Kapitel 9:
Begleitung im Dunkeln
Teil 1:
Das Erste, was Tjelvar vernahm, als er wieder zu sich kam, war die Stimme der Lyttra. Das Lied aber so leise, dass es kaum noch hörbar war. Als er die Augen öffnete, erwartete er, den Himmel Dunhavens zu sehen. Doch da war nichts. Die Dunkelheit war allgegenwärtig. Kontrastlose Schwärze umgab ihn, so dass der Horizont nicht auszumachen war. Merkwürdigerweise sah er seinen eigenen Körper. Wie war das möglich ohne Licht?
Vorsichtig versuchte Tjelvar aufzustehen. Es war ein seltsames Gefühl, wenn man nicht wusste, wo sich der Boden befand, weil alles die gleiche Farbe hatte. Doch er kam ohnehin nicht auf die Beine. Es war, als wären sie taub, oder hätten nicht genug Kraft. Er setzte sich auf, aber zu mehr war er nicht fähig.
Was war das für ein seltsamer Ort? Er erinnerte sich nur noch schemenhaft an die Lichter über Dunhaven.
Sein Schädel brummte und er hielt sich die Stirn.
Sie hatte recht, dachte Tjelvar. Serija wusste, was kommen würde. Und es hatte tatsächlich mit den Göttern zu tun. Aber das war unmöglich, er ... Wie konnte das sein? Die Lyttra musste also wirklich mit ihnen geredet haben.
Nein!
Diese Wesen sprachen nicht mit den Menschen, das wusste Tjelvar. Er glaubte es zumindest. War das nur ein Zufall? In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken und drehten sich im Kreis. Alle um eine zentrale Frage.
Wenn sie mit uns reden ... Warum helfen sie uns dann nicht?
„Wer seid Ihr?“, ertönte es hinter ihm und riss ihn aus seinen Überlegungen. „Und wo sind wir hier?“
Als Tjelvar sich umdrehte, sah er zu einem muskulösen Mann hinauf. Seine schulterlangen Haare waren nur ein wenig heller, als die Dunkelheit, die ihn umgab, weshalb er zuerst dachte, der Fremde hätte eine Glatze. Aus einem müden Gesicht heraus schaute ihn dieser weiterhin fragend an.
Tjelvar hatte aufgrund der Überraschung nicht allein zu sein fast vergessen zu antworten. „Ich ... habe keine Ahnung.“
„Keine Ahnung wer Ihr seid, oder wo wir sind?“ Der Fremde legte den Kopf schief.
„Ich habe keine Ahnung, wo wir hier sind.“ Tjelvar wollte sicherheitshalber etwas Abstand zwischen ihnen schaffen, doch seine Muskeln waren wie gelähmt.
Der Fremde hob nur seine Hand und betrachtete diese. „Ich erinnere mich, zu Bett gegangen zu sein, aber das hier ist kein Traum ... ich spüre es.“
Ja, er hatte recht. Es war schwer, zu erklären, woher diese Gewissheit kam, doch für Tjelvar gab es nicht den geringsten Zweifel, dass das hier Realität war.
„Und was ist das Letzte, an das Ihr euch erinnern könnt?“, wollte der Fremde von ihm wissen.
Immer noch halte das Lied der Lyttra in seinem Ohr und bruchstückhaft kamen ihn die Ereignisse wieder in den Sinn. „Ich war auf einem Fest. Es wurde gesungen und getanzt. Wir machten laute Musik und zum Schluss ... tauchten diese Lichter am Himmel auf ... die Seelen. Ich habe das Bewusstsein verloren.“
Der Fremde nickte. „Ihr seid also eine Kalthaut.“
Kalthaut?
Tjelvar horchte auf. „Nein, bin ich nicht. Ihr jedoch müsst aus dem Süden kommen, wenn ihr diesen Ausdruck benutzt. Nur dort habe ich diese Bezeichnung für die Dun gehört ... Wiek oder die Marschen?“
Ein Grinsen zierte das Gesicht seines Gegenübers und er hob anerkennend die Augenbrauen. „Wiek“, sagte er und nickte leicht. „Und da Ihr unsere Sprechweise kennt, denke ich, kommt Ihr ebenfalls von hier?“
„Ich habe viele Jahre dort verbracht“ erklärte er lediglich. Und vielleicht war das schon zu viel. Ob man diesem Fremden trauen konnte, musste erst noch herausgefunden werden.
