Beiträge von LadyK im Thema „Seemannsgarn“

    Die Revenge lag ruhig im Wasser, weshalb Esther sich dazu entschieden hatte, mit dem Rücken an der Wand gelehnt und auf einer Kiste sitzend, das Buch zu studieren, welches Edmund und Nelli von Thomas Schiff entwendet hatten. Zwar war es nicht ihr Eigentum, aber es gehörte niemanden hier so richtig und sie bezweifelte, dass Edmund oder Trevor viel von Magie verstanden. Bei Nelli war sie sich nicht so sicher. Außerdem hatte bislang niemand Einwände dagegen erhoben, dass Esther das Buch in ihren Besitz genommen hatte.

    Die Lektüre musste eine Menge Wert sein für Thomas, denn es war voll von Randnotizen und eigenen Kreationen von Sprüchen. Einige davon konnte sie sicher einmal ausprobieren. Wie schon zuvor bei der Herstellung des Duplikats der Truhe begegnete ihr auch jetzt hin und wieder die andere, saubere Handschrift, die winzige Hinweise hinterließ. Wie sie bereits beim Öffnen der Kiste festgestellt hatte, waren hier zwei Magier am Werk gewesen.

    Was in vielerlei Hinsicht schlecht für sie war. Thomas allein reichte schon, um die Revenge und ihre Besatzung in Fischfutter zu verwandeln. Sie vermochte sich gar nicht festzustellen, was er mit einem Partner unternahm.

    Das ließ in ihr den Gedanken aufkeimen, dass sie sich schnell magische Hilfe holen sollten. Auf kurz oder lang würde Thomas die Verfolgung aufnehmen. Spätestens wenn er ihre Finte bemerkte.

    Entweder heuerten sie einen weiteren Magier an oder Esther begann damit, ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten, zu festigen und zu stärken. So, wie Trevor es vorgeschlagen hatte. Gerade, als sie beschloss, den Gedanken mit den anderen zu teilen, breitete sich ein Schatten über die Buchseiten aus.

    „Ich hätte nicht gedacht, dass du lesen kannst“, sprach Cecilia sie mit ihrer glockenhellen Stimme an.

    Esther sah auf und musterte die Jüngere. Die Prinzessin trug nach wie vor ihr langes Gewand und schützte sich zusätzlich mit einem Schirmchen vor der Sonne. Wo auch immer sie dieses lächerliche Teil herhatte.

    „Wie bitte?“

    Cecilia strich sich in einer bedachten Bewegung eine ihrer goldenen Locken über die Schulter und reckte das Kinn ein wenig. Zugegeben, ihre korrekte Haltung war beneidenswert.

    „Ich habe nicht viele Bedienstete gesehen, die lesen können“, stellte Cecilia fest. „Hat Edmund es dich gelehrt?“

    Bedienstete? Beinahe hätte Esther laut aufgelacht. Sie überlegte einen Moment, ob sie darauf antworten wollte, schlug dann das Buch zu und erhob sich. Neben der Prinzessin musste sie aussehen, wie eine gewöhnliche Magd mit ihren lose zusammengesteckten Haaren, dem einfachen Hemd und dem knöchellangen Rock.

    „Da fällt mir ein, dass ich bisher keine Gelegenheit hatte, mich vernünftig vorzustellen“, begann Esther. Und natürlich hatte sie dafür genügend Zeit gehabt, sie wollte bisher aber nicht. Doch sie würde sich von Cecilia sicher nicht herabsetzen lassen. „Gräfin Esther Ottilia von Silberberg“, sagte sie und neigte höflich den Kopf, was Cecilia kurz die Stirn kraus ziehen ließ.

    Sieh an, das perfekte Gesicht zeigt doch Falten.

    Zwar war ihr eigener Rang niedriger als der einer Prinzessin, dennoch dürfte das bei Cecilia für Respekt sorgen. Und tatsächlich neigte diese ebenfalls, wenn auch nur aus gebotener Höflichkeit, den Kopf und lächelte weiter.

    Dann hätten wir das geklärt. „Entschuldigt mich“, meinte Esther und wollte sich entfernen, da hielt Cecilia sie noch einmal auf.

    „Man sagt, Silberberg sei sehr schön, aber auch ziemlich … bäuerlich.“

    Noch immer trug die Prinzessin das Lächeln auf den Lippen.

    „Es leben viele gute und hart arbeitende Menschen dort“, bestätigte sie die vergleichsweise bescheidenen Verhältnisse in Silberberg. Allerdings hatte Esther selbst nie das Gefühl gehabt, bäuerlich zu leben. Oder ihr war es nie selbst aufgefallen. Oder aber ihr war es schlicht egal.

    Cecilia brauchte ihr nicht zu sagen, wie sehr sie dieser Gedanke befremdete, Esther konnte es in ihrem Gesicht sehen.

    Unweigerlich dachte Esther daran, wie oft sie den einfachen Menschen in Silberberg mit ihren magischen Fähigkeiten geholfen hatte. Und dass sie dafür nie auch nur eine Münze verlangt hatte. Es reichte ihr, zu wissen, dass sie damit die Arbeit etwas erleichterte.

    Wie schwer war es für die Menschen jetzt, wo sie nicht zuhause war?

    Diese Frage trübte ihre Gedanken, weshalb sie unweigerlich das Oberdeck verlassen wollte. Weg von Cecilias makelloser Gestalt, die Esther nur vor Augen führte, was sie eben nicht war.

    Sie hatte ihre Heimat verlassen, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, was sie hinterließ. Ihren Vater hatte sie dazu gezwungen, Silberberg wochenlang ohne Herren zurückzulassen, weil sie einfach fortgegangen war. Sie lief herum wie irgendein billiges Thekenmädchen und vergrub sich in ihrem naiven Denken, eine der besten Magierinnen zu werden, in die Notizen eines Wahnsinnigen, obwohl sie eine Verantwortung hatte.

    „Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt.“ Dieses Mal gab sie Cecilia nicht die Zeit, sie erneut aufzuhalten.

    Auf dem Weg nach unten konnte Esther aus dem Augenwinkel sehen, wie Edmund einen Teller mit frischem Obst zu Cecilia brachte. Ihr glockenhelles Kichern floh über das Deck.

    Kurz erwog sie den Gedanken, bei Trevor oder Nelli Gesellschaft zu suchen, entschied sich letztendlich aber dagegen und verkroch sich stattdessen in die hinterste Ecke ihrer Kabine. Erneut schlug sie das Buch auf und las weiter. Für sie gab es mehr Probleme als Cecilia, nämlich einen Zerstörer, der ihnen womöglich dicht auf den Versen war.

    Ihr Blick streifte die Kiste mitsamt Fernrohr und Horn. Allgemein hatte man beschlossen, dass die beiden Relikte zunächst in ihrer Nähe bleiben sollten.

    Eine ziemlich lange Zeit verging, als Esther in dem Buch plötzlich auf eine Sammlung der Relikte stieß. Acht Gegenstände unterschiedlicher Art waren mit ihren Eigenschaften und Kräfte beschrieben. Daneben gab es eine kleine Zeichnung.

    Sie entdeckte das Fernrohr und auch das Horn von Kelton, welches – laut Erklärung – wenn man hineinblies, einen so starken magischen Stoß erzeugte, der ganze Städte in Ruinen verwandeln konnte.

    Sie ging neugierig die Zeichnungen durch und stockte im nächsten Augenblick. Wie erstarrt hockte sie da und erst wenig später sprang sie auf und kramte in ihren Sachen, bis sie den Stein fand, den ihr Trevor ziemlich am Anfang ihrer Reise geschenkt hatte. Gerade einmal so groß wie ihre geballte Hand hatte er bei der Meuterei noch in ihren Beutel gepasst. Zusammen mit Edmunds Magiesteinen, die sie seither nicht noch einmal angefasst hatte.

    Sie hob den Stein von Trevor etwas an und hielt das Buch mit der Zeichnung daneben.

    „Das Auge von Zydderfon“, flüsterte sie. Oder besser gesagt Zyredon, wie es eigentlich hieß.

    Das bedeutete, dass sich bereits drei der acht Relikte auf diesem Schiff befanden.

    Das waren drei Gründe mehr für Thomas, sie in Asche zu verwandeln.

    Wie Esther hier saß und die Zeichen von der Kiste auf das Stück Seife duplizierte, kam sie sich vor wie eine Alchemistin. Da die Seife um einiges kleiner als die Kiste war, hatte sie sich ein Vergrößerungsglas ans Auge geklemmt und übertrug nun hochkonzentriert die einzelnen Zeichen und benetzte sie anschließend mit dem entsprechenden Zauber. Wenn die anderen sie jetzt beobachten könnten, hätten sie sie sicher für bekloppt erklärt oder ihr anerkennend auf die Schulter geklopft. Je nachdem, wer sie beobachtete …

    Angespannt lehnte sie sich zurück. Ihre Schulter schmerzte, obwohl Nelli sich große Mühe gegeben hatte. Das Angebot von schmerzlindernden Mitteln hatte Esther ablehnen müssen. Zu groß waren die Bedenken, sich dadurch nicht mehr konzentrieren zu können. Im Nachhinein waren die Schmerzen allerdings nicht besser geeignet gewesen.

    Sie nahm das Vergrößerungsglas ab, legte die feine Nadel beiseite und rieb sich die müden Augen.

    Wenn sie das erledigt hatten, musste sie unbedingt etwas schlafen.

    Sie schlug das Stück Seife mehrmals ein … nur für den Fall. Ob das dabei half, dass Trevor die Magie nicht so stark wahrnahm, wusste sie nicht, aber der Versuch schadete nicht.

    Anschließend verstaute sie es noch einmal in einen Reisesack. Sie verzichtete aber darauf, ihn sich um die Schulter zu legen. Die Verletzung dankte ihr das sicher.

    Hadernd begutachtete sie den Beutel. Auch wenn sie den Vorschlag eines Duplikates gut fand und auch die Idee mit der Seife eine gewisse Belustigung in ihr hervorrief, wollte sie sich nicht ausmalen, was geschah, wenn Thomas hinter alle dem kam. Aber daran durfte sie nicht denken, ihr Überleben hing quasi von dem Stück Seife ab.

    Als sie auf dem Oberdeck ankam, blinzelte sie. Erschreckend, wie schnell die Zeit davongerannt war. Immerhin berührte die Sonne bereits den Horizont und der Himmel war betupft mit rot schimmernden Wolken.

    Trotz des hereingebrochenen Abends arbeiteten die Handwerker weiter, als würden sie den Zeitdruck der Schiffsherren bemerken.

    Unweit des Mastes sah Esther, wie Edmund und Trevor mit einem der Handwerker sprach, während Nelli auf einem Fass hockte und scheinbar in die Leere starrte. Mittlerweile kannte sie die Hexe gut genug, um zu wissen, dass dem nicht so war.

