Nachdenklich betrachtete er die schlafende Frau vor sich. Er wusste nicht, was er tun sollte, da sie nicht den Eindruck machte, als würde sie ihn mögen. Zumindest die Hälfte von ihr, die bisher meistens mit ihr geredet hatte. Den weinerlichen Teil von ihr hatte er nur kurz erlebt. Aber konnte er ihr vertrauen? Immerhin kam sie von den Leuten, die ihn … eingesperrt hatten. Aber sie war genauso wie er von ihnen angegriffen worden. Oder war das nur ein Trick, um sein Vertrauen zu gewinnen? Nervös öffnete er seinen Kiefer. Vielleicht sollte er sie einfach fressen und alleine weitergehen. Aber er war nicht hungrig. Zudem war diese Frau interessant. Es war das erste Mal gewesen, dass sich jemand mit ihm unterhalten und Fragen beantwortet hatte. Irgendwie wollte er das nicht verlieren. Er schloss den Mund wieder und musterte Emilia, die plötzlich ihre braunen Augen öffnete.
Erschrocken schrie die junge Frau auf. „Es war kein Traum!“, rief sie und wich von ihm zurück.
Schweigend sah er sie einen Moment an. Er wusste, was ein Traum war, er hatte des öfteren die seltsamen Bilder in den wenigen Stunden seines Schlafes gesehen. „Der Wind ist vorbei“, teilte er ihr dann mit und hoffte, sie würde sich etwas beruhigen. Er erntete eine ungläubigen Blick.
„Wind?“, hakte sie nach, woraufhin er sich erinnerte, dass die braunen Augen zu der weinerlichen Hälfte Emilias gehörten. Knapp erklärte er ihr warum sie dort im Auto saßen.
Emilia nickt kurz und atmete durch. „Wie weit sind wir gekommen?“, fragte sie dann.
Er konnte es ihr nicht genau sagen. Lediglich anhand der zerstörten Gebäude konnte er grob die Entfernung abschätzen, aber durch seine lebenslange Gefangenschaft, hatte er so seine Probleme damit. „Einen Tag sind wir gelaufen. In Richtung der hohen Gebäude.“
Noch einmal nickte sie und schlug vor, weiterzugehen.
Er musterte sie kurz. Sie wirkte nicht, als wäre sie dazu ohne weiteres in der Lage. Sie war blass und sah erschöpft aus. „Schaffst du das?“, fragte er daher.
Bestimmt nickte sie erneut. „Ich muss!“, meinte sie und deutete auf die Tür.
Er stieß sie auf und kletterte aus dem Fahrzeug. Der Sturm hatte die Landschaft mit einer weiteren Schicht Sand bedeckt, sodass es ihm ohne die Gebäude in der Ferne schwer gefallen wäre, sich zu orientieren.
„Warum musst du?“, erkundigte er sich bei Emilia, die gerade aus dem Auto stieg.
„Wenn ich nichts zu trinken finden kann, dann ... sterbe ich irgendwann.“
Er brummte und überlegte, was die andere Emilia ihm erzählt hatte, was sie trinken würde. „So ein Bier?“, schlug er vor, ein bisschen stolz darauf, es behalten zu haben.
„Kein Bier. Dadurch verliert man mehr Flüssigkeit als man gewinnt. Wasser!“
„Wasser“, bestätigte er und sah sich um. „Bei den Häusern?“ Er deutete zu den Gerippen der Wolkenkratzer in der Ferne.
„Ja, nur ...“, sie folgte seinem Blick und musterte die Umgebung. „Hier werden sich überall Müllsammler herumtreiben. Vermutlich wurden die Gebäude bereits vollkommen ausgeräumt.“
„Sehen wir nach“, meinte er und lief los. Stehenzubleiben war auch keine Lösung und vielleicht fanden sie ja doch etwas nützliches. Die Sonne brannte auf ihn herunter. Der alte Pullover schützte ihn etwas, aber die Hitze unter der Kapuze machte ihm zu schaffen. Er keuchte hörbar.
