Das hier passiert eigentlich vor Kapitel Fünf, aber da ich es jetzt erst geschrieben habe, poste ich es an dieser Stelle, damit es nicht verwirrt:
Er drehte sich noch einmal um und schaute zurück, bevor er in die Gasse einbog, um sicherzugehen, dass ihm niemand folgte. Er sah den Schimmel vorbeitrotten, auf dem dieser Handlanger von Lady Sanaha saß, und lächelte, während in seinen Augen ein grausamer Schimmer funkelte. Dann zwängte er sich in das Gedränge, um unterzutauchen. Er war schon fast am Fuß der Berge angekommen, aber er musste aufpassen, dass niemand ihm folgte und so den geheimen Pfad hinauf zum alten Tempel fand. Von allen Seiten wurde er von denen angerempelt, die auf die Hauptstraße wollten, schließlich war heute Markttag und es waren mehr Stände auf dem großen Platz als gewöhnlich. Einmal rutschte ihm die Kapuze vom Kopf und er beeilte sich, sie schnell wieder aufzusetzen. Aber ein kleines Mädchen, sie durfte nicht älter als ein paar Jahre sein, hatte sein Gesicht schon gesehen. Sie fing an zu schreien und Jedan hastete schnell weiter.
Bald war er endlich an dem Zugang zum Pfad angekommen und kontrollierte vorsichtshalber noch einmal die Umgebung, bevor er in den Schatten verschwand. Die Stadtwache kannte schon den Hauptweg zum Sitz seiner Gemeinschaft, diesen hier wollte er um jeden Preis vor ihnen geheim halten. Der Weg hinauf auf die Spitze des Berges war lang, länger, als wenn er den normalen Weg genommen hätte. Aber dafür hätte er durch die ganze Stadt gemusst und dann hätte man ihn sofort verdächtigt für das, was bald geschehen würde. Er keuchte, während er sich den schlammigen, von rauen Steinen gesäumten Weg hinauf plagte. Es gab keine Stufen, also drohten ihm immer wieder die Füße unter dem Körper wegzurutschen. Vor allem sein linker Fuß, der seit einem Unfall unterhalb des Knöchels taub war. Mehrmals musste er in die scharfkantigen Felswände greifen, um Halt zu finden. Daher war seine Haut übersät von vielen kleinen Schnitten und Dreck, als er endlich oben ankam. Als er ins Tageslicht trat, musste er die Augen zusammenkneifen. Auf dem Weg durch den Berg war es so dunkel gewesen, dass seine Augen die Helligkeit nicht mehr gewohnt waren. Kein Wunder, denn er hatte mindestens eine Stunde bis ganz nach oben gebraucht.
Als er endlich wieder seine Umgebung richtig wahrnehmen konnte, sah er sich auf der großen Wiese vor dem alten Tempel um. Bei den Bruchstücken des verfallenen Turmes links von ihm spielten ein paar Kinder und weiter rechts, am Brunnen, unterhielt sich sein Schriftwahrer mit einem anderen Mitglied der Gemeinschaft. Der Wald hinter dem Tempel wirkte heute gruseliger als sonst, die große Dunkelheit in ihm schien ihn anzustarren. Aber er fürchtete sie nicht, denn sie standen auf derselben Seite. Sie waren die, die man als die dunkle Bedrohung fürchtete. Das wusste er. Aber im Grunde waren sie nicht anders als die Hohepriesterin, die ihren Glauben und ihr Leben der Göttin Iara verschrieben hatte. Sie dienten dem einen, an das sie glaubten. Als er an Sanaha dachte, wurde sein Gesichtsausdruck ernst und auf seiner Stirn bildete sich eine Zornesfalte. Sein Besuch bei ihr war nicht so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.
„Hohepriester!“ Der Schriftwahrer kam auf ihn zu, seine grüne Kutte flatterte dabei in der zugigen Bergluft. „Eurem Gesichtsausdruck nach zu urteilen habt ihr nichts erreichen können.“ Er zögerte, aber dann sprach er dennoch weiter. „Aber ich möchte in einer anderen Angelegenheit mit Euch sprechen. Der letzte Teil der Schriftrolle mit den Versen für …“
„Haltet ein“, unterbrach Jedan ihn. „Das ist nichts, was wir hier besprechen sollten. Er ging über die Wiese in Richtung des alten Tempels und der Schriftwahrer folgte ihm.