    Esther ging auf Trevor und Edmund zu, während der Handwerker sich wieder seiner Arbeit widmete, worin auch immer diese bestand.

    „Ich bin fertig“, sagte sie und schob den Reisesack etwas nach vorn, damit die beiden Männer ihn besser sehen konnten.

    „Gut, dann sollten wir zusehen, dass wir das Teil schnell loswerden“, meinte Trevor und runzelte die Stirn.

    Esther nickte schnell. „Deshalb würde ich vorschlagen, dass ich mich gleich auf den Weg mache.“

    „Ich werde hier bleiben“, mischte sich Nelli plötzlich ein. Hatte sie eben nicht noch auf dem Fass gesessen? „Vermutlich würde ich euch sowieso nur im Weg stehen.“

    Esther wollte das Wort erheben, weil sie eigentlich niemanden darum bitten wollten, sie zu begleiten. Wofür auch? Ein Stück Seife auf einen Karren werfen, schaffte sie auch allein.

    „Dann komme ich mit dir mit, Esther“, beschloss Trevor, nachdem Edmund bekundet hatte, ebenfalls auf dem Schiff zu bleiben und bevor Esther überhaupt ihre nächsten Worte wählen konnte.

    Komisch. Sollte Trevor nicht das Schiff hüten wegen seiner Verletzung? Aber möglicherweise wollte der Formwandler sie nur nicht alleine gehen lassen. Edmund schien von ihrem letzten gemeinsamen … Ausflug jedenfalls noch geheilt zu sein und verdenken konnte Esther es ihm nicht.

    „In Ordnung.“ Sie nickte Trevor zu, der ihr die Tasche abnehmen wollte, woraufhin sie schnell einen Schritt zurückwich. „Das sollte lieber ich tragen. Es steckt voll mit Magie, aber keine Sorge, das kleine Stück Seife ist nicht schwer“, sagte sie lächelnd, als sie Trevors entgeistertem Blick begegnete.

    Es dauerte nicht allzu lang, bis sie die am Hafen angrenzende Stadt erreichten. Währenddessen schwiegen sie zumeist, bis auf kleine Banalitäten. Immer wieder blickte Trevor sich unauffällig um und zu gerne hätte Esther einen Schutzzauber um sie herumgezogen, doch ihre Sorge, den Formwandler dabei zu verletzen, war zu groß. Obwohl er sich schon einige Male innerhalb ihrer Barriere aufgehalten hatte, hieß das nicht, dass er dadurch keinen Schaden genommen hatte. Sie würde das nicht riskieren. Ob es eine Möglichkeit gab, ihn gegen ihre Magie immun zu machen? So oder so. „Trevor, hör mal“, begann sie, obwohl sie nicht einmal genau wusste, was sie zu ihm sagen wollte, „wir beide wissen ja jetzt um deine Schwäche. Und … ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich auf dich aufpassen werde … Was meine Magie betrifft und die eines fremden Magiers. Ich werde nicht zulassen, dass dich Nekromanten oder Magier wie Thomas in die Finger bekommen.“

    Ach. Und wie willst du das anstellen? Neben Thomas wirkt deine Magie wie ein Fliegenschiss.

    Und als wären ihre Selbstzweifel nicht schon genug, lachte Trevor leise und schüttelte ungläubig wirkend den Kopf.

    Ja, ich traue mir das selber auch nicht zu. Warum sollten es also andere tun?

    Aber wieso eigentlich nicht? Schwach war sie keinesfalls.

    „Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte sie harscher als beabsichtigt. Aber auch nur, um sich ihre eigenen Gedanken nicht anmerken zu lassen. Im nächsten Moment tat ihr das schon etwas leid, Trevor so angefahren zu haben.

    Mit einem Mal schnellte er vor, stellte sich recht dicht vor sie und sah auf sie herab.

    Vor Schreck sprang ihr Herz beinahe aus der Brust und sie konnte in dem Moment nichts anderes tun, als zurückzustarren.

    „Wenn mich ein Magier in die Hände bekommt, egal für was, wirst du nicht versuchen, mich zu retten. Du wirst rennen! Hast du mich verstanden?!“ Obwohl seine Stimme ruhig war, konnte sie den Druck dahinter spüren.

    Und das war der Moment, in dem sie sich vornahm, einen Weg zu finden, ihn zu befreien. Auch wenn sie diesen vermutlich nie entdecken würde, aber sie wollte es versuchen.

    Sie schüttelte langsam den Kopf. „Egal, was passiert, ich werde nicht weichen.“

    „Du kannst gerne gegen Magier kämpfen, wenn dir danach ist, aber nicht wegen mir dein Leben in Gefahr bringen. So viel bin ich nicht wert, nicht im Vergleich zu einer Gräfin.“

    Esther wich ein kleines Stück zurück. „Grundgütiger! Würdet ihr alle vielleicht mal aufhören, mich zu bevormunden?! Ich wusste von Anfang an, dass die Reise gefährlich wird und auf dem Weg hierher hat jeder von uns sicher schon dreimal sein Leben riskiert. Oder sogar noch öfter. Und wenn ich meine, deinen Kopf aus der Schlinge ziehen zu müssen, dann ist das meine Entscheidung. Denn du bist mein Freund und tausendmal mehr wert als irgendein Titel, der im Grunde nichts bedeutet, weil ich ohnehin eine Frau bin.“

    „Ich bevormunde dich nicht“, hielt Trevor dagegen. „Ich bitte dich darum eindringlich, weil mein Leben genug Leichen pflastern. Auf die Leichen meiner Freunde würde ich dabei gerne verzichten ...“ Er grinste. „Auch, weil du eine Frau bist."

    Esther sah ihn daraufhin eine Weile schweigend an. Was sollte sie dazu sagen? Er konnte sie nicht dazu bringen, ihn einfach irgendwo zurückzulassen, egal, wie gefährlich es für sie werden konnte. Und sie wusste, dass er ihr genauso wenig den Rücken kehren würde. „Dann sollten wir uns darum bemühen, dass keine weiteren Leichen dazukommen“, meinte sie, als wäre das in ihrer Situation das Leichteste der Welt. Immerhin klebte ihnen einer der gefährlichsten Magier im Nacken, der scheinbar gemeinsame Sache mit Armod machte und die zusammen nach den magischen Relikten suchten. Das war doch ein Spaziergang!

    Innerlich zerriss sie der Gedanke daran, sollte Thomas ihre Finte bemerken. Dass das unweigerlich passierte, wusste sie. Sie selbst war zweifelsohne eine gute Magierin, aber Thomas gehörte zu einer anderen Sorte. Seine Art, Magie zu wirken, ließ sich kaum erklären, so unterschiedlich und unberechenbar war sie.

    „Wenn ... sollten es die Leichen anderer sein. Damit kann ich leben.“, riss Trevor sie plötzlich aus ihren Gedanken und sie blickte in sein schelmisch grinsendes Gesicht.

    Sie schauderte kurz. Es war für sie schwer zu begreifen, wie man so etwas verkraften konnte. Ein Leben zu nehmen, war ein schweres Vergehen. Dennoch verurteilte Esther Trevor dafür nicht. Merkwürdigerweise beruhigte sie es, dass Trevor so etwas ohne mit der Wimper zu zucken, übernahm. Und nach Nellis Geschichte über die Formwandler verstand sie nun ein wenig mehr, aber immer noch nicht genug.

    „Gut“, nahm sie das Gespräch wieder auf, bevor die Stille unangenehm zu werden drohte. „Ich hatte jetzt auch, um ehrlich zu sein, nicht damit gerechnet, dass dir das schlaflose Nächte bereitet.“ Obwohl …Ihre Neugier siegte. „Hat es das mal? Dir den Schlaf geraubt?“ Sie ging an ihm vorbei und schaute über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass er zu ihr aufschloss.

    „Am Anfang vielleicht.“ Er zuckte die Schultern. „Man fragt sich, ob das Gegenüber, das man tötet, Familie hat. Kinder, eine Frau, aber das gewöhnt man sich ab, wenn jemand dir keine Wahl lässt.“

    Sie nickte leicht. Das klang logisch. Trotzdem blieb der bittere Beigeschmack. Wäre sie dazu in der Lage, ein Leben einfach zu beenden? „Das mag naiv klingen, aber ich hoffe, dass wir zukünftig immer eine andere Wahl haben werden.“ Sie lächelte etwas unbeholfen, um ihre Nervosität herunterzuspielen.

    „Das klingt naiv, aber hoffen darfst du es trotzdem.“

    Nun wurde ihr Lächeln etwas echter, auch wenn seine Worte sie nicht annährend erleichterten.

    Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, deutete Trevor mit dem Kinn nach vorne. „Scheint, als würde der Karren noch heute Nacht aufbrechen.“

    Esther kniff die Augen zusammen und folgte Trevors Geste. Und tatsächlich wirkte es so, als würden die Männer ringsum noch Ladung draufpacken. Einer zog die Riemen des Zaumzeugs der Pferde fester. Wieso machte sich jemand noch so spät ab Abend auf den Weg und reiste über Nacht? Aber eigentlich konnte es ihnen auch egal sein, die Hauptsache war, dass sie Thomas auf Abstand brachten.

    „Das wäre unsere Gelegenheit“, flüsterte sie, woraufhin Trevor nickte.

    Normalerweise hätte sie jetzt dem Formwandler das Verstecken überlassen, aber aufgrund der Magie hielt sie es für besser, dass sie das übernahm.

    Trevor stimmte dem zu, wenn auch sichtlich widerwillig. Ob das nun daran lag, dass Esther mit solcherlei Dingen keine Erfahrung hatte und Trevor ihr das insgeheim nicht zutraute oder ob er sie beschützen wollte, konnte sie nicht sagen. In dem Punkt ließ sie aber nicht mit sich diskutieren. Sie hatte keine Lust darauf, dass Trevor wieder zusammensackte wie der Früchtekuchen ihrer Köchin, wenn dieser abkühlte.

    Und dann warteten sie darauf, dass das Treiben um den Karren etwas weniger wurde, und gingen verschiedene Möglichkeiten durch, den kleinen Reisesack auf die Ladefläche zu bekommen.

    Schließlich stemmte Trevor sich von der Hauswand ab, an der sie gestanden hatten. „Besser wird es vermutlich nicht“, murmelte er und ging auf die kleiner gewordene Gruppe zu.

    Esther wartete noch einen kurzen Moment und schlug einen kleinen Umweg ein. Während Trevor die Männer in ein Gespräch verwickelte, ging Esther von hinten am Karren vorbei und warf den Beutel zielgenau zwischen die anderen Leinensäcke auf die Ladefläche. Natürlich hatte sie sich zuvor abgesichert, nicht beobachtet zu werden. Das hatte Trevor ihr eingeschärft und sie war ziemlich überrascht davon, dass es ihr ohne Weiteres gelungen war. Lächelnd wandte sie sich um, als just in dem Moment jemand aus dem Gebäude trat und kurz davor war, sich zu ihr herumzudrehen.

