Beiträge von Rika

    Ich höre ja immer wieder, dass Charaktere ein Eigenleben entwickeln und ihren Autoren entgleiten.

    Diese Erfahrung konnte ich bislang noch nicht machen.
    Möglicherweise liegt es ja daran, dass ich von vorneherein weiß, wie meine Protas ticken.
    Ich kenne ihre inneren Standpunkte, ihre Stärken und Schwächen, weiß wie sie in bestimmten Situationen reagieren werden und behalte somit alle Fäden in der Hand.

    Ob das nun gut oder schlecht ist, ob es einer Story zum Vorteil oder Nachteil gereicht, kann ich leider nicht beurteilen.

    Was ich mir jedoch vorstellen kann ist, dass man etwas weniger Empathie für seine Helden zeigt, wenn diese praktisch nur Marionetten sind, da jene besondere Verbindung gar nicht so recht zustande kommen kann.

    Heißt natürlich nicht, dass ich nicht mit meinen Charakteren mitfühle.
    Ich durchlebe mit ihnen jeden Gefühlsausbruch, ob positiv oder negativ, durchstehe mit ihnen schwere Phasen, bin dabei allerdings stets in ihren Köpfen, schalterdrückend und hebelziehend.

    LG
    Rika

    Direkt vorweg: Ich gehe streng chronologisch vor.

    Das hat im Wesentlichen zwei Gründe.

    1. Erzählerische Freiheit:
    Ich habe mittlerweile etliche sogenannte Schlüsselszenen für meine einzelnen Hauptcharaktere im Kopf. Diese liegen, zeitlich zum jetzigen Stand der Geschichte gesehen, zum Teil in weiter Ferne, andere wiederum jedoch in greifbarer Nähe.
    Da ich aber (dennoch) keine echte Plotterin bin und storytechnisch nicht selten spontan andere Wege einschlage, sehe ich davon ab bestimmten Textstellen vorzugreifen.
    Selbst minimale Änderungen im vorherigen Storyverlauf können schließlich zu einem völlig anderen Szenario führen, bei welchem ich dann, im Worst Case, gezwungen wäre komplett umzuschreiben.
    Und da mein Schreibtempo ohnehin schon dem einer apathischen Schildkröte gleicht und ich eigentlich zum Ziel habe irgendwann mal fertig zu werden, wäre das nicht unbedingt eine zielführende Herangehensweise :D

    Und da kommen wir auch schon zum nächsten Punkt.

    2. Motivation:
    Für mich sind es eben diese "Big Moments" und das temporale Erreichen dieser, die erheblich zu meiner Motivation weiterzuschreiben beitragen.
    Auf dem Weg dorthin legt man falsche Fährten, betreibt unterschwelliges Foreshadowing, welches der Leser erst bei einem eventuellen Re-Read als solches erfassen wird, schreibt einem Charakter falsche Hoffnungen zu, etc.pp hat dabei aber immer das "große Ziel" vor Augen.
    Man erschafft sich praktisch eine eigene Vorfreude. Greife ich nun einer solchen Szene vor, beraube ich mich ja selbst der vermeintlichen "schönsten Freude".

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    Und natürlich mache ich mir auch Notizen.
    Allerdings eher zu kleineren Nebensächlichkeiten oder Ideen zu Dialogen, die als verwertbar erachtet werden. Das ist allerdings nie besonders ausschweifend.

    LG
    Rika

    Das kann funktionieren @LirayLegend .
    Wenn ein solch banaler Tod Sinn ergibt und gut geschrieben ist, kann er durchaus einen gewissen Schockeffekt auslösen.
    Ich denke aber gerade in so einem Fall ist es eine Wanderung auf einem sehr schmalen Grat.

    Denn stirbt der Hauptcharakter, der schon einen weiten Weg zurückgelegt und etliche Gefahren überstanden hat, völlig unerwartet, weil er sich im Suff einen Genickbruch zuzieht, dann mag das natürlich einen gewissen (tragischen) Realismus verströmen, doch würde ich mir als Leser dabei ziemlich veräppelt vorkommen.

    Und gerade solche "Augenroll"-Momente lassen mich dann schon ins Grübeln kommen, ob ich eine Geschichte wirklich noch bis zum Ende verfolgen möchte.

    LG
    Rika

    Ich würde jetzt gar nicht mal so sehr die persönliche Freiheit der Charaktere in den Vordergrund stellen.
    Als Autorin bin ich, bei aller Bescheidenheit, Gott, da grenzt mich kein Genre ein. Ich kann meine Protas auch im Rahmen einer Romanze oder eines Thrillers Dinge erleben lassen, die man sich sonst nicht erträumen könnte.

    Die einzige, wirkliche Grenze, die mir diese Genre setzen ist der Realismus.

    Ich kann in einem Beziehungsdrama nicht plötzlich einen Untoten aus der Erde steigen oder ein Ufo in der Innenstadt niederkrachen lassen. Zumindest nicht, wenn ich halbwegs seriös wahrgenommen werden möchte ^^

    Erst das Fantasy-Genre öffnet mir wirklich alle Türen und genau das macht letztlich die eigentliche Faszination aus.
    Fremde Welten erschaffen, eigene Völker/Lebewesen kreieren, ohne dabei bspw. in das wissenschaftliche Korsett der Science Fiction gezwängt zu sein. Hier kann einfach Magie als das alles erklärende Element eingesetzt werden und niemand wird das weiter hinterfragen.

    Letztendlich sind das aber auch nur nette Spielereien.
    Eine gute Geschichte funktioniert unabhängig von jedem Schnickschnack, in jedem Genre.
    Das ist auch der Grund, weshalb ich als Leserin gar nicht mal mehr so wählerisch bin und meinen Fokus somit auch nicht mehr nur auf die Fantasy lege.

    Schreibe ich hingegen selbst, möchte ich die Freiheiten des Genres jedoch vorerst nicht missen wollen.

    LG
    Rika

    @Xarrot
    Namensgebung mache ich eigentlich mehr von Setting oder der herrschenden Kultur, denn einer (Fantasy-)Sprache abhängig.

    Ich verstehe aber schon, worauf du hinaus willst. Wie oft habe ich schon gelesen, dass eine "Farwena-Leasanya" durch "Heilbronn" stolpert und mit "Heinz" und "Klaus" einen Trinken geht (Namen austauschbar).
    Vieles klingt da oft, wie du sagst, schlicht nicht stimmig.
    Streng genommen ist es ja aber auch wieder nur das berühmte Spiel mit den Klischees:
    Assoziiert man doch, rein sprachlich gesehen, einen perversen Axtmörder eher mit hartem Russisch, denn mit vornehmen Französisch.
    Ich weiß jetzt zwar nicht, ob es eine Statistik zur Muttersprache von perversen Axtmördern gibt, aber es sollte wohl klar sein, was ich will :P

    Klar kann es helfen, wenn man es schafft eine eigene Sprache zu einem Merkmal einer Rasse/eines Volkes werden zu lassen, aber für mich dann doch bitte in Maßen. Genauso verhält es sich, personenbezogen, mit sprachlichen Ticks, Angewohnheiten, etc.
    Gerade als du das Stottern erwähntest, musste ich sofort an Bill aus "Es" denken. So grandios dieses Buch auch war (über die Filme hülle ich mich mal in Schweigen), hat das ständig visualisierte Gestammel doch schon ziemlich an mir genagt, auch wenn es natürlich unrealistisch gewesen wäre, es wegzulassen.

    Aber wenn du sagst, dass du ein Faible für sowas hast, muss ich wohl endlich mal eine deiner Storys lesen. Wer weiß, vielleicht rückt Rika noch von ihrer leicht festgefahrenen Meinung ab ;)

    Sehr unterhaltsame (Anti-)Weihnachtsgeschichte!
    Die skurrilen, bisweilen brutalen, aber dennoch liebenswürdigen, Bewohner des Waldes und ihre seltsamen bis absurden Gebräuche - wunderbar stimmige Welt, die du da aufgebaut und mit der richtigen Prise Humor gewürzt hast.

    Und lese ich da etwa auch noch eine leichte Konsum- und Gesellschaftskritik raus? ;)

    Achja, was mir noch aufgefallen wäre:

    Was allerdings die hutzelige Hexe mit ihrem Buckel so in ihrer Höhle im alten Hügelgrab so anstellte, wusste eigentlich keiner so genau.

    3x "so" in einem Satz? Das ist mindestens mal eines zuviel.

    LG
    Rika

    Wenn es dagegen vor allem darum geht, die Fremdartigkeit eines Fantasy-Volkes dadurch darzustellen, dass man ihm eine andere Sprache gibt, die besonders wie-auch-immer klingt, dann reicht meiner Meinung nach auch die Beschreibung der Wirkung auf einen oder mehrere Charaktere in unserer Sprache.

    Trifft es für mich auf den Punkt.
    Eine eigene Sprache mag in auditiven und audiovisuellen Medien gut funktionieren, in einem Buch empfinde ich es hingegen als störend.
    Klar, einzelne Wörter oder Sätze sind ok, doch wenn die komplette Kommunikation nur über irgendein Kauderwelsch zu ertragen ist, welches mich vielleicht noch ohne Erklärung zurücklässt oder in das ich mich gar erst einarbeiten muss, verliert mich die Geschichte.

    Sicherlich geht bei einer Allgemeinsprache der Realismus etwas flöten, doch kann dieses Problem doch so einfach umschifft werden.
    In meiner Welt werden bspw. ebenfalls verschiedene Sprachen gesprochen, doch das führt bestenfalls nur zu Verständigungsproblemen unterhalb der Protagonisten. Der Leser bekommt das nur dadurch mit, dass der aktuelle POV eine leichte Veränderung des Dialekts oder gar nur so etwas wie "animalische Laute" vernimmt.
    Bei knapp über 125.000 Wörtern habe ich gerade mal ein (!) fremdsprachiges Wort quasi transkribiert und dennoch sollte dem Leser die Andersartigkeit der verschiedenen Völker aufgefallen sein.
    Hätte dann zumindest ohne große, linguistische Vorkenntnisse geklappt ;)

    LG
    Rika

    Hey @Princess of Light und @Ippon

    tut mir Leid, irgendwie ist es völlig an mir vorbeigegangen, dass ihr die Erzählung fortgesetzt habt.
    Ist zwar jetzt schon einige Zeit vergangen, in der ich selbst u.a. etwas länger abstinent war, aber ich möchte dann trotzdem noch meinen Senf dazugeben. Möglicherweise liest es ja noch jemand von euch beiden.

    Am Anfang habt ihr gleich mal zwei Wiederholungen drin: Das Adjektiv "erdig" kommt in sehr kurzem Abstand doppelt vor. Ebenso habt ihr zwischen "in [...] die Gelenke schneidet" bzw. "in meine Gelenke schneiden" einen ähnlich kurzen Abstand. Wirkt etwas unschön.

    Auch Dinge wie ein Gedanke, der ins Blickfeld springt und ein von Bäumen umringter Pfad sind etwas merkwürdig formuliert.

    Es gibt auch noch weitere, kleinere Fehlerchen, die bei einem erneuten Drüberlesen ins Auge stechen sollten, doch damit will ich mich jetzt gar nicht weiter aufhalten.

    Kommen wir lieber zum Inhalt und da blieb ich erstmal an diesem Abschnitt hier kleben:

    Deswegen muss Lysander den ganzen Tag so nervös gewesen sein! E wusste, dass er verfolgt wurde! Aber warum hat er es mir dann nicht direkt gesagt?

    Bedenkt man, in welcher Situation sich Amalia gerade befindet, muss man sich wirklich fragen, weshalb Lysander ihr nichts gesagt hat. Wenn er wusste, was ihm blühte finde ich es eigentlich unverantwortlich von ihm, dass er eine solche Lethargie an den Tag legte und einfach mal nichts unternommen hat um seinen Schützling in Sicherheit zu bringen.
    Allerdings frage ich mich, wie Amalia darauf kommt, Lysander wäre nervös gewesen. In dem betroffenen Abschnitt wirkt das ganz und gar nicht so. Wie bereits erwähnt, machte er auf mich einen eher niedergeschlagenen Eindruck.

    Was die Namenlose nun wohl mit Amalia vorhat? Zumal die "Entführung" ja eine sehr spontane Aktion war. Zumindest hatte sie ja nicht damit gerechnet, noch weitere Personen im Haus anzutreffen und anschließend sogar von möglichen Kollateralschäden gesprochen. Bedeutet für mich, dass sie Amalias Tod zu Beginn noch in Betracht gezogen hat. Schauen wir doch mal, wohin das führt :)


    Zum Ende des zweiten Absatzes hin, musste ich einige Male innehalten, da ich über ein paar Stellen stolperte, die auf mich etwas seltsam wirkten.

    Aber woher wusste sie, dass Lysander ein Magier ist? Sie musste es wissen, sonst wäre sie nie so leichtsinnig in unser Haus gekommen.

    Für meine Begriffe wäre es doch eher leichtsinnig gewesen, einen Anschlag zu planen, ohne zu wissen, mit wem ich es zu tun habe, oder?

    Er war [...] außerdem einer der Wenigen, die sich überhaupt mit Heilkunde auskennen und sich so um die größeren, aber wohl eher kleineren Verletzungen der Bewohner gekümmert hat.

    Also entweder "um die größeren UND kleineren Verletzungen" oder aber "die größeren WIE AUCH kleineren Verletzungen".
    So wie im Zitat wiedergegeben, würde man das normalerweise nicht formulieren.

    Auch wenn sie Angst vor Magie bekommen hätten, so wäre ihre Furcht vor einer Unbekannten wohl um einiges schlimmer gewesen.

    Ist das so? Ist es nicht etwas irrational sich vor möglicherweise todbringender Magie weniger zu fürchten, als vor einer schlichten Unbekannten?

    ===

    Zu guter Letzt muss ich sagen, finde ich es ein wenig schade, dass ihr hier gar keine Resonanz mehr bekommen habt, zumal ihr im ersten Kapitel ja überaus deutlich bewiesen habt, dass ihr in der Lage seid Spannung aufzubauen und ernsthaft unerwartete Twists einzufügen.
    Auch wenn der zweite Part im Gegensatz dazu eher gemächlich daherkommt, so hätte das Ganze, in meinen Augen, doch ein wenig mehr Aufmerksamkeit verdient.

    LG
    Rika

    Zum einen machen diese ellenlangen Nachsätze das Lesen etwas schwierig. Meine Lektorin hat bei meinen eigenen Texten diese rigoros gelöscht oder in eigene Sätze verwandelt. Zum anderen solltest und kannst du viel mehr den Namen der Person nennen, welche gerade spricht. Wie gesagt, manchmal muss man zu den vorherigen Sätzen zurückgehen, um zu wissen, wer was sagt. So etwas stört den Lesefluß. Man will ja alles hintereinder lesen.

    Jetzt, so direkt mit der Nase voran, reingeschubst muss ich zugeben, dass die zitierte Stelle wirklich schwierig zu lesen ist.
    Viele Schachtelsätze, speziell im Prolog, habe ich ja schon aufgeweicht, aber da liegt wohl noch weit mehr im Argen, wie es scheint.
    Nachdem ich mein aktuelles Kapitel beendet habe, muss ich wohl noch mal zurück zu den Anfängen ;)

    Ich finde es immer wieder amüsant, wie "blind" man im Bezug auf seine eigenen Texte oftmals ist. :D
    Vielleicht ist das ja auch der Grund, weshalb ich jetzt leider gar keine Probleme beim Zuordnen der wörtlichen Rede erkennen kann.
    Ich meine, ja die Stelle mit der zweiten wörtlichen Rede („Richtet bitte das ehemalige Zimmer meines Kindermädchens wieder her, sodass es umgehend bezogen werden kann“) ist zu Beginn nicht eindeutig gekennzeichnet. Aber es sollte doch schon nach wenigen Worten aus dem Kontext hervorgehen, wer hier spricht, oder?

    So, das war auch schon alles. Ansonsten gerne weiter so. Ich mag Pat nach wie vor, vor allem weil er kein Volltrottel ist, der sich sofort mit seinen Vorgesetzten anlegen muss

    Das wäre in seiner Situation jetzt auch nicht sehr klug.
    Auch wenn er es nicht offen aussprechen würde, ist sein Antrieb ja, dass er seinem Vater etwas beweisen möchte. Und sei es erstmal nur, weil es ihm darum geht, dass dieser nicht Recht behält mit der Aussage, er würde sein Talent verschwenden.

    Die Korrekturen übernehme ich noch ;)

    ===

    Es folgten weitere, ermüdende Trainingseinheiten, ehe sie, völlig geschafft, ihre erste Nacht in ihrer feuchten Kerkerzelle verbringen durften. Mit Ausnahme von Ben, klagten alle seine Freunde über schmerzende Glieder. Was hatten sie denn erwartet, dachte sich Pat. Dessen größtes Problem stellte das unsichtbare Ungeziefer um ihn herum dar, welches ihm durch seine bloße, mögliche Existenz eine sehr unruhige Nacht verschaffte.
    Früh am Morgen führte ihr erster Weg in die große Halle, in der sich alle Rekruten, Ausbilder und sonstige Männer, die in das Leben in der Kaserne involviert waren, um die großen, langen Holztische scharrten, um ein kräftiges Frühstück zu sich zu nehmen. Hier herrschte jedes Mal ein noch höherer Lärmpegel als im Innenhof der Kaserne, wo sie den ganzen Morgen den Schwert- oder Speerkampf trainierten und am Nachmittag mit Pfeil und Bogen hantierten. Zum Frühstück gab es meist hartes Brot und Butter, sowie Eier. An guten Tagen gab es auch Äpfel und sonstige Früchte zu essen. Um die Mittagszeit gab es zumeist Eintopf mit undefinierbarem Fleischzusatz und Gemüse, der aus zwei riesigen Kesseln in die Tonschalen der anstehenden Männer geschöpft wurde. Dieser war nur in den seltensten Fällen wirklich schmackhaft gewesen, doch nach dem harten Training war Geschmack auch eher nebensächlich. Zusammen mit seinen Freunden, die auch seine Tischnachbarn waren, scherzte und lachte Pat viel und niemand von ihnen interessierte sich für seine Vorgeschichte. Auch nicht die Tatsache, dass es ihm am Tisch seines Vaters an nichts gemangelt hatte, während seine Freunde aus eher ärmlichen Verhältnissen stammten. Auch umgekehrt bereitete es Pat keinerlei Probleme mit den, von seinem Vater so verachteten, armen Burschen zu speisen.
    „Das Eintopffleisch schmeckt heute nach Esel“, bemerkte Ruker, während er lustlos mit seinem Holzlöffel in der dicken, braunen Brühe herumrührte.
    „Wie bitteschön schmeckt denn Esel?“, wollte Rott wissen, dem der wenig appetitlich anzusehende Brei anscheinend hervorragend mundete. „Und vor allen Dingen“, fiel Ben direkt ein, „aus welcher barbarischen Ecke dieser Welt muss man kommen, um Esel zu essen? Aus den Ostlanden?“
    Währenddessen biss er von einem Kanten Brot ab, welchen er sich vom Frühstück aufgehoben und zuvor in dem Eintopf aufgeweicht hatte.
    „Ruker hat doch als Küchenjunge gearbeitet“, bemerkte Tesso.
    „Wahrscheinlich hat sein Meister einfach alles zu Fleisch verarbeitet, was ihm in die Finger kam. In Schöningen würden sie sogar ihre eigenen Kinder fressen, wenn es erlaubt wäre, hat mein Alter immer gesagt.“ Sie lachten zusammen, während Ruker nur genervt, aber irgendwo doch belustigt, seinen Kopf schüttelte. Tesso besaß ein loses Mundwerk und hatte somit stets die Lacher auf seiner Seite. Sogar dem stets mies gelaunten Stallmeister Jore hatte er schon ein leichtes Schmunzeln entlockt, auf das dennoch eine Backpfeife gefolgt war, als er eine Bemerkung über ihn machte, an deren genauen Wortlaut sich Pat nicht mehr erinnern konnte. Auf jeden Fall hatte es irgendetwas mit seinem „schrumpeligen, alten Sack“ zu tun.

    In der folgenden Nacht, sie schliefen bereits auf ihren unbequemen Matratzen in dem feuchten Mief des Kellers, schreckte Pat plötzlich auf. Hatte er nur schlecht geträumt, oder weshalb war er aufgewacht? Er wusste es nicht und ehe er auch weiter darüber nachdenken konnte, bemerkte er seine volle Blase. Er rappelte sich also auf, zog sich seine braune Wollhose und das braune Wollwams über, welches jeder von ihnen bekommen hatte und tastete sich aus der Zelle heraus. Er bog, begleitet von dem lauten Geschnarche der anderen Schlafenden, in dem dunklen Gang um die Ecke, hinter der er den schwachen Schein des Kohlebeckens erkennen konnte, welches jede Nacht hier brannte und noch nicht vollständig erloschen war. Er nahm eine der Fackeln, die fein säuberlich daneben aufgestapelt lagen und entzündete sie in der Glut, ehe er sich nach draußen aufmachte. Die schwarzen Wände der Kaserne glitzerten im Fackelschein wie dunkle Diamanten, was schön anzusehen war. Pats Weg führte ihn keineswegs in die übelriechende Mannschaftslatrine, sondern an den nächstbesten Baum. Wenn er sich nur auf diese Weise entleeren musste, nahm ihm das von den nächtlichen Wachposten auch niemand übel. Generell interessierten diese sich ohnehin so gar nicht für Pat Mohor, der im Schein der eigenen Fackel über den Kasernenhof spazierte. Vermutlich schliefen die meisten von ihnen auf ihrem Posten oder waren in einem der Hurenhäuser zugegen. Er legte die Fackel auf einem angrenzenden Fass ab und begann, mit einem erleichtert klingenden Seufzer, seine Blase an dem großen Baum zu entleeren. Dessen Blätter rauschten im Wind, der sanft aus Norden herangeweht wurde. Pat schüttelte die letzten Tropfen ab, packte sein zweites Schwert wieder ein und wollte gerade nach der Fackel greifen, als ihn ein Schlag ins Gesicht rückwärts gegen den dicken Stamm des Baumes taumeln ließ. Für einen kurzen Moment blitzten hunderte Sterne vor seinen Augen auf, bis er den gigantischen Umriss des Riesen erkannte, der in Derek Wolvaus Truppe trainierte. Jener Riese trug den Namen Bocus, welcher ihm zusammen mit seinen beiden Begleitern aufgelauert hatte. Der hamsterbäckige Kriss mit den verfilzten, schwarzen Haaren, sowie Marton Lammel, ein unscheinbarer, milchgesichtiger Rotschopf, der wegen seiner natürlichen Augenringe immer sehr müde und träge wirkte und auch genauso im Schwertkampf agierte. Allen Dreien hatte Pat mit dem Übungsschwert bereits etliche blaue Flecken zugefügt, die er ganz besonders auf Martons Armen, auch im Fackelschein noch gut erkennen konnte, doch hier und jetzt führte er sein Schwert nicht mit sich.
    „So ganz alleine in der Nacht, reicher Junge?“, schleuderte ihm Bocus mit einem selbstsicheren Grinsen im Gesicht entgegen. Der Riese hatte Hände so groß wie Eimer und Muskeln so hart wie Stein. Doch war er nicht gerade der hellste Stern am Firmament, was man schon alleine an der Art, wie er redete, bemerkte.
    „Was willst du von mir, du hässliches Warzenschwein?“, giftete Pat zurück, „Reicht dir die Prügel, die ich dir tagtäglich im Training verpasse nicht aus?“
    Auf keinen Fall wollte er sich auch nur einen Hauch von Furcht erlauben. Noch immer dröhnte sein Kopf ob des Schlages und bei seinem Aufprall gegen den Baumstamm hatte er sich zudem noch das rechte Schulterblatt heftig angestoßen.
    Doch der Riese war kein Freund vieler Worte. Er preschte vor und hämmerte seine Faust gegen den Baumstamm, da sich Pat schnell genug zur Seite weggeduckt hatte. Während Bocus aufheulte und sich unter schmerzverzerrtem Gesicht die Hand hielt, warf sich Marton auf ihn, dem Pat einen Schlag in die Magengrube verpasste, was auch ihn außer Gefecht setzte. Schon war es die Faust von Kriss, die ihn erneut an seinem, ohnehin schon schmerzenden, rechten Schulterblatt traf. Pat taumelte vorwärts, ging auf ein Knie gestützt zu Boden und fuhr flugs herum um einem weiteren Tritt von Hamsterbacke auszuweichen. Rasch erhob er sich wieder, parierte die Faust seines Kontrahenten und ließ die seine mitten in dessen Gesicht sausen.
    „Genug“ rief es von irgendwoher. Das war nicht gut. Pat erkannte die Stimme von Huuke Zigel, dem Verwalter, der anscheinend auch des Nachts über seinen Listen brütete, denn wutentbrannt stapfte der alte Mann mit einem zusammengerollten Pergament in der Hand auf die vier Raufbolde zu. Unter seinem dichten Vollbart zeichneten sich seine vor Verärgerung zusammengepressten Lippen ab. Sein Blick traf zuerst die drei, sich vor Schmerzen krümmenden, Bocus, Marton und Kriss und dann auf Pat Mohor, bei dessen Anblick sich seine Augen zu Schlitzen verengten: „Du da“, bellte er ihm entgegen.
    „Du wirst dich sofort bei Hauptmann Warigna melden und ihm von deinem Gewaltausbruch berichten. Er wird entscheiden, was mit dir geschehen soll. Die anderen gehen wieder zurück in ihre Schlafgemächer, ihr werdet schon nicht sterben, ihr wehleidigen Hunde.“
    Gerade als Pat den Mund öffnen wollte, verlieh Zigel seinen Worten noch einmal Nachdruck: „Warum bist du immer noch hier? Setz dich in Bewegung oder ich liefere dich persönlich dort ab.“