Jedan stieß die schweren, eisengegossenen Tore des Tempels auf und klopfte sich den Staub zusammen mit einigen Holzstückchen von den Händen. Die Tore und das Gebäude waren nach all den Jahren ihrer Existenz schon ziemlich marode. Das machte die düstere Atmosphäre im Inneren noch eindrucksvoller. Die Türen zu den Gebetsräumen an den Seiten der großen Haupthalle waren alle weit geöffnet und die auf vertryrisch gesprochenen Gebete drangen laut daraus hervor. Aus einem davon erreichte der hohe Gesang einer Anhängerin die Ohren des Hohepriesters. Er machte ein paar Schritte in den Raum hinein und legte seine Hände auf die Schultern der Sängerin. Sie hatte ihre Kapuze abgenommen und ihr langes braunes Haar fiel geschmeidig über ihre Schultern nach unten. Der Schriftwahrer, der ihm gefolgt war, beobachtete das Szenario von außerhalb des Raumes. Sie unterbrach ihren Gesang, als sie die Berührung spürte.
„Hohepriester“, wisperte die junge Frau und wandte sich zu ihm um.
„Elena. Verzeiht, dass ich Euch in eurem Gebet störe.“ Er winkte mit der Hand und der Schriftwahrer betrat den von dichten Weihrauchschwaden durchzogenen Raum. „Ich möchte Euch jemanden vorstellen. Das ist Schriftwahrer Ilorian.“ Die Frau, Elena, erhob sich und neigte den Kopf zur Begrüßung. Ihre schwarze Kutte fiel weit über den schlanken Körper, der sich darunter befand. Fast war sie ihr zu groß. Auch der Schriftwahrer verbeugte sich zur Begrüßung vor ihr. „Elena wird bald eine Stufe aufsteigen“, fuhr Jedan fort. „Sie hat sich von einem einfachen Mitglied zu einer wahren Vertrauten für mich entwickelt. Deswegen möchte ich sie in dieser Sache bei mir haben.“ Er reichte Elena die Hand, die sie zögerlich ergriff. „Begleitet mich in meine Gemächer, Lady Elena. Eine wichtige Angelegenheit bedarf unserer Aufmerksamkeit.“ Diese nickte stumm und ließ sich von ihm aus dem Gebetsraum hinausführen. Ihr Gesangsbuch blieb offen dort liegen und ein zusammengefaltetes Pergament flatterte heraus, als die Tür ins Schloss fiel. Es wurde unter den Türspalt geweht und ein winziges Eck davon spähte darunter hervor.
„Nun.“ Die Tür zu seinen Gemächern schloss sich und Jedan lehnte sich an die Kante seines Schreibtisches, während Lady Elena auf einem Stuhl Platz nahm. Er deutete auf den Schriftwahrer und fragte: „Worum geht es?“
„Nun, der letzte Teil der Schriftrolle, mein Herr … Er fehlt.“
„Er fehlt?“ Erbost sprang Jedan auf. „Wie kann das sein?“
„Ich weiß es nicht, Hohepriester. Als ich gestern Abend die Bestände kontrollierte, war noch alles da.“ Seine Stimme stockte kurz, dann sagte er: „Jemand muss ihn gestohlen haben.“
„Ja.“ Der Priester schlug mit der Faust vor Wut so fest auf den Tisch, dass ein Zittern durch das Holz ging. „Wir haben einen Feind in unseren Reihen. Findet ihn.“ Ehrfürchtig nickte der Schriftwahrer und schickte sich an, die Gemächer zu verlassen. Aber er wurde noch einmal durch die rohe Stimme des Höhergestellten aufgehalten. „Wagt es ja nicht, zu versagen, Schriftwahrer. Unsere Mission darf nicht scheitern.“ Der Mann schluckte, dann trat er über die Schwelle und die Tür ging mit einem lauten Knarzen hinter ihm zu.
