz 🤣 und wie das Wort missverstanden wird, köstlich!

    Also mach dir nichts aus der Ablehnung und denk dir gerne weitere Abenteuer vom KK und DDD aus. Ich denke, hier werden sie gerne gelesen werden.

    Vielen Dank, Chaos Rising , für deine Zeit und die viele Arbeit, die du in meine kurze Geschichte investiert hast! Ich glaube, keiner meiner Texte wurde je so ausführlich bewertet. Und für den Link. Die Sache mit der narrativen Distanz werde ich mir morgen einmal gründlich durchlesen.

    Ich denke, ich erzähle überwiegend auktorial, daher benutze ich auch immer wieder gerne die "schönen Wörter" oder teils gehobene Sprache, welche die meisten meiner Figuren nie selbst benutzen würden. Und deswegen "hüpfe" ich auch zwischen den Figuren hin und her. Dass dies Lesende irritierten oder stören kann, habe ich mir noch nie bewusst gemacht. Ich bin momentan also sehr überrascht über die Reaktionen hier, aber ich anerkenne sie als Reaktion von Leuten, die sich auskennen, und sie geben mir zu denken. Vielleicht sollte ich mich beim Erzählen in Zukunft eher auf die Ich-Form konzentrieren.

    Lieber Sensenbach ,

    vielen Dank für deinen Kommentar.

    Dass der Junge keinen Namen hat, rührt daher, dass ich einmal gelesen habe, ein Protagonist einer Kurzgeschichte benötigte keinen. Die Begründung lautete in etwa so, dass sich auf diese Art jeder Lesende leichter mit ihm identifizieren kann. Da es sich bei dem Jungen um den Helden meiner Romanserie handelt, könnte ich ihm durchaus auch einen Namen geben. Ich habe mich beim Schreiben übrigens gewundert, dass ich trotzdem jederzeit genügend Worte und Bezeichnungen für ihn hatte, ohne auf seinen Namen zurückgreifen zu müssen.

    Mit der Belohnung hast du gewiss recht, eine Münze im Wert eines neuen Hemdes ist ein wohl zu viel für ein paar Minuten auf zwei Getreidesäcke aufpassen. Ich wollte allerdings verdeutlichen, dass der Betrag die Eltern versöhnen und über das zerrissene Hemd hinwegtrösten sollte, da es sich um eine relativ arme Familie handelt. Ein Mann, der einen so hohen Betrag für eine derart kleine Handreichung erübrigen kann, wäre aber wohl eher mit einem Wagen unterwegs statt mit einem Esel. Ich werde das also irgendwie relativieren müssen.

    Hier kommt nochmals eine Erzählung von mir. Sie könnte als Prolog vor meiner Romanserie stehen, denn sie stellt den Protagonisten als Kind sowie die titelgebende "verbotene Gabe" vor. Viel Spaß beim Lesen!


    ___________________________________________________________________________

    Die Gabe der Götter

    Bauer Jorek war zornig, überaus zornig. Er wollte und er würde noch heute Nachmittag dieses vermaledeite Feld pflügen, aber der Ochse, der den Pflug ziehen sollte, stand störrisch da und ließ sich weder durch gutes Zureden noch durch Anbrüllen oder Schlagen überreden, auch nur einen weiteren Schritt vorwärts zu tun. Schon mehrmals hatte Jorek zunächst die Gerte, dann einen dicken Holzknüppel, den er vom Feldrain aufgelesen hatte, auf den Rücken des Tieres herabsausen lassen, doch vergebens. Und nun stand auch noch dieser Knirps am Feldrand und starrte unentwegt zu ihm herüber.

    "Was glotzt du so?", schrie er den Knaben an. "Hast du nichts Besseres zu tun als hier Maulaffen feil zu halten? Verschwinde!"

    Der Junge dachte jedoch nicht daran, zu verschwinden. Stattdessen kam er näher heran, bis er vor dem widerspenstigen Ochsen zu stehen kam, legte diesem eine Hand auf die bebende Flanke und erklärte: "Es ist nicht so, dass er nicht gehorchen will, Herr Jorek. Er kann es nicht. Sein Herz ist zu schwach."

    Dem Bauern klappte die Kinnlade herunter. "Willst du Rotzlöffel mich zum Narren halten?"

    "Nein, ganz und gar nicht", erwiderte der Knabe ernsthaft. "Euer Ochse ist herzkrank. Ihr solltet ihn ausspannen und in den Stall bringen. Vielleicht erholt er sich noch einmal. Aber für schwere Arbeit wie das Pflügen taugt er nicht mehr."

