Eine titellose Geschichte über einen Henker
WELVIS hatte seine Rüstung abgelegt. Schnelligkeit bedeutete ihm mehr als der zweifelhafte Schutz, den die uralte Rüstung bot. Sieben lange Jahre hatte er sie getragen. Jetzt fühlte er sich leicht, unbeschwert. Aber auch verletzlich und weich. Nachdenklich blickte er seinen Helm an. Es war mehr eine Maske als ein Helm, mit kalter Miene, die Gerechtigkeit symbolisieren sollte. Letztlich war Welvis nur ein Henker. Im Namen der Gerechtigkeit richtete er Unschuldige hin. Den Herren, denen er diente, war es egal, wie viele Menschen über die Klinge sprangen. Ihnen war nur wichtig, dass das Volk ihnen gehorchte. Dafür hatte Welvis zu sorgen. Bis jetzt. Bis hierher, bis nach Billis, einem unbedeutenden Dorf an der Grenze, war er mit ihnen gegangen, hatte vor seinen Herren einen blutigen Pfad frei gehauen. Doch hier endete es. Ab sofort würde er seinen eigenen Weg gehen. Nach Osten. Über die Brücke, die irgendwo am Ende der Straße im Nebel verborgen lag.
Welvis wusste nur zu gut, dass die Wachleute auf beiden Seiten den Befehl hatten, niemanden hinüber zu lassen. Sollten sie ruhig versuchen ihn aufzuhalten. Er ließ den Helm ins nasse Moos fallen und stand auf. Es war alles sinnloser Ballast. Alles bis auf sein Schwert. Er hatte es selbst geschmiedet und würde es nirgends zurücklassen.
Langsam, geschmeidig wie eine Katze schlich er durch den Nebel. Sein ganzer Körper war gespannt. Auf jedes noch so unscheinbare Geräusch gab er acht. Doch im Nebel klang alles dumpf, verwaschen, unscharf. Ein leises Knarren. Welvis legte den Kopf schief. War es ein Fensterladen im Wind? Oder die Planke der Brücke unter den Stiefeln einer Wache? Stammte es gar von der Armbrust eines Wächters, der grinsend darauf wartete, ihn niederzustrecken? Der Gedanke ließ Welvis unruhig den Kopf einziehen. Nach ein paar weiteren Schritten schalt er sich in Gedanken einen Idioten. Kein Mensch konnte in diesem Nebel auch nur weiter als fünf Schritt sehen. Und er sah in fünf Schritt Entfernung nichts anderes als graue Suppe, also konnte ihn der andere auch nicht sehen.
Welvis ging ein paar Schritte weiter, bevor er innehielt. Eigentlich brauchte er keine Angst zu haben. Wenn sie ihn entdeckten und zurückschickten, hatte er nichts verloren. Und wenn sie ihn nicht entdeckten, was ihm bei diesem Nebel gar nicht unwahrscheinlich schien, dann hatte er alles gewonnen. Trotzdem blieb eine gute Portion Nervosität. Er zwang sich weiterzugehen.
Wieder hörte er das Knarren. Diesmal sogar lauter als zuvor. Welvis späte in den Nebel, hoffte etwas erkennen zu können. Dort schien der Nebel etwas heller zu sein. Er ging darauf zu. Langsam schälten sich die Umrisse einer kleinen Wachhütte heraus. Das Holz sah noch ziemlich frisch aus, trotzdem war die Hütte schon so schief, als hätten sie die letzten hundert Winter beinahe umgedrückt. Neben einer noch schieferen Tür stand eine Bank und darauf lag etwas, das wie ein praller Sack Mehl aussah. Welvis wollte schon wieder in den Nebel zurückweichen und die Hütte ein paar Schritt weiter umgehen, als er noch einmal genauer hinsah. Und hinhörte. Das Knarren kam aus dem Mehlsack. Welvis lächelte. Sieh an, sieh an. Die wichtigste Brücke zwischen Ost und West wird von einem schnarchenden Mehlsack bewacht. Er schüttelte den Kopf, richtete sich auf und ging ohne Hast am Wachhäuschen vorbei. Zehn Schritte später war er auf der Brücke. Über dem Fluss war es kälter. Fröstelnd beeilte sich Welvis. Wenn er auf der anderen Seite auch so viel Glück mit der Wache hatte, dann wäre das die einfachste Flucht aller Zeiten gewesen.
SIE holten Mattes kurz nach dem Morgengrauen. Zwei Folterknechte in dunklen Gewändern, Kettenhemden und schwarzen Masken. Ihr Griff war so hart wie die Ketten an seinen Füßen. Sie zerrten ihn unerbittlich durch die engen, dunklen Gänge, eine Treppe hinauf, durch etliche Türen und Fluren und schließlich durch ein großes Portal.