    Ihr rutschte das Herz in die Hose, aber sie reagierte geistesgegenwärtig, indem sie geduckt an dem Karren vorbeihuschte. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sobald der Unbekannte außer Sichtweite war, richtete sie sich auf, ging um den Karren herum und auf Trevor zu. Sie sammelte sich gedanklich.

    Schauen wir mal, ob das höfische Schauspielern dir jetzt auch was bringt.

    „Ach, guckt ma da ... Pferde. Die sehen aus wie meine Alde. Die macht auch imma so 'ne lange Fresse ...“, hörte Esther Trevor bereits nuscheln und kichern.

    Es viel ihr schwer, sich das Lachen zu verkneifen.

    „Ich könnte wetten, bald sieht sie aus ...“, er rülpste zwischen seinen Worten, „... wie ihre Mutter. Fett, aufgedunsen ... und ...“

    Der Mann hatte Talent, das musste Esther ihm lassen. Sie holte tief Luft. „Das gibt´s ja wohl nicht!“, begann sie loszutoben, woraufhin sich sofort alle zu ihr herumdrehten. Sie nutzte die Aufmerksamkeit, blies die Backen auf und stemmte gespielt genervt die Hände in die Hüften. „Den ganze Tag lässt du dich nicht blicken, selbst die Kinder fragen, wo du bist! Und wo finde ich dich wieder?!“ Sie warf die Arme in die Höhe und schnaubte hörbar.

    „Ich bin verheiratet. Wo wärd ich wohl sein. Da wo du und die Kinder nisch sind.“

    „Glaub mir, ich habe auch keine Lust, deinen nach Bier stinkenden Atem ständig zu ertragen, aber du hast immer noch Verpflichtungen“, polterte Esther. „Jetzt sieh zu, dass du deinen versoffenen Arsch nach Hause bekommst oder du lernst mich kennen!“ Sie hob die Hand als Drohung.

    „Pflischten, Pflischten ... Wir ham genuch Kinder!“, warf er ihr an den Kopf.

    Am liebsten hätte Esther sich gegen die Stirn gehauen. Konnten sie nicht einfach endlich gehen? Aber gut, so lange Trevor keine Anstalten machte, musste sie mitspielen.

    „Als würde mit dir Schnapsleiche noch jemand ins Bett steigen“, sagte sie naserümpfend. „Von mir aus … bleib doch wo der Pfeffer wächst. Aber komm mir morgen nicht an, du willst deine miefenden Klamotten von mir gewaschen haben!“

    Trevor stöhnte hörbar und schaute die Kerle an. „Nischt nur die Kleidung, Essen brauche ich auch.“ Dann wandte er sich ihr um. „Warte Schätzelein … Du weißt doch, wie isch bin. Ein Trottel … Och, jetzt sei nischt so.“

    Während Trevor das sagte, entfernten sie sich immer mehr von den umstehenden Leuten.

    Als sie außer Hör- und Sichtweite waren, ließ Esther die Anspannung von sich abfallen und sah Trevor von der Seite an. „Schauspielern kannst du, das muss ich dir lassen“, sagte sie grinsend.

    „Die Rolle der keifenden Ehefrau kannst du aber auch gut“, meinte Trevor anerkennend.

    „Es hat hoffentlich den Zweck erfüllt“, sagte sie achselzuckend und erst dabei wurde ihr wieder bewusst, dass sie an der Schulter verletzt war. Während dieser ganzen Aktion hatten sich die Schmerzen so weit in den Hintergrund gerückt, dass sie es beinahe vergaß. „Das Säckchen liegt auf dem Karren. Bleibt nur abzuwarten, ob Thomas den Köder schluckt.“

    „Hoffen wir es“, gab Trevor kurz angebunden zurück, womit Esther sich zufriedengab. Mehr als warten, konnte sie schlussendlich nicht tun.

    Am Morgen weckte das unerträgliche Kreischen der Möwen Esther aus ihrem tiefen, aber wenig erholsamen Schlaf.

    Sie schreckte hoch, wobei das Notizbuch, welches Edmund von der Telara mitgenommen hatte, mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel.

    Ich bin also doch eingeschlafen.

    Leicht verschlafen hockte sie auf der Bettkannte, bis eine stechende Erkenntnis sie überfiel.

    Trevor!

    Hektisch machte sie sich frisch, ließ ihre Haare allerdings offen. Das Hochstecken nahm nur unnötige Zeit in Anspruch und sie plagte ohnehin schon das schlechte Gewissen. Trotz ihrer Eile klemmte sie sich Buch und Kiste unter den Arm und hechtete förmlich hinaus.

    Auf halben Weg zum Oberdeck hörte sie Geräusche aus der Küche.

    Sie stieß die Tür mit etwas zu viel Schwung auf. „Entschuldigt meine Verspätung“, brummte sie noch immer leicht verschlafen. Obwohl sie mit Sicherheit den Eindruck erweckte, am meisten ausgeruht zu sein, denn in der Küche begegnete sie einem mürrisch aussehenden Edmund. Er trug nur Hose und Hemd, nicht einmal Schuhe hatte er an.

    Er winkte ab und deutete auf die Arbeitsplatte. „Es gibt heute Brot, Rührei und etwas Aufschnitt. Ich habe keine Lust zu kochen.“

    Sie schluckte und sofort regte sich ihr schlechtes Gewissen noch mehr, denn der Händlersohn sah mit seinen zerzausten Haaren aus, als hätte er die ganze Nacht hier verbracht. Und trotz seiner offensichtlichen Müdigkeit machte er Frühstück für alle.

    Mit einem Seufzer stellte sie die Kiste auf die Dielen und lächelte. „Danke“, sagte sie. „Wie geht es Trevor?“, fragte sie dann und sah sich um. Aber von Trevor und Nelli fehlte jede Spur.

    „Da solltest du die Alte fragen, sie ist die Heilerin.“

    Da war etwas dran. Dennoch hatte sie sich etwas mehr von ihm erhofft. Unschlüssig sah sie über die Schulter zurück. Sollte sie zu Trevor und Nelli gehen?

    Sie entschied sich dagegen, immerhin bestand die Möglichkeit, dass sie selbst noch schliefen. Esther zog sich stattdessen einen Stuhl dichter und begann, ihren Teller mit dem Frühstück zu beladen, während Edmund aussah, dem Essen keines Blickes würdigen zu wollen. Kurz hatte Esther sogar Sorge, er würde auf der Stelle einschlafen. Erneut bekam sie ein schlechtes Gewissen, weshalb sie nur halbherzig auf ihrem Brot herumkaute. „Ich habe heute Nacht versucht, die Zauber auf der Kiste zu entschlüsseln.“ Was stimmte. Sie hatte alle Zeichen und Symbole sorgsam studiert und vielleicht eine Lösung für das Problem gefunden.

    Sie wusste zwar nicht, was sie sich davon versprach, ausgerechnet mit Edmund darüber zu reden, aber hier sitzen und schweigen, wollte und konnte sie nicht.

    Außerdem war sie sich gewiss, dass Trevor in guten Händen war und Nelli würde ihnen schon Beine machen, sollte sie Hilfe brauchen.

    Statt einer Antwort brummte Edmund nur etwas vor sich hin und nippte an seinem Kaffee.

    Ja, was hattest du erwartet, Esther …

    Sie ließ die Schultern sinken und schob den Teller von sich. „Ich werde später versuchen, sie zu öffnen“, meinte sie. „Aber nicht hier an Bord. Und vorher möchte ich wissen, wie es Trevor geht.“ Selbst jetzt bekam sie den Geruch von verbranntem Fleisch nicht aus der Nase.

    Ohne eine Antwort auf ihre Bemerkung zu erwarten, klaubte sie sich das Buch von der Kiste herunter und prüfte ihre Formeln.

    Und obwohl sie mit ziemlicher Sicherheit alles richtig gemacht hatte, passte irgendetwas noch nicht, das verriet ihr Bauchgefühl. Es war, als gäbe es eine Lücke im Konstrukt. Sie rieb sich nachdenklich die Stirn und nippte ebenfalls an ihrem Becher.

    Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie Edmund sie müde beobachtete. Er schien nichts sagen zu wollen, denn er trank nur schweigend weiter.

    Dann bleib doch stumm, du Stumpf.

    Sie wandte sich der Kiste zu und dann wieder den Aufzeichnungen. Es musste ihr etwas entgangen sein. Zunächst hatte sie es auf die Müdigkeit geschoben, aber eine Komponente fehlte. Und auch wenn sie der Lösung nahe war, konnte sie die Kiste mit ihren Formeln nicht öffnen. Das könnte eine schöne Blamage werden.

    „Dieser … Mistkerl“, flüsterte sie und begriff zu spät, dass sie nicht alleine im Raum war.

    „Gibst du schon auf?“, hörte sie plötzlich Edmunds Stimme.

    Aha. Also war er doch nicht verstummt.

    „Ich würde gerne nein sagen, aber das wäre gelogen“ gab sie zu. „Ich weiß, die Lösung liegt vor mir, aber …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich bin das etliche Male durchgegangen, aber da ist etwas, was nicht passt.“

    Dass sie mit dieser fehlenden Komponente eher Gefahr lief, alles andere in die Luft zu sprengen, außer der Kiste, ließ sie lieber unbemerkt.

    Und war Edmund überhaupt der Richtige, um über ihr Versagen zu sprechen?

    Außerdem sollte er lieber ins Bett gehen und schlafen statt mit ihr über dieses Problem zu sprechen. Es war ihre Aufgabe, diese Kiste zu öffnen.

    Edmund erhob sich gähnend. „Dann lass ich dich mal allein“, sagte er und machte Anstalten, die Küche zu verlassen. „Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.“

    So, wie er das sagte, hörte es sich eher an wie lass mich zufrieden.

    Und sie war versucht, ihn in Ruhe zu lassen. Schlussendlich brachte das aber nichts.

    „Edmund?“, hielt sie ihn deshalb auf und schob das Buch über den Tisch. „Schau mal hier rüber und vergleiche die Zeichen, mit denen auf der Kiste. Findest du eine Ungereimtheit?“ Sie deutete erst auf Thomas Gekrakel, dann auf ihre eigene Aufstellung und auf die Truhe.

    Sie spürte deutlich den Widerwillen in Edmund, aber er kam dennoch zurück und betrachtete abwechselnd das Buch und die Kiste. „Eine Ungereimtheit?“, fragte er und hob die Augenbraue. „Sehe ich aus wie ein Alchemist?“

    Esther wandte sich ihm zu und zog die Stirn kraus. „Also erst einmal sind das nicht alles alchemistische Zeichen, sondern auch magische Versiegelungen.“ Sie mustere ihn. „Und zweitens … nein, du siehst nicht aus wie ein Alchemist.“

    Genau genommen sahen die Alchemisten für sie aus wie ganz normale Menschen, also konnte auch jemand, der wie Edmund aussah, ein solcher sein.