    "Du hast sie wohl nicht alle beieinander!", wetterte der Bauer. "Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Woher willst du das überhaupt wissen?"

    "Aber das spürt man doch", war die erstaunte Antwort des Kindes. "Könnt Ihr es denn nicht auch fühlen?"

    "Nein, du neunmalkluge Landplage!", schimpfte Jorek. "Mit dir ist wohl deine Phantasie durchgegangen. Lass mich in Ruhe und verschwinde!" Das musste der Kleine von Janomar sein, dachte der Bauer bei sich. Er würde einmal ein offenes Wort mit dem Mann sprechen müssen. Warum ließ er den Bengel ständig umherstreifen? Gab es etwa keine nützliche Arbeit für ihn zu tun? Sein eigener Sohn, Jenek, war von früh bis spät auf dem Hof beschäftigt und trug zum Auskommen der Familie bei. Nun ja, fast von früh bis spät. Janomars Junge war zwar noch viel jünger, er mochte vielleicht gerade einmal sechs Jahre alt sein, aber trotzdem könnte er schon längst die eine oder andere sinnvolle Aufgabe erledigen, anstatt ehrlich und hart arbeitenden Männern lästig zu fallen. Als Jorek aufblickte, war der Knabe immer noch da.

    "Aber seht doch", insistierte er und wies auf das Tier, dessen Flanken sich bei jedem der viel zu flachen und schnellen Atemzüge hoben und senkten und dem bereits der Schaum vor dem Maul stand. "Er braucht Wasser und Ruhe."

    "Kannst du nicht hören? Ich sagte, geh mir aus den Augen." Drohend hob Jorek die Gerte.

    Der Junge wich einen Schritt vor ihm zurück, ohne die Hand von dem Tier zu nehmen. "Bitte." Er flehte regelrecht. "Ihr müsst ihn ausschirren. Sonst werdet Ihr ihn verlieren." Jetzt hatte er Tränen in den Augen und blickte den Ochsen mitleidig an.

    Jorek hatte genug. Er ließ den Ochsen stehen, machte einen Satz auf den Jungen zu, packte ihn grob am Arm und zerrte ihn quer über das Feld zum Fahrweg, wo er ihn energisch von sich stieß. "Kein Wort mehr! Mach, dass du fort kommst", zischte er. "Oder..." Noch einmal tat er, als würde er mit der Gerte ausholen.

    "Aber..."

    Jorek ließ ihn nicht ausreden. Zischend fuhr die Gerte zweimal auf ihn herab und traf ihn seitlich am Oberarm, wo sie sein viel zu dünnes Hemd aufschlitzte und zwei dicke rote Striemen hinterließ.

    Der Junge schrie auf, mehr vor Schreck als vor Schmerz, und verstummte.

    "Fort mir dir! Ich will dich hier in der Nähe nicht mehr sehen, hast du verstanden?" Ein weiteres Mal ließ der Bauer die Gerte durch die Luft pfeifen, doch dieses Mal achtete er darauf, das Kind nicht zu treffen.

    Der Knabe blickte ihn traurig aus großen Augen an, nickte schweigend, wandte sich ab und ging davon, indem er sich immer wieder nach dem Ochsen umblickte.

    Jorek wartete, bis er fort war und kehrte zu seinem Ochsen zurück. "Jetzt hast du dich lange genug ausgeruht", murmelte er, hob den Knüppel wieder auf und ließ ihn mit einem lautstarken "Hüh!" auf das Hinterteil des Ochsen herabfahren. Widerwillig und mühsam setzte sich das Tier in Bewegung. "Na also, es geht ja. Der spinnt doch, der Kleine." Zufrieden mit sich trieb er den Ochsen weiter an. Und in der Tat lief dieser jetzt los und wurde schnell, fast als wollte er seinem Peiniger entfliehen. Laut lachend richtete der Bauer den Pflug auf und lenkte den Ochsen vor sich her.

    Er war noch nicht einmal am Ende der Furche angekommen, als das Tier lautlos in seinem Geschirr zusammenbrach, auf die Seite fiel und sich nicht mehr rührte.

    "Was bei allen Dämonen...?" Jorek ließ den Pflug los und kniete neben dem Zugtier nieder. Ein eisiger Schauer überlief ihn, als er feststellte, dass Janomars Knirps Recht behalten hatte. Der Ochse hatte unbestreitbar soeben sein Leben ausgehaucht.

