Blickwinkel
von Aztiluth
Anfang
Prophet
Einst sprach unser Schöpfer zu uns -
Wir standen am Anfang und in seiner Gunst.
Er gab uns Leben und er gab uns den Tod -
Er gab uns Freude und er gab uns die Not.
Rot leuchtete der Stein, wir durften leben -
Blau wird er leuchten, dann werden wir sterben.
Nie wieder sprach der Schöpfer zu uns -
Am Ende verfallen wir in Staub und Dunst.
4
König
Vor Generationen erschufen seine Vorfahren die große Halle, mit den goldenen Wandteppichen aus edlem Satin und Fenstern aus feinstem Kristall.
Handrim Drumail Ludbin, der Elfte der Ära des Indigo Zeitalters, lief langsam den Thronsaal auf und ab. Seine Schritte hallten durch den großen Raum, sein Umhang, schwer und in der Farbe der Nacht getaucht, glitt über den teuren Boden, auf dem alle Könige das Land regiert hatten.
Er war alleine, so wie er es befohlen hatte. Seine Ehegattin, die wunderschöne Königin Indraila Drumail Ahamethi, die ebenso klug wie mutig war, seine Berater, die guten sowie die unbeugsamen, seine Kinder, alle sieben Buben und alle sieben Mädel, sowie seine treuen Hunde und Eulen hatte er aus dem Thronsaal geworfen. Niemand sollte ihn beim Nachdenken stören, obwohl er wusste, dass es nichts zum Nachdenken gab.
Am großen Fenster, dass hoch bis zur Decke ging und dessen farbige Gläser die Prophezeiung widerspiegelte, blieb er stehen und schaute hinaus auf seine Stadt. Magisches, weißes Licht erhellte die Dächer, die Straßen, die Marktplätze und die Anlagen der Gärten. Es leuchtete nicht stark genug, um das blaue Licht des Steines zu übertrumpfen, das sein Reich in Traurigkeit und Verzweiflung tauchte.
An diesem Morgen war die neue Ära angebrochen. Nach der Roten war die Weiße gekommen, gefolgt von der Goldenen, der Grünen und der Violetten, die unmittelbar vor der Indigo weilte. Über zwei dutzend Herrscher benötigte jedes Zeitalter um sich zu verabschieden. Es war so grausam, so ungerecht, dass das seine so viel früher endete. Dass sein Erstgeborener nicht regieren durfte. Denn die neue, blaue Ära, war zugleich die letzte. Die, die es nicht wirklich gab da mit ihrem erscheinen alles endete.
König Handrim schaute in den Himmel hinauf. "Verzeiht mir, meine Kinder. Verzeih mir, mein Volk." Zum ersten Mal in seinem Leben öffnete er das große Fenster. Er stieg hinaus auf den verzierten Sims der Außenfassade. Er blinzelte seine Tränen hinfort und, noch immer zum Himmel gewandt, trat er ein Schritt ins Leere.
3
Priesterin
Fantasya zog die Tür hinter sich zu. Die Stimmen von zehntausend betenden, singenden und weinenden Myzelen hallten noch immer in ihren Ohren. Ihre Schwestern hörten sich die Sünden des Volkes an, reinigten deren Seelen und erlösten sie von der Angst.
Sie musste stark bleiben. Es war als Ehre anzusehen, in dem Zeitalter geboren zu sein, das im Blauen mündete. Fantasya konnte verstehen, dass das Volk sich fürchtete. Mütter würden Kinder nicht aufwachsen sehen, Mädel würden nie Mütter werden und Buben nie Väter. Die Stadt, mitsamt allen Häusern, dem Dom und das Schloss, würden bald nicht mehr existieren. Die Schriften, so sorgsam abgeschrieben, würden nie von der Nachwelt gelesen werden.
"Wofür also, haben wir uns immer so viel Mühe gegeben?", fragte Geschilia.
"Für unsere Mütter und Väter. Für die schöne Kindheit und für den Moment", antwortete Fôrumi, die dritte im Bunde.
Fantasya kam näher, legte sich zu ihnen, vor den Altar hin und sah nach oben hinauf zur gläsernen Kuppel und zum blauen Stein darüber.
"Die Mühen haben wir auf uns genommen, immer wissend, dass dieser Tag kommen würde. Wir sollten Dankbar sein, für die Zeit die wir hatten und nicht der Zeit die wir nicht mehr haben werden nachtrauern."