    Das war ungerecht. Man hatte ihn überfallen, nicht umgekehrt. Dennoch musste er nun bei Mendo Warigna antreten, wenn er nicht sofort seine Sachen packen wollte. Dieser war nicht nur der Hauptmann der Stadtwache, sondern zugleich auch einer der drei Kasernenleiter und somit erst recht befugt ihn wieder fortzuschicken, nein, ihn mit Schimpf und Schande davonzujagen. Pat hatte sich so bemüht sich nicht zu etwas Dummem hinreißen zu lassen, wollte alle Provokationen ignorieren. Doch nun schritt er, wie benebelt, durch die Nacht, auf dem Weg zur Behausung des Hauptmannes. Unzählige Gedanken schossen ihm dabei durch den Kopf. Maks und Sereas, aber auch die Gesichter seiner Freunde, seiner neuen Familie, tauchten vor ihm auf. Würde er sich nicht einmal mehr von Rott und den Anderen verabschieden können?
    Er war unbeliebt außerhalb seines Freundeskreises, das wusste er und genau das würde ihm hier und jetzt auch zum Verhängnis werden.
    Warigna hatte seine kleine Hütte nicht weit außerhalb des Kasernenhofes in der Stadt, soviel wusste Pat. Wo genau, war ihm zuerst nicht ganz klar gewesen, doch als er die Hütte mit dem Wappen der drei Schwerter über der Tür sah, ahnte er bereits, dass er hier wohl richtig war. Im Innern der Hütte brannte noch schwaches Licht, welches durch die milchigen Fenstergläser nach draußen fiel. Immerhin konnte er sich nicht noch unbeliebter machen, indem er den Hauptmann zu dieser späten Stunde auch noch aus den Federn holte.
    .
    Er sog noch einmal die frische Luft in seine Lungen, als er vor der grauen Holztüre mit den eisernen Scharnieren stand, hob seine rechte Hand auf Augenhöhe und klopfte anschließend dreimal mit den Fingerknöcheln, gut hörbar, gegen das Holz. Er drückte die, ebenfalls gusseiserne, Klinke herunter und öffnete die Tür. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust. Die Tür schwang auf. Als er den großen, kräftigen Mann mit den schulterlangen, hellbraunen Haaren und der markanten Narbe im Gesicht, welche direkt seinen ersten Blick einfing, sah, wirkte dieser keineswegs so, als hätte er zu dieser Zeit mit Besuch gerechnet.
    Pat konnte auch direkt erkennen, weshalb dem so war und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
    Wahrlich kein guter Zeitpunkt jemanden zu stören. Hätte es denn noch schlimmer kommen können?
    „Es tut mir Leid, sollte ich stören, aber ich soll mich beim Hauptmann melden. Seid ihr das?“, fragte er hastig in Richtung des Mannes, um die unangenehme Situation für alle drei Beteiligten aufzulösen.
    Richtig: Drei Beteiligte. Das junge Mädchen mit dem brünettem Haar und dem niedlichem Haarzopf, das sich noch mit dem Mann zusammen im Zimmer befand und möglicherweise etwas jünger als Pat war, versteckte ihr Gesicht rasch unter einer Kapuze, ehe er sie sich genauer betrachten konnte. Sie blickte noch einmal kurz zu dem Hauptmann, der ihr zunickte, und lief schnellen Schrittes auf den Türrahmen zu, in welchem Pat stand. Er trat galant zur Seite und winkte das junge Mädchen mit seinem freundlichsten Lächeln zur Tür hinaus. Allem Anschein nach hatte sich der Hauptmann eine Hure auf sein Zimmer geholt. Die wenigen hässlichen Weiber, die er, zusammen mit Rott, auf dem Weg in die Kaserne beobachten konnte, waren nicht einmal im Entferntesten so hübsch gewesen, wie diese kleine Schönheit. Vermutlich musste man schon mindestens ein Hauptmann der Stadtwache oder Kasernenleiter sein, um in den Genuss der edlen Freudendamen zu kommen.

    „Hat man dich nicht gelehrt anzuklopfen oder ist dir die Funktion einer Tür nicht bekannt?“, fuhr ihn der Mann schroff an und fügte gleich hinzu: „Und um deine Frage zu beantworten: Ja, ich bin Mendo Warigna, Hauptmann der Stadtwache. Wer schickt dich?“
    Seine grünen Augen stierten ihn durchdringend an. Pat fühlte ein gewisses Unbehagen.
    „Huuke Zigel schickt mich“, antwortete er prompt und wahrheitsgetreu, wie man es von ihm erwartete. Sofort ließ Mendo Warigna ein Seufzen ertönen: „Und welche Laus ist unserem fleißigen Meister der Zahlen und Worte dieses Mal über die Leber gelaufen?“ – „Ich wurde von drei Kumpanen angegriffen, habe mich verteidigt und diese außer Gefecht gesetzt. Anstatt die Situation mit Worten zu lösen, habe ich sie mit meinen Fäusten gelöst, was mir aufrichtig Leid tut.“
    Mendo lachte kurz auf, was beinahe einen Stein von Pats Herz purzeln ließ. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich seit dem Zeitpunkt unwohl, seit er sich den Blicken des Hauptmannes ausgesetzt sah, welcher direkt eine Antwort parat hatte: „Wenn wir alle unsere Konflikte mit Worten lösen könnten, wären unsere Waffen Feder und Tinte, Huuke Zigel der womöglich gefürchtetste Krieger Venuas und die einzigen Opfer des großen Krieges die Bäume gewesen. Du hast dich gegen drei Angreifer zur Wehr gesetzt? Da ich kein alter Schreiberling, wie Huuke bin, klingt das für mich erst einmal interessant. Wie ist dein Name, Junge?“
    Diese Unterhaltung schien eine unerwartete Richtung einzuschlagen. Mendo Warigna war wohl doch nicht dieser unerbittliche Mann, wie einem sein Äußeres, sein gesamtes Auftreten, weismachen wollte.
    Als er Pats vollständigen Namen hörte, zog er die Brauen nach oben: „Du bist also der reiche Bengel aus Rinken, der sein eigenes Schwert mitgebracht hat? Ich höre ausschließlich Gutes über dich. Egal um welche Disziplin es sich in meinen Unterhaltungen mit Grauwasser, Wolvau und den Anderen dreht, stets höre ich die Lobgesänge auf das Schwert aus Rinken. Ich verrate dir was, Pat Mohor. Viele unserer Männer taugen dazu den ganzen Tag mit einem Speer auf den Zinnen der Stadtmauern umherzuspazieren, aber sollte es zu einem Zweikampf auf Leben und Tod mit einem unbekannten Feind kommen, würden sich diese Männer entweder einscheissen und die Flucht ergreifen oder aber sie bekämen bereits Probleme gegen einen nur ansatzweise talentierten Kämpfer. Was ich damit sagen will: Wir brauchen Männer wie dich. Bekomme deine Probleme mit deinen Kameraden in den Griff. Wenn ihr dennoch nächtliche Dispute austragen müsst, dann lasst euch nicht von Huuke Zigel erwischen. Ist das bei dir angekommen?“
    Pat nickte eifrig. Mendo Warigna hatte mittlerweile hinter seinem kleinen Schreibtisch Platz genommen und begonnen auf einem Pergament herumzukritzeln.
    „Dann kannst du jetzt gehen“, erwiderte er auf Pats Nicken hin und widmete sich wieder voll und ganz seiner Schreibarbeit.
    Gerade als Pat die Tür öffnen und sich auf den Weg zurück in sein Schlafgemach machen wollte, fügte Mendo noch etwas an: „Eines noch!“
    Pat drehte sich erneut zu dem Hauptmann um, der weiterhin die Schreibfeder schwang und ihn keines Blickes würdigte.
    „Wenn du auch nur einer Sterbensseele davon erzählst, wen du hier heute noch in dieser Hütte gesehen hast, werde ich dir höchstpersönlich den Kopf von deinem Körper trennen und ihn an irgendeinen Straßenköter verfüttern.“
    Pat hielt verdutzt die Luft an. Doch als er bemerkte, dass der Hauptmann dem Gesagten nichts mehr hinzuzufügen hatte, verließ er leise die Hütte und trat hinaus in die plötzlich so kalte Nacht.

    @Xarrot
    Nachdem du ja bisher soviel Blue ertragen musstest, freut es mich doch direkt mal, dass Pat dir da mehr zusagt :D
    Und ja, ich war gerade bei ihm gezwungen etwas treibender zu erzählen, da ich eine längere Zeitspanne zu überbrücken hatte und dies nicht auf zwei oder mehrere Kapitel aufsplitten wollte. Irgendwann muss man ja mal "aus den Puschen kommen" ;)

    @PeryRhodan
    Freut mich sehr, dass dir das bislang Gelesene gefällt. Hoffe, der Rest sagt dir auch zu :)
    Bzgl. deines Kritikpunktes: Hast du denn zufällig eine Stelle parat, wo das ganz gravierend auffällt?
    Ich werde auf jeden Fall mal explizit darauf achten.

    ===

    Die Kaserne wirkte gegen den Palast und den Rest der Stadt trostlos und karg. Die schwarzen Gebäude mitsamt den schwarzen Mauern, die sie umgaben, waren allesamt neu errichtet worden, doch bildeten sie einen schwermütigen Kontrast zu dem vorherrschenden bunten Stadtbild. Auf dem riesigen Hofgelände konnten sie einzelne lose Menschenhaufen erspähen, die sich im Schwertkampf versuchten, mehr schlecht als recht, wie Pat direkt erkannte. Andere Gruppen schossen Pfeile auf gepresste Strohballen ab, über die man Tücher mit aufgemalten Zielscheiben gehängt hatte. In einer abgelegen Ecke konnte er das Glühen und den Rauch einer vermeintlichen Schmiede erkennen, was die hämmernden Geräusche, die daraus ertönten, untermauerten. In einem angrenzenden Pferdestall, welcher unzählige Rösser beherbergte und den charakteristisch beißenden Geruch verströmte, den Pat auch von den Pferdezuchten aus der Heimat gewohnt war, kümmerten sich die Stallburschen, ganz offensichtlich keine Rekruten, um das Tränken, Füttern und Striegeln der treuen Vierbeiner.

    „Was haben wir denn hier?“, rief ihnen jemand von der Seite entgegen. Als sie sich in die Richtung drehten, aus der sie das Rufen vernahmen, erblickten sie einen alten, hageren, aber aufrecht auf sie zu schreitenden Mann, komplett in schwarz gekleidet. in seiner rechten Hand einen leeren Tonkrug haltend.
    „Wir sind gekommen, um uns Blacks Truppen anzuschließen“, antwortete Rott wahrheitsgemäß. Der Mann musterte ihn von oben bis unten. Er musste schätzungsweise um die fünfzig Jahre zählen. Sein Gesicht war hart und von der Zeit gezeichnet. Sein Bartwuchs bestand aus einigen weißen Stoppeln und ergraute Locken zierten sein Haupt.
    „Dass ein Lumpenkind wie du uns beitreten möchte, kann ich verstehen“, antwortete der Mann und spuckte Rott vor die Füße.
    „Aber was will der feine Bengel bei uns?“, richtete er das Wort direkt an Pat und stierte ihn aus seinen strengen Augen an. Pat erwiderte den Blick wortlos. Er konnte den leichten Geruch von Gerstensaft riechen, den ihr Gegenüber mit jedem seiner Worte verströmte. Was auch immer dieser versoffene Köter von ihnen wollte, Pat durfte sich unter keinen Umständen zu einer Dummheit hinreißen lassen. Dies würde das vorzeitige Ende seiner Reise bedeuten. Für undisziplinierte Narren war kein Platz in der Kaserne von Venuris.
    Doch seine Beherrschung wurde weiter auf die Probe gestellt.
    „Ist Vati das Puder für deinen feinen Arsch ausgegangen? Oder hat er sein ganzes Geld, dass er nicht in eben diesen gesteckt hat in den Hurenhäusern verprasst, weil ihm die Titten deiner alten Mutter mittlerweile zu lang geworden sind?“, waren die nächsten Worte, die er an sich abprallen lassen musste.
    Der Blick des Mannes wanderte weiter zu Pats Schwert: „Sogar ein eigenes Schwert hat der Junge mitgebracht, sieh an, sieh an. Hat es mal deinem Großvater gehört und die letzten Jahre zur Zierde über eurem Kamin mit dem prasselnden, warmen Feuer gehangen? Wie oft hast du dich daran geschnitten, bis du es endlich in der Scheide hattest?“
    Pat ballte die Faust und ehe sich seine Miene verfinstern konnte, packte Rott ihn an der rechten Schulter. Er deutete mit seinem linken Zeigefinger in die andere Richtung und zeigte auf eine kleine Steinhütte: „Dort drüben sind noch mehr angehende Rekruten, wir sollten uns zu ihnen gesellen“
    Der blondschöpfige Junge mit der hässlichen Gesichtshaut wandte Pat nun endgültig von dem schwarz gekleideten Mann ab, bevor die Situation zu eskalieren drohte.

    Vor der besagten Steinhütte tummelten sich vier weitere Burschen, die ebenfalls ihr Hab und Gut, in Leinensäcken und Lederbeuteln verstaut, in Händen hielten.
    Der betrunkene Mann, der Pat zuvor noch massiv beleidigt hatte, folgte ihnen nicht.
    Er war lächelnd weitergezogen, wo auch immer sein Weg ihn hinführte. Doch seine Worte hallten noch eine Weile in Pats Kopf nach.
    „Was war das nur für ein betrunkener, alter Narr?“, wollte Rott von ihm wissen, während sie den Kasernenhof überquerten. Pat zuckte mit den Schultern: „Betrunkener Hurensohn trifft es wohl besser. Wenn ich den irgendwann in einer dunklen Gasse erwischen sollte, prügele ich ihm sein hässliches Grinsen aus der Visage.“ Pat spürte wie sein Blut kochte, war allerdings bemüht, sich schnell wieder zu beruhigen. Er wusste, dass wenn er sich hier daneben benehmen würde, er schneller wieder seine Sachen packen durfte, als ihm lieb war. Seine Reise wäre zu Ende und es gäbe zuerst einmal keinen Ort, an den er gehen konnte. Zurück nach Rinken ohne etwas erreicht zu haben, seinem Vater die Genugtuung zu geben, dass er Recht hatte und sein ältester Sohn genau der Narr war, für den er ihn hielt? Das wollte er auf keinen Fall. Lieber schluckte er seinen Stolz herunter und stieß stattdessen besagte Drohung aus, die er zwar nicht wahrmachen würde, die aber in Worte gefasst einfach gut tat.

    Zusammen mit den vier anderen jungen Männern, die sich ihnen als Bennet, genannt Ben, Tesso, Ruker und Temu vorstellten, betraten sie die kleine Steinhütte, in der eine Dunstwolke auf sie wartete, die nach einer Mischung aus Rauch und undefinierbarem Muff roch. Durch ein Fenster in der Decke und je einem zu ihrer Rechten und Linken, war der einzige Raum im Inneren hell erleuchtet. Nachdem sie die Türe hinter sich geschlossen hatten, wurden sie von Verwalter Huuke Zigel, einem breitschultrigen, kleinen Kerl mit dichtem, dunkelbraunem Vollbart und Glatze, kühl willkommen geheißen. Die sechs Neuankömmlinge würdigte er dabei keines Blickes. Im Gegenteil hatte er nur Augen für die vor ihm, auf dem kleinen Schreibtisch, ausgebreiteten Listen, über die er aufmerksam den Zeigefinger seiner rechten Hand gleiten ließ. Zigel war dermaßen tief über das Papier gebeugt, dass man kein Gelehrter sein musste, um zu erkennen, dass sein Augenlicht keine guten Dienste mehr tat. Unzählige Pergamente waren zu großen Papierstapeln aufgehäuft, hinter denen man sich problemlos hätte verstecken können. Dieser Mann war mit keiner schönen Aufgabe betraut, erkannte Pat, als er auch noch die Massen an Dokumenten entdeckte, die er hinter seinem Schreibtisch in eine große Schrankwand gestopft hatte, welche langsam überzulaufen drohte. Nach einigen endlos erscheinenden Minuten der Stille, erhob sich der Verwalter und musterte die sechs Männer. Er seufzte, murmelte etwas von noch mehr Papier und noch mehr Arbeit, kramte ein großes zusammengerolltes Pergament aus der Schublade eines rechteckigen Holzschranks, welche er zuvor mühsam mit mehreren Ruck aufgezogen hatte und breitete diese, nachdem er die zuvor studierten Listen zur Seite geräumt hatte, auf seinem Schreibtisch aus. Er erkundigte sich nach ihren Namen und notierte sich diese in einer fein säuberlich, geschwungenen Schrift.
    „Meldet euch zuerst beim Quartiermeister Conreth Kressen, er wird euch eure Unterkunft zuweisen. Anschließend geht ihr direkt zu Waffenmeister Wells. Alles Weitere erfährt ihr also von jemand anderem. Nun lasst mich in Ruhe! Verschwindet!“

    Conreth Kressen erwartete sie im größten aller Gebäude, welches die Unterkünfte beherrbergte. Ein mehrstöckiger, hässlicher Klotz aus schwarzen und grauen Steinen errichtet, der bereits jetzt aus allen Nähten zu Platzen drohte. So führte er die Gruppe doch tatsächlich allesamt in die labyrinthartigen Keller, wo er den sechs Männern eine leere Kerkerzelle als vorübergehenden Schlaf- und Wohnplatz zuwies. Aufgrund der stetig steigenden Anzahl an Rekruten waren bereits sämtliche Unterbringungsmöglichkeiten im Hauptgebäude ausgeschöpft und man sah sich angesichts der weiteren Neuankömmlinge zu unkonventionellen Lösungen gezwungen. Der Regent und seine feinen Herren würden allerdings an einer Lösung des Problems arbeiten, erklärte der ungepflegt aussehende Mann mit dem leichten Bauchansatz, der stets einen riesigen Schlüsselbund, an dem hunderte der kleinen Türöffner baumelten, mit sich herumtrug. Es schwang ein leicht spöttischer Unterton in seinen Worten mit.

    „Ich hatte auf etwas mehr Raum für mich selbst gehofft“, lies Rott enttäuscht durchklingen, als er seinen Sack in die Ecke warf und sich eine der herumliegenden Matratzen schnappte.
    Dem Lärm nach zu urteilen, waren in den anderen Zellen noch weitere Männer untergebracht. Für Pat war der Schock immer noch groß. Hier war es in etwa so komfortabel wie in der Höhle, in der er zusammen mit Kune übernachtet hatte. Es roch nach Feuchtigkeit und Dreck. Über ihnen zierten Spinnenweben die Decke und zauberten ein einerseits beeindruckendes, auf der anderen Seite wiederum abstoßendes grau-schwarzes Kunstwerk über ihre Köpfe. Bennet, der Ben genannt wurde, und der zusammen mit seinen Kameraden Tesso, Ruker und Temu aus einem Dorf namens Grunforst aus den westlichen Westlanden kam, war ebenso wenig von seiner neuen Unterkunft begeistert, wie die anderen Fünf. Er war der körperlich größte von ihnen. Eine wilde, ungepflegte Mähne rotbraunen Haares wucherte auf seinem Haupt und ein fleckiges Wams lag an seinem Körper, unter dem sich seine wohlgeformten Muskeln abzeichneten. In Grunforst hatte er ursprünglich als Holzfäller gearbeitet, doch suchte er das Abenteuer und hatte geglaubt dieses in Diensten der Venua-Armee finden zu können. Gerade jetzt, wo doch ihr Regent alle jungen Männer förmlich dazu aufgerufen hatte sich den Streitkräften anzuschließen. Black hatten ihnen allen Ansehen, Ehre, Obdach und Verpflegung angeboten. Mehr als die meisten von ihnen in ihrem bisherigen Leben genießen durften.
    Auch Ruker und Temu, zwei Brüder, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, schüttelten leicht angewidert die durchgelegenen Matratzen aus, die man ihnen als Schlafgelegenheit in der Zelle zurechtgelegt hatte. Die beiden blonden, blauäugigen Zwillinge, die selbst Pat als hübsch bezeichnen würde, vermittelten, im Gegensatz zu Ben, nicht den Eindruck, als das sie harte Burschen verkörperten. Wie denn auch? Ruker hatte als Küchenjunge in einer großen Schenke in Schöningen, einer Stadt in der Nähe Grunforsts, gearbeitet und war demnach eher ein Schneidemesser, denn Schwert oder Holzfälleraxt gewohnt und Temu hatte sich um die Klepper eines alten Pferdezüchters gekümmert und besaß demnach auch keinerlei Erfahrung mit Waffen. Immerhin hatte er etwas mehr Farbe im Gesicht als sein Bruder. Tesso letztendlich war der kleinste und jüngste der vier Männer aus Grunforst gewesen. Just nach seinem fünfzehnten Namenstag entschloss er sich zusammen mit den drei anderen Männern aufzubrechen. Er war der vierte Sohn eines Müllers und seine Haut so glatt wie die eines Säuglings. Nicht einmal ein leichter Flaum zeichnete sich darauf ab. Seinen Spitznamen „Welpe“ verabscheute er, doch überspielte er gekonnt seine Abneigung gegen eben jenen, in der Hoffnung das seinen Freunden irgendwann die Lust daran vergehen würde. Auch Tesso hatte noch nie ein echtes Schwert in Händen gehalten.