    ___________________________________________

    Der Junge hatte sich zwischen den Bäumen versteckt und hatte Joreks Ochsen fallen sehen. Er vergoss heiße Tränen, nicht nur aus Trauer um das arme Tier, sondern auch aus Enttäuschung, weil es ihm nicht gelungen war, Bauer Jorek zu überzeugen, ihn zu schonen. Er hatte versagt, wieder einmal. Warum wollten die Erwachsenen ihn nicht verstehen, wenn er versuchte, ihnen zu erklären, dass es einem Tier nicht gut ging? Warum schaute ihn die Nachbarsfrau jedes Mal so seltsam an, wenn er ihr sagte, dass ihr Säugling Zahnschmerzen litt, Hunger oder die Windeln voll hatte, obwohl es stets stimmte? Warum verlachten ihn die anderen Knaben im Dorf, wenn er versuchte, ihnen zu verbieten, mit Steinen auf die Katze des Müllers zu zielen oder den Vögeln die Eier aus den Nestern zu stehlen? Zuweilen kam es ihm so vor, als könnten sie nicht fühlen, was die Tiere oder ihre Mitmenschen empfanden. Aber das konnte doch nicht sein, oder etwa doch?

    Endlich versiegten seine Tränen. Es war an der Zeit, heimzukehren. Niedergeschlagen durchquerte er das kleine Wäldchen, das dem Müller gehörte, umrundete den Forellenteich und setzte mit einem Sprung über den Mühlbach. In der Ferne waren schon die ersten Häuser des Dorfes zu sehen, und aus einigen Fenstern fiel schon ein heimeliger Lichtschein. Er begann, schneller zu laufen. Seine Eltern würden ihn schelten, wenn er nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam. Überdies würde ihm die Mutter wegen des zerrissenen Hemdsärmels Vorhaltungen machen. Sie hasste es, wenn ihr Sohn mit geflickter Kleidung herumlaufen musste, doch neue Hemden außer der Reihe konnte sich die kleine Familie nicht leisten. Seine Mutter enttäuschen zu müssen schmerzte den Jungen mehr als die Verletzung, die Jorek ihm zugefügt hatte.

    Auf halbem Weg kam ihm ein fremder Mann entgegen, der einen mit fünf Kornsäcken schwer - zu schwer - beladenen Esel hinter sich her zerrte. Schon von weitem konnte der Junge fühlen, wie die Knochen und Gelenke des Tieres schmerzten und wie angestrengt es atmete. Der Knabe seufzte. Durfte er nach dem Erlebnis mit Bauer Jorek noch einmal wagen, einen Erwachsenen auf das Leid seines Tieres anzusprechen? Als der Fremde näher kam, hörte der Junge ihn leise vor sich hin fluchen, während er kräftig, aber erfolglos immer wieder an dem straffen Strick zerrte und sich das Tier nicht von der Stelle rührte.

    "Heraios zum Gruße", machte er den Mann auf sich aufmerksam.

    Dieser blickte auf. "Sei gegrüßt, Junge. Bin ich hier auf dem richtigen Weg zu eurem Müller?"

    "Ja, nur immer geradeaus, und vor dem Wäldchen, das Ihr dort sehen könnt, auf der rechten Seite ist die Mühle."

    "Danke." Der Mann kramte in der Tasche seiner Jacke und brachte eine silberne Münze zum Vorschein, die er dem Jungen zuwarf.

    Er fing sie geschickt aus der Luft, steckte sie jedoch nicht ein, sondern reichte sie zurück. "Habt Dank", sagte er höflich. "Doch wenn ich mir etwas von Euch wünschen dürfte..." Er brach ab. Was er vorhatte, war nicht in Ordnung, sondern etwas, wovon seine Mutter gewiss sagen würde, sie müsste sich für ihren Sohn schämen.

    Der Fremde blickte ihn jedoch freundlich interessiert an "Ja? Heraus mit der Sprache, nur Mut."

    „Euer Esel…“ Er zögerte.