„Geht es dir gut?“, fragte Emilia und lief ihm hinterher. Als er sich umdrehte, blickte sie ihn unsicher an. Immer wieder ließ sie den Blick in die Umgebung schweifen, als suchte sie nach etwas.
„Warm“, grummelte er als Antwort und rieb sich über die brennenden Handrücken, die der Sonne schutzlos ausgeliefert waren. Er musste mehr darauf achten, sie im Schatten zu halten. „Suchst du etwas?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte nur nicht überfallen werden.“
Misstrauisch musterte er sie. „Von mir?“ Immerhin war sonst niemand da. Er hatte nicht vor, sie zu jagen und war der Meinung, er hätte dies deutlich gemacht. Er folgte ihrem Blick, doch die Sonne war zu grell um seinen Augen eine klare Sicht zu ermöglichen. Er sah nur Sand und verschwommene Umrisse von alten Häusern und Fahrzeugen.
„Da du mich im Schlaf nicht gefressen hast, eher weniger von dir“, erläuterte Emilia. „Aber diese Müllsammler sind häufig … fiese Gesellen. Kriminelle.“
Er wusste nicht genau, was ein Krimineller war, aber er ging davon aus, dass es nichts gutes war. Dennoch wollte er es genau wissen und fragte nach, was die Müllsammler taten.
„Überfallen Leute, von denen sie denken, sie tragen Nützliches herum“, erklärte sie. „Nicht alle sind so, wirklich ... aber einige. Nach so einem Sturm bietet es sich an, nach Festgefahrenen zu suchen.“
Nickend wandte er sich wieder um. „Meine Kapuze bekommen sie nicht.“ Viel nützlicheres konnte er sich nicht vorstellen. Er stapfte weiter in Richtung der Wolkenkratzer. Dort gab es sicherlich Schatten!
Emilias Lachen unterbrach seine Gedanken. Erneut wandte er sich zu ihr um und musterte sie laut lachende Frau verwundert.
„Deine Kapuze ...“, japste sie, während sie Luft holte.
„Was ist damit?“, fragte er verwirrt. Er fasste sich an den Kopf und presste den Stoff an seine empfindliche Haut.
„So etwas interessiert sie nicht“, erklärte Emilia und deutete dann auf die Spritzen an ihrem Gürtel. „Das schon mehr. Meine Injektionen würden sie für wahrscheinlich für Drogen oder Medizin halten.“ Der Anblick der Spritzen sorgte für ein flaues Gefühl in seinem Magen. „Mal abgesehen davon, dass dieser Kampfanzug einiges an Geld auf dem Schwarzmarkt bringt“, fuhr sie fort. „Wobei er mich gerade mehr kocht als beschützt.“
„Dann zieh ihn aus“, schlug er vor. Wenn der Schaden größer war als der Schutz, gab es keinen Grund, das Kleidungsstück anzulassen. Er selbst hatte schnell gelernt, dass seine Haut in der Sonne verbrannte und die Hitze unter der Kaputze dem vorzuziehen war.
„Sehr lustig“, entgegnete sie mit einem seltsamen Tonfall.
„Lustig?“, hakte er nach. Er wollte keinen Scherz machen und fragte sich, was sie an seiner Aussage zum Lachen fand.
„Halb nackt möchte ich Sammlern noch weniger über den Weg laufen“, meinte sie, nachdem sie ihn einen Moment skeptisch gemustert hatte.
„Macht das einen Unterschied?“, wollte er wissen. „Dann können sie dir den Anzug nicht mehr stehlen.“
„Ja!“, rief sie energisch, woraufhin er überrascht zusammenzuckte. Damit hatte er nicht gerechnet. „Also ja“, fuhr sie daraufhin ruhiger fort. „Es gibt Menschen, die andere Menschen zu gewissen ... Sachen zwingen. So wie dich in deiner Gefangenschaft. Bei Frauen ist es ... was anderes. Viel Haut zu zeigen, suggeriert Männern, dass eine Frau leicht zu haben ist. Ich lasse demnach den Anzug an ... und wenn ich deshalb draufgehe ...“
Verstehend nickte er. „Dann töten wir sie“, verkündete er wie nebenbei. Während seiner Zeit in den Laboren hatte er nur selten die Gelegenheit gehabt, sich gegen die Männer und Frauen, die ihm Dinge antaten zu wehren. Doch wenn es ihm gelang, fühlte er sich gut. Daher hatte er keine Scheu, Angreifer auszulöschen.