    „Gut, da wir das geklärt haben“, meinte er unbeeindruckt, „wie soll ich da nun eine Ungereimtheit erkennen? Es sind eben Gekrakel.“

    In diesem Moment verspürte Esther üble Lust, ihm den Becher Kaffee an den Kopf zu werfen. Gekrakel …

    Diese Zeichen und Symbole waren mitnichten nur Gekrakel! Sicherlich wirkte die Handschrift als hätte jemand betrunken versucht, einen Schwan zu zeichnen, aber hinter diesem Gekrakel steckte jede Menge Macht, von der Edmund nichts ahnte.

    Sie machte sich gerade für eine ausschweifende Erklärung bereit, als Edmund auf etwas in dem Buch zeigte.

    „Ich meine“, begann er und schmunzelte, „was soll das sein? Das sieht aus, als hätte ein Besoffener seinen Namen in den Sand gepisst.“

    Verwundert folgte sie dem Fingerzeig und verzog nachdenklich das Gesicht. „Für mich sieht das eher wie … ein Fleck … aus.“ Sie zog sich das Buch dichter heran. Nein, es war kein Fleck. „Grundgütiger!“, rief sie, sprang auf und wusste vor lauter Freude nicht, wohin mit sich. „Das ist es!“ Ohne weiter darüber nachzudenken, umarmte sie Edmund.

    Der allerdings blieb wie versteinert an Ort und Stelle stehen, was Esther allerdings weder störte noch nahe ging. Sie wusste, dass ihre Reaktion für ihn kaum verständlich war, also ließ sie ebenso schnell von ihm ab, wie die Welle der Freude über sie hereingebrochen war. „Du hast mir sehr geholfen“, sagte sie zu ihm und vervollständigte ihre Formeln. „Danke.“ Sie lächelte und betrachtete ihre eigenen magischen Symbole. „Damit wird es sicher klappen.“

    „Bitte gerne.“ Edmund lächelte ebenfalls, wobei sie eine gewisse Zufriedenheit darin erkannte.

    Sie leerte ihren Becher Kaffee und erhob sich. „Ich sollte am besten so schnell wie möglich damit beginnen, die Kiste zu entsiegeln. Je eher wir das erledigt haben, desto besser.“

    Edmund kratzte sich an der Schläfe. „Ähm … ja, in Ordnung.“ Plötzlich grinste er. „Wenn du nochmal Hilfe brauchst, für die du dich bedanken willst, sag Bescheid.“

    Esther musterte ihn. Brauchte sie bei dem, was jetzt kam, seine Hilfe? Alleine zu gehen, wäre für alle anderen sicherer. Sie sah kurz das Buch an. Bezüglich ihrer Entsiegelung war sie sich sicher, aber im Inneren der Kiste konnte noch immer eine Überraschung auf sie warten.

    Und falls Edmund etwas passierte, würde sie sich das nie verzeihen. Andererseits konnte es auch sein, dass sie sich bei dem Versuch, die Kiste zu öffnen, verletzte. Wie würde er sich dabei fühlen? Vermutlich plagte ihn dann nur die Angst, was mit ihm geschah, sollte ihr Vater das dann herausfinden.

    So oder so. Jetzt war es an ihr, eine Entscheidung zu treffen. „Bist du sicher? Willst du nicht eher hierbleiben, für den Fall, dass Nelli Unterstützung benötigt?“, fragte sie, was eher ein Versuch war, um Edmund freiwillig zum Bleiben zu bewegen.

    „Ach, ich denke, das Mütterchen kommt allein zurecht.“ Wieder grinste Edmund. „Trevor ist pflegeleicht und hat das Schlimmste hinter sich.“

    Esthers Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Also wusste Edmund doch mehr über Trevors Befinden und war vorhin nur maulfaul gewesen.

    Sie spürte, dass sie bei dem Händlersohn auf Granit biss. „Also schön. Aber können wir uns darauf einigen, dass du auf mich hörst, wenn ich dir eine Anweisung gebe? Du bist kein Magier und ich möchte nicht, dass du … den Zauber gefährdest.“ Eigentlich meinte sie, dass sie nicht wollte, dass Edmund sich verletzte, aber das brachte sie aus ihr unerklärlichen Gründen nicht über die Lippen.

    Edmunds Lächeln wurde breiter, beinahe engelsgleich. „Natürlich.“

    Allein dafür hätte sie ihm ins Gesicht schlagen können. Und dafür, dass er sie direkt angelogen hatte. Sie verkniff sich das Grinsen. Dann musste sie eben vorsorgen.

    „Wir sollten Nelli und Trevor zumindest Bescheid geben“, meinte sie und wandte sich zum Gehen um. Sie wollte nicht, dass die beiden sich unnötig Sorgen machten.

    „Ich werde mir dann mal meine Stiefel anziehen“, murmelte Edmund, als sie die Küche schon fast verlassen hatte.

    Nachdem sie in Nellis Zimmer niemanden angetroffen hatte, klopfte sie leise bei Trevor an. Doch auch da reagierte keiner.

    Schulterzuckend öffnete Esther vorsichtig die Tür und bemerkte schnell, dass beide tief im Schlaf versunken waren. Dennoch versetzte der Anblick ihr einen Stich im Herzen, auch wenn die zwei ziemlich ruhig wirkten.

    Sie presste die Lippen aufeinander und kritzelte kurz entschlossen eine knappe Nachricht für Nelli auf einen umliegenden Fetzen Papier. Wenn alles glatt ging, würden sie ohnehin schnell wieder zurück sein.

    Auf leisen Sohlen verließ sie das Zimmer, huschte zurück in die Küche und musste feststellen, dass Kiste und Buch nicht mehr dort waren.

    Edmund hielt sich bereits am Oberdeck auf, der ihr das Notizbuch entgegenhielt und sich selbst die Kiste unter den Arm klemmte, wobei er sie vorsorglich mit einem Tuch etwas abdeckte.

    Das fand Esther gar nicht so unklug. Es könnte immerhin sein, dass einer von Thomas Männern ihnen begegnete und die Truhe erkannte.

    „Wir brauchen einen etwas abgelegenen, möglichst menschenleeren Ort“, sagte sie, als sie den Steg passierten. „Auf den Karten konnte ich nicht wirklich etwas finden, ist dir da vielleicht etwas ins Auge gestochen?“, fragte sie an Edmund gewandt. Er schien, als würde er sie nur widerwillig begleiten und sie war sich beinahe sicher, dass dem so war.

    Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Edmund die Augenbraue hob. „Das ist eine Insel … mit nur einer Stadt drauf. Quasi die Hälfte der Landmasse ist menschenleer und abgelegen.“

    „Also müssen wir nur raus aus der Stadt?“, schlussfolgerte sie wenig geistreich.

    Das sie eventuell die falschen Karten angesehen hatte, behielt sie lieber für sich. Würde man sie allein im Wald aussetzen, wäre sie einfach verloren, das war Fakt.

    „Und darauf bist du ganz allein gekommen?“, fragte er mit einem großen Anteil Sarkasmus in der Stimme.

    Ja, gib noch Salz in die Wunde …

    Sie ging nicht weiter darauf ein. Nach einer Weile des Schweigens sprach sie blindlinks eine Frau und einen Herren an, die mit einem Karren unterwegs waren, die sie freundlicherweise mitfahren ließen.

    Edmund folgte stur und stumm, was Esther genauso still hinnahm.

    Insgeheim hoffte sie, dass er einfach nur zu müde war. Und sie nicht nur des Pflichtbewusstseins wegen begleitete oder für was auch immer.


    Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie die Leute darum bat, anzuhalten. Mit wenigen Worten bedankte sie sich bei ihnen und wünschte eine gute Reise. Das Übliche eben. Und sie hoffte, dass es denen egal war, was sie und Edmund an diesem gottverlassenen Ort mit nichts anderem als einer Truhe unter dem Arm wollten.

    Nachdem der Karren außer Sichtweite war, trat sie auf die von Bäumen umsäumte Wiese hinaus. Dieses Mal hatte sie die Kiste gleich selber getragen, genauso wie das Buch.

    Letzteres drückte sie Edmund in die Hand, der ihr mit mürrischer Miene gefolgt war.

    Esther zog ihren Zauberstab und streckte ihn vor. „Tut mir leid …“, murmelte sie.

    Auf ihren Befehl hin, breitete sich die blau schillernde Energiebarriere sofort aus und zwang den Händlersohn auf Abstand. Schritt für Schritt musste er sich von ihr entfernen. „Ist das dein Ernst?“, fauchte er genervt und ließ sich bockig auf den Boden fallen.

    Ohne eine weitere Erklärung wandte sie sich der Kiste zu. Ihr Herz schlug vor Aufregung. Wenn sie versagte, waren die Mühen der Anderen umsonst gewesen.

    Denke nicht zu viel darüber nach!

    Mit dem auf die Kiste gerichteten Zauberstab murmelte sie die fremdsprachige Formel.

    Zunächst geschah einen Atemzug lang nichts, dann aber hörte sie ein leises Klacken, ein Rattern und wieder ein Klacken. Als würden sich im Inneren kleine Zahnräder bewegen. Erneut klackte es.

    Neugierig trat sie näher heran, ging in die Hocke und war erstaunt, als sich der Deckel öffnen ließ.

    Sollte es tatsächlich so einfach gewesen sein?

    Als hätte man ihre Frage gehört, schoss etwas in die Höhe und schwirrte wie eine Fliege vor ihrem Gesicht herum. Da war es wieder, das Klacken.

    Und dann vermehrten sich die metallenen Fliegen in atemberaubender Geschwindigkeit.

    Irritiert erhob Esther sich und bevor sie begriff, was da vor sich ging, wurden aus den kleinen Tierchen, hunderte, zeigefingerlange Stacheln.

    Einen Lidschlag später rasten sie auf Esther nieder.

    „Esther!“, schrie Edmund. „Lass mich rein!“

    Weil du auch so viel ausrichten kannst …

    Konzentriere dich, du darfst dich jetzt nicht ablenken lassen.

    Sie reagierte instinktiv und errichtete neben ihrem Energieschild einen weiteren, der aus den tausenden Kieselsteinen in ihrer Nähe bestand. Sofort spürte sie, wie beide Barrieren ihren Tribut forderten, aber auf keinen Fall wollte sie Edmund in Gefahr bringen. Wer wusste schon, was diese Viecher anrichteten.

    Die Steine umwölbten sie wie eine schützende Mauer und sie hörte, wie die Fliegen klappernd dagegen flogen, andere sirrten allerdings daran vorbei und befielen sie hinterrücks.