    „Ja, was willst du mir sagen? Dass er ein faules, störrisches Tier ist? Das weiß ich selbst.“

    „Nein. Verzeiht, mein Herr, doch ich glaube, er würde Euch freudiger gehorchen, wenn Ihr ihm einen Teil seiner Last abnehmt. Er trägt zu schwer an diesen Kornsäcken.“

    Verblüfft starrte der Mann den Knaben vor sich an. „Habe ich dich richtig verstanden? Du wünschst dir, dass ich diesem Mistvieh einen Sack oder zwei abnehme? Willst du die denn zur Mühle tragen? Heh?“

    „Das kann ich nicht. Noch nicht“, erwiderte das Kind ernsthaft. „Aber ich würde für Euch darauf aufpassen, bis Ihr wieder kommt und sie abholt. Ihr werdet sehen, Euer Esel wird viel schneller gehen, so dass Ihr keine Zeit verliert, auch wenn Ihr den Weg zweimal macht.“

    Der Mann lachte laut auf. „Du gefällst mir, Kleiner. Lassen wir es also darauf ankommen. Wenn du Recht hast, bekommst du deinen Willen und die Münze. Wenn du mich aber auf den Arm nehmen willst, sollst du schon sehen, was du davon hast, einem redlichen Mann seine Zeit zu stehlen.“ Mit diesen Worten band er zwei der Kornsäcke los, nahm sie von des Tieres Rücken und ließ sie am Wegrand ins Gras fallen. „Und wenn das ein fauler Trick ist, um mir mein Korn zu rauben, sollst du mich kennenlernen. Ich finde dich und deine Komplizen, das schwöre ich dir.“

    „Keine Sorge“, erwiderte der Kleine. „Dergleichen wird nicht geschehen. Ich meine es ehrlich mit Euch.“ Mit diesen Worten setzte er sich neben die beiden Säcke auf den Boden und nickte dem Mann aufmunternd zu.

    Kopfschüttelnd ergriff der Fremde den Führstrick und ruckte daran. Zu seiner Verwunderung setzte sich das Tier tatsächlich sofort in Bewegung und folgte ihm schnellen Schrittes zur Mühle, wo er die Säcke ablud, umkehrte und den Jungen, wie jener es versprochen hatte, neben seinem unberührten Eigentum vorfand. Als er ihn herankommen sah, sprang er auf und blickte ihm erwartungsvoll entgegen. Der Mann nickte anerkennend. „Ich hätte es nicht gedacht, aber du lagst offenbar richtig. Hier“, er zog ein weiteres Mal die Münze aus der Tasche. „Nimm. Du hast sie dir verdient.“

    Dieses Mal nahm der Junge sie dankend entgegen. Er freute sich, denn sie würde gewiss für ein neues Hemd reichen. Noch mehr freute ihn jedoch, dass es dem Esel besser ging als zuvor und dass dieser Mann ihm geglaubt und auf seinen Rat gehört hatte. Höflich verabschiedete er sich, und während der Fremde seinem Tier die beiden Säcke auflud, sprang er fröhlich davon.

    ____________________________________________

    Außer Atem kam er zu Hause an. Er war gerannt, so schnell er konnte, denn es war inzwischen bereits dunkel geworden, und er wusste, dass er das elterliche Gebot wieder einmal übertreten hatte. Doch hatte er eine Wahl gehabt? Er hatte dem Fremden sein Wort gegeben, bei den Kornsäcken Wache zu halten. Gewiss würde die Silbermünze, die er von ihm erhalten hatte, seine Eltern versöhnen.

    Er trat ein – und erstarrte. In der Stube am Tisch saßen sein Vater und Bauer Jorek. Der Gast wirkte erbost und zufrieden zugleich, der Vater unendlich niedergeschlagen und traurig. „Geh nach nebenan“, befahl er grußlos, und der Junge gehorchte.

    In der kleinen Kammer neben der Wohnstube erwartete ihn die Mutter, in Tränen aufgelöst.

    „Was ist?“, fragte er flüsternd.

    „Ach Kind“, seufzte die Mutter nur und zog ihn in ihre Arme. „Was hast du getan?“

    „Ich? Nichts.“

    „Jorek behauptet, du habest seinen Ochsen verhext und daraufhin sei dieser gestorben. Er verlangt, dass wir für den Wert des Tieres aufkommen. Aber so viel Geld haben wir nicht.“

    „Mama!“ Empört machte er sich los. „Das ist nicht wahr! Der Ochse war krank, und er hat ihn geschlagen und angetrieben, obwohl ich ihm erklärt habe, dass er nicht mehr arbeiten kann. Er hat mir nicht geglaubt, aber ich hatte Recht. Deshalb ist der Ochse gestorben. Es ist seine Schuld, nicht meine.“

    „Ach, mein Junge. Du sollst doch nicht immer mit Erwachsenen streiten. Warum mischst du dich ständig in ihre Angelegenheiten ein?“

    „Weil es mir weh tut, wenn die Tiere leiden. Das kann ich doch nicht zulassen, oder?“

    Sie seufzte wieder. „Es sind nur Tiere, Schatz. Jorek aber ist unser Nachbar, und wir wollen gut mit ihm auskommen. Geh ihm in Zukunft einfach aus dem Weg, hörst du?“

    Der Junge schwieg nachdenklich. „Nur Tiere“, hatte die Mutter gesagt. Aber Jorek hatte auch ihn geschlagen. Dennoch hielt ihn irgendetwas davon ab, es ihr zu erzählen. Er spürte, dass es ihr in Wahrheit um etwas ganz anderes ging, und er sollte Recht behalten.