    Das sollte sich auch nicht ändern, nachdem die Truppe Soloth Wells, den knorrigen alten Waffenmeister mit dem schrecklich zerfurchten Gesicht aufgesucht hatte. Wells besaß an seiner linken Hand nur noch drei Finger. Den kleinen und seinen Ringfinger hatte er bei einem Zweikampf verloren, erzählte man sich. Manche unkten auch, ein Pferd hätte ihm die Finger abgebissen, als er sich mit diesem um einen Apfel gestritten habe, doch war diese Version, Pats Meinung nach, nichts weiter als eine dumme Nachrede, von Leuten gesät, die mit der schroffen Art Wells nicht klar kamen.
    Nicht nur zu Pats Enttäuschung fochten sie ihre ersten Übungskämpfe mit Holzschwertern aus, um ein Gefühl für die Waffe zu bekommen und um an Technik und Beinarbeit zu feilen. All dies geschah unter Aufsicht von Lukwan Grauwasser, einem vergleichsweise jungen Ausbilder, vermutlich Mitte oder Ende Zwanzig, der immer für einen kleinen Scherz zwischendurch gut war, sie aber hart ran nahm. Pat war der mit riesigem Abstand beste Schwertkämpfer unter den Neuen, was ihn nicht überraschte.
    Mit etwas anderem war schlichtweg nicht zu rechnen gewesen.
    Ben war zwar immerhin nicht ganz so schlecht, wie die anderen, doch war es im Grunde nur seine übermäßige Kraft, die ihm einen Vorteil verschaffte. Sein Schwert schwang er wie eine Holzfälleraxt und in seinen Bewegungen war er so schwerfällig wie ein mit Steinen gefüllter Sack. Es dauerte nur wenige Runden, bis Grauwasser Pat Mohor zu einer weiter fortgeschrittenen Truppe unter der Aufsicht von Derek Wolvau weiterschickte. Doch auch dessen Schützlinge waren keine echten Gegner für ihn. Einer von ihnen, ein hässlicher Riese mit schiefen Zähnen, der vermutlich genauso dumm war, wie er aussah, nötigte Pat immerhin eine gekonnte Parade ab.
    „Du bist allem Anschein nach kein solcher Nichtsnutz wie der Großteil hier, Bursche. Wobei nicht jeder Mann Schwertunterricht von seinem reichen Vater bezahlt bekommen hat“, lachte Wolvau draufhin. Seine Schüler stimmten prompt in das Lachen mit ein.

    Pat hielt sich erneut mit Widerworten zurück, schluckte die Häme runter und lächelte dagegen an. Warum brachten ihm nur so viele Menschen hier eine solche Abneigung entgegen? Sein Vater hatte ihm keinen Schwertunterricht bezahlt. Pat brachte sich zunächst vieles in Eigenregie bei, als Mohor Senior ihm, vor einer gefühlten Ewigkeit, das Familienschwert überreicht hatte. Für seinen Vater war diese Geste damals kaum von Bedeutung, doch für Pat änderte sich ein ganzes Leben. Später hatte er dann mit dem gleichnamigen Sohn des alten Hellman Karth, der zusammen mit Red in den Krieg gezogen war, so etwas wie einen Lehrer gefunden. Doch das hätte schließlich auch jeder andere Mann haben können. Dies war kein Privileg eines reichen Sprösslings gewesen. Hellman war von Anfang an begeistert ob Pats Enthusiasmus und dem vorhandenen Talent und brachte ihm anschließend die Feinheiten des Schwertkampfes bei. Wie er es zu schwingen, wie er sich zu bewegen, ja sogar wie er zu atmen hatte. Er selbst war als alter Hagestolz verschrien und hatte somit auch keine eigenen Kinder, sah in Pat aber wohl so etwas wie einen eigenen Sohn. Auch wenn viele schlecht über den jungen Hellman Karth dachten und redeten, Pat mochte, ja bewunderte gar diesen Mann. Viele blaue Flecken und Schnittwunden hatte er in dieser Zeit davon getragen, aber mit jedem Tag wurde er besser und besser. Das war noch lange bevor die Frauen den Schwertkampf als die schönste Sache der Welt ablösten. Sein Talent blieb ihm aber auch nach all seinen Liebschaften erhalten. Er pflegte gerne zu sagen, dass er mit den Frauen sein anderes Schwert trainierte und deshalb nun in der Lage war mit zwei Waffen zu hantieren. Zumindest Kune hatte über diesen dämlichen Spruch lauthals gelacht. Doch ein Derek Wolvau oder Soloth Wells und ganz sicher nicht Conreth Kressen oder Huuke Zigel hätten dafür auch nur ein müdes Lächeln übrig gehabt. Sie sahen in ihm nur den arroganten, reichen Jungen, der sogar sein eigenes Schwert mitgebracht hatte und sich damit, ihrer Meinung nach, über sie alle stellte. Seine einzigen Freunde waren Rott, Ben und die anderen Jungs gewesen, mit denen er sich die feuchte Kerkerzelle, zumindest für die Zeit der Ausbildung, wie man ihnen versicherte, teilte.

    Doch Pat wusste auf die latenten Anfeindungen mit Leistung zu antworten. Auch am Bogen war er ihnen allen meilenweit voraus gewesen. Während ihre ersten Pfeile teilweise nicht einmal die Sehne verließen und wenn doch, nur in den seltensten Fällen auch nur in die Nähe des Heuballens mit der Zielscheibe flogen, verfehlte Pat hingegen nie sein Ziel. Schnell sprach sich unter den Ausbildern herum, dass eines der seltenen Naturtalente wieder den Weg in ihre Reihen gefunden hatte, was ihm zumindest von deren Seite so etwas wie Respekt einbrachte. Den Neid der anderen Schüler konnte er hingegen teilweise aus der Luft herausschmecken, doch wollte niemand sich mit ihm anlegen. Ob es Angst vor seinen Fähigkeiten oder die Angst vor dem Rauswurf war, welcher sie zögern ließ, wusste Pat nicht. Es interessierte ihn aber auch nicht weiter. Er hatte seine Ruhe und das war gut so.

    Hinter einer kleinen Anhöhe sah Pat plötzlich einige seltsame Gestalten auftauchen, die sich in seine Richtung auf die Straße zubewegten. Allem Anschein nach vier Erwachsene und ein kleines Kind. Als sie näher kamen, konnte er erkennen, dass zwei von ihnen Schwerter an ihren Gürteln trugen. Um welches Gesindel auch immer es sich hierbei handelte, Pat holte seinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen aus einem der Weinfässer hervor und hängte sich letzteren um. Die beiden Bewaffneten steuerten nun zielstrebig und mit festen, schnellen Schritten auf ihn zu. Er legte einen Pfeil auf und erhob nun drohend seinen Bogen, spannte das Geschoss ein wenig und rief den Fremden zu:
    „Keinen Schritt weiter, meine Freunde!“
    Die beiden bewaffneten Männer ließen ihre Waffen, die sich bei genauerem Hinsehen als leicht angerostete Macheten entpuppten, stecken und hielten inne. Der Linke war ein kleiner Kerl mit stoppeligem Haupthaar, sein Nebenmann ein langer, dürrer Mann, blass wie ein Gespenst. Auch die beiden anderen Männer und das Kind blieben stehen und hielten ihre Augen auf Pat gerichtet. Ein Alter, ein Fetter und ein kleiner Junge, womöglich der Sohn einer der Männer.
    Allesamt machten sie keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck. Ihre Kleidung war größtenteils genauso schmutzig wie ihre Gesichter und speziell die drei Begleiter der Bewaffneten, wirkten gar sichtlich erschöpft. Insbesondere der Fette war körperlich völlig geschafft.

    „Nimm deinen Bogen runter, wir sind keine Wegelagerer“, rief ihm der dürre Lange zu.
    Genau die Worte, die wohl jeder gewählt hätte, wenn dessen wahre Intention ein Überfall gewesen wäre, dachte sich Pat und hatte daher dafür gesorgt, dass zwischen den Männern und Kunes Wagen noch mindestens zwanzig Meter Abstand blieben. Den gespannten Bogen hielt er weiterhin auf die beiden Männer an vorderster Front gerichtet.
    „Wir sind unterwegs in die Hauptstadt. Könnt ihr uns ein Stück des Weges mitnehmen?“
    Wieder hatte der Lange gesprochen. Als Pat nicht sofort antwortete, polterte der kleinere Mann, mit den kurzen Haarstoppeln auf dem Kopf, los: „Hast du deine Zunge verschluckt, Jungchen oder was ist dein scheiss Problem?“ – „Sein scheiss Problem ist doch offensichtlich, mein Freund.“
    Endlich war Kune von seinem Geschäft zurückgekehrt. Zum ersten Mal war Pat ein wenig froh den alten Mann zu sehen. Dieser schlenderte an den Rand der Straße und musterte die Fremden einen kurzen Augenblick, dann erhob er seine linke Hand und deutete auf seinen Wagen hinter ihm: „Wir haben nicht genug Platz für fünf Mitreisende. Ich könnte mir das mit Sicherheit noch einmal überlegen, doch seht ihr nicht so aus, als ob ihr mich für diese Anstrengungen entlohnen könntet.“
    Die beiden fremden Männer blickten einander an und als die Antwort ausblieb und stattdessen nur ein, nach leisem Fluchen klingendes, Murmeln des stoppeligen Maulhelden erklang, formte sich der zahnlose Mund Kunes zu einem Lächeln: „Genau, wie ich mir gedacht habe. Nun denn, meine Freunde. Ich wünsche euch einen schönen Fußmarsch, wo auch immer euer Weg euch hinführen mag.“
    Der alte Mann schwang sich, eleganter als man es bei ihm vermuten konnte, wieder auf den Kutschbock, nahm die Zügel in die Hand und setzte seinen Wagen in Bewegung. Pat behielt die Männer mit gespannten Bogen weiterhin solange im Visier, bis sie schließlich in der Ferne auf die Größe von Rosinen geschrumpft waren.
    Für den alten Mann und den kleinen Jungen tat es ihm etwas leid. Über den Fetten musste er hingegen nur schmunzeln und die beiden anderen Männer, waren ihm schlichtweg egal gewesen. Wenn sich die Gruppe wirklich auf dem Weg nach Venuris befand, würde es wohl eine ganze Woche dauern, bis sie diese zu Fuß erreichten. Er verstaute Bogen und Köcher wieder in dem leeren Weinfass und legte sich erneut auf die Ladefläche, schloss die Augen und musste unweigerlich wieder an seine beiden jüngeren Geschwister Mak und Serea denken. Anscheinend ließ sich die Vergangenheit doch nicht so einfach abstreifen, wie er sich das vorstellte.

    Zwei weitere Nächte folgten. Eine davon verbrachten die Reisegefährten, ob der mittlerweile angenehmen Temperaturen, unter freiem Himmel. In dieser Nacht hielten sie abwechselnd Wache. Zuerst Pat, dann schließlich Kune, ehe sie sich erneut aufmachten. Zwar prahlte man in der Hauptstadt gerne damit, dass die Stadtwache die Kriminalität derart niedrig hielt, sodass sie den Ruf als sicherste Stadt der ganzen Welt innehielt, doch in einem großen Kreis um Venuris herum, so wusste Kune, lauerte das Gesindel um arglosen Händlern wie ihm die Taschen zu erleichtern. Wenn er alleine reiste, ließ er stets einen kleinen Beutel mit einigen wenigen Silbermünzen achtlos und gut sichtbar an seinem Gürtel baumeln, während er die großen Summen in einer versteckten Nische unter dem Wagen verstaute. Dreimal hatten sie ihm des Nachts bereits den Beutel geschnitten, ohne dass er es bemerkt hatte. Durch seine Gerissenheit, wie er gegenüber Pat betonte, konnte er sich in solchen Momenten dennoch wie ein Gewinner fühlen. Einen weiteren dümmlich klingenden Titel hatte man ihm hierfür, allem Anschein nach, aber noch nicht verpasst. Natürlich hätte er als Alleinreisender seine Nächte auch in einem warmen Bett verbringen können, doch wurde er nicht müde zu wiederholen, dass er sich für dieses Geld stattdessen auch ein Schiff hätte zulegen können. Kune bevorzugte jedoch das behutsame Schaukeln eines Fuhrwerks, nicht das magenumdrehende Schwanken eines dieser teuflischen, schwimmenden Holzungeheuer. Als Kind war er einmal nach Tjormeer gesegelt und musste sich ununterbrochen übergeben. Als sie am Ziel angekommen waren, war er gezwungen gewesen zwei weitere Tage lang das Bett zu hüten. Seitdem hatte er sich geschworen nie wieder einen Fuß auf ein Schiff zu setzen.

    Die letzte Nacht, bevor sie endlich die Tore der Hauptstadt passieren konnten, verbrachten sie vor einem prasselnden Kaminfeuer. Ein entfernter Vetter Kunes hatte ihnen die Gastfreundschaft gewährt und zum Abendbrot eine schlichte Lauch-Zwiebelsuppe mit hartem Brot serviert. Der müde wirkende, leicht gebeugt gehende Gastgeber war sehr freundlich zu ihnen gewesen, wenngleich nicht sehr gesprächig. Das Reden übernahmen dafür seine vier kleinen Enkel, die allesamt zwischen vier und dreizehn Jahre alt gewesen und von dem angehenden Soldaten aus Rinken, Pat, hellauf begeistert waren.
    Der Älteste wollte ebenfalls ein großer, wenn nicht der größte Schwertkämpfer Venuas werden und in epischen Schlachten gegen die verfluchten Namuner kämpfen.
    Immerhin wusste der Junge schon, was er wollte. Ob dieser Traum Bestand haben wird, wenn die ersten Frauen in sein Leben treten oder wenn sein Vater sich entschließt, dass er ihn zum Erben seines Handwerks machen möchte? Pat erinnerte sich, dass er sich früher ebenfalls sehr für den Beruf seines Vaters interessiert hatte. Doch da war er wie alt gewesen? Fünf? Sechs? Er hatte damals schlichtweg keine Ahnung, was die Welt, über seinen damals winzigen Horizont hinaus, noch für Freuden für ihn bereithalten sollte. Sündhaftes Treiben hatte sein Vater es genannt. Warum musste ausgerechnet das vermeintlich Schlechte so süß schmecken?
    „Du willst Blacks Armee beitreten? Ein sehr ehrenwertes Vorhaben. Das wird dich erden, Junge“, hatte Kune ihm gesagt, als er ihn um eine Mitfahrgelegenheit Richtung Venuris gebeten hatte. Das ganze war jetzt über eine Woche her gewesen, doch fühlte es sich bereits wie eine kleine Ewigkeit an, dass er sich von seiner Mutter, sowie Mak und Serea verabschiedet hatte. Ob Sereas Tränen mittlerweile getrocknet waren und sie wieder so herzhaft lachte, wie sie es früher immer tat?

    Am Mittag des folgenden Tages, der Himmel über ihnen zeigte wieder sein graues und unfreundliches Gesicht, doch sparte er mit neuerlichen Regenschauern, erreichten sie endlich ihr Ziel: Venuris.
    Die Stadt wirkte durch ihre schiere Größe, schon aus der Ferne, noch imposanter, als er es sich vorgestellt hatte. Die Stadtmauern ragten gute zehn Meter in die Lüfte und waren etwa zwei Meter dick. An den äußeren Enden und über dem ebenfalls zehn Meter breiten Tor thronten eckige Wachtürme wie steinerne Könige über ihren Köpfen und hielten stumme Wacht. Dazwischen drängten sich auf den Zinnen weitere, mit Pfeil und Bogen ausgerüstete, Männer, jederzeit bereit die Stadt gegen den aktuell nicht vorhandenen Feind zu verteidigen. Um die Stadt herum hatte man einen tiefen, gut vier Meter breiten Graben ausgehoben, der einzig über die hölzerne Zugbrücke, aus einem fremdartigen Material namens Titanfaust gefertigt, problemlos überquert werden konnte. Die in leichte Kettenhemden gehüllten Soldaten der Stadtwache beäugten sie unfreundlich, als sie den großen Steinbogen durchquerten und in den Dunst der Stadt eintauchten. Pat fühlte sich wie ein kleiner Junge, als er die unzähligen Gerüche und Ausdünstungen der Hauptstadt in sich aufsaugte. Natürlich konnte man auch seine Heimatstadt Rinken nicht gerade als klein bezeichnen, doch war Venuris in allen Belangen größer, höher und weiter.

    Der Abschied von Kune fiel Pat vergleichsweise leicht. Auch wenn er den alten Todbeißertöter mittlerweile ins Herz geschlossen hatte, so wusste er, dass er doch spätestens in einem Monat wieder hier aufkreuzen würde, beladen mit neuen Waren die einem neuen Besitzer zugestellt werden sollten.
    Als Kune schließlich in der Menschenmenge des Marktplatzes verschwand, löste sich auch das letzte bisschen der alten Heimat von Pat Mohor los.
    Sein neues Zuhause jedenfalls war bunt. Ein buntes Treiben an Menschen, die ihrer Kleidung nach zu urteilen, aus allen Ecken Venuas hierher geströmt waren. Händler in Roben aus roten, blauen, grünen, gelben und weißen Federn, offenbar aus den Ostlanden, tauschten sich angeregt miteinander aus und ignorierten bewusst, dass sie für viele andere den Durchgang in eine kleine Seitengasse blockierten. Drei Frauen trugen die orange-goldenen Trachten der ehemals freien Hafenstadt Koken, dem Geburtsort der legendären Nara, die einen Pakt mit dem Sonnengott geschlossen hatte, um ihre Feinde zu vernichten. Sie hatten sich um einen sprudelnden, mehrstöckigen Brunnen versammelt und kicherten aufgeregt miteinander. Gerade als Pat für einen kleinen Plausch innehalten wollte, sah er wie drei grimmige, hochgewachsene Seemänner aus einer Lagerhalle heraus marschierten und bereits freudig von den Dreien erwartet wurden. Außerdem beobachtete Pat einen Mann, der den Pelz eines weißen Bären um die Schultern trug. Hatte er doch die Geschichten von den Eiskolossen, die auf dem mystischen, gefrorenen Land leben sollten, stets für ein Märchen gehalten, doch nun wurde er, quasi im Vorbeigehen, eines Besseren belehrt. Doch nicht nur die visuellen Eindrücke waren buntgemischt, auch die unterschiedlichen Gerüche, die von süß, würzig, streng, muffig bis hin zu abstoßend reichten, strömten ihm in die Nase und beflügelten seinen Geist. Er fühlte sich plötzlich lebendiger als je zuvor, war ein Teil der Stadt, deren Straßen die Venen und deren Menschen das pulsierende Blut darstellten.

    „Hey, mein Freund. Bist du auch auf dem Weg in die Kaserne?“, rief es von irgendwoher, als plötzlich, schnellen Schrittes, ein strohblonder Junge, etwa in Pats Alter, aus der Menschenmenge heraus auf ihn zusteuerte. Seine Augen leuchteten so blau wie der Himmel über ihnen, doch seine Haut war überzogen von roten Pusteln, sodass er letztendlich das genaue Gegenteil von einem ansehnlichen Burschen darstellte. Er trug ein fleckiges, weißes Hemd und verblichene Lederhosen. In einem kleinen Sack, den er über seiner rechten Schulter trug, bewahrte er allem Anschein nach seine Habseligkeiten auf. Dagegen wirkte Pat, mit der hölzernen Kiste unter dem Arm, dem alten Schwert seines Vaters am Gurt und dem Bogen samt Köcher, wie ein schwerbepackter Esel.
    „Mein Name ist Rott. Ich komme aus Gevel, hier aus den Mittlanden. Und wer bist du?“ – „Pat Mohor aus Rinken, Westlande. Schön dich kennenzulernen, Rott aus Gevel. Und ja, ich bin ebenfalls auf der Suche nach der Kaserne. Besitzt du kein eigenes Schwert?“
    Rott schüttelte mit dem Kopf: „Ich stamme aus einer armen Familie, habe vierzehn Brüder und Schwestern. Das einzige was einer Waffe auch nur nahe kommt, und das ich bisher auch in Händen gehalten habe, war eine Harke.“
    Pat musste unweigerlich schmunzeln: „Weißt du denn überhaupt wie man ein Schwert hält?“ – „Natürlich weiß ich das“, entgegnete Rott beinahe beleidigt und fügte hinzu, dass er Pat gehörig den Arsch versohlen werde, sollte es je zu einem Übungsduell zwischen den Beiden kommen.
    Nur selten hatte er bislang Umgang mit dem ärmeren Teil der Bevölkerung gehabt. Sein Vater versuchte ihn und seine Geschwister stets von den armen Schluckern, wie er sie nannte und aus deren Mitte er einst entwuchs, fernzuhalten. Seine Kinder sollten sich nicht an der Dummheit des ungehobelten Packs anstecken. Pat wusste natürlich, dass das Gerede seines Alten Unfug war. Rott war nicht nur ein netter Mensch, wie es schien, sondern allem Anschein nach auch ein Mitglied seiner neuen Familie. Selbst wenn er ein wenig dumm sein sollte, so sah Pat dennoch keinen Grund zu ihm auf Distanz zu gehen.

    So machten sie sich gemeinsam auf den Weg zur Kaserne, unterhielten sich und scherzten miteinander. Schnell waren die beiden Männer auf einer Wellenlänge und verstanden sich prächtig.
    Ihr Weg führte sie durch verwinkelte Straßen, vorbei an Lagerhäusern, Markthallen, Tavernen, einfachen Wohnhäusern, auch an dem ein oder anderen verdächtig nach einem sogenannten Freudenhaus aussehenden Gebäude, vor denen zumeist finster dreinschauende Männer, so breit wie Ochsen, auf und ab schritten und die Besucher des Etablissements genauestens, von oben bis unten, musterten.
    Rott hatte, wie er auf Pats Nachfrage hin selbst zugab, erst ein einziges Mal das Bett mit einer Frau geteilt und nicht das Bedürfnis dies so schnell zu wiederholen. Auf seine Frage hin, weshalb dies so wäre, bekam Pat allerdings nur zu hören, dass es ihm unangenehm wäre darüber zu sprechen. Für Pat absolut nicht nachvollziehbar. Wie konnte man über die mit Abstand schönste Freude der Welt nicht sprechen wollen? Dennoch akzeptierte er diese unwichtige Macke seines künftigen Waffenbruders und verlor kein weiteres Wort über die Sache.

    Als sie eine, zwischen zwei Gebäuden verlaufende, Steintreppe emporstiegen, konnten sie aus der Ferne endlich den imposanten Palast der Venua-Familie erspähen. Für Pat war es das größte Gebäude, welches er je zuvor in Augenschein nehmen durfte. Umgeben von einer blauen Ziegelmauer erhob sich der Palast mit dem riesigen Rundturm in der Mitte, majestätisch in die Lüfte, als wollte er einem voller Stolz ins Gesicht sagen ‚Seht her, seht mich an’. Eine riesige, breite Treppe aus weißem Marmor musste erklommen werden, um das, von mehreren mit Hellebarden bewaffneten Soldaten der Palastwache bewachte, Eingangstor zu erreichen. Man konnte verstehen, weshalb Red diesen Palast, der komplett aus besagtem weißen Marmor errichtet und einst bereits Wohnsitz der alten Stadtherren gewesen war, zu seinem Regierungssitz gemacht hatte. Als die Herren des einstigen Moteem, wie diese riesige Stadtfestung in der Zeit vor dem Krieg hieß, sich für eine friedliche Lösung mit dem Feind ausgesprochen hatten, war es der legendäre Red gewesen, der mit seinen unzähligen Mitstreitern die Herrschenden aus ihren Betten zerrte und für ihren Verrat am Volk hinrichten ließ. Dies war der Beginn eines beispiellosen Feldzugs der roten Rebellen, wie sie sich nannten, die immer mehr Sympathisanten und Nachahmer in allen Teilen der West- und Mittlande fanden. Bald wurde aus der Arme-Leute-Miliz eine Armee und wenig später führte der unverwüstliche Red jene Armee dann auch zum Sieg des Westkontinents und das Land mitten hinein in eine neue Ära. Zwar ließ man in den Lobgesängen und Liedern gerne diese blutige Vorgeschichte außen vor und besang stattdessen den süßen Sieg, doch Pats Vater hatte viel Wert darauf gelegt, dass seine beiden Söhne und wohl bald auch Serea mit allen Details ihrer Geschichte, ihrer Vergangenheit vertraut waren, die Andere längst vergessen oder nie erfahren durften. „Nur durch die Vergangenheit können wir eine große Zukunft erreichen“, hatte Mohor Senior immer wieder gepredigt. Waren diese Worte stets nur heiße Luft für Pat gewesen, so glaubte er nun, angesichts dieses riesigen Gebildes, sie endlich zu verstehen.