    Aber da sie damit gerechnet hatte, verformte sie ihre Steinbarriere, sodass nun auch ihre Rückseite geschützt war.

    Wieder hörte sie Edmund ihren Namen schreien.

    Fokussiert darauf, sich die Biester vom Hals zu halten, bemerkte sie fast gar nicht, wie schnell ihre Kraft schwand.

    Hatte die Entsiegelung so viel Magie gekostet? Verdammt!

    Sie musste sich beeilen.

    Auf ihren magischen Befehl hin, fielen die Kieselsteine zu Boden, und sie erschuf eine zweite Energiebarriere.

    Blitzschnell weitete sie diese aus und presste sie mitsamt der manipulierten Mücken gegen ihren äußeren Schild. Nach und nach zerplatzten sie dort, übrig blieb nur weißer Rauch.

    Erschöpft ließ Esther sich auf die Knie fallen, ihre Schilde lösten sich auf und kurz verschwamm die Welt vor ihren Augen.

    Bis sie ein Klicken hörte.

    Wie kann das sein?

    Obwohl sie keine Kraft mehr besaß, sprang sie auf, doch es war viel zu spät.

    Schmerzen schossen urplötzlich durch ihre linke Schulter. Sie stolperte zurück und keuchte auf. Der Schock erstickte ihren Schrei. Wie paralysiert fasste sie sich an die blutende Wunde.

    „Esther!“, rief Edmund erneut. Dieses Mal war seine Stimme deutlich näher. Sie spürte, wie er sie von hinten stützte und ihr half, sich zu setzen. Obwohl sie mehr als dankbar für seine Hilfe war, ließ sie sich dennoch widerwillig in seine Arme gleiten

    „Die Kiste“, presste sie zwischen den Zähnen hervor. „Ist das Fernrohr drin?“

    „Du bist verletzt“, überging er damit ihre Frage und begann, am Stoff ihrer linken Schulter zu zupfen.

    Sie zog vor Schmerz die Luft ein, gab sich aber Mühe, sich nicht allzu viel anmerken zu lassen. Sicherlich war es nicht angenehm, aber auszuhalten. „Das ist halb so wild“, meinte sie und versuchte erfolglos, seine Hand beiseite zu wischen. „Und was machst du da überhaupt?“

    „Mir die Wunde anschauen.“ Sie konnte hören, wie seine Zähne mahlten. „Auch, wenn ich darüber nachdenke, nochmal nachzutreten.“

    Esther wandte sich zu ihm um, aber er war so auf die Wunde fixiert, dass er ihr nicht ins Gesicht sah. „Wieso nachtreten? Es ist doch alles gut gelaufen. Die Kiste ist offen.“

    Der Ausdruck in Edmunds Miene veränderte sich. „Die Kiste ist doch gerade völlig egal, oder?“, fuhr er sie sauer an.

    Hätte sie nicht noch halb in seinen Armen gehangen, wäre sie vermutlich aufgesprungen und hätte etwas Abstand genommen. So aber blieb ihr nichts anderes übrig, als in dieser Position zu verharren. „Warum bist du so wütend? Wegen der Kiste sind wir hierhergekommen und meine Wunde werde ich auch überleben.“ Sie verstand es nicht. Müsste er nicht eigentlich froh darüber sein, dass sie es geschafft hatte und er obendrein unverletzt aus der Sache herausgekommen war?

    „Warum ich wütend bin?“, brummte er, ohne den Kopf zu heben. Er drückte auf der Wunde herum, was Esther mit zusammengepressten Lippen über sich ergehen ließ. Es fehlte noch, dass sie jetzt anfing, zu flennen. „Ich habe nichts gegen deinen blöden Schild gesagt, als du angefangen hast. Aber es stört mich gewaltig, wenn ich wie ein Idiot am Rand stehen und dabei zuschauen muss, wie du verletzt wirst, ohne irgendwas ausrichten zu können!“ Kurzerhand rupfte er etwas von seinem Hemd ab. „Und jetzt lass die Kiste erstmal Kiste sein und mich das wenigstens verbinden.“

    Für einen Moment war sie so sprachlos, dass sie zunächst gar nicht bemerkte, wie Edmund begann, die Stoffbahn um ihre Schulter zu wickeln.

    War ihm überhaupt klar, dass er rein gar nichts hätte tun können, um das zu verhindern? Aber vielleicht ging es ihm auch nicht unbedingt darum. So oder so. Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihn in eine solche Lage zu bringen.

    „Tut mir leid“, murmelte sie betroffen. „Ich tat es nicht, um dich zu bevormunden, sondern nur zu deinem Schutz.“ Nun konnte sie sich einen Schmerzenslaut nicht verkneifen, als Edmund den Stoff zuzog. Ob er absichtlich rabiater als notwendig vorging, wusste sie nicht. Aber das hatte wehgetan.

    „Ich weiß. Aber Freunde beschützen sich gegenseitig.“ Er rutschte etwas von ihr weg, besah sich sein Werk und nickte zufrieden. Schließlich erhob er sich grinsend und lehnte sich so weit vor, bis ihre Gesichter nahe beieinander waren. „Auch, wenn es mir natürlich Freude bereitet, dir so nahe zu sein und dich zu versorgen.“ Sein Grinsen wurde breiter und sie hörte deutlich den Schalk in seiner Stimme. „Noch einen Kuss gegen die Schmerzen?“

    Gegen ihren Willen schoss ihr die Röte ins Gesicht und ihre Wangen wurden warm. Wieso auch immer sie so reagierte. Für so eine Frechheit hätte man Edmund in der Grafschaft des Hauses verwiesen. Und die gestellten Komplimente der feinen Gesellschaft prallten ebenso von ihr ab wie die fliegenden Käfer vorhin an ihrer Mauer. Warum also gelang es Edmund beinahe jedes Mal, sie in Verlegenheit zu bringen?

    Sie legte den Kopf schief. „Ich werde es überleben“, gab sie mit Nachdruck zurück, mühte sich auf die Beine und brachte ein Lächeln zustande. Den Zauberstab verstaute sie wieder in ihrer Tasche und deutete mit der rechten Hand auf ihre verbundene Schulter. „Danke dafür. Wie es aussieht, schulde ich dir ein neues Hemd.“

    Wider Erwarten zuckte er nur die Schultern „Ist nur ein Hemd“, meinte er beinahe abfällig und runzelte dann überrascht die Stirn. „Wow, kam das von mir?“ Er wandte sich der Kiste zu und stupste sie mit dem Fuß an, bevor er sich runterbeugte.

    „Sieht aus wie ein Fernrohr“, bemerkte Esther trocken, als sie zu ihm aufgeschlossen war. „Aber ist es auch DAS Fernrohr?“

    Vorsichtig nahm Edmund den Gegenstand an sich, wendete es mehrmals, um es von allen Seiten zu betrachten. Dann machte er Anstalten, hindurchgucken zu wollen, legte es allerdings wieder zurück. „Ja, ist meins …“

    Kurz wunderte sie sich darüber, dass er es nicht getestet hatte, aber dann erinnerte sie sich daran, was er über die Fähigkeit dieses Gegenstandes sagte.

    „Beim Magierkodex!“, rief sie triumphierend aus. „Endlich hat mal etwas geklappt!“

    „Aber das ist nicht meins“, gab Edmund plötzlich von sich und nahm einen weiteren Gegenstand aus der Truhe, hielt ihn in die Höhe und musterte ihn ebenso wie das Fernrohr.

    „Das sieht aus wie ein Horn“, stellte Esther laut fest und nahm es Edmund vorsichtig aus der Hand. Sie holte tief Luft. „Ich glaube, das ist ein weiteres Artefakt. Wenn ich mich nicht täusche, ist es das Horn von Kelton.“

    „Klasse …“, gab Edmund wenig begeistert zurück.

    Und Esther war ehrlicherweise auch nicht überwältigt von diesem Fund.

    Macht Thomas etwa Jagd auf die magischen Relikte?

    Er? Gerade er? War er der Meinung, er könnte sie benutzen?

    Sie legte das Horn zurück in die Kiste. Einerseits weil sie großen Respekt vor diesen unscheinbar wirkenden Gegenständen hatte, andererseits weil ihre Schulte anfing, nervtötend zu pochen und zu schmerzen.

    „Wir sollten zurück“, schlug sie vor, gerade auch, um sich vernünftig versorgen zu lassen. „Bevor Nelli und Trevor sich Sorgen machen.“

    „Ja, gehen wir zurück, bevor sie sich Sorgen machen, dass wir so lange weg sind. Dann können sie sich stattdessen Sorgen machen, weil du verletzt zurückkommst.“

    Was hätte sie darauf antworten sollen? Das beim Entsiegeln der Kiste ein gewisses Risiko mitschwang, dürfte niemanden entgangen sein.

    Aber jetzt mit Edmund zu diskutieren, wollte sie nicht, schon allein, weil ihr die Kraft dazu fehlte. Und wenn sie weiter hier herumstanden, würde er nicht nur die Kiste tragen müssen, sondern auch sie. Und diese Genugtuung gab sie ihm sicher nicht.

    Esther sah den Anderen noch kurz hinterher als sie das Schiff verlassen hatten. Nelli als unscheinbarer Seemann, Trevor eine schöne Frau und Edmund als Ratte.

    Unwillkürlich musste sie grinsen. Edmund hatte die Aussicht in Trevors Ausschnitt sicher genossen.

    Sie trommelte noch kurz auf der Reling herum und wandte sich schließlich ab. Sie wollte nicht den ganzen, restlichen Tag Löcher in die Luft starren.

    Also machte sie sich auf den Weg unter Deck und hörte bereits auf der Treppe rumorende Geräusche. Neugierig schob sie die Tür zur Küche auf, wo Agatha sich Trockenfleisch in einen Beutel stopfte.

    Die Nekromantin bemerkte Esther zunächst nicht, weshalb sie die Tür absichtlich weit von sich stieß, sodass diese laut gegen das Holz schepperte.

    Esther blieb mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen stehen. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte sie spitz.

    Agatha zuckte zusammen und hielte damit inne, ihr Proviant in den Sack zu stopfen. Von irgendwo sprang ihr Kater auf den Tisch.

    Einen Moment lang starrten die Frauen sich einfach an, bis die Nekromantin den Beutel losließ und auf Esther zukam.

    Sie machte allerdings nicht die Anstalten, aus dem Weg zu gehen. „Du wolltest dich heimlich aus dem Staub machen“, dämmerte es Esther und an dem Gesichtsausdruck konnte sie sehen, dass Agatha sich ertappt fühlte.