    „Ich finde, du bist allmählich alt genug, mit dieser Gefühlsduselei aufzuhören“, sagte sie. „Tiere sind dazu da, den Menschen als Nahrung zu dienen oder ihnen die Arbeit zu erleichtern. Sie leiden nicht, sondern sie tun, wozu sie geboren sind. Hör auf, sie zu vermenschlichen. Im Übrigen arbeiten auch Menschen hart für ihr Brot.“

    „Aber Menschen haben die Wahl, die Tiere nicht!“, begehrte er auf. „Und ich weiß es, wenn sie Schmerzen haben und erschöpft sind. Ich fühle es. Fühlst du es denn nicht auch?“

    Sie schüttelte den Kopf, und er wusste, dass sie ihn nicht verstand. Konnte es tatsächlich sein, dass sie nicht wusste, wovon er sprach? Und nicht nur die Mutter, sondern auch Bauer Jorek, oder der Fremde mit dem Esel, und die anderen Kinder im Dorf?

    „Niemand weiß, was Tiere fühlen“, behauptete sie. „Auch du nicht, mein Sohn. Das bildest du dir ein. Ich möchte, dass du aufhörst, dir ständig Gedanken darüber zu machen. Ich will nicht, dass unsere Nachbarn dich für … überspannt halten, verstehst du?“

    Sie hätte ebenso gut „verrückt“ sagen können. Entsetzt blickte er zu ihr auf. Hielt sie ihn für nicht normal? War er etwa nicht normal? Aber selbst wenn, was war schlecht daran? Gewiss hatten die Götter ihm die Fähigkeit, die Gefühle anderer Lebewesen teilen zu können, nicht ohne Grund verliehen? Ebendiese Fähigkeit zeigte ihm jedoch in diesem Augenblick, wie sehr seine Mutter litt, wie bekümmert sie seinetwegen war und wie viele Sorgen sie sich um seine und die Zukunft ihrer kleinen Familie machte. Ihr schien unendlich viel daran zu liegen, dass er sich „normal“ verhielt und dass er aufhörte, allen die es hören oder auch nicht hören wollten, die Befindlichkeit ihrer Tiere, Kleinkinder oder Alten, die sich nicht mehr artikulieren konnten, zu erklären. Ja, mehr noch, sie wünschte, dass er aufhörte, sich in sie alle einzufühlen. Sie schien überzeugt, dass es ihnen allen, aber vor allem auch ihm, dann besser gehen würde.

    „Verstehst du?“, wiederholte sie eindringlich.

    Traurig nickte er. Er hatte verstanden. Und ihr zuliebe wollte er es versuchen. Sie war seine Mutter, und sie liebte ihn. Er war nur ein Kind. Sie und Vater wussten bestimmt, was gut für ihn war.

    „Willst du es versuchen?“, fragte sie. „Alles wird so viel einfacher werden für dich und für uns alle.“

    Er fühlte, dass sie sich offenbar nichts auf der Welt mehr wünschte. Er fühlte es so sehr, dass es weh tat, und er wollte seiner Mutter um nichts auf der Welt Schmerz bereiten. „Hm.“ Er gab ein bestätigendes Murmeln von sich. Und dann machte er den Anfang und schloss versuchsweise ganz energisch die Gefühle seiner Mutter aus.

    Er war überrascht, wie schnell es ihm gelang. Sofort schien ihn eine eisige Kälte zu umfangen und er fühlte sich plötzlich wie allein gelassen, aber zugleich erfasste er auch, was die Mutter zuvor gemeint hatte. Auf einmal war ihm unbeschwert und leicht zumute. Überrascht stellte er fest, dass ihm das sogar ein wenig gefiel. Und in dem zufriedenen Lächeln seiner Mutter erkannte er auch ohne ihre augenblicklichen Empfindungen zu kennen, dass er sie augenscheinlich glücklich gemacht hatte.