    Der Palast war mindestens zwanzig Mal so groß wie das ohnehin schon stattliche Haus seines Vaters, seinem ehemaligen Zuhause, in welchem er die Geschichte Venuas erzählt bekommen hatte.
    Bald schon würde er endlich seine neuen vier Wände und seine neue Familie kennenlernen. Eine sehr große Familie im Übrigen. Wenn es stimmte, was Rott erzählte, so bestand alleine die Stadtwache der Hauptstadt aus gegenwärtig über achthundert Mann. Und es herrschte Frieden. Vor dem großen Krieg mit dem Nachbarkontinent waren die einzigen bewaffneten Verbände die Leibgardisten und Ordnungstruppen der Stadtherren und Bezirksvorsteher, deren Bezeichnungen sich von Ort zu Ort unterschieden. Eine geregelte Ausbildung mit Unterbringung, wie heutzutage, gab es damals nicht. Wer kämpfen konnte, wurde aufgenommen, wer nicht, der eben nicht. Wie würde ein heutiger Krieg gegen Namun wohl ausgehen, jetzt wo Venua gezielt seine Streitkräfte förderte? Vermutlich würde sich der Westen, wie ein Feuer im Stroh, durch den Osten hindurchfressen.

    Aber wo steht den geschrieben das der Grundsatz der Fantasy unbedingt das vorkommen von Magie sein muss?

    Wikipedia - Definition "Fantasy" ;)

    Auszug: "Als modernes Subgenre der Phantastik stellt die Fantasy übernatürliche, märchenhafte und magische Elemente in den Vordergrund"

    Grundsätzlich gestaltet sich eine genaue Definition allerdings immer sehr schwierig, da sich die wenigsten Geschichten ausschließlich auf ein bestimmtes Genre festnageln lassen. Zu oft sind die (Genre)Grenzen fließend und man findet sogleich mehrere Aspekte/Elemente in ein und derselben Story wieder.

    Letztlich muss eine Geschichte allerdings nicht auf Gedeih und Verderb "experimentell" und "neu" sein um zu gefallen.
    Und hier muss ich mich erneut @Cory Thain anschließen: Macht deine Geschichte Hunger auf mehr, ist es letztlich völlig egal, wie konventionell und klischeeüberladen der Plot auch sein mag und erst recht, in welche Schublade sie gesteckt wird.

    LG
    Rika

    Gab es für diesen Namen eigentlich irgendeine spezielle Inspirationsquelle? Der klingt nämlich irgendwie ein wenig anders als der Rest.

    Die vier Völker der Zweitwelt sind ja generell sehr unterschiedlich, nicht nur in Aussehen, Sprache und Kultur. Dazu liefere ich später aber noch etwas mehr Informationen. Die Namen habe ich in abgewandelter Form aus einem ganz, ganz frühen "Werk" von mir übernommen, haben aber keine tiefere Bedeutung ;)


    Auf mich wirkt das irgendwie seltsam, dass die Tochter des Königs ohne irgendeine Zurechtweisung ihres Vaters einfach das Wort auf eine solche Art und Weise ergreift. Es kann ja auch eine sanfte sein, Black ist ja scheinbar kein Regent der rabiaten Sorte.

    Vor allen Dingen ist Black ja offenbar nicht mehr ganz bei Sinnen, wie man an der Schlussszene vermuten kann. Da er, gesund, vermutlich ähnlich gehandelt hätte, sehe ich aber dennoch nicht den Bedarf eines Tadels.

    Gorkes verbaler Wutausbruch wird dann schließlich von der Endszene überschattet und hat für ihn keine Konsequenzen mehr. Wobei Black hier auch wieder eher der Typ gewesen wäre, der es vorerst bei einer scharfen Zurechtweisung belassen hätte.


    Und wenn keiner Einwände hat ;)

    ===

    Das Schwert aus Rinken

    Nach seinem Aufbruch hatte es vier Tage lang geregnet. Zwar stoppten die Wolken so manches Mal ihren Dauerguss über ihm und dem Fuhrmann, doch kaum rechnete man mit einer Besserung, fing es schon wieder von vorne an. Vier Tage lang hatte er das Wetter verflucht. Die Ladefläche des Wagen, welcher von zwei großen, schwarzen Hengsten gezogen wurde, war dadurch derart glitschig geworden, dass er die Fahrt nur im Sitzen oder Liegen verbringen konnte. Seine bis auf die Unterwäsche durchnässten Klamotten klebten an seinem Körper. Ein äußerst unangenehmes Gefühl.
    Er hätte ja ein Schiff nehmen können, aber dafür waren seine Ersparnisse nicht ausreichend. Zudem wäre er zuvor gezwungen gewesen einige seiner wenigen Besitztümer zu verkaufen. Vermutlich auch noch unter Wert. Der Kutscher hingegen war ein alter Bekannter seiner Familie gewesen und verlangte somit auch keine weitere Gegenleistung, außer seiner Gesellschaft.
    Im Scherz hatte er ihm bereits mitgeteilt, dass er es bereue in die Hauptstadt aufgebrochen zu sein. Zuhause hätte er sich zu einem hübschen Mädchen mit großen Brüsten in ein warmes, trockenes Bett legen können und sich den schönen Dingen des Lebens widmen, doch stattdessen wäre sein Bett des Nachts kalt und nass und sein hübsches Mädchen ein alter verrunzelter Esel, dessen schrumpeliger Sack bis zu den Knien reichte.

    Der Kutscher, dessen Name schlicht Kune lautete, hatte daraufhin lauthals gelacht und dabei seinen beinahe zahnlosen Mund der Welt präsentiert. Ob er überhaupt wusste, dass er es gewesen war, der gerade als verrunzelter Esel bezeichnet wurde? Und wenn schon. Kune mochte ein alter Säufer sein, doch war er ein angenehmer Reisegefährte, der für jeden noch so derben Spaß zu haben war, egal auf wessen Kosten dieser ging. Pat Mohor schätzte seine Gesellschaft, auch wenn der alte Mann im Schlaf derart laut schnarchte, dass es ihm nicht nur einmal schwer gefallen war überhaupt den Weg in die Traumwelt zu finden. Er zog es daher vor am Tag auf der Ladefläche des Wagens zwischen den leeren Weinfässern zu schlafen, was gar nicht so einfach war, wenn einem ständig der Regen ins Gesicht trommelte. Am Anfang hatte er seine Wolldecke über zwei Fässer ausgebreitet und seinen Kopf unter dem neu geschaffenen Regenschutz platziert, doch es dauerte nicht wirklich lange, bis das Nass auch durch seine Decke drang.

    Das wenige Geld, welches sie bei sich trugen, hoben sich die beiden Männer für ihre Mahlzeiten auf. Ein warmes Bett kam daher nicht in Frage. In der ersten Regennacht nächtigten sie, mit Erlaubnis des Besitzers, in einem Pferdestall, wo sie sich im Heu einen halbwegs bequemen Schlafplatz hergerichtet hatten. Auf seine Decke hatte Pat in dieser Nacht verzichten müssen, da er sie zum Trocknen aufhängen musste.
    Die zweite Nacht teilten Sie sich mit Ratten und anderem Ungeziefer in einer feuchten, muffigen Höhle, etwas abseits der Straße. Es war die mit Abstand schlimmste Nacht für Pat gewesen. Nicht nur, dass Kunes Schnarchen wie ein Donnergrollen von den Wänden zurückprallte, Pat hatte zudem eine Abneigung gegen allerlei Krabbelgetiers, sodass er den größten Teil der Nacht wach lag und dem Getrappel und Gequietsche der kleinen Monster in der Dunkelheit gelauscht hatte. Am folgenden Tag musste er mit seinen müden Knochen, dem wankenden Geist und seinen nassen Klamotten bitterlich frieren und konnte sich nicht einmal an Kunes alten Geschichten aus dessen Jugend erfreuen.

    Der Kutscher erzählte gerne von seinen angeblichen Heldentaten. Eine dieser Geschichten handelte von einem Wolf, so groß wie ein Pony, welcher ein kleines Dorf terrorisierte und den er anschließend für eine satte Belohnung mit seinem Schwert erschlug. Seitdem trug er, wie er erzählte, den Namen „Todbeißertöter“. Keiner, der bei Trost gewesen wäre, hätte jemandem einen solch dämlichen Namen verpasst. So vermutete Pat, dass sich der alte Mann diese Geschichte, wenn schon nicht ausgedacht, so doch zumindest im Rausch des Weines eingebildet hatte. Dann gab es schließlich noch die unzähligen Frauengeschichten Kunes, die so weit gingen, dass er es angeblich der Tochter eines ehemaligen Bezirksvorstehers so richtig ordentlich besorgt hätte, so seine Worte. Normalerweise kam so ein Lump wie er nicht einmal in die Nähe der Hochgeborenen. Doch die Frauen wären stets so begeistert von seinem riesigen Gemächt gewesen, dass sich dies bis in die höchsten Damenkreise herumgesprochen hätte und besagte edle Dame, dadurch angespornt, auf ihn zu kam. Das alles führte schließlich auch noch dazu, dass er fortan den Namen „Liebesspeer“ trug, wie er mit Nachdruck versicherte. Todbeißertöter und Liebesspeer. Der Liebestöter wäre ein viel passender Name für Kune, dachte sich Pat.

    Nach der schrecklichen Nacht in der Höhle pfiff er jedenfalls auf die folgende warme Mahlzeit, kratzte seine letzten Münzen zusammen und mietete sich und seinem Reisegefährten ein Zimmer in einer kleinen, schäbigen Gaststätte, die einsam am Ufer eines kleinen Baches lag. Deren Wirt, ein ungehobelter, fettleibiger Kerl, stapfte derart schwerfällig hinter seiner Theke herum, dass Pat sich ernsthaft fragte, wie er zu dieser vergleichsweise hübschen Gemahlin kommen konnte. Natürlich war auch sie keine Schönheit, doch besaß sie ein durchaus sympathisches Lächeln und war ohne Zweifel an diesen, in jeder Hinsicht, widerlichen Fettsack schlichtweg verschwendet. Sie war es dann auch gewesen, die den beiden Fremden das rustikale Zimmer hergerichtet hatte. Dieses bestand lediglich aus einem großen Bett mit Strohmatratze, welches so stark quietschte, dass Pat jeden Moment damit rechnete, es könnte unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Den leeren, aber dennoch stinkenden Nachttopf, schob er vor dem Zubettgehen mit dem Fuß in die am weitesten entfernte Ecke des Raumes. Normalerweise hätte er dieses sogenannte Gästezimmer als eine wahre Zumutung bezeichnet und sein Geld zurückverlangt, doch nach der Nacht in der Höhle wollte er nur noch in einem Bett schlafen. Ganz gleich wie schäbig dieses und das Drumherum waren.

    In der vierten Nacht, als sie Kayuburgh passiert hatten und um sie herum nichts als Bäume und Sträucher unter dem endlosen Regen ächzten, schliefen sie letztlich unter ihrem Wagen. Schnell vermisste Pat das Luxuszimmer mit dem stinkenden Nachttopf und dem quietschenden Bett. Zwar war diese Nacht, verglichen mit den ersten beiden Nächten, beinahe warm gewesen, doch der feuchte Boden sollte, zumindest Pat, die Nachtruhe wieder möglichst unangenehm gestalten.

    Seit der Regen vor zwei Tagen aufgehört und die Wolken die Sonne wieder freigegeben hatten, war sein Mittagsschläfchen besonders erholsam. Mit den sanften Sonnenstrahlen, die ihm auf den Bauch und ins Gesicht fielen, ließ sich die Reise fast sogar genießen. Mittlerweile zierte sogar eine leichte Bräune seine Haut, was für einen Mann aus Rinken, hoch im Norden der Westlande gelegen, doch recht ungewöhnlich war. Doch gefiel der neue Teint, der so gut zu seinen leicht gelockten, braunen Haaren und den grün-grauen Augen passte. Zumindest, wenn er der jungen, süßen Wirtstochter Glauben schenken durfte, mit der er heimlich wilde Küsse ausgetauscht hatte, nachdem Kune und er am Morgen die etwas heruntergekommen aussehende Schenke am Wegesrand, gleich hinter dem kleinen namenlosen Dorf, besucht hatten, um ihre knurrenden Mägen zu besänftigen. So langsam neigte sich auch Kunes Vorrat an Münzen dem Ende zu, weshalb er, rückblickend auf ihre Nacht in der schäbigen Gaststätte, leise Flüche vor sich hin murmelte. Doch Pat störte sich nicht weiter daran. Wenn ihnen das Geld ausginge, würde er eben etwas jagen. Er hatte schließlich seinen Eibenholzbogen und einige Pfeile mitgenommen. Ein ausgezeichneter Bogenschütze wie er, benötigte nur einen Schuss, selbst auf große Entfernung, und im Handumdrehen würden sie wieder etwas zu Essen in Händen halten. Zwar hatte er noch nie ein Tier ausgeweidet, geschweige denn einem das Fell abgezogen, noch hatte er je ohne Hilfsmittel ein Feuer entzündet. Davon mal abgesehen, war das Holz hier überall teilweise noch immer viel zu feucht.
    Doch Pat war schon seit jeher gut darin gewesen, Gedanken nicht zu Ende zu denken, sodass er vor seinem Inneren Auge schon den Pfeil in die nächstbeste Mahlzeit eindringen sah, sollte Kune in Bälde das Geld ausgehen.

    Momentan kreisten seine Gedanken ohnehin komplett um das süße, blonde Mädchen von heute morgen. Ihr Duft ging ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Die meisten von ihnen rochen und schmeckten so gut und führten ihn somit immer wieder in Versuchung. Generell konnte er diesen lieblichen Geschöpfen nicht mehr widerstehen, seitdem er zu einem Mann herangewachsen war. Seit er vor vielen Jahren zum ersten Mal dieses Kribbeln in seinen Lenden gespürt hatte, war er den hübschen Frauen dieser Welt verfallen und die Meisten von ihnen ließen sich, zu allem Überfluss, auch noch so spielend leicht um den Finger wickeln. Natürlich machte er sich in seiner Heimat damit nicht immer Freunde und so manches Liebesspiel zog den Zorn eifersüchtiger Verehrer nach sich. Doch Pat war seit jeher nicht nur mit Charme und dem Talent der Verführung gesegnet, sondern auch ein brillanter Kämpfer. Ob nun mit den Fäusten oder einem Schwert, oder eben in besagter Disziplin des Bogenschießens war er nahezu allen Männern in und um Rinken überlegen. Doch wer nun in ihm einen geborenen Gewinner sah, der immer nur triumphierend durch das Leben tänzelte, der irrte gewaltig. Keine zwei Wochen war es her gewesen, als der siebzehn-, beinahe achtzehnjährige Pat Mohor seine bislang größte Niederlage einstecken musste. Sein eigener Vater hatte nämlich nicht viel für den „arroganten Narren“, als den er ihn titulierte, übrig gehabt.
    „Du entehrst die Töchter guter Männer und damit auch unsere Familie, insbesondere mich. Und doch stolzierst du weiterhin durch die Welt wie ein Gockel vor seinen Hennen und setzt dein sündiges Treiben sorglos fort. Was habe ich verbrochen, dass ich mit ansehen muss, wie mein eigen Fleisch und Blut sein gottgegebenes Talent verschwendet und sich stattdessen zu einer männlichen Hure degradiert?“, hatte er ihm mitten ins Gesicht gesagt, während er ihn mit seinen strengen, kalten Augen durchdringend anstarrte. Sein Vater war ein angesehener Küfer, dessen Arbeiten in ganz Venua geschätzt und gefragt waren. Ein überaus gläubiger Mann, der bereits früh geheiratet und drei Kinder in die Welt gesetzt hatte. Er stand für Werte wie Zuverlässigkeit, Tüchtigkeit und war von einem jungen, unbekannten Burschen, der aus einer ärmlichen Familie stammte, zu einem reichen Ehrenmann aufgestiegen. Sein ältester Sohn Pat hingegen vertrat offenbar keine seiner Werte, scherte sich nicht um sein ihm zustehendes Erbe, nicht um den einen Gott und noch weniger um seinen eigenen Ruf.
    „Ich habe dich oft genug gewarnt, dich ermutigt zum Wohle deiner Familie zur Vernunft zu finden, erwachsen zu werden. Wie oft habe ich für dich zu dem einen Gott gebetet? Leider hat er mir nur allzu deutlich zu erkennen gegeben, dass es keine Rettung mehr für dich gibt. Ich werde nicht zulassen, dass du arroganter Narr das einreißt, was ich mir mühevoll aufgebaut habe. Ich werde dir nicht länger einen Platz an meinem Feuer bieten und stattdessen deinen Bruder Mak zu meinem Erben machen.“

    Auch wenn er in diesem Moment aus allen Wolken fiel, so war er doch zu stolz gewesen seinem Vater diesen Sieg zu gönnen. Unbeeindruckt hatte er ihn angeblickt und ihn wortlos dort stehen lassen, wo er stand. Nur seine wichtigsten Besitztümer hatte er in der kleinen Holzkiste verstaut mit der er sich schließlich aufmachte, nachdem er sich von seiner Mutter, seinem Bruder und seiner kleinen Schwester Serea verabschiedet hatte. Serea vergoss bittere Tränen und klammerte sich an sein rechtes Bein. Sie war erst fünf und verstand nicht, weshalb Pat sie verlassen musste.
    „Geh nicht“, hatte sie immer wieder gefleht und ehe Pat Mohor sich mit eigenen Tränen die Blöße geben konnte, sprach er seinen letzten Gruß und brach auf, ohne sich ein letztes Mal umzudrehen.

    Und da lag er nun auf der Ladefläche von Kunes Wagen, der zehn Fässer von Mohor Senior geladen hatte und diese bei seinem Besteller in Venuris abzuliefern gedachte. In der Ferne, westlich der Straße, konnte er winzig klein die Stadtmauern Klupingens erkennen. Zumindest hatte ihm der alte Todbeißertöter erzählt, dass es sich hierbei um besagte Stadt handelte, die aufgrund eines Ewigkeiten zurückliegenden Massakers zu Berühmtheit gelangt war. Nur noch zwei Tagesritte trennten sie von ihrem Ziel, der Hauptstadt Venuris. Mit dem großen Wagen sollten sie also in etwa zweieinhalb Tagen dort eintreffen. Dann hätte Pat endlich sein Ziel erreicht. In der Hauptstadt war man nämlich auf der Suche nach jungen Männern, die gewillt waren sich in den Dienst der glorreichen Armee von Venua zu stellen. Man versprach ihnen Ansehen, Ehre, Verpflegung und Obdach. Mehr als Pat Mohor sich im Moment wünschen konnte. Was hatte sein Vater doch zu ihm gesagt? Er würde sein gottgegebenes Talent verschleudern? In Venuris würde man einen derart talentierten Mann wie ihn mit Handkuss empfangen, war Pat sich sicher. Außerdem waren da auch noch die Erzählungen, welche besagten, dass die schönsten Frauen Venuas in der Hauptstadt leben sollen. Ein ebenfalls nicht zu vernachlässigender Beweggrund.

    „Hooo!“
    Plötzlich wurden sie langsamer, bis der Wagen endgültig zum Stehen kam. Pat öffnete seine Augen und setzte sich auf.
    „Weshalb halten wir an?“, fragte er, während er sich langsam an das Sonnenlicht gewöhnte.
    „Ich muss mal scheißen“, rief Kune, sprang von seinem Kutschbock herunter und fügte noch an: „Das solltest du auch tun, wenn du nicht vom fahrenden Wagen herunterfallen willst, nur weil du es nicht mehr halten kannst. Für dich lege ich keinen gesonderten Stop ein.“
    Die letzten Worte rief er ihm lauthals zu, da er schon fast im angrenzenden Wald, östlich der Straße, hinter einer der großen Tannen verschwunden war.
    Pat kletterte von der Ladefläche auf den staubigen Weg, in dem sich tiefe Spuren der Räder und die Abdrücke der Hufe abzeichneten. Westlich der Straße genoss er das sich bietende Panorama. Hinter der winzigen Stadt am Horizont erhoben sich majestätisch, wie drei riesige Kuppeln, die Klupingberge in die Höhe. Das Land streckte sich ansonsten grün und weit vor ihm aus, ähnlich einer nicht enden wollenden Wiese. Der Himmel darüber strahlte in seinem hellsten Blau. Nur einige Wolken schwebten vor dem Meer über ihm. Zuhause war Pat so einige Male im echten Meer geschwommen, doch dieses war nie so still und so wundervoll anzusehen wie jenes am Himmel.
    Und schon wieder ertappte er sich dabei, wie er an seine Heimat dachte. Dieses Leben lag nun hinter ihm, versuchte er sich noch einmal einzuschärfen. Noch zweieinhalb Tage, hatte Kune gesagt. Nur noch so lange und er könnte endlich sein neues Leben beginnen. Sein neues Leben in der Haupstadt Venuris, als Mitglied der glorreichen venuarischen Armee, die der große Red einst zum Sieg über die Wilden aus dem Osten, über dem Meer, geführt hatte.

    @Xarrot
    Dieser awkward moment, wenn Mundart in den Text einfließt :D
    "Wich" ist jetzt drin ;)

    Beim zweiten Zitat ist "Di" richtig. Bezieht sich ja auf die Worte, die Hela gewählt hätte. Und hierauf hätte Di, anders als eben bei Blue, nicht mit neuerlichem Weinen reagiert.

    Außerdem hab ich irgendwie das Gefühl, dass der nächtliche Besucher des Hauptmanns doch noch mal eine Rolle spielen könnte ...

    Wie kommst du nur darauf? :D

    Ja, ich beende das Kapitel dann mal, bevor ich es nochmal in zwei Hälften reise.

    ====

    „Lena“, rief er ihr zu. Als sie ihm zum ersten Mal ins Gesicht blickte, sah sie wieder die dunklen Augenringe, die aus seinem leichenblassen Gesicht hervorstachen. Und obwohl er sich in sein hochwertigstes, goldfarbenes Wams, dessen Brust vollständig von seinem Wappen bedeckt wurde, gekleidet und sich die dunkelroten, beinahe schwarz wirkenden, Haare fein säuberlich zur Seite gekämmt hatte, wirkte er, als er sei er gerade erst aus seinem Bett gekrochen.
    Er schloss sie in die Arme und roch dabei nach einer Mischung aus Wein und Minzblatt, welches er scheinbar reichlich gegen seine Alkoholfahne gekaut hatte. Dieses Gemisch wurde letztlich von dem, nach Mohn riechenden, Duftwasser überlagert, welches er so gerne auftrug. Ihr Vater machte auf sie keineswegs den Eindruck dass er getrunken hatte. Schließlich sah er schon bevor er den Traumtee durch Wein ersetzte derart mitgenommen aus. Nicht so schlimm wie am heutigen Tage, doch war sein Erscheinungsbild somit zumindest nicht gänzlich dem Alkohol zuzuschreiben. Seine Stimme klang belegt und bei Weitem nicht so kraftvoll, wie es früher einmal, vor seinen Alpträumen, der Fall gewesen war. Und auch wenn er bei Weitem nicht so gekrümmt dastand, wie sein ehemaliger Berater Hennis Krug, den Blue gestern heimlich, zusammen mit ihren Wachen Karotte und Berk, besuchte hatte, so war seine Körperhaltung doch eher bemitleidenswert. Seine Arme baumelten schlaff von seinen hängenden Schultern und der Kopf schien seinem Nacken von Tag zu Tag mehr zur Last zu fallen.