„Dann sagt mir, was sucht man so weit oben im kalten Norden, wo die Modernden ihre Grabhügel verlassen haben und der Tod sprichwörtlich hinter jeder Ecke wartet?“
Wenn er ein Südländer war, dann gehörte er zu den Wenigen da unten, die an die Draugargefahr glaubten. „Ich bin nur ein Wanderer. Wollte wissen, ob die Gerüchte stimmen.“
„Sie tun es, nicht wahr?“
Tjelvar nickte. „Sie sind überall. Aus Dunhaven gibt es kein Entkommen mehr.“
Der Fremde legte die Stirn in Falten. „Dann ist es so schlimm, wie ich es befürchtet hatte. Die Stille ist auf dem Vormarsch.“
Erinnerungen an die schreckliche Schlacht von Ilrim schossen Tjelvar durch den Kopf. Als seine Heimat von den Untoten angegriffen wurde, war es die Stille, die sie begleitete. Doch über all die Jahre hatte niemand mehr diesen Zusammenhang erwähnt. Auch nicht den Nebel oder dieses ... Monster, dass Sigi auf dem Gewissen hatte. Von all dem, berichtete keiner. Es waren nur noch die Draugar selbst, die durchs Land zogen und für Angst und Schrecken sorgten. Tjelvar war sich aber sicher, dass diese Dinge zurückkehren würden. Und nun setzte dieser Mann sie wieder in einen Zusammenhang. „Was weißt du, über die Stille?“
„Die Draugar sind ihre Diener ... und erst der Anfang.“
„Da ist noch mehr, oder?“, drängte Tjelvar zu erfahren. „Der Nebel, dieses Monster und ...“ War es klug, alles so herauszuposaunen?
Möglicherweise war es schon zu spät sich diese Frage zu stellen. Der Fremde verengte seine Augen zu schlitzen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wieso seid Ihr wirklich in Dunhaven?“
Dieser Mann wusste etwas. Vielleicht konnte Tjelvar das für sich nutzen, um herauszufinden, was genau damals mit seiner Heimat passiert war. Es brodelte ohnehin in ihm, seit die Erinnerungen wieder hochkamen. „Ich will sie alle umbringen!“, war deshalb das Erste, was ihm über die Lippen kam. „Ich werde alle Draugar töten und danach das Monster suchen, dass meine Familie abgeschlachtet hat! Hier gibt es die Waffe, die mir all das ermöglichen wird.“
Die Skepsis im Blick des Fremden ließ nach und seine angespannte Haltung lockerte sich. „Ich denke, wir stehen auf derselben Seite. Auch ich suche nach einer Art ... Waffe, um die Stille aufzuhalten.“
Tjelvars Augen weiteten sich. Arn warf damals zwei dieser Artefakte auf die Welt. War er etwa auf der Suche nach dem Zweiten? „Wir folgen den Hinweisen der Vykr-Saga um eine der Waffen zu finden, die Ymirs Leid beenden sollen“, erklärte er vorsichtig. Er wusste, dass im Süden die Meeresungeheuer als Märchengestalten des Nordens galten. Aber der Fremde glaubte ihm auch, dass die Draugar Dunhaven umstellt hatten. Er war also entweder naiv, oder hatte Kenntnisse, die seinen Landsmännern fehlten. Darum wartete Tjelvar eine Reaktion ab, die sich in einem zögerlichen Nicken zeigte und fuhr dann fort. „Wir haben den Standort ausfindig machen können. Doch wir kommen nicht ran, wegen der Engstirnigkeit eines Mannes.“
„Von welcher Natur, ist diese Waffe?“
Tjelvar hob eine Augenbraue.
Wie meint er das?