Das erste was Mattes sah, war der Henker, der regungslos auf dem Schafott auf ihn wartete. Für einen Augenblick hoffte Mattes, dass es nur eine Statue war. Aber er wusste es besser. Henker waren mehr Maschinen als Menschen. Nur Stahl, Knochen, Muskeln und ein unbeirrbarer Wille, ihren Herren zu dienen. Die Rüstung war makellos. Stählerne Schulterpanzer ragten zu beiden Seiten weit hinaus. Sie symbolisierten die Flügel der Engel. Sie gleichen eher den Schnäbeln der Krähen, die sich an meinem Leib laben werden, dachte Mattes bitter. Die goldene Gesichtsmaske reflektierte die Sonne und umgab den Kopf des Henkers mit einer hellen Korona. Göttliche Gerechtigkeit. Schreiende Ungerechtigkeit traf es wohl besser. Er hatte nichts Unrechtes getan. Es war Notwehr gewesen. Aber gegen die Herren von Ruschwitz kam ein einfacher Knecht nicht an. Sie hatten ihn gejagt, gefangen und verurteilt. Wieder überfiel ihn eine Welle schwarzer Hoffnungslosigkeit. Er würde alles tun, um sein Schicksal noch einmal wenden zu können. Aber Engel kannten keine Gnade. Ihr Gesetz war eisern. Und ewig.
Die Folterknechte führten Mattes über den Hof. Es hatten sich kaum Schaulustige eingefunden. Vielleicht eine Handvoll. Mattes ließ sich bis zum Fuße des Schafotts führen ohne Widerstand zu leisten. Doch am Fuße der Treppe warf er sich plötzlich nach links gegen den Wächter. Für einen Augenblick verloren die Männer ihn aus ihrem Griff und Mattes konnte am Schafott vorbei einige hastige Schritte tun. Dann krachte etwas auf seinen Schädel und er ging zu Boden. Benommen blieb er liegen. Auf seiner Zunge schmeckte er Blut. Weit war er nicht gekommen. Aber du hast es versucht. Das war alles was zählte. Man musste versuchen was man konnte, selbst wenn es aussichtslos erschien. Man konnte nie wissen, ob sich doch noch eine Tür auftat, durch die man ungesehen verschwinden konnte.
Die Wächter packten ihn fluchend unter den Armen und schleiften ihn zurück zum Schafott. Als sie ihn die Treppe hoch trugen schlugen seine Schienbeine schmerzhaft gegen das raue Holz. Stöhnend hob er den Kopf. Das goldene Gesicht des Henkers sah ihn reglos an. Es ist eine verdammte Maske, erinnerte sich Mattes. Mit aller Verachtung, die er in sich trug, spuckte er ihm Blut entgegen. Wenigstens wird er mich nicht makellos... Ein weitere Schlag auf seinen Hinterkopf löschte den Gedanken aus. Mattes' Sinne schwanden kurz. Als er wieder zu sich kam, kniete er. Die beiden Folterknechte hielten ihn an den Armen fest. Sein Hals lag auf kaltem Stein. So endet es nun auf dem Schafott. Mattes versuchte die Augen zu verdrehen, um den Henker zu sehen. Doch es war vergeblich. Er atmete ein und aus und ein und aus, wartete auf den Schlag, wartete darauf, dass es endlich zu ende war, atmete ein, aus, ein, aus. Sein Magen verkrampfte sich, sein Herz raste. Es dröhnte und rauschte in seinen Ohren. Sein Hinterkopf pulsierte in dumpfem Schmerz. Noch einmal nahm er alle Kraft zusammen und warf sich gegen den Griff seiner Peiniger. Er stöhnte und knurrte wie ein Wolf. Dann zuckte kurz ein Schmerz in seinem Nacken und es war vorbei.
WELVIS hob sein Schwert, drehte die Spitze nach unten und ließ das Blut herabtropfen. Der Knecht, den er gerade hingerichtet hatte, war ein hübscher Kerl gewesen. Soweit er das beurteilen konnte. Zumindest fand er das Gesicht nicht unansehnlich. Schade irgendwie. Andererseits... Menschen gibt es genug.
Spoiler anzeigen
Anmerkungen:
- Die Geschichte ist etwa 4-5 Jahre alt.
- Die zeitliche Reihenfolge der zwei Teile stimmt nicht mit der Erzählreihenfolge überein.
- Ich bin mir mittlerweile bewusste, dass die Beschreibung der Hinrichtung historisch gesehen wahrscheinlich falsch ist. Danke @Alcarinque, @Windweber und @Formorian für die erhellende Diskussion
- Inspiration für den Charakter Welvis kommt von einer Table-Top-Figur, für Mattes aus einem Lied von Cultus Ferrox.
- In der Welt, in der diese Geschichte spielt, spielen mittlerweile eigentlich fast alle meine Geschichten.