    „Was ist nur aus meinem Vater geworden?“
    Blue erschrak vor dieser Frage, die sie sich innerlich stellte und war daraufhin nicht in der Lage den Gruß ihres Vaters verbal zu erwidern. Stattdessen lächelte sie ihn nur an. Es fühlte sich aufgesetzt an, doch der Mann in der blassen Hülle ließ sich, sofern es ihm denn aufgefallen war, nichts anmerken.
    „Ich hoffe, dass wenigstens du gut geschlafen hast“, hauchte er ihr, von einem schwachen Lächeln begleitet, entgegen. Seine Augen waren gerötet und wirkten müde. Genauso kraftlos wie auch seine vorangegangene Umarmung. Blue deutete rechts an ihm vorbei auf die Stuhlreihen in der Mitte des Saales: „Für wen sind die beiden übrigen Stühle?“ – „Die Botschafter der Schwerter sollten uns ebenfalls beiwohnen“, entgegnete er ihr, gab seiner Tochter einen liebevollen Klaps gegen den Oberarm und wandte sich direkt wieder seinem Berater Gurravo Shrink zu, der ihn gerade zu sich rief.

    Für Blue machte es wenig Sinn die beiden Botschafter der Schwerter einzuladen.
    „Schwerter“ nannte man die beiden höchsten Stellvertreter des Regenten, die nicht nur seine Sprachrohre in den jeweiligen Landesteilen darstellten, sondern auch seine direkten politischen Vertreter innerhalb ihrer Grenzen. So war dies in den Westlanden der hochgewachsende Millot Menk, der in Steinbucht residierte und in den Ostlanden der reiche Handelsherr Tai Fisi, aus der ehemaligen Hauptstadt des Ostens, Yaznark. Dessen Vater Tai Jogoo kämpfte im großen Krieg zuerst für die Sache des Hohepriesters Nobossop aus Namun, verbündete sich später allerdings mit ihrem Großvater Red, was die darauf folgende Niederlage der Namuner einleitete. Seitdem war in der Bevölkerung immer eine gewisse Skepsis gegenüber den Menschen aus den Ostlanden geblieben, doch ihr Vater betonte stets, dass es keinen Grund gebe dieses Misstrauen zu teilen, auch wenn es dort vereinzelt immer noch Menschen gab, die in ihrem Glauben der Mutter näher waren. Auch hierzu hatte ihr Vater seine Ansicht mitgeteilt: „Wir aus der Familie Venua glauben an uns selbst. Man selbst ist der Einzige, dem man mit absoluter Sicherheit vertrauen kann. Doch nicht jeder ist in der luxuriösen Situation sich von den Göttern loszusagen. Letztlich wollen alle Menschen, egal ob sie an den einen Gott, die Mutter oder sonst Wen glauben, nur eines: Geborgenheit, Sicherheit und die Befreiung von der Angst vor dem Tod. Sollte es wirklich eine höhere Macht geben und verbunden mit dieser ein Leben nach dem Tod, so wird sich diese Macht nicht darum scheren, an was man als törichter Mensch während seines Daseins geglaubt hat. Eine so große Macht ist frei von Zorn, einer immerhin rein menschlichen Emotion.“
    Blue wusste nicht, ob die Götter real waren. Aber es war nicht das erste Mal, dass sie sich die Frage stellte, ob Vaters Leiden nicht vielleicht damit zusammenhing, dass er sich nicht zu einem Gott bekannte. Doch welcher Gott war der Richtige? Wer sagte eigentlich, dass es den richtigen Gott überhaupt gab? Möglicherweise waren sie alle die Richtigen. Genauso wahrscheinlich war aber auch, dass sie allesamt falsch waren, nicht existierten. Ihr fiel es schwer an etwas zu glauben, das niemand sehen konnte.

    Da klopfte es an die große Türe und der dicke Tenth Barke, Hauptmann der Palastwache, trat durch ebendiese. Eigentlich war es sein riesiger Bauch, welcher zuerst eintrat und der nur zur Hälfte von seinem viel zu kleinen Lederwams bedeckt war, sodass jeder im großen Ratssaal einen Blick auf seinen, von Fell umgebenen, Bauchnabel erhaschen konnte.
    „Mein Herr“, richtete er das Wort an Black, „ich bringe unsere Gäste.“

    Begleitet von acht Wachsoldaten traten nacheinander der Söldner Hanz Gorke, der fies dreinblickende kleine Mann mit dem geschorenen Schädel, sowie dessen Söldnerkumpane Gekk Bauwer, ein kränklich aussehender, schlaksiger Mann herein. Ihnen folgten die beiden Fuhrmänner Donte Draben, ein dicker Mann mit schwabbeliger rosa Haut und Fitz Grün, ein alter, langsam und gebeugt gehender Greis mit langem, grauem Bart. Dieke Brahmen würde, wie sie von Saebyl wusste, nicht an der Anhörung teilnehmen. Die junge Sira hatte den Sohn Kal Brahmens nach dem Frühstück mitgenommen, um ihm den Palast und anschließend die Hauptstadt zu zeigen.
    Immerhin hatte er endlich sein Zimmer verlassen und konnte auf andere Gedanken kommen, dachte sich Blue und setzte sich in die vordere Reihe in der Mitte des Saales, während die vier Männer an dem langen Tisch vor dem Venua-Wappen Platz nahmen.
    Blue saß zusammen mit ihrem Vater in der Mitte der ersten Reihe. Linksaußen neben ihm hatte Ben Lewel, der blondschöpfige und hochgewachsene Botschafter der Westlande, Platz genommen. Rechtsaußen, also neben Blue, saß Maku Ciwysel, ein braungebrannter, alter Mann, Ende Sechzig, mit schrumpeliger Haut, der Vertreter des Schwerts Tai Fisi aus den Ostlanden.
    Hinter den Vieren saßen Blacks Berater Jessel Schooke, Gurravo Shrink, Kal Zigel und Donte Herwet.
    In der letzten Reihe schließlich Perem Penthuys, Ullmer Garns, Dymen Steinfurt, sowie der blinde Gunnet Bohns, der stets einen eigenen Diener zur Seite hatte. Heute war der junge, kahlgeschorene Bursche, deren Namen Blue nicht kannte, sein Begleiter. Dieser hatte ihn auch zu seinem Platz geführt. Nun hielt sich der Namenlose im Hintergrund, um dem alten Mann notfalls zur Hand zu gehen, wenn dieser Hilfe benötigte. Schon etliche Jungen hatten in der Vergangenheit für Bohns gearbeitet. Es hieß er bezahle sehr gut. Dennoch hielt es bislang niemand lange bei ihm aus.

    Normalerweise zählte neben Elisus Hofken auch noch Ansakar Bollet zu Blacks Beraterstab. Beide waren, zumindest nach Blues Meinung, die intelligentesten und vernünftigsten Männer an Vaters Seite gewesen. Vermutlich hatte er sie aus diesem Grund, in seinem Auftrag, weggeschickt. Hofken ging Richtung Zweitwelt, das war ja mittlerweile bei jedermann angekommen, doch wohin Bollets Weg führte oder geführt hatte, das konnte sie bislang nicht in Erfahrung bringen.

    Die acht Wachen, die die fremden Männer begleiteten, hatten sich jeweils zwischen den Marmorsäulen des großen Ratssaales positioniert und sollten alleine durch ihre Präsenz dafür sorgen, dass die beiden Söldner keine Dummheiten begingen. Der Großteil der Männer um sie herum war nämlich überaus skeptisch gegenüber den käuflichen Kriegern eingestellt. Der Begriff „Schwerthuren“ war gar einmal gefallen. Ihr Vater hielt zwar wenig von solcherlei Verallgemeinerungen, doch die Sicherheit ging für ihn in diesem Fall dann doch vor. Zumindest fühlten sich seine Berater nun sicher.
    Black, der als Einziger noch nicht Platz genommen hatte, begrüßte die vier Männer mit freundlichen Worten und bedankte sich, dass sie sich bereit erklärten ihren ausführlichen Bericht über die Geschehnisse in der Zweitwelt hervorzubringen.

    Der grimmige Hanz Gorke ergriff als Erster das Wort: „Kal Brahmen hat uns für eine beträchtliche Summe als Geleit angeworben. Durch seinen Tod steht diese Zahlung aus. Wer wird uns nun an seiner Stelle die versprochene Summe auszahlen?“
    Gurravo Shrink, der Schatzmeister des Palasts, erhob sich von seinem Platz. Shrink war ein schlanker Mann mit markanten x-förmigen Beinen und einem schwarzen Haarkranz um die glänzende Glatze herum. Er trug eine lange, blaue Robe, die ihm bis knapp über die Knie reichte.
    „Gibt es für diese ‚beträchtliche Summe’ denn einen schriftlich fixierten Vertrag?“, wollte er von Gorke wissen. Dieser blickte die drei anderen Männer an, die allem Anschein nach bewusst seinen Blick nicht erwiderten. Nach einem kurzen Moment der Stille, meldete sich der alte Fitz Grün, nach einem auffällig langen Räuspern, zu Wort und sprach mit langsamer Stimme: „Mein Vetter begleitete Kal Brahmen normalerweise auf seinen Handelsreisen. Als er krank wurde, bin ich für ihn eingesprungen. Brahmen traf schon immer alle Vereinbarungen mündlich. Er war ein überaus ehrenwerter Mann und hielt stets Wort. Pro Tag waren zehn Silbermünzen vereinbart. Da wir genau sieben Tage in der Zweitwelt verweilt haben…“ – „Ich hab genug gehört, mein Herr“, unterbrach ihn Shrink und blickte kurz zu Black, der ihm müde zunickte. Shrink erhob erneut sein Kinn in die Luft und verkündete mit einer latenten Arroganz in seinem Tonfall: „Als Schatzmeister von Venuris gebe ich leider nicht viel auf mündliche Vereinbarungen. Bitte bedenken Sie, dass wir hier keinesfalls verpflichtet sind für die Schulden Kal Brahmens aufzukommen. Dennoch werden wir Ihnen allen einen Pauschalbetrag auszahlen, den der Regent und meine Wenigkeit festlegen werden, und Sie somit ihren Mühen entsprechend angemessen und gerecht entlohnen.“
    Während die Mimik von Bauwer, Grün und Draben wie eingefroren wirkte, verzog Gorke sein Gesicht zu einer Art höhnischem Lächeln, welches von einem leichten Kopfschütteln begleitete wurde. Allem Anschein nach hielt er wenig bis gar nichts von Shrinks Angebot. Der erste Eindruck lügt nicht, dachte sich Blue. Hanz Gorke war tatsächlich ein Unsympath.

    „Wie sind die anderen drei Herren in die Dienste Brahmens gelangt?“, wollte Dymen Steinfurt wissen. Steinfurt war ein leicht rundlicher Mann mittleren Alters, von unscheinbarer Statur dessen Gesicht von tiefen Narben übersät war und an dessen Kinn drei fein geflochtene rotbraune Zöpfe herunterbaumelten. Steinfurts inoffizieller Titel lautete „Herr der Meere“, was einen überaus unpassenden Namen für den Oberbefehlshaber der venuarischen Flotte darstellte, wie Blue fand. Da Frieden herrschte, war Steinfurt nämlich eher als der „Herr der Instandhaltung“ zu betiteln. Auf seine Frage hin erhob sich nun der blasse Gekk Bauwer von seinem Platz.
    „Ich hörte in einer Taverne Klupingens, ‚Zum lachenden Maultier’ um genau zu sein, davon, dass Kal Brahmen nach Männern sucht, die ihn auf seinen Reisen begleiten sollen. Hervorragender Umgang mit dem Schwert war eine der Anforderungen, die erfüllt werden mussten.“ – „Und ihr beherrscht den Umgang mit dem Schwert?“, rief Kal Zigel dazwischen, der ehemalige Waffenmeister, jetzt geschätzter Ratgeber, was die venuarischen Truppen und alles was damit zusammenhing, anging.
    Gekk konnte sich ein unverschämtes Grinsen nicht verkneifen: „Brahmen war regelrecht begeistert von meinen Fertigkeiten. Glaubt Ihr wirklich man hätte mich erwählt, wenn ich nicht in das Anforderungsprofil gepasst hätte? Oder denkt Ihr, man hätte mich angeheuert, damit ich die Feinde Brahmens mit meiner blassen Haut derart blende, dass sie erblinden?“ Vereinzelte Lacher erhellten für einen kurzen Moment die, ansonsten eher angespannte, Stimmung.

    Gorke erzählte, dass er über einen gewissen Tyl Nemmes, einer der ursprünglichen Begleiter Brahmens, zu seiner Anstellung gelangt wäre. Donte Draben, der mit seinen dicken, kleinen Fingern immer wieder nervös an seinem Hemd herumzupfte und seinen Blick stets nach unten gerichtet hielt, erklärte, dass er Brahmen einen seiner Esel verkauft habe und er dadurch zu der Möglichkeit kam, den Händler in die Zweitwelt zu begleiten. Er habe die Münzen dringend benötigt, wie er sagte, da er für seine einstige Eselzucht keine Zukunft mehr sah, nachdem man eines Morgens vier Fünftel seiner Tiere ermordet auffand. Zu der Frage weshalb jemand so etwas tun sollte, lief er nur schweinchenrosa an, beantwortete die Frage allerdings nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern. Er wusste über die Gründe Bescheid, erkannte Blue, doch aus irgendeinem Grund war es ihm sichtlich unangenehm darüber zu sprechen. Jeder Mensch hatte seine kleineren und größeren Geheimnisse, doch dieser Donte Draben war ihr nicht ganz geheuer. Man entschied, dass es nicht weiter von Bedeutung war und fuhr schließlich, ohne näher darauf einzugehen, mit der Anhörung fort.

    Gekk Bauwer war es schließlich auch, der ausschweifend von seinem ersten Geleit Brahmens in die mysteriöse Zweitwelt berichtete. Er war zeitgleich mit Hanz Gorke in den Dienst von Diekes Vater getreten. Bauwer erzählte ausgiebig über das heiße, feuchte Klima, die üppige und völlig andersartige Vegetation, bestehend aus gigantischen Bäumen, rasant wachsenden Schlingpflanzen, handgroßen Blumen, deren Blütenblätter in Wahrheit Zähne darstellten und die sich von Fliegen und Käfern ernährten. Er erzählte von den milchweißen Angehörigen des Volks der Buranier und deren anfänglichen Misstrauens ihnen, den einzigen Waffenträgern, gegenüber, sowie deren anschließende außerordentliche Gastfreundschaft, als sie einander endlich vertraut waren.
    Gekk Bauwer war ein begnadeter Erzähler, bemerkte Blue. Sie hatte zuvor kein wirkliches Bild von dieser exotischen Welt im Kopf, doch nach den Ausführungen des Söldners konnte sie sich die Zweitwelt sehr gut vorstellen. Nicht gerade ein Ort, an dem man leben mochte, doch geheimnisvoll und wild. Wie gerne hätte sie den beschriebenen Nebel des alten Volkes mit ihren eigenen Augen gesehen.
    Den Kayken, also den Herrscher dieser Welt, stellte Bauwer als einen redegewandten und, soweit er das einschätzen konnte, gutherzigen, vom Volk verehrten Mann dar, der seine Tochter über alles liebte. Dessen Beziehung zu Brahmen bezeichnete er als herzlich. Wie zwei alte, unzertrennliche Freunde hätten die beiden gewirkt.

    „Unzertrennlich im Leben und sogar im Tod geeint“, schoss es Blue durch den Kopf. Auch der Kayken hatte also ein Kind in dieser Welt zurückgelassen. Ob Dieke diese Tochter kannte? Ob er vielleicht sogar mit ihr befreundet war, so wie ihre alten Herren miteinander befreundet waren?

    Endlich lenkte er seine Erzählung auf die verhängnisvolle Versammlung jenes besagten Tages, in denen die drei Kaysus der anderen Völker, samt ihrer Leibgarden, eigens hierfür in die buranische Zone gereist, zugegen waren. Komo vom Volk der Kumaro, Ulutur vom Volk der Lubyra und Boste vom Volk der Tesekov. Er berichtete von der Entscheidung des Kaykens, dem Jubel aus dem Volk und den wenig begeisterten Blicken des Kaysu Boste.
    Perem Penthuys hatte sich nun erhoben und wollte von Gekk Bauwer wissen, weshalb Kal Brahmen ihn, Gekk, und seinen anderen Söldnerkumpanen unbedingt während dieser Versammlung an seiner Seite wissen wollte, wo er sich ansonsten doch frei innerhalb der Siedlung bewegte und sich in keinster Weise bedroht fühlen musste.

    Noch ehe Bauwer zu einer Antwort ansetzen konnte, befand sich Hanz Gorke auf den Beinen und ergriff stattdessen das Wort: „Vor uns standen mehrere bewaffnete Leibgardisten dieser Kaysus. Wir mussten für den Fall der Fälle an der Seite unseres Geldgebers stehen. Besagter Fall ist ja schließlich eingetreten.“ – „Und doch ist Kal Brahmen tot und mit ihm der Kayken und unser guter Freund Hofken, während ihr in Panik die Flucht ergriffen habt“, warf Penthuys schließlich ein.
    „Es ging alles viel zu schnell“, ging Gekk Bauwer dazwischen und drängte Gorke dazu wieder Platz zu nehmen. Der grimmige Kerl brodelte innerlich, doch setzte er sich, wohl wissend dass er sich zusammenreißen sollte, wieder auf seinen Hintern. Donte Draben warf den Männern derweil ängstliche Blicke zu. Scheu wie ein Reh saß der Fuhrmann am äußeren Ende des Tisches in sich zusammengekauert, was bei seiner immensen Fülle recht ulkig aussah. Fitz Grün hingegen wirkte wie ein Fremdkörper, als ginge ihn das Alles gar nichts an.
    „Es ist nicht wahr, dass wir sofort die Flucht ergriffen haben, mein Herr.“
    Bauwer blieb, im Gegensatz zu Gorke, ruhig und sachlich.
    „Als der Kayken von seinem, für die Versammlung errichteten, Podest stürzte…“ – „Was soll das heißen? Ich dachte der Kayken wäre einem Attentat zum Opfer gefallen?“, unterbrach Penthuys erneut.
    „Ein Pfeil hat sich durch seinen Hals gebohrt, ja“, gab Bauwer zurück. Es folgte ein kurzes Schweigen und ehe er fortfahren konnte, ertönte die nächste Zwischenfrage. Dieses Mal wieder von Kal Zigel: „Wer hat den Pfeil abgeschossen?“
    „Wir haben es nicht sehen können, da wir hinter dem Podest platziert waren“, antwortete Gekk, worauf Jessel Schooke dazwischenrief: „Hofken befand sich auf dem Podest, wie Ihr erzählt habt. Wurde auch er auf diese Weise getötet?“
    „Wie konnte Brahmen dann sterben, wenn er doch hinter dem Podest und somit außerhalb der Schusslinie stand?“, reihte Ullmer Garns an die Frage seines Vorredners an und ehe man sich versah, schnatterten einige der Zuhörer wild durcheinander.

    „RUHE!“

    Blue war genauso überrascht wie ihr Vater, der erstmals sein gesenktes Haupt erhob und seine Tochter anstarrte. Sie war es, die die aufgebrachten Stimmen ersterben ließ. Ihr Blick schweifte über die beiden Stuhlreihen hinter der ihrigen. Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Sie wusste nicht so recht, was sie soeben geritten hatte. Natürlich wollte sie, dass Ruhe einkehrte und endlich erfahren, was sich in der Zweitwelt zugetragen hatte, doch war sie normalerweise niemand, der lautstark etwas einforderte.
    Als sie bemerkte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, drehte sie sich zu Gekk Bauwer um, brachte allerdings lediglich noch ein Nicken zustande, womit sie ihm signalisierte fortzufahren. Sie hingegen nahm wieder ihren Platz ein, immer noch in heftiger Erregung ob ihres Gefühlsausbruchs.

    „Vielen Dank“, erwiderte Gekk Bauwer schließlich und lächelte ihr zu. Er holte kurz Luft, versuchte seine Gedanken neu zu ordnen und fing wieder von Vorne an: „Der Kayken wurde also von einem Pfeil getroffen und stürzte kopfüber von dem Podest. Dann ging alles, wie bereits gesagt, sehr schnell, sodass wir eigentlich nur noch zu instinktivem Handeln imstande waren. Hofken flüchtete vom Podest und wurde von einem Mitglied der Leibgarde des Kaykens attackiert. Bevor ich den Angreifer niederstrecken konnte, hatte dieser den Gesandten bereits mit seinem Speer durchbohrt. Mein Freund Gorke konnte die beiden anderen Leibgardisten töten, die stattdessen unseren Auftraggeber angriffen. Doch wie ich schon sagte, der Angriff kam derart unerwartet und war gezielt gegen die drei Personen gerichtet, die letztlich auch dabei ums Leben kamen. Wir konnten lediglich uns selbst und Brahmens Jungen retten, bevor alles endgültig außer Kontrolle geriet und die ganze Siedlung im Chaos versank.“
    „Wer hat den Pfeil auf den Kayken abgefeuert?“, wollte Kal Zigel wissen, doch Bauwer, der immer noch stand, konnte ihm nur mit einem Schulterzucken antworten.

    Blacks Berater fingen aufgeregt miteinander zu tuscheln an. Immer wieder konnte man abwertende Äußerungen über die „unfähigen beiden Söldner“ hören, bis Gorke schließlich der Kragen platzte:
    „Warum habt ihr eurem Gesandten denn nicht selbst eine Eskorte gestellt? Weshalb sind wir jetzt der Abschaum? Diese verräterischen Bastarde waren es, die euren parfümierten, Schwänze lutschenden Freund getötet und uns um unseren Sold gebracht haben!“

    Black erhob sich mit einem Ruck von seinem Platz und warf dem Söldner einen durchdringenden, beinahe bösen, Blick zu.
    Da war sie wieder. Diese starke Aura, die ihr Vater immer ausgestrahlt hatte, als er noch nicht ein, von seinen Alpträumen und der Schlaflosigkeit, gezeichneter Mann gewesen war. Obwohl diese Kraft auch nur einen kurzen Augenblick aufgeflackert war, so hatte Blue sie dennoch gespürt. Es fühlte sich an, wie nach langer Zeit wieder einem engen Vertrauten zu begegnen. Eine Wiedersehensfreude. Doch sie währte nur kurz, da brach ihr Vater zusammen.

    @Xarrot
    Ich musste, während meines Drüberlesens, bei der zitierten Stelle tatsächlich an dich denken :D

    Und ja, an der Erzählung Mendos werde ich noch ein wenig kürzen.
    Habe sie mir, unter Berücksichtung deines Punktes, noch einmal durchgelesen - ist tatsächlich einen Tacken zu detailliert.

    ===

    Als die Tür hinter ihr in den Rahmen gefallen war, zupfte sie sich die Kapuze zurecht und blickte hoch oben zum Mond, der über ihr thronte und die schlafende Hauptstadt in ein sanftes Licht tauchte.
    „Man hat uns beide gesehen“, ging ihr immer wieder durch den Kopf. Sie kannte diesen Mann, der einfach ungefragt eingetreten war nicht, doch hatte er sie beide gesehen. Ihr Herz schlug bis zum Halse. Dann fiel ihr wieder ein, dass dieser Kerl Mendo anscheinend gar nicht kannte. Möglicherweise kannte er ja auch die Tochter seines Regenten nicht. Es musste sich wohl um einen der unzähligen neuen Rekruten handeln, die seit einigen Tagen in großer Zahl in die Hauptstadt strömten. Ja, sicher. Die meisten Menschen von Außerhalb hätten nicht einmal ihren Vater erkannt, wenn er sich unter ihnen bewegt hätte, da sie ihn bestenfalls von irgendeinem Gemälde kannten. Wenn überhaupt. Sollte das Glück ihr hold sein, hielt der junge Mann sie vermutlich nur für irgendeine Hure, die sich der Hauptmann auf seine Hütte hat kommen lassen. Bei dieser Vorstellung verspürte sie ein flaues Gefühl in ihrem Magen.