„Wir glauben, dass es sich um eine Axt handeln muss. Über die Waffe des Zwergenkönigs wird meist nur als ‚summender Tod‘ berichtet.“
Der Fremde schüttelte den Kopf. „Mit einer Axt kannst du gegen Draugar kämpfen ... jedoch nicht gegen die Stille. Du kannst einen Körper in Stücke hacken, aber das ewige Schweigen durchbrichst du damit nicht. Nein, um die Stille zu bekämpfen, musst du zuerst verstehen, dass du sie nicht wirst töten können. Doch man kann sie aufhalten. In der Ebene der Tonlosigkeit ist sie absolut. Aber hier auf Ymir ... Ist sie durchzogen von einer Schwäche. Ich suche nach dem Flüstern in ihr, dass sie durchdringt und selbst den Tod überdauert. Es ist ihre größte und vielleicht einzige Kerbe, in die wir hineinschlagen können. Ich weiß nicht, ob wir sie jemals besiegen werden. Doch wir werden ihr Einhalt gebieten können. Wir werden ihren Vormarsch stoppen.“
Der Monolog des Fremden sorgte nicht gerade dafür, dass Tjelvars Kopfschmerzen nachließen. „Was meinst du? Ich verstehe nicht. Welches Flüstern?“
Sein Gegenüber schien zu überlegen und blickte für eine Zeit ins Nichts, ehe er sich wieder zu Tjelvar drehte und auf ihn hinabschaute. „Meine Nachforschungen haben ergeben, dass es in der langen Geschichte Ymirs ein paar wenige Menschen gab, die etwas in der Stille gefunden haben. Eine Art Riss, einen Zugang zu ihr. Sowie die Magier den Klang beherrschen, verfügten sie über die Macht der Stille. Doch anstatt sie zu kontrollieren, fielen sie ihr anheim. Ich versuche, nicht den gleichen Fehler wie diese Menschen zu machen ... dennoch sehe ich das Potential hinter dem, was sie gefunden hatten.“
„Das heißt, du willst die Macht hinter den Draugar studieren?“
„Ich werde sie aufhalten, ohne ihr zum Opfer zu fallen!“
Tjelvar zuckte mit den Schultern. „Und was dann? Wenn du dieses ‚Flüstern‘ gefunden hast, werden diese untoten Bastarde einfach in ihre Gräber zurückkehren?“
Der Fremde schüttelte den Kopf. „Einfach wird nichts von alldem. Doch ihr Hunger auf alles, was nur irgendeinen Laut von sich gibt, wird vergehen.“
„Sie fressen ihre Opfer nicht“, erklärte ihm Tjelvar.
„Das vielleicht nicht. Aber du kannst nicht leugnen, dass die Landstriche, über die sie hergezogen sind, nun eine Totenstille beheimaten.“
Für einen Moment kehrte Tjelvar gedanklich in seine Heimat zurück.
Die Straße, die er entlanglief, an dessen Ende der Leichnam seines Freundes wartete ... Bis zu diesem schrecklichen Fund, hatte er keinen Ton vernommen. In den Winkeln und Gassen Ilrims herrschte das ewige Schweigen, noch bevor die Draugar ihr Werk beendet hatten. Er kniff die Augen zusammen und versuchte den Schmerz, sowie die Wut in Zaum zu halten.
„Die Untoten werden bald alle Länder Ymirs überschwemmen. Und wenn wir nicht vorbereitet sind, verwandeln sie unser aller Heimat in einen Ozean der Stille.“
Der Fremde sagte dies mit einer solchen Gewissheit, als wäre es schon längst geschehen.
Wie ein Fluch, schaffte es, sein letzter Satz Tjelvars Gemüt zu wandeln. Sein Zorn wich einem Anflug von ... Angst? Er konnte es nicht genau benennen, doch ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus, da er insgeheim, die gleiche Zukunft für sie sah. Die Untoten, die diesen Winter aus ihren Gräbern stiegen, wurden von Monat zu Monat mehr. Bald wäre es unmöglich, auch nur die großen Städte Ymirs gegen sie zu verteidigen. Und selbst wenn das gelingen sollte, würde sie der Hunger dahinraffen.
Sie mussten an diese verdammte Waffe kommen! Aber hatte der Fremde recht, dann würde das allein nicht ausreichen. Doch besagte die Legende nicht, Ymirs Leid würde enden? War das nicht der Sieg, den sie anstrebten? Gab es noch etwas darüber hinaus? So oder so ...
Bilder der gewellten Klinge und ihres dunklen Trägers blitzen vor Tjelvars Augen auf.
Dieses Monster war noch da draußen und versteckte sich irgendwo. Verborgen von der Stille. Allmählich gefiel ihm der Gedanke, des Fremden. Vielleicht musste man von zwei Seiten aus angreifen. Entschlossen schaute er zu ihm herauf. „Wir werden vorbereitet sein! Ich werde mich um die Draugar kümmern und du um die Macht, die sie umgibt.“
Der Fremde nickte, doch fehlte bei ihm, anders als bei Tjelvar von Enthusiasmus jede Spur. „Leider bist du nicht der Einzige, dessen Suche ins Stocken geraten ist.“
nächster Teil ...