Fôrumi schaute zu Fantasya. "Tausende Myzelen sehen das anders. Sie stehen in der Kapelle und vor dem Dom, singen und weinen und hoffen auf ein Wunder"
"Es sind Millionen", erwiderte Geschilia.
Fantasya seufzte. "Wir erleben das Ende der Welt. Es ist das größte Ereignis seit unserer Erschaffung und wir sollten Freude verspüren, weil wir auserwählt wurden. Geehrt sein, dass wir den blauen Stein sehen dürfen und uns daran erinnern, wie voller Glück unser Leben und das Leben unserer Ahnen war."
Geschilia und Fôrumi sahen zu ihr.
"Was ist mit den kleinen Kindern, die nie älter werden dürfen?"
"Und was ist mit den Müttern, die Kinder in sich tragen, die diese Welt nie erblicken werden?"
Nun sah Fantasya zu ihnen.
"Sie, meine liebe Schwestern, sind der Grund warum wir leben. Lasst uns zu ihnen gehen und Trost und Dankbarkeit spenden, anstatt hier zu liegen."
Kurz überlegten sie, ehe sie sich erhoben und zur Tür gingen. Bis zum bittersüßen Ende würden sie an ihren Schöpfer glauben und ihre Pflicht erfüllen.
2
Vater
"Schöpfer gib uns Kraft und segne uns mit Liebe und Mut.
Schöpfer sei Gnädig und nimm meine Kinder in deine Obhut.
Danke für das Leben."
Die kleinste Tochter weinte. Der älteste Sohn drückte und tröstete sie. "So weine nicht, Schwester. Wir bleiben auf ewig zusammen."
Der Vater sah auf. "Meine Kinder. Es gibt nichts, wovor ihr euch fürchten müsst."
"Wir werden alle sterben! Wie sollen wir da keine Furcht empfinden, Vater?", fragte der mittlere Sohn.
"Jeder Schmerz wird aufhören, sobald der blaue Stein heute Nacht untergeht, Bruder", sprach die mittlere Tochter.
Der Vater nickte. "Als wir eure Mutter verloren, weinten wir. Als unser Hof brannte, weinten wir. Auch, als die Diebe eure älteste Schwester entführten und als der Fluss euren kleinsten Bruder mitnahm. Wir haben viel geweint, meine Kinder. Viel gelitten. Nun gehen wir zum Schöpfer, er beendet unser Leid."
Stille herrschte in der kleinen Hütte. Vaters Worte waren warm, doch erreichten sie nicht das Herz seiner Kinder.
"Wie sollen wir uns auf den Tod freuen?"
"Das Leben war grausam aber auch schön. Ich möchte noch nicht sterben."
"Papa, ich habe Angst vor dem Nichts!"
"Ich wollte doch bald zur Schule..."
Der Vater stand auf. "Lasst uns spazieren gehen. Durch den Wald, bis zur alten Mühle. Ihr werdet sehen, wie der Stein untergeht und alles in traumhaften, lustigen Farben taucht, ehe unser Leid verschwindet und wir friedlich einschlafen."
Die Worte erreichten noch immer nicht deren Herzen, aber sie wollten daran glauben und hoffen, dass das Blau schön sein würde. Also standen sie auf und nahmen sich an den Händen, verließen ihre Hütte ein letztes mal, ehe sie durch den Wald zur alten Mühle liefen.
Die Farben der Dämmerung waren tatsächlich traumhaft. Als seine Kinder sich freuten und die Schönheit im Ende sehen konnten, schloss der Vater die Augen, dankte dem Schöpfer für diese eine, letzte Gnade.
1
Diebin
Laut singend öffnete Guhla die Flasche und kippte sich den süßen Wein in den Mund.
"So ein dummes Pack!", lachte Superia, die gerade dazu kam und sich zu ihr auf das Dach des reichen Kaufmanns setzte."Die Welt geht den Bach runter und die haben nichts besseres zu tun, als zur Kirche zu rennen!"
Guhla grinste und nickte, trank den Rest aus. Ihre Gildenschwester musterte sie. "Hast du mir jetzt, direkt vor der Nase, den letzten Wein aus gesoffen?"