    Nach einem kurzen Fußmarsch zurück, machte sie an der Palastmauer Halt und blickte sich um. Die Straßen waren menschenleer und eine idyllische Stille schwebte über ihnen. Blue sprang mit einem gekonnten Satz auf ein Holzfass, welches dicht an der mannshohen blauen Ziegelmauer stand, die den Palast umgab. Sie zog sich mit beiden Händen an ebendieser hoch und erhaschte einen kurzen Blick darüber. Keiner der Palastwache war zu sehen. Agil und leise wie eine Katze schwang sie sich hinüber und landete heilen Fußes im hohen Gras. Ihr Umhang glitt langsam nach ihr zu Boden. Schnurstracks schlich sie auf leisen Sohlen zu dem vergitterten Fenster am Boden, welches direkt in den Vorratskeller führte.
    Sie hob so leise wie nur möglich das lose Gitter beiseite und schlüpfte durch das Fenster in den Palast. Just in dem Moment, als sie die eiserne Barriere wieder anbrachte, hörte sie wie zwei Mann der Nachtpatrouille sich, langsam und leise miteinander lachend, auf das Fenster zubewegten.
    Blue tastete sich durch die völlige Dunkelheit zur massiven Holztüre und öffnete sie. Problemlos bahnte sie sich ihren Weg durch die undurchsichtige, schwarze Suppe des Kellers. Als sie die ersten Male des Nachts diesen Weg aus oder in den Palast nutzte, hatte sie sich stets an einer der unzähligen Fässer, Kisten oder Regale gestoßen, die ihr im Dunkel den Weg versperrten.
    Wie immer schaffte es Blue ungesehen zurück in das Stockwerk, auf dem sich ihr Zimmer befand.
    Den Kapuzenmantel ließ sie im Vorratskeller zurück, wo dieser auch bei Tag nicht weiter auffallen würde, da er schlichtweg schon immer dort herumlag. Wem er einst gehörte, wusste Blue nicht, aber war er ein durchaus nützliches Stück Stoff, das es ihr erlaubte unerkannt durch die Straßen zu wandern. Nicht immer waren diese des Nachts so leer wie heute, aber stets ungefährlich, selbst für junge Frauen wie sie. Auch wenn es nicht so wäre, es deutete ja nichts darauf hin, dass sich ein weibliches Geschöpf unter dem Mantel verbarg.
    Hätte sie ihn doch nur schon getragen, als dieser Kerl die Tür geöffnet hatte. Immerhin war sie doch zum Aufbruch bereit gewesen.

    Als sie die Zimmertüre passierte, hinter der einst ihr Kindermädchen Hela und ihr Mann, Onkel Motte, lebten, hielt sie für einen kurzen Augenblick inne. Es war, als hätte sie ein leises Wimmern dahinter vernommen. Hier hatte Sira heute Morgen den kleinen Dieke Brahmen einquartiert. Er war erst zwölf, hatte seinen Vater verloren und war mit vier wildfremden Männern, darunter zwei Söldner, aus der Zweitwelt in die Hauptstadt geflohen. Was ihm widerfuhr, war einfach schrecklich und Blue empfand tiefes Mitgefühl für den Jungen. Ihr Vater hatte der Gruppe Elisus Hofken als Begleitung mitgeschickt, doch der Gesandte war genauso ermordet worden, wie Diekes Vater, wenn die Berichte der beiden Söldner der Wahrheit entsprachen.
    Und wieder. Ein ersticktes Schniefen und Schluchzen drang aus dem Zimmer heraus an ihre Ohren. Zwar hatte Martyka ihr geraten, dass der Junge seine Ruhe bräuchte, doch Blue war sich dem plötzlich nicht mehr so sicher. Wäre es nicht besser, wenn er sich Jemandem anvertrauen könnte? Sie wusste von sich selbst, dass es heilsamer war über Probleme zu sprechen, als sie in seinem Herzen zu verschließen. Einer der vielen weisen Ratschläge, die ihr Hela mit auf den Weg gab und mit der sie sich über alle ihre Probleme und Problemchen hatte unterhalten können. Die alte Frau fand für alles eine Lösung, war immer in der Lage einen guten Rat zu geben. In diesem Moment wünschte sie sich ihr Kindermädchen von den Toten zurück. Sie hätte dem kleinen Jungen helfen können. Noch bevor die Sonne aufgehen würde, hätte Hela ihm wieder ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Mit ihrer positiven Ausstrahlung, ihren freundlichen, wenn auch traurigen, Augen und einigen wohlüberlegten Worten, hätte sie seine Tränen getrocknet. Doch Hela war tot. Blue musste nun zeigen, dass sie ebenfalls die Probleme anderer Menschen lösen konnte. Sie musste Dieke Brahmen zuhören, ihn langsam aus seiner Trauer heraus holen. Wenn sie irgendwann einmal ihren Platz als Regentin von Venua einnehmen würde, durfte sie sich vor schwierigen Aufgaben nicht wegducken. Und wie hatte Hela, diese weise, gute, alte Frau ihr einst gesagt? Sie sei sich sicher, dass Blue einmal eine gute Regentin werden würde und sie bedauere, dass sie diesen Tag nicht mehr erleben würde.
    Die Familie Venua glaubte nicht an Götter, doch wusste Blue genau über den einen Gott, den ihr Volk verehrte, Bescheid. Nach dem Tod eines jeden Menschen, entschied demnach das sogenannte letzte Gericht über Verdammnis oder Glückseeligkeit.
    Blue wünschte sich, dass Hela und Onkel Motte, sowie ihre Mutter, die sie nie kennenlernen durfte, von irgendwo über den Wolken, aus der Glückseeligkeit, zuschauen und ihr die Kraft geben würden das Richtige zu tun.

    Sie öffnete vorsichtig die leicht knarrende Tür und fand den Jungen mit den zerzausten, schwarzen Haaren unter seiner Bettdecke hervorlugen. Hastig wusch er sich die Tränen aus seinen geröteten Augen und richtete sich, mit dem Rücken zu der Wand neben seinem Bett, auf. Wortlos starrte er Blue an. Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, trat ein und schloss die Tür wieder hinter sich.
    „Hallo Dieke. Kannst du auch nicht schlafen?“, sagte sie mit leiser Stimme zu ihm. Er schüttelte den Kopf. Blue bewegte sich mit langsam auf sein Bett zu. Im Kamin waren nur noch einige glimmende Scheite zu sehen, doch war der Raum immer noch in eine angenehme Wärme getaucht. Die beiden Kerzen auf Diekes Nachttisch, die den Raum in zusätzliches Licht tauchten, waren beinahe komplett abgebrannt.

    „Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze? Wir könnten ein bisschen reden, wenn du magst?“, fragte sie ihn und hatte bereits das Tablett mit dem Essen, welches Saebyl ihm auf das Zimmer hat bringen lassen, von dem Stuhl neben seinem Bett auf die kleine Kommode gegenüber dem Bettende geräumt. Dieke hatte die Speisen nicht angerührt. Lediglich die Milch war bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken. Er verfolgte aufmerksam jeden Schritt von Blue, die Lippen fest zusammengepresst. Sie hob den Stuhl an und stellte ihn neben das Bett, setzte sich und lächelte ihn erneut an. Der Junge wich ihrem Blick verstohlen aus.
    Schließlich streckte sie ihm die Hand entgegen, was ihn kurz zusammenzucken ließ: „Ich habe mich noch gar nicht bei dir vorgestellt. Ich heiße Lena, aber die Meisten nennen mich, nach der Familientradition, Blue.“
    Dieke stierte kurz etwas verwirrt auf ihre Hand, ergriff sie dann allerdings und krächzte ihr ein heiseres ‚Ich bin Di’ entgegen. Anscheinend war er selbst von dem Klang seiner Stimme überrascht. Er räusperte sich und rieb sich den Hals mit den Fingern seiner rechten Hand.
    „Woher kommst du ursprünglich Di?“, fragte Blue ihn. Doch bevor sie eine Antwort von ihm bekam, deutete er auf die Karaffe mit Wasser, die neben ihr auf dem Nachttisch stand. Sie verstand, schenkte ihm seinen Becher voll und reichte diesen weiter. Hastig stürzte der Junge das Wasser hinunter und seufzte anschließend erleichtert. Den Becher behielt er in beiden Händen und musterte diesen während seiner Antwort durchgehend: „Ich komme aus Klupingen. Doch jetzt wo mein Vater tot ist, bin ich mir nicht mehr sicher, wo ich denn wohnen soll. Ich habe Niemanden mehr. Mein Vater erzählte mir einmal, dass wir noch entfernte Verwandte in Helmwangen haben. Das ist an der alten Grenze zu den Ostlanden, südlich von hier. Aber ich kenne diese Leute nicht, nicht einmal ihre Namen.“
    Wieder schwang diese Traurigkeit in seinen Worten mit, was Blue ebenfalls traurig machte. Schnell versuchte sie das Thema zu wechseln: „Du wohnst jetzt erst einmal hier bei uns, Di. Und solange das der Fall ist, kann ich so was wie deine große Schwester sein, wenn du magst.“
    Wieder nur für einen kurzen Augenblick schaute Di sie aus dem Augenwinkel an, wandte sich dann aber wieder seinem Trinkbecher zu.
    „Ich möchte dir vielmals für deine Gastfreundschaft danken. Aber ich fühle mich elend, da ich hier nur ein Klotz am Bein bin. Ein nutzloser Klotz, der wie ein Säugling in seinem Bett liegt und vor sich hin heult“, entgegnete er und wischte sich eine neuerliche Träne ab, die während seiner Worte, mit immer brüchiger werdender Stimme vorgetragen, an seiner rechten Wange heruntergekullert war.
    „Du bist kein Klotz am Bein, Di! So etwas darfst du nicht denken“, warf Blue prompt ein.
    „Mein Vater ist tot und ich konnte ihm nicht helfen. Ich war damals schon nutzlos“, platzte es plötzlich aus ihm heraus.
    Di vergrub daraufhin sein Gesicht hinter seinen angewinkelten Knien um seine erneut fließenden Tränen vor Blue zu verbergen.

    Plötzlich musste auch sie mit sich ringen um sich nicht ebenfalls den Tränen hinzugeben. Hela wäre das nicht passiert. Sie hätte gewusst, welche Worte sie an ihn richten müsse, welche Worte Balsam für seine verwundete Seele gewesen wären. Keinesfalls hätte Di mit neuerlichem Weinen reagiert, da war Blue sich absolut sicher.
    Wie naiv war sie überhaupt, zu denken sie hätte die gleiche Gabe wie Hela? Nur weil sie in ihrer, gefühlt ewig zurückliegenden Kindheit, viel Zeit mit ihr verbrachte? Das Gesicht ihres Kindermädchens tauchte nun wieder so klar vor ihrem inneren Auge auf, das sie nun ebenfalls stumm in Tränen ausbrach und das Gesicht in ihren Händen verbergen musste. Zwar versuchte Blue ihr klägliches Schluchzen zu unterbinden, doch die Gedanken an ihre unbeschwerte Kindheit hatten sie eingeholt. Damals, als Hela und Onkel Motte noch lebten, als ihr Vater noch ein gesunder, starker Mann war. Ein Mann, der immer für sie da gewesen war, wenn es seine Pflichten zuließen.
    Einmal hatte Blue ihrem Vater vorgeschlagen, er solle doch Hela zu seiner Frau machen. Das war nur kurz nachdem Onkel Motte verstorben war. Doch ihr Vater hatte sie nur angelächelt und ihr erzählt, dass er Blues richtige Mutter immer lieben werde und somit niemals eine andere Frau ehelichen könne.
    Später war Blue sich dann darüber im Klaren, dass Hela ja viel zu alt für seinen Vater gewesen wäre, zudem von viel zu niederer Geburt. Doch ihr sehnlichster Wunsch war stets eine richtige Familie gewesen. Konnte sie sich überhaupt wahrlich in die Situation Dis hineinversetzen? Immerhin hatte er beide Elternteile verloren und war zudem auch noch bedeutend jünger als sie. Wenn hier einer zur Trauer berechtigt war, dann war es ja wohl er.

    Blue wusste nicht, wie viel Zeit bereits verstrichen war, ob es nur wenige Augenblicke oder gar mehrere Minuten waren, doch als sie sich langsam wieder beruhigte, vernahm sie, dass Di aufgehört hatte zu weinen. Sie nahm ihre Hände vom Gesicht und blickte dem kleinen Jungen direkt in seine Augen und dieses Mal wandte er den Blick erstmalig nicht von ihr ab.
    „Warum weinst du?“, fragte er dagegen irritiert von ihrem unerwarteten Gefühlsausbruch. Blue wischte sich die Augen trocken und musste unweigerlich lächeln, was Di zusehends mehr verwirrte.
    „Nun, in gewisser Weise sind wir uns gar nicht so unähnlich, Di. Wir haben beide Menschen verloren, die uns viel bedeuteten, mit denen wir schöne Erinnerungen verknüpfen. Aber mit dem Tod stirbt nicht alles von ihnen. Sie bleiben in unseren Herzen zurück. Alles was sie uns je gelehrt und geraten haben, bleibt so lange ein Teil von uns, wie wir fähig sind uns zu erinnern. Am Anfang tut es weh, aber die Wunden heilen mit der Zeit.“
    Mit diesen Worten erhob sich Blue von ihrem Stuhl, setzte sich zu Di auf die Matratze und schloss den Jungen in die Arme. Zunächst etwas zögernd, erwiderte er schließlich die Umarmung und verharrte mehrere Augenblicke so. Schließlich löste sich Blue sanft von ihm los und flüsterte ihm anschließend lächelnd zu: „Vergiss nie, dass dein Vater über dich wacht. Er will dich nicht so traurig sehen. Schlaf dich aus!“
    Sie drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn, doch als sie gerade aufstehen und gehen wollte, hielt Di sie am Ärmel ihres Wamses fest. Vielleicht bildete Blue es sich nur ein, doch Dis Augen wirkten auf sie plötzlich weniger traurig, als noch vor einigen Minuten. Vielmehr blickte er sie fragend an: „Mein Vater starb in der Zweitwelt“, begann er seinen Satz, „und dort werden die Toten verbrannt, damit sie eins mit dem Nebel werden. Von dort aus wachen sie über ihre Nachfahren. Aber wie kann mein Vater hier in Venua über mich wachen, wenn er jetzt ein Teil des alten Volkes der Zweitwelt ist?“ - „Glaubst du denn an den einen Gott, Di?“, fragte Blue, was der Junge direkt und von einem heftigen Nicken begleitet, bejahte.
    „Dann weißt du, dass der eine Gott die Seelen derer, die an ihn glaubten, zu sich holt und über sie das letzte Gericht abhält. Ganz gewiss durfte dein Vater in die Glückseeligkeit eintauchen, daran habe ich keine Zweifel. Jetzt sitzt er da oben, weit über den weißen Wolken und schaut auf dich herab.“
    Bei diesen Worten blickte Di kurz zur Decke, dann wieder zu Blue und nickte ihr zu. Er legte sich wieder hin, platzierte seinen Kopf auf dem Kissen, während Blue ihn behutsam zudeckte.
    Just in dem Moment, als aufstehen wollte, erloschen die beiden Kerzen auf seinem Nachttisch. Di flüsterte ihr ein leises ‚Gute Nacht’ zu, welches Blue erwiderte, während sie sich auf leisen Sohlen zur Tür vortastete und ihr eigenes Bett aufsuchte.

    Die Nacht war kurz, aber erholsam. Blue erwachte aus ihrem traumlosen Schlaf, als die ersten Sonnenstrahlen sie im Gesicht kitzelten und reckte sich ausgiebig. Sie fühlte sich gut, schlug ihre Decke zurück und hüpfte aus ihrem Bett um sich ausgiebig ihrer Morgentoilette zu widmen. Heute würde sie das goldfarbene Lederwams anlegen, in welches an den beiden seitlichen Nähten zwei rote Schwerter vom Saum bis hoch zur Brust gestickt waren. Auch der Kragen des Wamses war rot umrandet und bildete somit einen schönen Kontrast zu Blues weißer Haut. Ihre langen Haare hatte sie, wie immer, zu einem Zopf zusammengebunden, der ihr bis knapp über die Schulterblätter reichte. Der geplanten Anhörung der Begleiter Elisus Hofkens würde die komplette Beraterschaft ihres Vaters beiwohnen und zu diesem Anlass wollte Blue sich unbedingt in ihrer besten Garderobe präsentieren. Aus ihrem Unterricht wusste sie, dass sich die Frauen und Töchter der früheren Stadtherren oder Bezirksvorsteher, also noch vor der Reichsgründung durch ihren Großvater, bei größeren Anlässen in Kleidern mit langen Röcken und Schleiern präsentiert hatten. Das mochte schön aussehen und als kleines Mädchen hatte Blue schließlich auch gerne Kleider getragen, doch heutzutage zog sie den Komfort einer schlichten Hose vor. Passend dazu hatte sie eine eng anliegende, morgenrote Wollhose angelegt. Ein weiterer Vorteil dieser Beinkleidung war natürlich auch, dass sie damit nicht überall den Boden aufwischte, wo sie sich bewegte, so wie es bei einem langen Rock der Fall gewesen wäre.

    Nach einem ausgiebigen Frühstück, bei dem sie zwei Kanten Brot, eine Honigfrucht sowie zwei gebackene Birnenhälften mit Zimt verspeiste, dies alles mit einen Becher Lächler-Wasser hinunterspülte, machte sie sich auf in Richtung des großen Ratssaales, wo die Anhörung stattfinden sollte. Ihr Vater, umringt von seinen acht Beratern, stand in der Mitte des Saales, der vom Palastpersonal neu möbliert worden war. Zwei kräftige Burschen rückten noch einen Tisch am Ende der Halle zurecht, während der Regent ihnen per Handzeichen Anweisungen gab. Vor der Wand, an besagtem Hallenende, an der der riesige Wandteppich prangerte, der das Familienwappen der Venuas zeigte, hatte man quer einen langen Tisch und vier Stühle aufgestellt, die wohl für die Begleiter Kal Brahmens und Elisus Hofkens gedacht waren.
    Die große runde Tafel war aus der Mitte des Raumes entfernt worden. Dort waren nun stattdessen mehrere einzelne Stühle aufgestellt. Wie in einem Theater hatte man jeweils vier Sitzgelegenheiten nebeneinander platziert und nach hinten raus drei Reihen gebildet, sodass wiederum zwölf Personen Platz nehmen konnten. Das war, neben Vater und Tochter, natürlich auch der Beraterstab. Anscheinend wurden noch zwei weitere Leute erwartet, von denen Blue allerdings nichts wusste. Nach dem ersten Treffen mit den Zweitwelt-Rückkehrern hatte sie nicht mehr mit ihrem Vater gesprochen und war somit nicht in seine Pläne involviert. Das sollte sich jetzt ändern.

    Die Erben der Väter

    Sie spürte seinen heißen Atem, der sie an ihrem Hals streichelte. Ihn eng umschlungen, drückte Blue ihre kleinen, spitzen Brüste gegen seinen muskelbepackten Oberkörper. Gierig sog sie seinen animalischen Geruch in sich auf und genoss jeden seiner gleichmäßigen Stöße. Ihr Körper bebte vor Erregung und sie musste sich zusammenreißen um ihre Gefühle nicht laut in die Welt hinaus zu schreien.
    Niemand durfte erfahren, was sich hier in der kleinen Hütte von Mendo Warigna abspielte. Doch das Wissen hier etwas zu tun, das sich für sie ganz und gar nicht geziemte, erregte Blue nur noch mehr. Ihre nächtliche Vereinigung ließ sie für einen kurzen Moment alle ihre Sorgen vergessen.
    Warum konnte dieser Augenblick denn nicht für immer verweilen?
    Mendo glitt aus ihr heraus und ergoss sich auf ihren Bauch. Blue musterte ihn dabei zum gefühlt eintausendsten Mal von oben bis unten. Der Hauptmann der Stadtwache überragte sie um beinahe zwei Köpfe. Von seinen kräftigen Waden bis hoch an die breiten Schultern, spannten sich, gut sichtbar, seine Muskeln unter der Haut. Er schnaufte schwer. Man konnte seine vorangegangene Anstrengung an dem glänzenden Schweiß auf der mit dünnen, schwarzen Härchen überzogenen Brust ablesen. Als er sich die langen, hellbraunen Strähnchen, die ihm wie ein Flattervorhang vor den Augen herumtanzten, aus seinem Gesicht wusch, konnte sie ihm endlich wieder in seine geheimnisvollen grünen Augen blicken. Alleine der Gedanke an diese Augen hinderte sie so manches Mal des Nachts am Einschlafen.
    Sprach der Hauptmann mit seinen Männern wirkten sie hart und kalt, durchdringend und einschüchternd. Doch wenn er sich mit ihr unterhielt, waren sie strahlend und warm.
    Sehr oft sogar funkelten sie ihr lüstern entgegen, wenn sie es durch eindeutige Mimik und Gestik darauf anlegte.
    Es war das sogenannte Tier im Manne, vor dem ihr Vater sie immer gewarnt hatte, das sie in diesen Momenten durch Mendos Augen anblickte. Dieses Tier war ein irrationales Wesen, das sowohl einerseits Liebe und Lust für die Frauen verspürte, aber andererseits auch beide Emotionen für das Blutvergießen hegte. Blue wusste, dass Mendo ihr nie wehtun würde, weshalb sie dieses Tier nicht fürchtete, sondern es gar jedes Mal aufs Neue wieder aufregend fand, wenn es sie anstarrte.
    Und so hatte sich das Tier auch heute wieder gezeigt. Kurz bevor sich ihre Lippen trafen, bevor sie gierig übereinander herfielen, bevor Mendo sie aus ihrer Kleidung schälte und sie mit seinen riesigen schwieligen, aber dennoch sanften Händen auf den hölzernen Schreibtisch warf, der in seiner Stube stand und als sein Arbeitsplatz fungierte. Als er in sie eindrang und sich dabei über sie schwang, ihr den Hals mit seinen Lippen liebkoste und ihr anschließend mit den wilden Augen in die ihren blickte.
    Nun konnte sie auch wieder die rot leuchtende Narbe erkennen, die sich von seiner linken Braue bis knapp unterhalb seines Mundwinkels über seine Wange zog, welche, wie er sagte, von einem Unfall aus seiner Kindheit stammte. Doch dieser kleine Makel wirkte keineswegs entstellend, sondern verlieh seinem Gesicht etwas Besonderes, das Blue nicht so recht zu benennen vermochte.