    Und als sein Vater ihn wieder in die Stube rief und ihn nötigte, sich bei Bauer Jorek zu entschuldigen, entsprach er diesem Wunsch gleichgültig, ohne dass ihm, wie es früher der Fall gewesen wäre, vor Vaters Angst und Unterwürfigkeit und des Bauern hämischer Überheblichkeit schier übel wurde, indem er deren Empfindungen schlichtweg aussperrte.

    Später am Abend bedauerte er es ein wenig, die Überraschung und die Freude seiner Eltern über den unverhofften Reichtum, den er heimgebracht hatte, nicht wie ehedem teilen zu können und nicht erzählen zu dürfen, auf welche Weise er sich das Geld verdient hatte. „Ich habe einem Mann geholfen, sein Korn zum Müller zu transportieren“, sagte er knapp und gewissermaßen wahrheitsgemäß und war aufs neue erleichtert, als er merkte, wie einfach es doch war, den vorwurfsvollen Nachfragen, die seine Erlebnisse sonst bei den Eltern hervorriefen, zu entgehen.

    Vielleicht hatte ihm die Mutter mit ihrer Forderung letztendlich sogar einen Gefallen getan? Ein Anfang war gemacht. Vielleicht würde er tatsächlich lernen, sich dauerhaft so zu verhalten, wie seine Eltern es wünschten. Er würde die Vielfalt der Gefühle, die er kennengelernt hatte, gewiss vermissen, aber er hatte bereits in diesen wenigen Augenblicken eine Ahnung davon bekommen, um wie viel leichter er ohne sie womöglich durchs Leben gehen würde.

    _________________________________________

    So verschloss er sich mehr und mehr, und immer seltener erhaschte er so etwas wie eine Ahung dessen, was seine Mitmenschen und andere Lebewesen empfinden mochten.

    Während er heranwuchs, sanken die Erinnerungen an seine frühe Kindheit auf den Grund seiner Seele. Er blieb ein sensibler und hilfsbereiter Junge, doch er verbrachte eine meistenteils unbekümmerte Kinderzeit in seinem Dorf, und seine dankbaren Eltern mussten sich ihres Sohnes nur noch selten schämen.

    Die Götter jedoch würden es nicht hinnehmen, dass ihre kostbare Gabe verschüttet worden war. Sie gedachten, sie dereinst wieder zu erwecken, und dann würde sie sehr viel Leid, aber auch nie gekanntes Glück über ihren Träger bringen.

    Danke, Thorsten

    Erkenntnis: Rikian sollte wenigstens (mindestens) einen kleinen oder auch größeren Fehler begehen, um "menschlicher" rüberzukommen. Ich glaube, ich neige dazu, meine Helden so zu überhöhen, das passt auch auf andere Geschichten von mir und gibt mir zu denken. Und es gefällt mir, dass ich das hieraus gelernt habe.

    Lieber Thorsten ,

    vielen Dank, dass du dir so viele und tiefe Gedanken zu meiner Geschichte gemacht und aufgeschrieben hast. Sehr interessante Gedanken, die ich so nicht erwartet hätte und die ich doch größtenteils nachvollziehen kann. Mich würde brennend interessieren, wie du die Geschichte erzählt und enden gelassen hättest, aber mir ist klar, es geht zu weit, mir zu wünschen, dass du sie auf deine Art neu erzählst.

    Allerdings kann ich sie auch nicht neu erzählen, weil die alte Geschichte zu tief in mir drin steckt. Ich wollte eine einfache Geschichte erzählen von einem verbitterten alten Mann, der widerwillig einen jungen Lehrling bei sich aufnimmt, der seinerseits diese Lehre widerwillig antritt. Und wie diese beiden mit der Zeit zusammenfinden. Ja, und wie der Junge das Leben des alten Mannes gewissermaßen "in Ordnung bringt". Wozu allemal zwei gehören. Der eine, der es möchte, und der zweite, der sich darauf einlässt. Ich sehe Hollgrim nicht als Rikians Opfer. Er hätte den Jungen jederzeit wegschicken oder anderweitig in seine Schranken weisen können.