„Töten … klingt irgendwie tödlich“, entgegnete Emilia. „Aber vielleicht sind die Menschen hier draußen auch gang nett. Dann ... muss niemand gegessen werden.“
„Klingt nicht so“, stellte er fest.
Endlich erreichten sie den Schatten des Wolkenkratzers. Die brennende Hitze schwand etwas und die Straßenschluchten taten sich vor ihnen auf. In einigem Abstand standen zwei Männer neben einem Autowrack und schienen es zu durchsuchen.
„Vielleicht sollte ich lieber Hyde holen ...“, murmelte Emilia, aber er schüttelte den Kopf.
„Nein!“ er mochte die weinerliche Seite der jungen Frau lieber. Sie war nett.
„Sollen wir uns verstecken?“, wollte sie wissen und akzeptierte seinen Einwand scheinbar widerstandslos.
Er sah die alten Gebäude hinauf. Sie boten genügend Halt, um daran emporzuklettern. Von dort oben hätte er einen hervorragenden Ausblick und Angriffspunkt auf die Sammler. Zudem würden sie dort sicherlich nicht nach ihm Ausschau halten. Er brummte nachdenklich. „Sind die beiden … Kriminelle?“
„D... Das weiß ich nicht“, gab Emilia zu. „Das weiß man erst, wenn es meist zu spät ist.“
„Dann geh sie fragen“, wies er sie an. Noch einmal blickte er das Stahlbetongerippe hinauf. „Ich schaue von oben zu.“
Emila lachte unsicher. „Das ist ein Scherz?!“, meinte sie leise und warf einen Blick zu den Sammlern.
Er schüttelte den Kopf und suchte mit den Krallen halt im Beton. „Wenn sie dich angreifen, helfe ich dir.“
„O... Okay“, stimmte sie zögerlich zu, während er begann, sich an der Mauer hochzuziehen. „Muss ich dazu schreien oder ein Saveword äußern?“
Er wusste nicht genau, was sie meinte, versicherte ihr aber, einen Schrei als Zeichen zu erkennen.
Zögerlich ging Emilia auf die beiden Männer zu. Immer wieder blieb sie stehen und murmelte vor sich hin. Sie schien es nicht eilig zu haben.
Er hingegen kletterte Rasch das Gebäude hoch. Auf Höhe des dritten Stocks näherte er sich den Sammlern. Als er neben ihnen stand hielt er inne und wartete. Er merkte, dass Emilia immer wieder zu ihm blickte, doch er fixierte sich auf die Männer. Sie waren in Sprungweite.
Plötzlich hob einer der beiden den Kopf und starrte Emilia an. Sein Gesicht war unter einem dreieckigen Tuch verborgen und eine dreckige Baseball-Mütze sollte ihn wohl vor der Sonne schützen. “Wen haben wir denn da?”, meinte er zu Emilia und stieß seinen Kameraden an.
Auch dieser hob seinen Kopf. Er trug eine eng anliegende Brille und ebenso ein Tuch über dem Mund.
„E... Entschuldigt ... Ich habe mich verlaufen und suche eine nahegelegene Siedlung“, erzählte Emilia, woraufhin der mit der Mütze nur lachte.
„Soso“, antwortete der andere und schob sich die Brille zurecht. „Eine Siedlung sucht sie.“
Der erste näherte sich ihr und erinnerte an ein Raubtier. „Was macht so eine Hübsche denn ganz alleine im Ödland? Das ist gefährlich!“
Emilia lachte verunsichert und machte einen Schritt zurück. „Ich hab wohl den letzten Bus verpasst, wie es aussieht.“
„Um etwa hundertfünfzig Jahre ...“, murmelte der mit der Brille und ging ebenso auf sie zu. Bald standen sie beide neben ihr und packten ihre Arme. „Mal sehen, was du bereit bist, für die Informationen zu bezahlen!“
Der Schatten auf der Mauer musterte ihr Vorgehen. Er versuchte sich einzuprägen, was sie taten und ob dieses Verhalten von Emilia als angemessen aufgefasst wurde. Auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass die grobe Behandlung Zuspruch finden würde – aber er wusste nicht viel von Menschen.