    Als sie fertig waren sammelte Blue, ebenso wie der Hauptmann, ihre Klamotten vom Boden auf, die überall verstreut herum lagen und zog sich langsam wieder an. Noch immer tanzte ihr Herz hinter ihrer Brust.
    „Ich finde es ja schön, wenn du mich zu solch später Stunde noch besuchst, aber wenn dein Vater von uns beiden erfährt“, sagte Mendo zu ihr, während er sich den Gürtel seiner schwarz gefärbten Wollhose anlegte und ließ den Satz bewusst unvollendet. Blue seufzte nur, während sie in ihre Schuhe schlüpfte. Ehrlich gesagt wusste sie nicht so recht, wie ihr Vater reagieren würde. Es war überaus unangemessen für die in Zukunft mächtigste Frau Venuas im Geheimen mit dem Hauptmann der Stadtwache zu kopulieren. Dazu war er schlicht von zu niederer Geburt, respektive zu niederen Ranges. Ihr Vater würde aber zumindest ihr Handeln nachvollziehen können, war sie sich sicher. Sie liebte Mendo und er liebte sie. Er machte sie glücklich. Wenn sie bei ihm gewesen war, fühlte sie sich jedes Mal wie von allen Sorgen losgelöst. Doch im Moment, das wusste sie, würden sich ihre Probleme nicht einfach so von Küssen und Berührungen vertreiben lassen.

    Ihr Vater würde wohl wieder versucht haben sich in den Schlaf zu trinken. Seit einiger Zeit litt der Regent Venuas an Alpträumen und fand deshalb nicht mehr zu nächtlicher Erholung. Tagsüber wanderte Black wie ein Geist durch den Palast. Ausgerechnet jetzt, wo sie wohl bald einen starken Anführer brauchen würden. Jetzt, wo sich auf dem östlichen Kontinent etwas zusammenbraute. Wo der Hohepriester Namuns mit irgendeinem König gemeinsame Sache machte. Eine Gemeinschaft, die wohl in einem Krieg münden wird, wie all die schlauen Köpfe behaupteten. Die Kapitulation, die ein gewisser Gosset Kar’Semdul seinerzeit unterschrieb, diktierte den Verlierern des Krieges unter anderem das Verbot sämtlicher Handelsbeziehungen zu Venua, was den östlichen Kontinent schwer traf. Das Embargo hatte bis heute Bestand und niemand, nicht einmal ihr Vater, war bisher bereit gewesen es zu kippen. Ein kleiner Teil seiner Beraterschaft hatte ihn stets davor gewarnt, dass die namunschen Hunde irgendwann, wohl auch deswegen, aufbegehren würden, doch der andere, größere Teil war sich sicher, dass das Volk, welches längst nicht mehr geeint war, immer noch die Kriegswunden leckte und niemals mehr zu alter Stärke finden würde. Sollte es je ein Aufbegehren geben, wäre dies ein flauer Wind, auf den die Venuari mit einen vernichtenden Sturm antworten und ihre Feinde zurück über das Meer schicken würden.
    Doch dann war dieser König aus dem alten Königreich aufgetaucht und hatte erste Zweifel an besagtem flauem Wind genährt.

    „Mein Vater arbeitet viel und hart. Um diese Uhrzeit schläft er für gewöhnlich bereits tief und fest“, log Blue und lächelte den Hauptmann an, der ihr Lächeln erwiderte.
    „Wenn du das sagst“, entgegnete Mendo, der sich bis eben an seinen Schreibtisch gelehnt hatte und nun wieder langsam auf sie zu schritt. Sanft berührte er Blues rechten Unterarm.
    „Dann spricht doch nichts dafür, dass wir an dieser Stelle aufhören sollten, oder?“
    Seine andere Hand legte er nun an Blues Hüfte und war gerade dabei sich vorzubeugen, um sie ein weiteres Mal zu küssen.
    Obwohl Blues Herz keineswegs abgeneigt war, duckte sie sich weg und entschlüpfte seiner losen Umklammerung. Zu gerne hätte sie wieder dem Tier in die Augen geschaut, doch sie würde Mendo heute nicht mehr beigeben. Sie war die künftige Regentin, in der höheren Machtposition als er und das sollte er nicht vergessen. Er musste spüren, dass Blue auch körperlich Macht über ihn hatte, solange sie dies so wollte. Soll er doch die ganze Nacht an sie denken, sich nach ihr und ihrem Körper sehnen. Das würde ihre nächste Begegnung umso süßer werden lassen.

    Sie musste über seine, für einen kurzen Augenblick, irritierte Miene schmunzeln. Schnell fuhr er sich mit den Fingern durch die wilde Mähne und war sichtlich darauf bedacht gefasst zu wirken, was Blue nun einen glucksenden Lacher entlockte.
    „Ihr habt Spaß daran mich zu quälen?“, fragte er sie gespielt jammernd, doch Blue ging nicht mehr näher darauf ein.

    Sie erhaschte einen Blick auf das große Breitschwert, dass wie eine Trophäe an der Wand neben Mendos Schreibtisch hing und derart glänzte, dass man annehmen konnte, es stamme erst frisch aus der Schmiede. Bei ihrem letzten Besuch zierte diese Waffe jedenfalls noch nicht die Wand, wie sie ganz sicher wusste. Blue schätzte, dass ihr das Schwert, mit dem vergoldeten Handgriff, wohl bis an ihr Kinn reichte, wenn sie es vor sich aufstellen würde. Ihre früheren Unterrichtsstunden waren zwar eher von Geschichte und Politik, denn von Kriegs- und Waffenkunst geprägt, doch Blue wusste, dass es sich bei diesem Schwert, ob der Klingenlänge, eindeutig um einen Zweihänder handelte.
    „Das Schwert meines Vaters“, erklärte ihr Mendo, als er bemerkte, dass sie ihre Aufmerksamkeit von ihm auf seinen neuen Wandschmuck gelenkt hatte.
    „Es heißt er habe es von seinem Vater erhalten, der damit unter deinem Großvater für die Freiheit unseres Volkes gekämpft hat. Angeblich hat sich das Schwert durch unzählige der gegnerischen Soldaten geschnitten.“
    Blue verachtete das Töten. Eigentlich. Doch im großen Krieg war das Blutvergießen unumgänglich gewesen. Schwerter wie dieses, waren es, die die Venuari in den alten Tagen über ihre Feinde triumphieren ließen, als alle gesprochenen Worte versagten. Das war auch die Erklärung für die Faszination, die diese Waffe in ihr auslöste.
    „Ich habe es restaurieren lassen, da es in einem fürchterlichen Zustand gewesen war, als mein Bruder es mir überreichte.“
    Mendo war erst vor rund drei Wochen zu Besuch in seiner Heimatstadt Sonnwart in den Westlanden gewesen, um dort der Beisetzung seines Neffen, dem Sohn besagten Bruders, beizuwohnen, der seit seiner Geburt an einer schlimmen Krankheit gelitten und gegen die er den Kampf letztlich verloren hatte. Ein Kampf, der auch mit Schwertern nicht zu gewinnen war.
    „Warum hat es dein Bruder nicht behalten?“, fragte Blue, die ihr eigenes Spiegelbild in der Klinge begutachten konnte.
    „Weil er nicht vom Samen meines Vaters abstammt. Er ist somit auch nur mein Halbbruder“, antwortete Mendo ihr mit ernster Stimme.
    „Das wusste ich nicht“, gab sie zurück, wandte sich von dem Schwert ab und blickte den Hauptmann wieder an, der nachdenklich an der Schnalle seines Ledergürtels herumspielte.
    „Das liegt daran, dass diese Geschichte nur die Wenigsten kennen. Der Mann, mit dem meine Mutter zusammenlebt, ist der Vater meines Halbbruders und somit mein Stiefvater. Mein echter Vater, dem auch dieses Schwert gehörte, wurde noch vor meiner Geburt hingerichtet. Er war ein Vagabund, ein Spieler, ein Sünder vor dem einen Gott. Eines Tages traf er auf meine Mutter, die in einer Schenke als Schankmädchen arbeitete. Damals lebte sie noch in Mühlfurt, einem kleinen Dorf in der Nähe von Noganburg. Nachdem er sich beim Würfeln mit einigen dorfbekannten Halunken gestritten hatte, lockten diese ihn nach seinem Gaststättenbesuch in einen Hinterhalt um ihn dort, noch bevor er sein Schwert ziehen konnte, so heftig zu verprügeln, dass er irgendwann nicht mehr aufstehen konnte. Meine Mutter fand ihn dort nach ihrer Arbeit, im Dreck liegend und blutend. Sie sah es als ihre Pflicht an diesem armen Mann zu helfen. Zusammen mit ihrer Schwester und der Mutter brachten sie den Mann zu sich nach Hause, gaben ihm Essen und Trinken, ein Dach über dem Kopf und versorgten seine Wunden. Vier Tage lang behielten die drei Frauen ihn bei sich und währenddessen beteuerte er stets, wie dankbar er sei und das der eine Gott ihm die Drei geschickt hätte. Meine Mutter erzählte mir, dass mein Vater den Namen Wylman trug, er aber nur Wyl gerufen wurde. Sie sagte mir immer, dass ich die gleichen Augen wie er hätte und ich sie somit immer an ihn erinnerte. Sie hatte sich in seinen Augen verloren, wie ein dummes, junges Mädchen, welches sie damals war. Doch als sie ihm eines Morgens das Frühstück bringen wollte, ertappte sie ihn dabei, wie er sich mit den wenigen Silbermünzen, die die Familie besaß auf und davon machen wollte. Sie versuchte ihn daran zu hindern, doch Wyl schlug sie nieder und verging sich an ihr, während sie in Panik um Hilfe rief. Er konnte zwar flüchten, doch kam er nicht sonderlich weit. Im angrenzenden Wald wurde er von tapferen Männern aus den umliegenden Dörfern aufgespürt und am nächstbesten Baum aufgehängt.
    ‚Solle er sich vor dem letzten Gericht des einen Gottes verantworten’, hatten die Männer gesagt. Sie übergaben sein Schwert meiner Mutter. Seitdem war es in unserem Besitz.“ – „Das ist eine traurige Geschichte“, war das Erste, das Blue dazu sagen konnte.
    „Meinetwegen ist meine Mutter zusammen mit meiner Großmutter nach Sonnwart gezogen, da sie sich ihrer Schande schämte. In Sonnwart wusste niemand Bescheid und somit konnte niemand ihr gegenüber Verachtung, ob ihres Bastards, dem Sohn eines Vergewaltigers, entgegenbringen.“

    Mendo erhob wieder sein Haupt, blickte zu Blue hinüber, die mit traurigem Blick auf den Boden stierte und nicht so wirklich wusste, was sie auf seine Erzählung noch erwidern sollte. Das brachte ihm ein schwaches Lächeln auf die Lippen: „Tut mir Leid, wenn ich dir damit die Laune verdorben habe, Kleines. Du musst kein Mitleid für mich empfinden. Dafür, dass ich aus den Lenden eines Unwerten stamme, habe ich es doch sehr weit gebracht. Ich bin Hauptmann der Stadtwache der Hauptstadt und darf meine Zeit mit dem schönsten und wundervollsten Mädchen, welches je über diese Welt geschritten ist, verbringen.“
    Blue schlug die Röte ins Gesicht. Sie wusste natürlich, dass sie nicht das schönste Mädchen aller Zeiten war, doch aus Mendos Mund hörten sich diese Worte so wunderbar an. Beinahe hätte sie ihm sogar geglaubt.

    Als es an der Tür klopfte, verflog ihre kleine Träumerei vor Augen und beide, Blue und Mendo, starrten sich an. Die Tür schwang plötzlich auf und darin stand ein schmaler, junger Mann, in schlichte braune Klamotten gekleidet. Er hatte leicht gelocktes, braunes Haar und eine hauchfeine Sonnenbräune in seinem Gesicht, in der eine schmale, kleine Nase thronte, über der zwei grau-grüne Augen zuerst den Hauptmann und dann Blue anstarrten, wonach der ungebetene Gast ein verschmitztes Grinsen zeigte.
    „Es tut mir Leid, sollte ich stören, aber ich soll mich beim Hauptmann melden. Seid ihr das?“, fragte er anschließend an Mendo gerichtet.
    Blue hatte inzwischen ihren Kapuzenumhang vom Kleiderhaken an der Wand genommen und ihn sich hastig angelegt. Sie blickte zum Abschied noch einmal kurz zu Mendo, der ihr nur wortlos zunickte und verließ die Hütte schnellen Schrittes, wobei der unbekannte Mann zur Seite trat und sie mit gespielter Höflichkeit und diesem falschen Lächeln auf den Lippen, hinauswinkte, ehe er die Tür hinter sich schloss.

    @Xarrot
    Jetzt schreib' mir mal den guten Terek nur nicht zu früh ab! ;)
    Klar ist er sehr auf Konfliktvermeidung aus und folgt damit sehr streng seinen Vorstellungen als Stellvertreter der barmherzigen Mutter.
    Schließlich steckt er ja auch in der Zwickmühle, dass das Land immer noch unter dem Krieg seines Vorvorgängers (mit dem Westkontinent) zu leiden hat und es dem ohnehin schon beschädigten Glauben noch weniger zuträglich wäre, würde er seine Mitmenschen wieder in einen bewaffneten Konflikt führen.

    Bleibt abzuwarten, was Tereks Friedensdelegation erreichen kann.
    Im Kapitel "Depression" gab es ja (etwa in der Mitte) ein nettes, kleines Foreshadowing ;)

    LG
    Rika

    So, bringen wir das mal zum Abschluss :)

    ===

    „Es ist mir wie immer eine Freude, mit Euch an diesem Tisch hier sitzen zu dürfen“, eröffnete Yilbert ungefragt die Runde.
    „Und mir wie immer eine Freude Euch und auch die geschätzten Herren Hernak und Malto im Rat der Fünf begrüßen zu dürfen“, erwiderte Terek und schaute dabei jedem der Männer kurz in die Augen, während er seinen Mund zu einem Lächeln geformt hatte. Einzig Hernak erwiderte das Lächeln nicht, sondern nickte Terek nur stillschweigend zu, wie es eben seine Art war.
    „Wie geht es Emorhor?“, fragte Terek an seinen linken Tischnachbarn gewandt. Yilbert schien sich die Antwort auf diese Frage bereits zurechtgelegt zu haben, denn er rieb sich die Hände und setzte sich aufrecht hin, während er ein zähnefletschendes Grinsen zeigte und dabei, wie immer, in zwei verschiedene Richtungen blickte.
    „Wir haben wieder einige Einwohner verloren seit wir das letzte Mal getagt haben. Siebzehn Tote, elf davon aus dem Armenhaus, fünf sind eines normalen Todes inmitten ihrer Familien verschieden, ein Unfall mit einem Karren. Sechzehn junge Männer und Frauen haben die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen oder sind schlichtweg verschwunden. Wir haben aber auch vier Geburten gezählt, alle Kinder sind wohlauf und gesund. Dies sind zumindest unsere dokumentierten Zahlen. Desweiteren haben wir in den letzten Tagen einhundertsechsundsechzig Fremde der Stadt verwiesen, aber durch den Markt strömen die Meisten von ihnen wieder in unsere Stadt.“
    Hernak nuschelte etwas in seinen dichten Bart hinein, wovon Terek die Worte „Wir“ und „unter Kontrolle“ herauszuhören glaubte.
    „Die Fremden tauchen von Tag zu Tag zahlreicher vor unseren Toren auf. Sie kommen aus den unbefestigten Siedlungen rund um die Hauptstadt herum und suchen Schutz hinter unseren Mauern. Nur können wir sie nicht alle beherbergen. Wir platzen aus allen Nähten“, führte Yilbert weiter aus.
    „Wir haben die Frauen und Kinder so gut es ging untergebracht, aber den vielen Männern…“ –
    „Sollten wir einen Speer in die Hand geben und für uns kämpfen lassen“, bemerkte Hernak, diesmal wesentlich deutlicher in seiner Aussprache.
    „Viele von ihnen haben ein erhebliches, kriminelles Potenzial. Geben wir ihnen Waffen, werden sie sie auch gegen uns einsetzen“, intervenierte Yilbert.
    Quensy hob die rechte Hand in die Höhe um sich Gehör zu verschaffen: „Wir können nicht alle bei uns aufnehmen, werter Yilbert, da habt Ihr Recht. Aber diese Menschen ersuchen uns und somit auch die Mutter um Hilfe. Unsere Mutter verwehrt den Hilfsbedürftigen nicht die helfende Hand. Und diese Kriminellen, wie Ihr sie nennt, haben Hunger und sind verzweifelt. Das kann selbst ein Kind der Mutter dazu bringen sich zu vergessen.“
    Yilbert nickte so tief, dass er sich fast den Kopf an der Tischkante anschlug: „Ihr habt durchaus Recht, die Mutter ist gut und daran gibt es auch keinen Zweifel. Wenn wir sie aber in Emorhor nicht aufnehmen können, müssen wir sie gen Süden oder Osten in die anderen Städte weiterleiten.“

    Auf der einen Seite lag Hernak gar nicht so falsch, dachte sich Terek. Über je mehr kampfbereite Männer Namun verfügte, desto besser konnte man sich gegen den krysarischen König verteidigen.
    Vielleicht musste es nicht einmal zu einem Krieg kommen, wenn die eigene Armee nur groß und somit auch abschreckend genug war. Doch würden ein paar hundert Krieger mehr, die möglicherweise nicht einmal gewillt waren zu kämpfen, einen Unterschied machen? Niemand kannte die Truppenstärke des Feindes, auch die Informationen, die Malto zugetragen wurden waren nur vage Vermutungen und schwankten oft auch sehr stark.
    Doch auch Yilbert hatte insofern Recht, dass Emorhor nur über begrenzte Aufnahmekapazitäten verfügte.

    „Wir müssen aber auch an unsere Freunde denken“, warf Yilbert ein und fügte an: „Die beiden nördlichsten Städte Haasmehor und Rokhejlhor verfügen nicht über genügend Männer. Wenn der König angreift werden sie zuerst an deren Stadttoren kämpfen. Wenn wir dem Vorschlag Quensys folgen wollen, dann schicken wir ihnen ein Teil unserer Männer zur Verteidigung und lassen die kampftauglichen Burschen vor unseren Toren in unserer Kaserne ausbilden. Somit können wir unsere alte Truppenstärke wieder komplett herstellen, eventuell sogar vergrößern.“

    Hernak grunzte belustigt und für einen kurzen Moment glaubte Terek ein Grinsen unter dem dichten Haargestrüpp gesehen zu haben. Er wusste sofort, wie er diesen Vorschlag aufgenommen hatte.
    Malto meldete sich nun zu Wort. Er sprach leise und langsam: „Der Grund weshalb die Menschen uns die Stadttore einrennen ist nicht, weil sie keinen Speer in der Hand hätten um sich zu verteidigen. Sie haben Angst. Unter unserem Volk werden Gerüchte verbreitet, dass der Feind uns zahlenmäßig haushoch überlegen ist. Habt Ihr Euren parfümierten Hintern schon einmal vor die Stadttore bewegt, Stadtverwalter? Dann hättet Ihr sehen können, dass sich unter den Schutzsuchenden nahezu keine kampftauglichen Männer verstecken. Wen wollt Ihr also ausbilden? Und dann wollt Ihr unsere Männer nach Norden schicken? Wenn die Krysari angreifen, werden sie Haasmehor und Rokhejlhor wie eine Flutwelle wegspülen. Das Land unterhalb der toten Steppe ist dünn besiedelt und die Städte sind ungünstig positioniert. Die Geschichte hat uns doch gelehrt, dass genau sie ein dankbares Ziel darstellen. Selbst zu Zeiten der beiden alten Königreiche wurden die Städte im Grenzgebiet immer wieder von den Krysari angegriffen und teilweise besetzt. Weshalb sonst hätte der ehrenwerte Tasmanuk so viel Energie darauf verwendet Krysas Machtbestrebungen zu unterbinden? Wozu also diese beiden Städte stärken?“
    Yilberts Gesicht verfärbte sich rot vor Empörung. Prompt fing er an zu stammeln: „Ihr wollt unsere Freunde in Haasmehor und Rokhejlhor im Stich lassen? Sie dem Feind überlassen?“
    Hilfesuchend blickte er zu Terek und Quensy und hoffte darauf, dass einer von ihnen diesem abscheulichen Plan widersprechen würde, doch war es Hernak, der sich zu Wort meldete: „Gut! Die Soldaten in die Hauptstadt holen und mit ihnen gemeinsam kämpfen“, murmelte er und in seinen Augen loderte das Feuer der Begeisterung. Hernak Kreum’Barbero liebte den Kampf und er liebte seinen Speer. Die Aussicht auf eine blutige Auseinandersetzung mit einem Feind, der mit ihm gemeinsam den Todestanz tanzte, wie die Namuner den bewaffneten Zweikampf auf Leben und Tod nannten, versetzte ihn wahrlich in Erregung.

    Nun sprach Terek, der sich interessiert die Worte seiner Ratgeber angehört hatte und zu einer Entscheidung gekommen war: „Mein geschätzter Yilbert. Ich möchte, dass Ihr dafür Sorge tragt, dass genügend Wagen und Karren, sowie ausreichend Zug- als auch Reittiere zur Verfügung stehen. Wir werden alle Frauen, Kinder, alte Männer und die, die nicht zum Kampf bereit sind in den Süden und somit in Sicherheit verfrachten. Hernak, Ihr werdet dem ehrenwerten Stadtverwalter genügend Männer zur Verfügung stellen, die die Menschen begleiten und beschützen werden. Den Männern die kämpfen wollen, werdet Ihr eine entsprechende Ausbildung zuteil werden lassen. Quensy wird dafür Sorge tragen, dass wir alle nötigen finanziellen Mittel bereitstellen, die hierzu benötigt werden.
    Solange wir keine Nachricht unseres Gesandten erhalten haben, werden wir weder Männer in die nördlichen Städte schicken, noch welche von dort abziehen.“

    „Sollte er es tatsächlich in die Hauptstadt schaffen, so wird er vermutlich nur Ruinen vorfinden. Wenn er richtig Pech hat, werden sich dort sogar einige dieser krysarischen Hundesöhne aufhalten, die ihm die Kehle aufschlitzen werden“, hatte Zet ihm über seinen Gesandten und dessen Friedensgesuch gesagt und Terek damit nur noch weniger Hoffnungen auf eine friedliche Lösung gemacht. Aber er durfte hier und heute nicht zweifeln.

    „Euch, Malto, möchte ich vorerst bitten zu bleiben. Ich habe noch etwas mit Euch persönlich zu unterreden“, verkündete Terek alsdann und während sich Hernak direkt im Anschluss von seinem Platz erhob und auf den langen Weg zurück machte, blickte Yilbert den Hohepriester entgeistert mit seinem einen Auge an, während das Andere weiterhin unentwegt gegen seine eigene Nase stierte. Yilbert Zur‘Konyett wirkte fast so, als hätte Terek ihn persönlich beleidigt, als er sich schließlich ebenfalls erhob, sich mit ausschweifender Armbewegung verbeugte und ebenfalls den Rückweg antrat.