    Ich hatte gehofft, dass "der Bücherwurm ohne Lebenserfahrung" sympathischer rüberkommt. Schließlich gibt er sich Mühe und lernt, die Köhlerei ordentlich auszuüben, und er meint es gut mit seinem mürrischen Meister. Ich wollte ihn fleißig, anstellig, einfühlsam, aufrichtig (er gibt zu, dass er weiterhin Schnaps wegkippen und eigentlich kein Köhler sein will) und kreativ (indem er, wie auch immer, das bleibt der Phantasie der Lesenden überlassen, den Fuhrmann zum Bezahlen bewegt und die Leute im Dorf, den überfallenen Hollgrim zu suchen) und fürsorglich. Vielleicht bräuchte er einen oder zwei kleine Charakterfehler, um realistischer und (dir) sympathischer rüberzukommen. Das war mir aber bereits klar, als ich ganz zu Beginn angekündigt hatte, der junge Protagonist wäre möglicherweise zu "gut um wahr zu sein". Für eine Erzählung ist das in Ordnung, für einen Roman müsste ich ihn echter gestalten.

    Die logischen Fehler werde ich gelegentlich beseitigen. Gut, dass mich jemand darauf aufmerksam gemacht hat!

    Es hat mir großen Spaß gemacht, die Geschichte hier zu teilen und auch Kritik (sowie Lob, Danke auch dafür!) dazu bekommen zu haben (oder noch zu bekommen). Eine feine Sache, dieses Forum!

    Ich habe eine weitere Geschichte in Arbeit, aber die genügt meinen Ansprüchen noch nicht ganz. Ich freue mich schon wieder auf den Austausch darüber.

    Vielen Dank, Thorsten

    Genau dafür brauchte ich so ein Forum und aufmerksame Leser und Leserinnen, die auf solche Ungereimtheiten aufmerksam machen.

    Ich hatte mir das so zurechtgelegt: Dass der Schnaps dieses Mal schlimmer reinhaut und Hollgrim es fertig bringt, beinahe seine Hütte abzufackeln, liegt an den Schlägen (mit dem Knüppel auf den Kopf), die er zuvor einstecken musste.

    Dass die Reaktion des Fuhrmanns nicht überzeugt, damit hatte ich nicht gerechnet. Dass Rikian zu "gut" ist um wahr zu sein, hatte ich ja bereits angekündigt. Dazu gehört auch, dass er Möbel repariert und aufgebrachte Erwachsene überredet zu tun was er von ihnen wünscht. 😉

    Dass dies meine LeserInnen nicht überzeugt, hätte ich ahnen müssen.

    Da muss ich also nochmal in mich gehen und "nachsitzen", aber hier lasse ich die Geschichte jetzt mal so stehen.

    Und hier kommt das Ende:


    zwölf

    Ich hörte Stimmen.

    „Hier ist er!“

    Dann vernahm ich eilige Schritte und spürte, wie sich jemand neben mir zu Boden warf.

    „Den Göttern sei Dank. Meister Hollgrim, könnt Ihr mich hören?“

    Das konnte ich, doch mir fehlte die Kraft, zu antworten. So brachte ich lediglich ein schwaches Stöhnen hervor.

    Eine Männerstimme befahl: „Geh beiseite Junge, mach Platz.“

    Ich fühlte mich von starken Armen emporgehoben und auf eine Trage gelegt. Jemand deckte einen warmen Umhang über mich.

    Als ich das nächste Mal zu mir kam und die Augen aufschlug, befand ich mich im Inneren eines Hauses und lag in einem weichen Federbett. Über mir erkannte ich eine holzgetäfelte Decke, von irgendwo neben mir kam ein schwacher Lichtschein, und nahebei knisterte ein Feuer. Wider Erwarten war mir wohlig warm, so warm, dass ich mich fragte, ob ich denn jetzt tot sei und in den jenseitigen Gefilden, oder ob ich den Überfall und die Nacht im eisigen Wald nur geträumt hatte. Doch dafür schmerzte mein Kopf zu sehr, und zwar schlimmer als nach dem Saufen, viel schlimmer.

    „Hollgrim, alter Freund. Wie geht es dir?“ Orsa. Wie war ich in Orsas Haus gekommen?

    „Durst“, brachte ich hervor.

    Orsa gab mir zu trinken. Ich schmeckte warmen Tee und Honig. „Lindenblüten“, erklärte sie. Die werden dir einheizen. Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“

    Ich versuchte es, und da fiel mir der unglückselige Sonnendwendnachmittag wieder ein. Die Taverne, der Met und der Schnaps, das Kartenspiel, meine Siegesserie - und der Überfall. Hernach die Kälte und die Schmerzen – und die Wölfe! Die mich nicht gefressen hatten, so viel stand fest. „Hm“, brummte ich. „Überfall.“

    Sie erschrak und nahm meine Hand. „Du Ärmster“, murmelte sie zärtlich.