    „Ich habe ein Schiff gefunden, dass …“

    „Du hättest einfach fragen können, weißt du?“, unterbrach Esther sie. Unterm Strich war es ihr egal, was Agatha tun wollte und sie begrüßte es sogar, dass sie die Revenge verlassen wollte. So musste sie nicht ständig ein Auge auf die Nekromantin haben. Dennoch hätte Esther sie nicht ohne Verpflegung und etwas Geld gehen lassen. „Ich werde dich nicht aufhalten … keiner von uns hätte dich aufgehalten“, meinte Esther schließlich, holte aus ihrem eigenen Beutel einige Geldstücke hervor und hielt sie Agatha hin. „Hier, damit kannst du dich sicher einige Zeit über Wasser halten.“

    Etwas zögerlich nahm die Nekromantin das Geld entgegen.

    „Und nimm den Beutel mit“, sagte Esther und machte den Weg frei.

    Sichtlich irritiert sammelte Agatha die Sachen zusammen und klemmte sich ihren Kater unter den Arm.

    Schweigend gingen sie an Deck und bevor Agatha schließlich vom Schiff ging, hielt Esther sie noch einmal auf. „Sollten wir uns noch einmal begegnen, denk an das, was wir für dich getan haben.“

    Sicherlich war die Nekromantin es gewohnt, sich durchzuschlagen, aber Esther hätte ihr sowohl Essen als auch Geld verweigern können. Dann hätte sie es wesentlich schwerer gehabt. Ob das für Agatha reichte, wusste Esther nicht.

    Trotzdem nickte sie und in dem Moment wurde Esther klar, dass die andere Frau nie vorhatte, bei ihnen zu bleiben.

    Wieder beobachtete sie von der Reling aus, wie einer von ihnen sich von der Revenge entfernte.

    „Scheiße …“, kam es ihr plötzlich über die Lippen. Wie erklärte sie den anderen, dass Agatha gegangen war. Sie hatte nicht einmal nach den Beweggründen gefragt. Ob ihre Freunde ihr die Schuld an Agathas Verschwinden gaben?

    Sie schnaufte. Nun war es so. Ändern konnte sie daran nichts und das wollte sie auch gar nicht.

    Also ging sie wieder unter Deck, um ihren eigentlichen Plan in die Tat umzusetzen.

    Immerhin klebte noch eine riesige Rune auf ihrem Schiff.

    „Dabei hätte sie wenigsten noch helfen können“, maulte sie, während sie in der Küche einen Eimer und eine Bürste hervorholte. „Dreck machen und dann abhauen, das sind mir die Richtigen.“

    Sie legte sich einen Lappen über die Schulter, der müffelte, wie alte Socken und holte sich Wasser aus dem Fass.

    So kalt wie das Wasser war, bezweifelte sie, dass sie das Symbol von den Planken bekam.

    Resigniert schaute sie sich die Kochstelle an, vor der für gewöhnlich entweder Edmund oder Nelli hantierten. Eins musste sie dem Händlersohn lassen. Die Küche war im tadellosen Zustand. Zögerlich ergriff sie die Feuersteine, beschloss dann aber, es sein zu lassen.

    Sie trug schon die Teilschuld am Verlust der Eleftheria. Trevor und Edmund würden sie auf der Stelle ins Meer werfen, wenn sie die Revenge nieder brannte.

    „Also kaltes Wasser“, schnaufte sie und angelte sich die Seife von der Auslage.

    Auf den Knien hockend und mit hochgekrempelten Ärmeln schrubbte sie, was das Zeug hielt. Die rote Kreide ließ sich zu ihrem Glück recht leicht entfernen. Doch dann rutschte sie mit der Bürste geradewegs durch den klumpigen Blutfleck, den sie bisher verdrängt hatte.

    Angeekelt verzog sie das Gesicht als sie die Überreste in den Borsten und an ihren Armen kleben sah.

    Ihr Magen drehte sich um, doch sie schluckte den sauren Speichel runter.

    Wobei Erbrochenes zwischen dem Blut und der Kreide vermutlich auch nicht aufgefallen wäre, dachte sie sich.

    Zum Schluss wischte sie den Rest mit dem Lappen auf und kippte das unbrauchbare Wasser über die Reling ins Meer.

    Sie wusch sich den Dreck von den Armen und legte Eimer, Bürste und Lappen zurück an ihre Plätze. Dabei entdeckte sie in einem schmalen Fach ein kleines Buch. Sie schob neugierig die Unterlippe vor. Eigentlich stand es ihr nicht zu, in Sachen herumzuwühlen, die nicht ihr gehörten, aber die Küche war eben auch kein Privatbereich. Mit einer fließenden Bewegung zog sie das Büchlein aus der Nische und begann darin zu blättern. Ein Rezeptbuch, versehen mit handschriftlichen Notizen und Änderungen. An einigen Stellen war die Mengenangabe geändert oder Zutaten gänzlich herausgestrichen oder gar hinzugesetzt worden. Esther griff sich eine kleine Möhre und knabberte darauf herum, während sie die Rezepte durchging.

    Erst nach einiger Zeit dämmerte ihr, dass Edmund die Kochanweisungen geändert hatte. Es schien ihm viel daran zu liegen, dass das Essen schmeckte. Dieser Gedanke brachte sie auf eine unerklärliche Weise zum Lächeln. Und die Konsequenz hinter seinen Notizen und den Änderungen legte nahe, dass ihm das Spaß machte. Aber dennoch war seine Bewirtung nicht selbstverständlich.

    Sie klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch, als ihr eine Idee kam.

    Aber zunächst müsste sie die Kochstelle beheizen und das kam ihr im Moment ziemlich unmöglich vor.

    Zugesehen hatte sie schon ein paar Mal, immerhin konnten alle ein Feuer entfachen. Außer sie selbst.

    „Höchste Zeit, das zu ändern.“

    Sie befüllte die dafür vorgesehene Stelle mit Brennmaterial und stemmte die Hände in die Hüften. Unsicher zuckte sie die Schultern und holte vorsichtshalber einen Eimer Wasser dichter.

    Dann zückte sie ihren Zauberstab. „Was soll schon schief gehen?“

    Sie legte all ihre Konzentration in ihr Vorhaben und zentrierte ihre Magie auf einen klitzekleinen Teil unmittelbar im Zentrum des Brennmaterials. Um das zu entzünden, brauchte es eine gewaltige Menge reiner Energie. Oder eben einen kleinen Funken.

    Eine gefühlte Ewigkeit geschah rein gar nichts. „Ach, nun komm schon!“, keifte sie und konzentrierte sich erneut. Wenn die anderen sie jetzt so sehen würden, hätten sie sicher gelacht.

    Dann begann es zu qualmen und kurz darauf stiegen kleine Flammen hervor.

    Esther stieß einen triumphierenden Laut aus. Von wegen hilflos!

    Sie steckte den Zauberstab ein, klaubte das Buch vom Tisch und suchte sich ein scheinbar einfaches Rezept heraus. Vielleicht tat sie einen Gefallen, wenn sie etwas kochte. So musste sich später niemand anderes darum kümmern. Und vielleicht konnte Edmund sehen, dass es so etwas wie ein Versöhnungsversuch darstellen sollte.

    Während sie Gemüse schälte und schnippelte, achtete sie peinlichst darauf, dass die Feuerstelle nicht ausging.

    Sie sammelte weitere Zutaten zusammen und bedachte jeden Schritt, den das Rezept oder Edmund vorgaben. Es fühlte sich erst merkwürdig an, aber dann verlor sie sich beinahe in den Arbeitsschritten und es fühlte sich beruhigend an. Bald schon roch es angenehm würzig und während Esther ihre Utensilien reinigte, köchelte der Gemüseeintopf nach Edmunds Art fröhlich vor sich hin. Ab und zu probierte sie das Gemüse, um es nicht zu zerkochen. Es sollte zwar weich, aber noch bissfest sein. Das war für Esther zwar ein Widerspruch, denn wie sollte etwas fest und weich zugleich sein, aber so war Edmunds Anweisung.

    Das Beste an ihrem Vorhaben war das warme Wasser, welches sie zum Abwaschen hatte.

    „Hätte dir auch ein wenig früher einfallen können“, sagte sie zu sich selbst und kicherte. „Tolle Magierin.“

    Sie nahm den fertigen Eintopf von der Kochstelle und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass von den anderen noch niemand zu sehen war, nahm sie sich schließlich einige Kleidungsstücke vor, die Nelli noch flicken wollten.

    An Deck setzte sie sich auf einen Hocker und begann mit einem leisen Lied auf den Lippen, die Löcher in den Hemden zu stopfen.

    Eine Weile blickte Esther Edmund betreten nach. Ihr erster Instinkt war es, ihm zu folgen, denn sie fühlte sich mies, weil sie sich nicht nach seinem Befinden erkundigte, wie er es getan hatte. Dabei war es offensichtlich, dass ihn die Prozedur mitnahm.

    Aber um ihm nachzulaufen, fehlte ihr buchstäblich die Kraft. Sie fühlte sich ausgelaugt und müde. Ein kalter Schauer jagte über ihre Arme und sie unterband den Drang, das Kribbeln in ihren Gliedern herauszuschütteln. In diesem Punkt hatte sie Edmund angelogen. Es ging ihr nämlich nicht so gut wie sie vorgab.

    Ihr Blick streifte Agathas Gestalt, einer Nekromantin.

    Sie wusste, was diese Personen taten - sie weigerte sich, dabei an Magier zu denken, denn diese Leute verdienten diese Bezeichnung nicht.

    Esther wandte ihren Blick von Agatha ab und sah auf den Punkt hinab, an der der Karren gestanden hatte.

    Leider hatte sie zu spät begriffen, was Agatha tun würde. Und Esther fühlte sich schäbig bei dem Gedanken daran. Aber sie hatten nun ihre Antworten, mehr oder weniger. Antworten, die ihr nicht gefielen.

    Wie sollten sie die Eleftheria wiederbekommen, wenn Armod damit durch die Weltgeschichte segelte? Was wurde nun aus dem Handel zwischen Edmund und Thomas, wo Letzterer augenscheinlich bereits in Besitz des Fernrohrs war? Und welches Artefakt suchte Armod nun? Und warum?

    So, wie es für sie klang, arbeiteten Armod und Thomas zusammen. Und wenn sie wetten müsste, würde sie darauf setzen, dass die beiden Jagd auf die magischen Relikte machten.

    Sie schluckte den sauren Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, schwer hinunter. Egal. Sie würden schon eine Lösung finden, wie immer. Aber nicht mehr heute. Von ihr aus konnten sich alle anderen die Köpfe zerbrechen, sie hatte genug gesehen. Und dabei war ihr Ausflug in die Taverne mit Trevor noch das Harmloseste gewesen! Hätte sie nach dem Ableben des Matrosen nicht bereits ihren sämtlichen Mageninhalt hervorgeholt, hätte sie sich spätestens jetzt übergeben.

    Du bist eindeutig zu weich für so etwas! Hatte Vater das damit gemeint, dass er hoffte, ich würde während der Reise reifer werden?