Elena strich sich das lange Haar, dessen Strähnen beim Laufen nach vorne gefallen waren, wieder hinter die Schultern zurück und sagte: „Wenn Ihr mich nicht mehr braucht, Hohepriester … Ich würde gern mein Gebet fortsetzen.“ Sie griff zur Türklinke und wollte sie herunterdrücken, um ebenfalls zu gehen, aber Jedan eilte zu ihr und zog ihre Hand weg.
„Ihr bleibt.“ Erschrocken ließ die junge Frau die Hand sinken, während ihr Schweißperlen auf die Stirn traten. Sie beobachtete, wie der Hohepriester sich vor den Spiegel stellte, der in der linken Ecke des Raumes stand, direkt neben einem schmalen Durchgang in ein Nebenzimmer. Er legte die Kutte ab und stand nun nur noch in einer einfachen Leinenhose vor der Glasscheibe. Elena riss vor Schreck die Augen auf, als sie die Narben auf seinem Körper sah. Jedan spürte wohl ihren entsetzten Blick auf sich und drehte sich um. Er machte ein paar Schritte auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand.
„All diese Narben fügte mir Lady Sanaha vor langer Zeit zu. Als …“ Für einen kurzen Moment wurde sein Blick traurig, dann schluckte er die Gedanken daran hinunter. „Als unsere Wege sich trennten.“ Er nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Ihre Finger zitterten, als sie die Unebenheiten auf seinem Körper fühlte.
„Solch grausame Dinge hat sie Euch angetan?“
„Ja …“, flüsterte Jedan und trat noch näher an sie heran. „Aber ich hoffe, dass Ihr euch daran nicht stört.“ Er strich mit einem Finger über ihre Wange und sie wollte zurückweichen, aber er legte einen Arm um ihre Hüfte und hinderte sie daran. „Wollt Ihr euch mir verweigern, Lady Elena?“ Dann machte er ein paar Schritte von ihr weg. „Ihr werdet nicht aufsteigen, wenn Ihr euch mir verweigert.“ Er hörte, wie sie schluckte. Jedan streckte seine Hand aus und wartete, bis sie sie ergriff. Sie zitterte am ganzen Körper, aber sie nahm seine Hand. Ein verschmitztes Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes, als er sie erneut an sich zog. Er begann, die Kordeln ihrer Kutte zu lösen, und warf das Band, das sie um ihre Hüften hielt, zu Boden. Elena wagte nicht, sich zu bewegen, während er ihr die Kutte über den Kopf streifte, sodass sie nur noch das Unterkleid trug. Dieses schimmerte durchsichtig und Jedan biss sich gierig auf die Unterlippe. Die Knospen ihrer kleinen Brüste drückten sich durch den weichen Stoff und er spürte, wie sich in ihm etwas regte. Er raffte den Stoff des Unterkleides, um ihre nackte Haut berühren zu können – um ihren Körper spüren zu können. Dann nahm er ihre Hände und führte sie in das kleine Nebenzimmer, in dem sich sein Schlafgemach befand.
Lady Elena sah sich furchterregt zu der Tür um, die ihr die Flucht aus dieser schrecklichen Situation möglich gemacht hätte. Aber dann fiel auch schon die Tür zu dem Nebenzimmer zu und sie war gefangen.
Jedan schreckte auf, als es klopfte. Schnell sprang er auf und streifte sich die Leinenhose über die Hüften. Er drückte die Tür auf, die von seinem Schlafgemach in den Hauptraum seiner Gemächer führte, und zog die Kutte, die er achtlos auf den Boden geworfen hatte, wieder an. Dann öffnete er die Tür. Davor stand eines der Ratsmitglieder, mit einem Haufen Schriftrollen unter dem Arm.
„Verzeiht, Hohepriester. Ihr hattet mich heute Morgen gebeten, Euch diese Pergamente hier zu bringen.“
„Danke.“ Er nahm die Schriftrollen entgegen.