    „Er hat Glück, dass er noch lebt“, mischte sich jetzt jemand anders ein. „Das hätte auch ganz anders ausgehen können.“

    Orsa lachte leise. „Hollgrim hatte schon immer einen Dickkopf. Vermutlich hat ihm der das Leben gerettet.“

    „Das, und dass so schnell nach ihm gesucht wurde“, entgegnete der Fremde. „Noch ein paar Stunden länger da draußen, und er wäre erfroren.“

    Orsa nickte wissend, ließ meine Hand los und erhob sich. „Habt Dank, dass Ihr so schnell gekommen seid, Herr Medicus.“

    „Euer Enkel versteht sich darauf, jemanden zu überzeugen“, erwiderte der Mann lächelnd.

    „Mein Enkel? Ah so“, Orsa lachte und verzichtete darauf, den Sachverhalt richtigzustellen. „Ja, er hält große Stücke auf seinen Meister“, sagte sie stattdessen.

    Ich spitzte die Ohren.

    „Ernsthaft?“, frage der Medicus. „Es gibt jemanden, der mit Hollgrim auskommt?“

    He, was erlaubte der sich eigentlich?

    „Nicht nur einen“, erwiderte Orsa. „Bei Hollgrim muss man hinter die Fassade blicken.“

    „Na denn.“

    Mehr war nicht zu erfahren. Der Heiler verabschiedete sich und Orsa kehrte an mein Bett zurück.

    Ich empfing sie mit einem Grinsen. „Wo steckt denn – mein Enkel?“

    „Er schläft nebenan in der Stube“, sagte sie. „Nachdem man dich gefunden hat, hat er deine Tiere versorgt und ist wieder gekommen, um an deinem Bett zu wachen. Darüber ist er allerdings eingeschlafen. Kein Wunder, nachdem er den halben Wald nach dir durchkämmt hat.“

    „Wie hat er mich überhaupt gefunden? Woher wusste er, wo ich gewesen war?“

    „Er war gestern in seinem Heimatdorf mit seinem Vater in der Taverne. Dort belauschten sie drei Männer, die sich mit dem Überfall auf einen alten Mann gebrüstet haben. Sie kippten den Lederbeutel aus und zählten das Geld, um es zu teilen. Er hat den Beutel erkannt und eins und eins zusammengezählt. Er ist sofort aufgebrochen, um die Suche nach dir zu organisieren. Um die drei feinen Herren hat sich Jomlor gekümmert. Sie sitzen nun in Rindoria im Gefängnis, und dein Geld ist bei dir daheim wieder sicher verwahrt.

    „Ich fasse es nicht“, keuchte ich.

    „Und doch, genau so war es.“ Orsa lächelte wieder. Ich könnte mich an dieses Lächeln gewöhnen. „Die Götter müssen dich lieben.“

    Vielleicht hatte Orsa Recht. Sie hatten mir Rikian gesandt. Verstehe mal einer die Götter.

    Epilog

    Orsa bestand darauf, mich bis zu meiner endgültigen Genesung bei sich zu behalten. Rikian kehrte in meine Köte zurück, versorgte die Tiere und bereitete den neuen Meiler vor.

    Er leistete gute Arbeit, doch er räumte, als ich zurückkam, bereitwillig den Platz in meiner Hütte und zog wieder in die Kammer neben dem Stall, ebenso wie er sich von da ab zurücknahm und wieder lediglich meine Anweisungen ausführte.

    Eines allerdings hatte sich geändert. Wir verbrachten die Abendstunden zusammen und führten das eine oder andere gute Gespräch oder, wenn mir nicht nach Reden war, schwiegen wir gemeinsam.

    Fast auf den Tag genau drei Jahre, nachdem er zu mir gekommen war, nahm er seinen Abschied. Er hatte die ganze Zeit über keinen Zweifel daran gelassen, dass er nach Ablauf der Zeit, die ich mit seinem Vater verabredet hatte, gehen würde, und so hatte ich Zeit gehabt, mich an den Gedanken zu gewöhnen, wieder allein zu sein. Einen anderen Lehrling oder Gehilfen wollte ich nicht. Eher würde ich mich zur Ruhe setzen. Orsa hatte mir angeboten, zu ihr zu ziehen, und Rikian, den ich um Rat gefragt hatte, hatte mir zugeraten. Die Schmieden und Erzhütten rund um Rindoria würden sich einen neuen Köhler suchen müssen.

    Und die Magier in Elteran durften sich auf einen Zauberlehrling freuen, der bereits jetzt schon die Magie des Feuers verinnerlicht hatte.

    Olganschnaps habe ich übrigens nie wieder angerührt.