    Sie wischte sich fahrig mit dem Ärmel über die Augen. Trotz der Bilder der vergangenen Stunden, die ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen wollten, holte Müdigkeit sie ein.

    „Esther?“

    Trevors Stimme ließ sie zusammenzucken. Sie sah ihn an, wobei sogar sie selbst bemerkte, wie leer ihr Blick war.

    „Kommst du damit klar?“, fragte er und deutete mit dem Kinn in die Richtung, wo er den Karren versenkt hatte. „Du weißt, dass es ein Unfall war, oder?“

    Sie nickte knapp und entfernte sich ein wenig vom Siegel, welches Agatha auf den Boden gezeichnet hatte.

    „Und wir haben immerhin ein paar Antworten“, setzte Trevor nach.

    Ob das dazu beitragen sollte, um ihr Gewissen zu beruhigen, wusste sie nicht. Und selbst wenn, half es nicht sonderlich.

    Tatsächlich bedeutete der Matrose ihr nichts und auch sein - erneuter Tod - berührte sie nicht. Allein der Anblick seines zermatschten Körpers hatte bei ihr zu der Übelkeit geführt.

    Nein. Sie fühlte sich wie eine Versagerin, weil sie weder dem Fernrohr, noch der Eleftheria ein Stück nähergekommen waren. Und damit keimte in ihr die Besorgnis auf, dass sie ihr Versprechen, welches sie Edmund gab, nicht würde halten können!

    Sie lächelte Trevor gequält „Wenn irgendwas ist … sagt mir Bescheid“, meinte sie schlicht und verabschiedete sich lediglich mit einem kurzen Nicken in Trevors Richtung.

    Einerseits fühlte sie sich schlecht dabei, den Formwandler alleine zu lassen, andererseits brauchte sie einen kurzen Moment für sich. Zum Durchatmen. Anschließend würde sie sicherlich wieder die Ärmel hochkrempeln und weitermachen können. Sie hoffte, Trevor würde es nachvollziehen können.

    Was Agatha dachte, war ihr schlicht gleich. Hätte sie früher geprüft, wer sie war, hätte Esther gleich am Anfang versucht, diese Person loszuwerden. So etwas darf sich nicht Magie nennen! Doch nun war sie hier und das letzte, was Esther wollte, war ein Streit, ganz gleich mit wem. Es reichte schon, wenn sie sich regelmäßig mit Edmund auseinandersetzen musste.

    Sie ging unter Deck und erwog kurz den Gedanken, Nelli aufzusuchen, verwarf diese Idee aber gleich wieder. Die Gefahr, Edmund zu begegnen war zu groß. Vermutlich war sie ohnehin die Letzte, die er sehen wollte.

    Also ging sie in ihre Kabine und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

    Und obwohl sie hundemüde war, machte sie kein Auge zu.

    Esther wischte sich, nachdem sie mit dem Essen fertig war, den Mund mit einem Tuch ab und stellte ihre Schale vor sich auf den Tisch.

    Edmund konnte gut kochen, so viel stand fest. Dennoch war sie sauer auf ihn. Stocksauer. Da versuchte sie einmal mit diesem Menschen lockerer zu reden und schon stritten sie wieder! Als wären sie beide ein einziges Missverständnis.

    Dabei wusste sie nicht einmal, warum sie sich so derart von seinen Aussagen getroffen fühlte. Nichts lag ihr ferner, als sich mit Edmund etwas vorzustellen.

    Es würde ihn sicherlich überraschen, aber es gab tatsächlich Menschen, die sich nicht angezogen von ihm fühlten! Da half auch seine Aura nicht!

    Genervt griff sie nach ihrem Becher, nippte daran und versuchte, ihre Gedanken auf das Wesentliche zu lenken, was ihr nur bedingt gelang.

    Und warum war sie denn so wütend?

    Egal. Sie schob das alles beiseite.

    Es gab jetzt wichtigeres als ihren verletzten Stolz. Die Eleftheria, das verdammte Fernrohr …

    „Hat es dir nicht geschmeckt?“

    Edmunds Stimme holte sie wie eine Backpfeife je zurück ins Hier und Jetzt.

    Beinahe verschluckte sie sich dabei an ihrem Apfelmost. „Doch!“, sagte sie schnell und wechselte das Thema, bevor erneut die Wut über die unverfrorene Frechheit des Händlersohns in ihr hochkochen konnte. „Ich halte es für keine gute Idee, allzu viel Aufsehen auf uns zu ziehen“, setzte sie deshalb nach.

    Wenn man den Erzählungen Glauben schenken durfte, befanden sie sich auf gefährlichem Pflaster und sie würde es begrüßen, noch eine Weile am Leben zu bleiben. Allen voran machte sie sich aber Sorgen um die Anderen und auch wenn ein jeder von ihnen bewiesen hatte, alleine klar zu kommen, lag ihr viel an dem Wohlergehen ihrer Freunde.

    Ihr Blick streifte Edmunds Gesicht. Ja, auch an seinem!

    Und er hat dich mitgenommen, um für Schutz zu sorgen … „Wir sollten so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen. Auch wenn wir die vielleicht schon auf uns ziehen … sie wissen immer noch nicht, wer wir sind und den Vorteil sollten wir nicht direkt verspielen.“ Ihre Lüge dem Sklaven gegenüber erwähnte sie lieber nicht. Auch nicht, dass sie bemerkt hatte, dass er ihre Flunkerei nicht abgekauft hatte. „Aber wir sollten uns beeilen. Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, hat meinen Zauberstab bemerkt. Ich bin mir nicht sicher, ob er begriffen hat, was ich bin. Aber wenn, und je nachdem wie loyal er zu seinem Kapitän steht, dürfte die Information schon bis zu ihm gelangt sein. Und ich schätze, der hat sich bereits auf einen Angriff vorbereitet.“

    Trevor lehnte sich sichtlich entspannt zurück. „Zur Not töten wir einfach alle.“

    Esther starrte ihn perplex an. Sicher. Natürlich würde sie ein Schiff überfallen und einfach alle Anwesenden töten.

    Doch bevor sie ein Veto einlegen konnte, schnitt Edmunds Stimme dazwischen. „Wir müssen ja nicht winkend reinrennen und mit unseren Namen um uns werfen.“ Er schaute Trevor an. „Oder direkt alle töten! Vielleicht hat Nelli einen Trank, der unser Aussehen verändert?“

    Esther sah von Trevor zu Edmund. Auch wenn sich ihr der Plan dahinter nicht erschloss, blickte sie schließlich erwartungsvoll zu Nelli rüber. Immerhin musste man alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel in Betracht ziehen. „Hast du einen?“, fragte sie deshalb noch einmal.

    Die Hexe dachte kurz nach. „Nicht direkt, aber ich kann einen herstellen.“

    Das ließ hoffen. „Wie lange brauchst du für die Herstellung? Und wie lange wirkt er?“

    Nelli wog den Kopf. Die Hoffnung in Esther sank etwas zusammen, doch sie vertraute der älteren Frau.

    „Für die Menge? Der Trank wäre heute Abend fertig, wenn ich gleich anfange, und er sollte wenigstens … zwei Stunden halten.“

    Zwei Stunden … Esther rieb sich das Gesicht. „Und dann? Was habt ihr vor? Ihr wollt auf das Schiff und … was genau unternehmen?“, fragte sie in dem Wissen, sich völlig lächerlich zu machen.

    „Informationen zu bekommen?“, fragte Edmund mit einem säuerlichen Unterton in der Stimme. Es war ihm anzuhören, dass er ihre Nachfrage nicht verstehen konnte.

    „Es durchsuchen“, warf Trevor beinahe zeitgleich ein.

    Nachdenklich kaute Esther sich auf der Lippe herum, wobei sie den jungen Andre einer Musterung unterzog. Jetzt vom nahen viel ihr einiges auf, was nicht unbedingt zu einem Mann passte. Die Gesichtszüge waren etwas weicher und einige Partien wesentlich weniger markant. Aber seit sie Edmund kennen gelernt hatte, erschien ihr das nicht so unwahrscheinlich. Sie schüttelte den Gedanken ab. Andre würde sich schon öffnen. Jeder trug immerhin ein Geheimnis mit sich, ob bewusst oder unbewusst. Und ihr war es ohnehin egal, ob er nun ein Mann oder eine Frau oder was auch immer war. Ihre Truppe war immerhin alles andere als der Standard einer Crew.

    „Was ist, wenn wir beides machen?“, schlug Esther schließlich vor und wandte ihren Blick von dem neuen, unfreiwilligen Mitglied ab. „Wir durchsuchen das Schiff und holen uns Informationen. Das Schiff ist nur drei Tage hier. Vielleicht sollten wir uns aufteilen. Eine Gruppe geht zum Schiff, die andere greift sich den Meuterer und fragt ihn aus? Am besten gewaltlos.“ Letzteres sagte sie mit einem kurzen Seitenblick auf Trevor.

    Der Formwandler zuckte die Schultern. „Ich versuche es, kann aber für nichts garantieren.“

    Gut. Besser als nichts. Von Edmund hörte sie ein Schnauben, weshalb sie sich zu ihm umwandte. „Und der Kerl wird auch freiwillig mit uns reden.“

    „Da bin ich ausnahmsweise deiner Meinung“, gab sie kühl zurück. „Aber ich sagte auch nichts von freiwillig.“

    Ich weiß zwar noch nicht, wie wir das anstellen wollen, aber da fällt uns etwas ein, wenn es soweit ist.

    „Um das >nicht freiwillig< kann ich mich gerne kümmern“, sagte Trevor, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Immerhin habe ich noch eine Rechnung zu begleichen.“ Der Formwandler verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper und seine Miene verdüsterte sich.

    Das war zwar das Gegenteil von gewaltlos, aber es schien ihr, als wäre jeder Widerspruch zwecklos. Vielleicht konnte sie dem Formwandler zuvorkommen.

    Viele Optionen blieben ihr nicht, denn wie Edmund bereits sagte, höflich nachfragen, würde nichts bringen.

    Fragend sah sie den Händlersohn an.

    „Meine Stimme zählt hier eh nichts“, meinte er daraufhin.

    Ihr lag die Zustimmung bereits auf der Zunge, doch sie hielt sich zurück. Sich noch mehr zu streiten, brachte nichts. Immerhin würden sie noch eine Weile aufeinander hocken.

    Allerdings konnte sie sich hier auf der Stelle auch ein anderes Schiff suchen und dort anheuern. Da Edmund so offen kundgetan hatte, sie nicht ausstehen zu können, würde er sie sicherlich nicht vermissen. Und sie ihn auch nicht!

    Oder?

    Außerdem hatte sie ihm etwas versprochen und ihr Versprechen würde sie halten.