Das Ratsmitglied schaute an ihm vorbei hinein in seine Gemächer. Sein Blick schweifte über verstaubte Regale, alte Bücher, deren Einbände schon zerfleddert waren, und das Kleid, das, zu einem Haufen zusammengefallen, auf dem Holzboden lag. Skeptisch zog es eine Augenbraue hoch. Die Sonne, die sich schon bald dem Ende neigen würde, funkelte durch das gläserne Mosaikfenster mit dem Zeichen der dunklen Macht herein. Das Bild des schwarzen Reiters auf seinem Drachen erstrahlte in einem hellen Licht.
„Ist sonst noch etwas?“, fragte Jedan forsch. Er hatte wohl den skeptischen Blick des Ratsmitgliedes bemerkt.
„Verzeiht“, stotterte der Mann. „Ich wusste nicht, dass Ihr Besuch habt.“ Mit einem Kopfnicken und den Worten „Er ist unser Streben“ verschwand er wieder. Jedan murmelte: „Er ist immer da“ und schlug die Tür fest hinter dem Mann zu. Das waren die Verse, die sie zu Ehren ihres höchsten Gottes immer sagten, wenn sie sich verabschiedeten.
Jedan ging zu dem schmalen Schreibtisch vor dem Mosaikfenster und legte die Schriftrollen darauf. Er hatte sie verlangt, weil er einen Raben schicken und danach etwas darin nachlesen wollte. Das hatte er eigentlich gleich tun wollen, als er zum Tempel zurückgekommen war. Aber er hatte nicht ahnen können, dass der Schriftwahrer schlechte Kunde für ihn hatte. Jetzt, wo er wieder daran dachte, stieg die Wut in ihm wieder hoch. Erst stahl ihm ein Bruderschaftler die Botschaft, auf die er so lange gewartet hatte, und jetzt war auch noch der letzte Teil der Schriftrolle, die so wichtig für seine Mission war, verloren gegangen. Und das Schlimme war, es musste jemand aus dem Orden gewesen sein. Sonst hatte niemand zu der Bibliothek, oder überhaupt zum Tempel, Zutritt. Jemand aus seinen eigenen Reihen hatte ihn verraten. Er nahm ein kleines Tongefäß, das auf dem Schreibtisch stand, und warf es mit der ihm größtmöglichen Wucht an die Wand. Dabei brüllte er vor Wut. Er ging ein paar Mal in den Gemächern auf und ab, bis er sich beruhigt hatte. Seine Atmung beruhigte sich wieder und langsam spürte er, wie die Hitze aus seinem Körper verschwand.
Dann setzte er sich an den Schreibtisch und nahm einen kleinen Streifen Pergament zur Hand. Die Feder kratzte über das Papier, als er schrieb:
Wir haben Feinde. Die Botschaft wurde abgefangen und die Hohepriesterin weiß, dass etwas vor sich geht. Man wird mich beobachten.
Der letzte Teil der 7. Schriftrolle wurde gestohlen.
Es ist an Euch, etwas zu unternehmen.
Er lehnte sich zurück und las noch einmal den Text, den er geschrieben hatte. Er hatte ihn auf vertryrisch geschrieben, damit niemand lesen konnte, was da stand, wenn auch diese Botschaft abgefangen werden sollte. Der Einzige außer ihm, der sie lesen konnte, war der, an den sie gerichtet war. Dann rollte er das Blatt zusammen und drückte sein Siegel in heißem Wachs darauf. Als er den Stempel wegnahm, schmückte der Kopf einer Wysem mit seinem Wappen darunter die Botschaft. Er nahm die kleine Rolle und machte sich damit auf den Weg zum Rabenturm. Der Aufstieg in den Turm war alles andere als leicht. Denn obwohl es Stufen gab, musste er seinen linken Fuß immer mit Vorsicht aufsetzen. Als er irgendwann oben angekommen war, betäubte das Kreischen der vielen Raben beinahe seine Ohren. Er nahm einen Großen, der in seiner Nähe auf einer Stange saß, und band die Botschaft an eines seiner dünnen Beine. Dann trug er ihn zu einem der schmalen Fenster, die es im Turm gab und warf ihn hinaus. Das Tier sackte erst ein wenig nach unten, aber dann fing es an, mit den Flügeln zu schlagen, und krächzte freudig, als der Wind durch seine Federn streifte. Jedan lehnte sich an das dünne Fenster und schaute ihm hinterher, bis der Rabe nur noch ein kleiner Punkt am Horizont war.