Betrunken lachte die Angesprochene, nickte und warf die Flasche über die Dächer weg. "Hättest ja eine mitbringen können!"
"Warum sollte ich? Du hattest ja noch."
"Ach komm schon, bist du nun wütend?"
"Geh doch einfach und hol eine neue? Ich warte hier und genieße das Blau."
"Blöde Kuh", nörgelte Guhla, stand aber auf und machte sich auf den Weg.
Nur ein Dach weiter erblickte sie weitere Freunde.
"Du Arsch! Geh und vögel sie doch! So wie du sie anschaust, hast du es in Gedanken schon getan!", fauchte Invidy ihren Gegenüber an.
"Was kann ich dafür, wenn Luxua nackt durch die Gegend rennt?", erwiderte Iro.
"Ich bin nicht nackt!", lachte diese und zeigte auf den teuren Schmuck, den sie anstelle von Kleidung trug. "An mir hängen bestimmt ein paar Millionen!"
"Du Schlampe, halt dich fern von Iro!"
"Sonst was? Locker dich auf, Invidy! Es ist das Ende der Welt! Ich fick mit wem ich will, sogar mit dir", zwinkerte sie ihr zu.
Iro stimmte ihr zu. Darauf hin scheuerte Invidy ihrem Freund eine. Er schlug mit der Faust zurück und kurz danach lagen beide auf den Boden und prügelten sich.
Guhla kam lachend zu Luxua. "Hey, Schönheit. Die Ketten stehen dir!"
"Ja, nicht wahr?", lachte sie mit. "Hast du Bock? Unten sind ein paar süße Jungs und zu viert macht es doch erst richtig Spaß."
"Klingt lustig, aber verzichte. Ich suche nur Wein."
Luxua ging dann und wackelte mit dem entblößten Hintern.
Durch ein Dachfenster gelang Guhla in ein feines Zimmer. Acedo lag in einem Bett. Sie trat dagegen. "Ernsthaft? Die Welt geht unter und du schläfst?!"
Nörgelnd drehte er sich um. "Verpiss dich. Das ist das beste Bett, in dem ich je geschlafen habe! Wenn ich schon sterben muss, dann weich."
Guhla schüttelte nur den Kopf und ging weiter, bis zu einem Wohnzimmer.
Dort saß Avarito, der Prinz der Diebe, auf Kisten voller Wurst, Wein und Schmuck. Guhla lief das Wasser im Mund zusammen. Sie kletterte die Kisten hoch, setzte sich breitbeinig auf seinem Schoss und nahm eine Flasche Wein. Er beobachtete sie dabei, mit gierigen Augen.
"Keine Sorge", säuselte sie. "Ich klau dir schon nichts!"
Guhla schütte sich den Mund voller Wein und ließ ihn überlaufen. Grinsend beugte sie sich danach und küsste ihn. "Luxua hat mir geraten, etwas mehr Spaß zu haben", flüsterte sie ihm ins Ohr. "Lass uns Kinder machen, die nie geboren werden!"
Avarito lachte, griff ihr an den Hintern und küsste sie innig. Es sollte eine lange Nacht werden, aber das Ende war näher als sie dachten.
Ende
Magier
"Ihr kennt alle den Lebenszauber von Arkadien. Zwar ist er sehr instabil, aber ein Himmelsweber ermöglicht einen semi-konstanten Zyklus.“
Der Magier lässt den kleinen Stein über der Schale schweben.
"Gerade entstehen die ersten Myzelen. Ich habe Leben erschaffen. Der Stein wird rot leuchten und seine Farbe verändern, bis er kurz blau aufblinkt und die Myzelen wieder zerstört."
Die Schüler können erkennen, wie sich in der Schüssel Schaum bildet. Der Himmelsweber leuchtet erst rot, dann weiß, golden, grün, lila, dunkelblau und schließlich blinkt er Blau auf. Die Magie ist verflogen und der Stein fällt hinunter.
"Wir haben innerhalb weniger Sekunden Leben erschaffen und vernichtet. Ihr dürft Fragen stellen. Ja, Yumeei?"
"Ich frage mich, ob sie am Ende Angst verspürt haben."
"Die Myzelen leben zu kurz, um irgendwas zu empfinden."
"Und wenn doch?"
"Dann sind wir alle Mörder. Denn es ist eure Hausaufgabe, diese Übung zu wiederholen."