    Malto blieb seelenruhig, entspannt gegen die Rückenlehne des Stuhls gelehnt, sitzen und knirschte mit seinen kleinen gelben Zähnen, wodurch er laute, malmende Geräusche erzeugte. Auch Quensy, die rechte Hand des Hohepriesters, verließ seinen Platz nicht und musterte Malto mit seinen strahlend blauen Augen. Terek wartete ab, bis die Schritte der anderen beiden Ratsmitglieder und der Wachen, die sie begleiteten, restlos verstummt waren, dann holte er tief Luft und atmete gemächlich wieder aus. Er hatte seine beiden Hände vor sich auf den Tisch gelegt und rieb sich die kalten Fingerspitzen warm. Während er sprach, blickte er weiter seine Hände an: „Ihr wart von Anfang an nicht überzeugt davon um Frieden zu ersuchen. Warum habt Ihr nicht gegen den Vorschlag gestimmt?“
    Er blickte wieder zu Malto auf und sah, dass dieser keine mimische Reaktion auf diese Frage zeigte und wieder mit seiner ruhigen Stimme antwortete: „Solange es die Hoffnung auf Frieden gibt, sollte man ihn auch anstreben“.
    Er ließ die Augen zu Quensy und anschließend wieder zurück zu ihm wandern: „Andererseits glaube ich nicht daran, dass wir um das Blutvergießen herum kommen werden.“

    Terek nickte vor sich hin. Zets Worte. Das waren Zets Worte, dachte er sich. Hätte Malto über das gleiche Wissen, wie die ehemalige rechte Hand von Hohepriester Sande verfügt, wäre auch seine Schlussfolgerung dieselbe gewesen, war Terek sich sicher.
    „Wenn Ihr meine ehrliche Meinung hören wollt“, begann Malto und beugte sich vor in Richtung der Tischfläche, auf die er seinen linken Unterarm legte, auf welchen er wiederum nun das Gewicht seines Oberkörpers verlagerte, „so denke ich, dass wir auf keinen Fall die Männer aus den beiden Grenzstädten abziehen sollten, zumindest nicht komplett. Wenn der Angriff erfolgt werden die dortigen Verteidiger zur besten Informationsquelle, die wir nur bekommen können. Sie können uns über die gegnerische Truppenstärke, ihre Bewaffnung, ihre Rüstungen, ihre Anführer, sie können uns über alles Auskunft geben und wir können uns darauf einstellen. Sie können uns zeigen, wie lange wir mit welcher Besatzung einer Belagerung standhalten können. Einer meiner Informanten könnte uns seine Erkenntnisse mittels gefiederter Nachrichtenträger zukommen lassen.“

    Dieser Plan klang so falsch, aber Malto hatte auch Recht. Solange ihr Feind sich im nördlichen Regenwald versteckte, wussten sie nichts über ihn. Eine Belagerung in ihrem Teil des Kontinents würden ihnen hingegen Aufschluss über dessen Stärken und Schwächen liefern. Doch die Bewohner und Verteidiger zweier Städte dafür zur Schlachtbank führen? Die Mutter würde so etwas nie gutheißen und ihr Zorn würde über sie kommen. Er war ihr höchster Stellvertreter am Boden. Man konnte gar sagen, dass er der große Bruder einer riesigen Schar von Kindern war und er sie beschützen musste. Kein großer Bruder würde seine Geschwister zu seinem eigenen Vorteil ans Messer liefern. Doch ein kleines Opfer um womöglich einen Großteil seiner Brüder und Schwestern zu retten sollte doch erlaubt sein? Er wischte diesen Gedanken rasch beiseite. So waren, in gewisser Weise, doch auch der krysarische König und dessen Volk seine Geschwister. Die schwarzen Schafe zwar, aber sie waren von seinem Blut. Schon lange bevor das Königreich Krysa überhaupt existierte, waren sie ein Volk gewesen, im Blute geeint.

    „Ich kann die Zweifel, die Ihr hegt nachvollziehen. Es gibt keine einfachen Lösungen, aber wir müssen uns entscheiden. Wenn die Schwarzträne über uns kommt, müssen wir vorbereitet sein“, unterbrach Malto die Gedankengänge Tereks.
    Doch war es nicht das, was den Hohepriester aufhorchen ließ: „Was habt Ihr da gesagt?“, hakte er mit zusammengekniffenen Augen nach, so als hätte er nicht richtig verstanden, was der rattengesichtige Ratgeber soeben von sich gegeben hatte.
    „Ich sagte wir müssen vorbereitet sein“, antwortete Malto und schien aufgrund Tereks plötzlicher Aufgewühltheit sichtlich überrascht.
    „Nicht das“, fuhr dieser ihn schroff an. Auch Quensy hatte sich ihm nun mit fragendem Blick zugewandt.
    „Wie habt Ihr den Krysari-König soeben genannt?“ – „Schwarzträne, Tränenkönig, weinender König, Krysa-Bastard. Das Volk hat viele Namen für ihn.“

    Mit einem lauten Krachen kippte der Stuhl des Hohepriesters nach hinten um, als dieser sich, wie von einem Skorpion gestochen, in die Lüfte erhob. Er war sich nicht sicher, welchen Eindruck er gerade vermittelte, doch schien er sogar den sonst so besonnenen Malto zu verwirren.
    „Geht es Euch gut?“, fragte dieser mit einem leicht besorgt klingenden Unterton.
    „Ich danke Euch, wie immer, für Eure Ratschläge, Malto. Doch muss ich Euch nun bitten zu gehen! Ich fühle mich nicht sehr wohl. Ich werde mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen und Euch auf jeden Fall konsultieren, sollte ich erneut auf Euren guten Rat angewiesen sein. Aber bitte geht jetzt!“
    Malto nickte einmal und verließ anschließend wortlos den goldenen Raum, dessen Leuchten nun langsam in das nächtliche Blau überging. Sie waren hier der Mutter so nahe, wie nirgendwo anders.

    Terek blickte zu Quensy hinüber und in dessen Augen konnte er sehen, dass dieser nun auch verstanden hatte.

    Nun denn, schauen wir mal...

    ===
    Darauf hatte Terek keine Antwort. Sein letzter Besuch bei ihm lag lange zurück. Seit er sein Augenlicht verloren hatte, war aus ihm ein verbitterter alter Mann geworden, dem nur noch Verachtung für die ihm unsichtbare Welt da draußen blieb. Er wusste, wie Zet über die Mutter dachte und bat darum, dass auch sie wusste, dass ihn nur die unerbittlichen Umstände von seinem rechten Pfad abgebracht hatten. Doch noch immer war Zet, wenn er es denn wollte, ein guter Ratgeber. Es war wahrlich eine Torheit gewesen einen Gesandten nach Xemen zu schicken, das wusste Terek jetzt. Eine völlig überstürzte Handlung, die auch seine rechte Hand, Quensy Haz’Makalum, nicht verhinderte. Selbst in dieser Sache sollte Zet Recht behalten. Auch wenn er es wieder einmal sehr drastisch formulierte. Quensy war ein loyaler, intelligenter und überaus gebildeter junger Mann, doch fehlte es ihm an Lebenserfahrung und somit stimmte er auch, ohne lange zu Überlegen, Tereks Idee mit dem Friedensangebot zu. Doch der Friede schien wahrhaftig keine Lösung zu sein. Zets Ansatz für den bevorstehenden Krieg hingegen schmeckte Terek noch weniger. Hatte er gewusst oder zumindest geahnt, was der blinde, alte Mann ihm vorschlagen würde? War es nicht tief im Innern genau das, was auch ihm als der einzige Ausweg erschien?

    Die Mittagshitze war bereits am abflauen, als Terek den Rückweg antrat. Die riesige Sonnenpyramide, der Stammsitz des Hohepriesters und seines Gefolges, warf ihren gigantischen Schatten mittlerweile über den Marktplatz auf dem bereits wieder ein reges Treiben herrschte. Der letzte namunsche König Necat hatte die Pyramide zu Ehren des alten Sonnengottes erbauen lassen, zu dem ihre Vorfahren, vor Tasmanuks Offenbarung, beteten. Das zum Großteil aus rötlich schimmerndem Sandstein bestehende Bauwerk maß an jeder seiner vier Seiten rund achthundert Fuß an Länge und schraubte sich bis zu der majestätischen Spitze weitere vierhundert Fuß in die Lüfte. Die Pyramide war das Zentrum Emorhors und ein einzigartiges, architektonisches Wunder, wie sämtliche bekannten Baumeister nicht müde wurden zu betonen.
    Terek hasste seit jeher die Dekadenz mit der der Hauptsitz des Glaubens über den Dächern und Menschen der Stadt thronte. Als „Gift für den Glauben“ hatte er ihn einst betitelt und dabei nur empörte Reaktionen seines Rates geerntet. Die Sonnenpyramide wäre, historisch gesehen, ja dem falschen Sonnengott, nicht der Mutter, zuzuschreiben und alles Weitere wurde schließlich mit dem fadenscheinigen Begriff „Tradition“ relativiert. Tatsächlich schienen die einfachen Bürger nichts für solche tiefsinnigen Überlegungen übrig zu haben, aber irgendwann würde es irgendwer zu ihrem Nachteil auslegen. Der Glaube war schwach in diesen Zeiten und offensichtliche Schwachstellen sollten nicht wie offene Wunden zur Schau getragen werden.

    Vor dem großen Krieg, so wusste Terek aus den Erzählungen, standen einst, alleine in der Hauptstadt, eintausend Männer und Frauen in Diensten der Hohepriester, beziehungsweise der Mutter. Heute war ihre Zahl auf etwa knapp über zweihundert geschrumpft. Einzig Terek und seine rechte Hand Quensy, sowie deren Kämmerer, residierten von ihnen noch in der Sonnenpyramide. Die Wachen wechselten halbtäglich, doch waren es stets Acht, die den Zugang, in untypisch schwere eiserne Rüstung gekleidet und mit doppelspitzigen Speeren bewaffnet, bewachten. Sechzehn weitere Männer waren im Inneren postiert, was Terek für überflüssig hielt, worauf aber seine rechte Hand bestand. Sie gehörten zu den Männern der Stadtwache, die in Ermangelung an Soldaten auf etwas weniger als zweihundert Mann geschrumpft waren. Sie waren dem Oberbefehlshaber Hernak Kreum’Barbero unterstellt, einem Mitglied des Rats der Fünf, mit dem Terek in Kürze zu tagen gedachte.

    Terek passierte die diszipliniert stramm stehenden Wachen vor dem schlichten Eingang, der etwa zwei Meter hoch und fünf Meter breit, sowie in dem gleichen öden Farbton gehalten war, wie der Rest des Gebäudes.
    Wäre der Sitz des Hohepriesters keine riesige Pyramide gewesen, hätte man sie aufgrund ihres kargen Äußeren auch für eine, wenn auch recht imposante, Version eines Armenhauses halten können. Doch wo besagtes Armenhaus immerhin reich an Leben, so war die Sonnenpyramide ein beinahe ausgestorben wirkender, fast schon surrealer Ort, wenn man sich in seinem Inneren bewegte. Die Fackeln, die den, über mehrere Stockwerke verlaufenden, Hauptflur beleuchteten waren stets entzündet, doch in den unzähligen Nebenfluren blickte man zumeist in tiefe, schwarze Dunkelheit.
    Dort lagen größtenteils die Zimmer der einst unzähligen Bediensteten und hohen Berater des Hohepriesters, die jene zusammen mit ihren Familien bewohnten. Heute standen die Zimmer leer. Auch andere Räumlichkeiten, wie etwa der große Sitzungssaal, in dem die Ratsitzungen abgehalten wurden, der Speisesaal und die Halle der Mutter, wo das allmorgendliche Gebet stattfand, wurden nicht mehr genutzt. Heute aß und betete jeder für sich auf seinem Schlafgemach und die Sitzungen des mittlerweile auf fünf Beteiligte geschrumpften Rates wurden im goldenen Raum abgehalten.
    Der goldene Raum war eine kleinere Halle, die zu Ehren des Sonnengottes erbaut wurde. Diese lag direkt unter der Spitze der Sonnenpyramide. Es war der einzige Raum in dem keine Fackelhalter angebracht waren, da schlichtweg kein Feuer entzündet werden mussten. Die goldfarben getönten Scheiben, die die Baumeister in die Decke eingearbeitet hatten, tauchten den Raum bei Sonneneinstrahlung in ein glühendes Gold, der Farbe des Sonnengottes. Nachts wiederrum schien das Licht der Sterne durch die Decke und ließ den Raum in ihrem diffusen Licht erhellen. Die falschen Götzen, deren in Stein gehauene Gesichter an allen vier Wänden, jeden Besucher der eintrat erst einmal aufmerksam musterten, hatte Tasmanuk einst zertrümmern lassen. Noch heute konnte man bei genauerem Hinsehen erkennen, wo die, in die Wände gehauenen, Löcher einst ausgebessert wurden, auch wenn sich die Baumeister große Mühe gegeben hatten dies zu übertünchen. Zu welchem Zwecke Tasmanuk die Halle einst benutzte, war nicht bekannt, doch genau hier hatte er einst die Worte seiner Offenbarung niedergeschrieben. Ein Dokument, welches nur die wenigsten Menschen zu Gesicht bekommen hatten. Zu diesem auserlesenen Kreis zählten alle Hohepriester und deren rechte Hände, die die engsten Vertrauten und das gute Gewissen der Stellvertreter der Mutter waren. Die rechten Hände hüteten ihre Geheimnisse und sprachen, wenn es nötig war, im Namen des jeweiligen Hohepriesters. Für den Fall das einer ihrer Herren vor seinem Ableben keinen Nachfolger bestimmt hatte, war dies die ehrenvolle Aufgabe der rechten Hand.
    So geschehen bei Nobossop Sek’Modun, der eigentlich seinen kleinen Bruder Hernak, zeitgleich Oberbefehlshaber seiner Armee, als seinen Nachfolger auserkoren hatte. Doch nach dem verlorenen Krieg, in dem Hernak von dem Anführer des Westkontinents, Red, erschlagen wurde und dessen großer Bruder Nobossop sich anschließend das Leben nahm, war es letztlich die rechte Hand Gosset Kar’Semdul der sich selbst zum Hohepriester ausrief, die vollständige Kapitulation unterzeichnete und Red schwor niemals wieder gegen das neugegründete Venua in den Krieg zu ziehen.
    Gosset erhielt dafür aus der Bevölkerung den Spottnamen „Der Rückgratlose“ und wurde später von einem Mob auf offener Straße zu Tode geprügelt, während seine Bewacher nicht einschritten. Um die aufgeheizte Stimmung nicht noch mehr zu befeuern, verzichtete der neue Hohepriester Sande Hoers’Mosmumtu, der von Gossets rechter Hand Zet gewählt wurde, auf die Hinrichtung der Angreifer und verbannte stattdessen die Leibwächter Gossets in die tote Steppe im Norden, was im Grunde der Todesstrafe gleich kam, nur das sich der Tod durch Verdursten wesentlich länger hinzog. Doch hatten sie für ihre Sünden Buße getan und am Ende die Vergebung der Mutter erfahren.

    Die in Summe achthundertachtundsiebzig Stufen, die hinauf in den goldenen Raum führten, waren für Terek bei Weitem nicht mehr so einfach zu bewältigen, wie noch vor einigen Jahren. Schwer schnaufend und, trotz einiger Pausen, und mit schmerzenden Gelenken erreichte er schließlich die, wieder einmal in goldenes Licht getauchte, Halle, in der bereits Quensy auf ihn wartete.
    Dieser eilte ihm entgegen um ihn zu seinem Platz zu führen, was Terek direkt ablehnte. Wirkte er auf seine Mitmenschen wirklich so geschafft in dieser alten Hülle die sein Körper war?
    Der junge Bursche Quensy, der den dreißigsten Tag seiner Geburt noch nicht begangen hatte, war mit einer schwarzen, lockigen Mähne gesegnet, für die ihn sämtliche Mädchen Emorhors vergötterten. Sein Mund mit den vollen Lippen war von dünnem, dunklem Flaum umringt. Sein Gesicht wies sehr androgyne Züge auf und seine Augen leuchteten unnatürlich blau. Eine in Namun sehr seltene und daher exotische Augenfarbe. Er behandelte Terek oftmals wie einen alten Mann. Obwohl er es stets gut meinte, hasste Terek dies, wies ihn allerdings jedes Mal freundlich darauf hin, dass er keine Hilfe benötigte, wenn er nicht darum bat. Dann lächelte Quensy ihn verlegen an. Selbst seine Zähne waren perfekt. Gerade und strahlend weiß. Auch wegen seiner Art zu Lächeln war er in der Damenwelt begehrt.
    In seiner Jugend, die gefühlt erst gestern, aber in Wahrheit schon vor einer halben Ewigkeit zu Ende gegangen war, war es Terek gewesen, der die Herzen der Frauen höher schlagen ließ. Damals, kurz nach dem großen Krieg, waren gutaussehende und gut gebaute, große Männer wie er ein überaus rares Gut und dadurch umso begehrter, auch wenn sein Herz stets bei M’Kelya gewesen war. Noch bevor er zum einzig wahren Glauben zur Mutter fand, war er ein wilder Heißsporn gewesen. Einem Kerl wie Quensy hätte er damals mit seinen bloßen Fäusten das hübsche Gesicht zerbeult, doch damals war er ja auch nur ein dummer Junge gewesen. Ein sorgenloser Junge, der in seiner Liebe zu M’Kelya und deren Augen zu ertrinken drohte. Heute hingegen lag die ganze Last Namuns auf seinen Schultern. Just in diesem Moment wünschte er sich wieder in die Zeit seiner Jugend zurück. Zurück in die Arme M’Kelyas.

    Als Terek an dem kleinen hölzernen Tisch Platz nahm, ließ sich Quensy an seiner rechten Seite nieder. Er trug, wie auch Terek, eine dünne rote Robe, die ihm bis zu den Knöcheln reichte. Vor zwei Jahren hatte er den jungen Burschen zu seiner rechten Hand ernannt, nachdem dessen Vorgänger, der leicht ergraute Benysma Gemu’Sakao, an einem Fieber erkrankte und anschließend im Schoß der Mutter Platz nehmen durfte. Manchmal erwischte sich Terek dabei, wie er bedauerte, dass sich Zet nach Sandes Tod zur Ruhe gesetzt hatte. Aber wäre der alte Mann wirklich die bessere Wahl gewesen?

    Nacheinander trafen, jeweils von zwei Wachen begleitet, der Stadtverwalter Yilbert Zur‘Konyett, der große Malto sowie Hernak Kreum’Barbero, der Oberbefehlshaber der Stadtwache Emorhors ein.
    Yilbert setzte sich an das linke Tischende neben den Hohepriester. Er war ein entsetzlich hässlicher, hagerer und kränklicher Mann Mitte Vierzig. Man sah ihm die Anstrengung an, die ihm der Aufstieg in den goldenen Raum auch dieses Mal bereitet hatte. Mit einem dünnen Stofftuch tupfte er sich die dicken Schweißperlen von der Stirn. Wenn Yilbert mit einem sprach, starrte einen sein linkes Auge an, während das rechte den Blick gegen seine eigene Nase wandern ließ. Sein Haaransatz hatte sich bis zur Mitte seines Schädels zurückgezogen, während die wenigen dünnen Haare ein Gemisch aus Schwarz und Silber darstellten. Er trug ein feines, oranges Gewand, mit grünen geschwungenen Linien verziert, und verströmte den fast schon penetranten Geruch exotischer Düfte, mit denen er sich stets auf dem wöchentlichen Markt eindeckte und anschließend einparfümierte.
    Hernak war das genaue optische Gegenteil von Yilbert und setzte sich, wenn auch wohl unbewusst, dementsprechend an das andere Tischende. Er war muskulös und breit gebaut. Sein dunkles Haar war voll, schulterlang und sein dichter schwarzer Bart verbarg seinen Mund. Man konnte nie wirklich sagen, ob Hernak nun lächelte oder nicht. Wobei letzteres wohl wesentlich häufiger vorkam. Er war kein Mann großer Worte oder Emotionen. Sprach er etwas, so hielt er sich stets so kurz und knapp wie nur möglich. Dennoch war er der beste Ratgeber, dem Terek hier in der Hauptstadt zur Verfügung stand, wenn es denn zu einem bewaffneten Konflikt mit dem krysarischen König kommen sollte.

    Der große Malto, der sich an der Tischseite gegenüber Terek und Quensy niedergelassen hatte, war hingegen ein rattengesichtiger Mann, den man auf den ersten Blick wesentlich älter einschätze, als er in Wirklichkeit war. Unter seinem schlichten, grauen Gewand, ragten zwei schmutzige Füße hervor, die in abgewetzten Sandalen steckten und an denen links einer, sowie rechts zwei Zehen fehlten. Dem Gemurmel zufolge hatte er seine Zehen einst als Wettschulden eingelöst, weil er, ohnehin ein Mann aus ärmlichen Verhältnissen, nicht genug Münzen besaß um seine Schuld zu begleichen.
    Sein Haupthaar war ungleichmäßig und grob vom Kopf geschoren und unter einer unförmigen, ebenfalls grauen Kopfbedeckung aus Filz verborgen. Seine kleinen Augen funkelten beinahe gelb und unter seiner spitzen kleinen Nase ruhten zwei dünne Lippen, wie Striche in sein Gesicht gezeichnet, was ihm das besagte rattenartige Antlitz bescherte. Lächelte er, zeigten sich kleine, goldgelbe Zähne, die er durch sein ständiges Knirschen regelrecht abgewetzt hatte. Malto war ein Mann von niederer Geburt, was man, wenn man ihn nicht ansah, dann wenigstens an seinem fehlenden Zweitnamen bemerkte, was auch darauf hindeutete, dass er ein vaterloser Bastard war. Doch war Malto für Terek derzeit so wichtig wie kein Anderer.
    Der, zumindest ihm gegenüber, sehr unterwürfig daherkommende kleine Mann, der alleine aufgrund seiner Körpergröße seinen Beinamen „der Große“ verpasst bekommen hatte, unterhielt Beziehungen in alle Städte des Kontinents und war dadurch bestens über sämtliche wichtigen Dinge informiert: Stimmungen in der Bevölkerung, Gerüchte, sowie natürlich vermeintliche Informationen über den mysteriösen, krysarischen König.
    Er war es auch dem Terek die Information weitergab, dass immer weniger Namuner zur Mutter beteten und sich im Geheimen anderen Göttern zuwandten. Dass das Volk in diesen Zeiten größtenteils wieder mit seinem alten Sonnengott oder dem, einst im Götterkonflikt gepriesenen, einen Gott aus dem Westen liebäugelte, konnte Terek verstehen. Viele seiner Vorgänger hatten es unter Strafe gestellt anderen Göttern zu dienen, doch er war überzeugt davon, dass man mit Überzeugungskraft und gutem Willen mehr erreichen konnte, als mit Blut und Gewalt. Die Mutter überzeugt mit ihrer Barmherzigkeit und wird ihre Kinder wieder auf den rechten Weg führen, dachte sich der Hohepriester. Sie würde ihm zeigen, wie er dies für Sie forcieren konnte.
    Wenn er diese Zuversicht doch auch in Bezug auf seine Brüder und Schwestern aus dem Norden hegen könnte.

    Ich persönlich bin ja kein Fan von Wiederauferstehungen.
    Natürlich kann das, gut verpackt, durchaus Sinn ergeben, aber oftmals wirkt es schlicht erzwungen und irgendwie auch fantasielos. Zumeist ist es das ja auch. Pure Effekthascherei, einen Helden erst mit großem Drama sterben zu lassen, nur um ihn anschließend wieder zurückzuholen.
    Das fand' ich bei Gandalf damals schon ziemlich meh.

    Die Endgültigkeit eines Todes ist es doch, was mich emotional abholt, wie man so schön sagt.
    Einen gut inszenierten Tod sollte man nicht durch eine billige Zurückholaktion zunichte machen.
    Um bei HdR zu bleiben: Boromirs Tod war bspw. einer der wohl stärksten Momente des ganzen Romans und hat mich, als ganz junge Leserin, damals völlig aus den Socken gehauen. Diese Wirkung hätte der Moment ohne das Endgültige wohl nicht beibehalten.

    Auch in meiner Welt bedeutet Tod grundsätzlich erstmal auch Tod.
    Ich lasse mir zwar bewusst noch einige Hintertürchen offen, doch ein plumpes Wiederbeleben eines Charakters wird es bei mir definitiv nicht geben.

    Was mich hingegen sehr fasziniert, sind die vielen unterschiedlichen Vorstellungen von einem angeblichen Leben danach (auch als Atheistin).
    Da glauben die Einen, dass der Rauch, der beim Verbrennen der toten Körper entsteht, sich mit dem ewigen Nebel über ihren Köpfen vermischt und ihre Verstorbenen somit darin weiterleben. Andere wiederum erwarten nach dem Tod ein Gottesgericht, welches zwischen Verdammnis und Glückseligkeit entscheidet.

    LG
    Rika