„Bitte macht das nicht“, versuchte Emilia die beiden von ihrem Vorhaben abzubringen. „Ich möchte nicht, dass jemand verletzt wird.“
„Bist du bewaffnet?“, fragte der mit der Mütze und zog den Reißverschluss ihres Anzugs auf.
Der andere zog ein Messer und hielt es ihr vor die Nase. „Die einzige, die hier verletzt wird, bist du!“, verkündete er. „Also halt's Maul und mach, was wir sagen.“
C öffnete mehrmals aufgeregt seinen Kiefer. Es klang nicht wie ein freundliches Gespräch und selbst ihm wurde klar, dass die beiden Emilie zu etwas zwingen wollten. Zu was genau wusste er nicht, aber er erkannte den Befehlston. Doch noch wartete er ab.
„C?!“, rief Emilia mit unterdrückter Panik in der Stimme. „Jetzt wäre etwas Hilfe gut!“ Sie versuchte, sich aus dem Griff der beiden Kriminellen zu winden, die weiter an ihrer Kleidung zerrten.
„C? Was redet das Weib?!“
„Keine Ahnung.“ Der Brillenträger sah sich um, achtete aber nicht auf den in der Höhe sitzenden C. „Hier ist keiner.“ Er wandte sich wieder an Emilia und hielt ihr das Messer an den Hals. Erneut schrie er sie an, sie solle still sein.
Emilia rief noch einmal nach C, während der mit der Mütze einige Schritte von ihr weg machte und die Umgebung untersuchte.
Dieser erkannte ihren Ruf als Schrei und spannte seine Muskeln zum Sprung. Mit einem gewaltigen Satz stieß er sich von der Wand ab und landete auf dem überraschten Mann. Er spürte die Knochen seiner Beute brechen und ein markerschütternder Schrei hallte durch die Häuserschlucht. Noch ehe der mit dem Messer sich umdrehen konnte, hatte C schon beide Hände des Verwundeten in seinen kräftigen Händen fixiert. Mit einer fließenden Bewegung ließ er seine lange Zunge vorschnellen und rammte sie dem panischen Mann in die Kehle. Der Schrei verkam zu einem Gurgeln und ein weiterer Angriff mit der harten Spitze der Zunge gegen seinen Schädel ließ ihn verstummen. C knurrte und fixierte dann den anderen Mann.
„Was zur Hölle …!“, keifte dieser und schlug mit dem Messer in seine Richtung, als er auf ihn zustürmte.
C spürte die Klinge, die ihn am Unterarm verletzte, aber sein massiger Körper rammte den Mann zu Boden. Mit einem schnellen Griff drehte C ruckartig den Kopf des Brillenträgers, bis er das unschöne Knacken der Wirbel vernahm und seine Beute schlagartig verstummte und erschlaffte.
Er atmete kurz durch und stand dann auf. Mit noch immer offenem Kiefer wandte er sich an Emilia und wollte sehen, ob sie in Ordnung war.
Die junge Frau starrte ihn nur an. Sie war blass und wankte leicht, ehe sie einfach umfiel.
C eilte zu ihr. Verwirrt musterte er sie. Deutlich sah er das Heben und Senken ihres Brustkorbs durch den geöffneten Reißverschluss. Da er keine Verletzung erkennen konnte, ging er davon aus, dass sie wieder aufwachen würde. Er selbst erinnerte sich an Momente während Untersuchungen, als er das Bewusstsein verloren hatte. Er war immerhin auch immer wieder aufgewacht.
Schnell überprüfte er die Rucksäcke der Sammler und beschloss, sie mitzunehmen. Emilia würde schon wissen, was sie davon gebrauchen konnten.
Er betrachtete die beiden toten Männer und kam zu dem Schluss, dass er seine Beute nicht verschwenden wollte. Wer wusste schon, wann er wieder etwas zu essen fand.