Elena:
Sie blinzelte und setzte sich auf, als der Hohepriester neben ihr aufstand und das Bett verließ. Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, atmete sie erleichtert aus. Endlich musste sie seine Gesellschaft nicht länger ertragen. Es war schon widerlich genug gewesen, dass sie sich von ihm hatte anfassen lassen müssen. Schnell schwang sie ihre Beine aus dem schmalen Bett und stand auf. Sie streifte sich das Unterkleid über den Kopf, als ihr der unangenehme Geruch von Schweiß in die Nase stieg und rümpfte diese angewidert. Mit zwei Fingern zog sie ein langes, fettiges Haar von ihrer Brust und schüttelte es hastig ab. Ein ekelerregtes Würgen konnte sie gerade noch so unterdrücken. Sie würde ein langes Bad nehmen müssen, um diesen Gestank loszuwerden. Was man nicht alles tat, um zu erreichen, was man wollte …
Sie erschrak, als sie aus dem anderen Zimmer ein Knallen hörte. Jemand war dort, er war dort. Das bedeutete, dass sie nicht einfach verschwinden konnte. Sie würde einen Weg finden müssen, um an ihm vorbei zu huschen, ohne dass er sie bemerkte. Sollte sie einfach hinausgehen und so tun, als wäre nichts? Ihre Finger zitterten leicht. Was, wenn sie einfach gehen würde und er enttäuscht von ihr wäre? Dann würde sie nicht das bekommen, worauf sie schon so lange hingearbeitet hatte. Sie legte zögerlich eine Hand auf die Klinke der Tür und wollte sie gerade herunterdrücken, aber sie zog sie zurück. Nein, sie durfte es nicht riskieren. Sie würde einfach hier warten, oder? Doch die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Sie hörte, wie ein Stuhl über den Holzboden kratzte und dann, wie die Tür zufiel. Schnell öffnete sie die Tür und lugte durch einen Spalt hinaus in den Hauptraum. Er war leer. Sie eilte durch die Tür und sammelte schnell ihr Kleid vom Boden auf. Hastig streifte sie es sich über den Kopf und schnürte es nur bedürftig vorne zu. Dann beeilte sie sich, die Gemächer des Hohepriesters zu verlassen.
Ihre Schritte führten sie zu dem Gebetsraum, in dem sie ihr Buch hatte liegen lassen. Sie musste es unbedingt holen. Als sie dort ankam, stand die Tür sperrangelweit offen. Ihr Herz schlug schneller, während sie den Raum betrat. Hatte jemand es gefunden und mitgenommen? Ihr Blick wanderte zu der Gebetsbank. Es lag noch unversehrt dort. Erleichtert atmete sie auf und schlug hastig die letzte Seite auf, dort wo der Umschlag eingebettet war. Nichts, sie war leer. Panisch riss sie die Augen weit auf und suchte den Boden nach dem Zettel ab, den sie darin versteckt hatte. Wo war er? Sie hob das Polster der Gebetsbank hoch, nichts. Auch unter den schmalen Hocker war er nicht gefallen. Ihr Herz schlug jetzt vor Panik noch schneller, als sie auf dem Boden dahin kroch, um den verlorenen Zettel zu finden. Sie hatte bald alles abgesucht und sackte auf dem Boden in sich zusammen. Alle Hoffnung, das Pergament zu finden, schien schon verloren, als sie es plötzlich entdeckte. Es war unter der Tür eingeklemmt worden. Sie zog es vorsichtig darunter hervor, um es nicht zu zerreißen. Das Äußere des zusammengefalteten Papiers hatte ein paar schwarze Schlieren von der Tür abbekommen, aber sonst war es heil. Erleichtert drückte sie es an ihre Brust und stand auf. Sie griff nach ihrem verschlissenen Gebetsbuch und steckte das Papier in den Umschlag zurück.
Dann trat sie aus den großen Toren des Tempels, zu deren Ende sie durch den Nebel, der jetzt sehr tief über den Bergen hing, nicht ganz hinaufsehen konnte. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete die frische Luft, die der Nebel mit sich brachte.