    Sie wartete noch kurz, ob jemand weitere Einwände gegen den Plan hatte. Da gab es sicherlich viele und die beste Idee war das bei Weitem nicht. Aber in der Kürze der Zeit erschien ihr das die beste Möglichkeit. „Dann sollten wir überlegen, wie wir die Grüppchen einteilen? Den Meuterer könnte ich dazu bewegen, an einen … ruhigeren Ort zu gehen, von wo aus wir ihn dann … mitnehmen können?“

    „Vielleicht reicht das erst einmal aus“, überlegte Edmund laut. „Auf blauen Dunst ein riesiges Schiff durchsuchen, macht wenig Sinn.“

    Nach einem kurzen Augenblick nickte Esther zustimmend. „Ja, du hast Recht.“ Verdammt. Nun war es schon das zweite Mal, dass sie ihm beistehen musste!

    Aber es war so. Sie wussten nicht einmal, ob sich das Fernrohr auf der Telara befand. Nur weil der Meuterer sich dort aufhielt, musste das nicht auch für das Relikt gelten. „Der Kerl ist unsere einzige Möglichkeit, herauszufinden, was mit der Eleftheria passiert ist“, setzte Esther nach.

    Nelli räusperte sich „Ich denke, dass ist ein guter Zeitpunkt, um euch zu sagen, dass Stievs Geist mich angesprochen hat.“

    Damit hatte die ältere Frau mit einem Schlag die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

    Überraschte Esther diese Offenbarung? Nein. Auf der bisherigen Reise hatte sie allerhand seltsame Sachen gesehen und seit der Sache mit Trevor und dessen Vater glaubte sie Nelli auch, dass diese mit Geistern kommunizieren konnte.

    Esther lehnte sich interessiert vor. „Und? Was hat er gesagt?“

    Nelli schnaufte. „Er meinte, dass Armod hier wäre und uns sucht. Er wollte uns warnen.“

    Ungläubig runzelte Esther die Stirn. „Kann das sein? Meint ihr, der Kerl hat uns hier bereits aufgespürt?“ Sie hielt das für ausgeschlossen, Immerhin war sie die Einzige auf der Eleftheria gewesen mit der Fähigkeit des Aufspürens. Und ihre Zauber hatten ihr keine weiteren magischen Wesen aufgezeigt. Sollte der Kerl wirklich hier sein, dann hatte er entweder wahnsinniges Glück, war doch schlauer als sie dachten oder unter ihnen versteckte sich ein Magier.

    Sie hoffte auf Ersteres.

    „Super“, ließ Edmund von sich hören. „Dafür, dass ich dem Bastard ein Grab auf der Insel geschaufelt habe, hätte dein Geisterfreund ein paar mehr Informationen herausrücken können.“

    Warum fühlte sich seine Stimme in ihrem Kopf an, als würde sie mit der Hand beherzt in ein bestücktes Nadelkissen greifen?

    Dennoch hörte sie eine Spur Sarkasmus heraus.

    „Ist das ein Problem, um das wir uns auch kümmern sollten?“, fragte sie zögerlich in die Runde.

    „Wir sollten es im Auge behalten“, bemerkte Trevor. „Aber das gehen wir an, wenn Armod uns über den Weg läuft. Erst einmal greifen wir uns diesen feigen Meuterer!“

    Mit einem knappen Nicken stimmte Esther zu. „Wäre Armod hier, läge die Elefheria am Hafen“, überlegte sie laut. „Und ich bin die ganzen Anlegestellen abgelaufen und habe das Schiff nirgends gesehen.“

    Irgendwann, etwas später am Abend, stand ihr Plan, wie sie den Matrosen überwältigen wollten. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, den Mann auf solch brutale Art und Weise zum Reden zu bringen. Aber egal, wie oft sie die Dinge überdachte, desto mehr kam sie zu dem Entschluss, dass es keine andere Möglichkeit gab.

    Sie hoffte nur, dass sie auch die notwendigen Informationen bekamen. Wenn nicht, wäre die ganze Mission umsonst und sie fingen von vorne an.

    Mit wenigen Handgriffen räumte sie mit Nelli und Andre die Revenge auf, während Edmund erneut in der Küche werkelte und Trevor Dinge am Schiff überprüfte, die Esther ohnehin nicht verstand.

    Wenig später schlenderte sie über den befestigten Steg und genoss für einen Moment die Ruhe, die der Abend verbreitete. In etwas weiter Ferne drang Gelächter und Gegröle zu ihr herüber.

    Sie warf einen prüfenden Blick über die Schulter, um sich davon zu überzeugen, dass sie sich noch nicht allzu weit von der Revenge entfernt hatte.

    Als sie sich wieder umdrehte, stand einige Meter vor ihr ein Mann, der sie mit durchdringendem Blick anstarrte.

    Sofort stockte sie im Schritt und ergriff ihren Stab, ohne ihn aber direkt zu ziehen.

    Sie erkannte ihn augenblicklich. Die dunklen Augen, die etwas zu tief in den Höhlen lagen und von feinen Fältchen umrahmt wurden. Wäre ihr die Situation nicht unheimlich, hätte der Sklave, mit dem sie bei der Telara gesprochen hatte, sogar freundlich ausgesehen.

    So allerdings bewirkte ihre Begegnung nur, dass ihr ein eisiger Schauer über die Arme glitt.

    Doch er tat nichts. Er stand nur da und sah sie an.

    Esther tat es ihm gleich.

    Ihr Herz hämmerte als für ein paar Sekunden die Zeit stehen zu bleiben schien.

    Dann wandte der Sklave sich mit einem Ruck um und ging den Steg entlang. Wohin, konnte sie nur mutmaßen.

    Sie blieb noch und blickte ihm noch lange nach, obwohl er längst verschwunden war.

    Was wollte dieser Irre hier? War er hinter ihr her?

    Sie schüttelte den Kopf und ging schnurstracks zur Revenge zurück. Währenddessen rang sie mit sich, ob sie jemanden von dieser Begegnung erzählen sollte.

    Mit angespannter Miene blickte Esther nach vorn und beobachtete, wie die steilen Felsen, die ob der Sonne blendeten, immer dichter kamen. Sie war bisher noch nicht oft mit einem Schiff unterwegs gewesen, doch noch nie hatte sie sich so sehr nach Land unter ihren Füßen gesehnt wie jetzt. Es überraschte sie doch über alle Maße, dass die Revenge sie alle über das Wasser trug. Nicht nur ihrer zweifelhaften Reparaturfähigkeiten wegen, sondern auch der zahlreichen kaputten Stellen nach dem Angriff des Riesenkraken. Oder sollte sie besser Monster sagen? Das Vieh hatte um ein Haar ihren Zauberstab zerschmettert.

    Sie stieß sich von der Reling ab und verschwand ins Unterdeck. Es war an der Zeit, sich etwas von dem Schatz zu sichern. Das Erste, was sie davon kaufen würde, war neue Kleidung. Nichts gegen die einfache Kleidung, aber sie war dann doch etwas anderes gewohnt.

    Auf dem Weg nach unten, huschte der junge Andre an ihr vorbei, auf dem Arm immer noch das verletzte Tier.

    Der hat es aber eilig …

    Verwirrt sah sie ihm nach. Sie teilte Nellis Bedenken. Irgendetwas stimmte mit Andre nicht. Und sie würde herausfinden, was es war.

    Sie klaubte schnell ihre Sachen zusammen, was sich im Wesentlichen aus den Magiesteinen, ihrem Zauberstab, etwas Geld und dem Stein, den sie einst von Trevor erhalten hatte, zusammensetzte. Beim Einpacken, fiel ihr das Tuch, mit welchem Trevor das Blut des Decksmannes vom Dolch gewischt hatte, in die Hände. Nach kurzem Überlegen zückte sie ihren Zauberstab. Ein Versuch war es immerhin wert. Es dauerte nicht lange und der Spruch war über ihre Lippen gerollt. Jetzt hieß es abwarten, ob ihr Stab bald eine Reaktion zeigte. Sie rechnete allerdings nicht damit, den Kerl in der Nähe zu finden.

    An Deck half sie dabei, die Revenge zum Anlegen klar zu machen.

    Sie wusste nicht, was sie von den weißen Felseninseln erwartet hatte, aber so ein gigantischer Hafen war es sicherlich nicht. Auch die zwischen den steilen Felshängen erbauten Häuser beeindruckte sie. Allem Anschein nach bot dieser Ort doch einiges. Arm wirkten die Bewohner auf den ersten Mal zumindest nicht.

    Die Einfahrt in den Hafen gestaltete sich doch schwieriger als erwartet, da sie an einigen aus dem Wasser ragenden Felsen vorbei mussten.

    Kurz erwog Esther den Gedanken, einen Schild zu errichten, da sie immer wieder nur haarscharf an den kantigen Steinen vorbeischrammten. Außerdem wusste sie nicht, was sie an Land erwartete, daher wollte sie ihre Kraft lieber aufsparen, zumal ihr Aufspürungszauber ihr ohnehin schon einiges an Energie entzog.

    Trevor stand der Schweiß auf der Stirn, während er anwies, was sie zu tun hatten.

    Während Edmund immer wieder bissige Kommentare von sich hören ließ, hatte Esther zu tun, nicht gleich über Bord zu gehen. Wer hier ein Schiff sicher hindurchsteuern konnte, musste mit Glück gesegnet sein. Das hatte mit Können nichts mehr zu tun.

    Trotz aller Widrigkeiten und ihrem offensichtlichen Ungeschick schafften sie es, einen der zahlreichen Stege anzusteuern.

    „Jetzt sachte!“, rief Trevor, doch gleich darauf donnerte die Revenge gegen die Kante und knarzte bedrohlich.

    Esther strauchelte. Das war alles andere als sachte. Unsicher beugte sie sich über die Reling und begutachtete die Schiffswand. „Zumindest scheint nichts beschädigt worden zu sein“, mutmaßte sie.

    „Nicht mehr als ohnehin schon, meinst du wohl eher“, gab Edmund von sich.

    Esther rollte die Augen. Es gab wohl keinen Tag, an dem der Händlersohn nicht meckerte. Sie verkniff sich jeden weiteren Kommentar.

    Kaum hatten Trevor und Edmund das Schiff festgezurrt, stapfte ein runder Kerl auf sie zu und begrüßte sie lautstark auf den strahlenden weißen Felseninseln.

    Es folgte ein Wortwechsel, von dem nur einige Bruchstücke wie Geld, Wucher und Abzocke zu ihr hinüberdrangen.

    Sie sah, wie Edmund dem Mann genervt einige Geldstücke in die Hand drückte.

    „Und was jetzt?“, fragte sie in die Runde, nachdem Trevor wieder an Bord geklettert war.

    „Edmund will sich umschauen“, meinte der Formwandler und deute mit dem Daumen hinter sich.

    Wenn das so war … „Ihr könnt sicherlich auch eine Weile auf mich verzichten, oder?“

    Trevors Antwort war eine Mischung aus Schulterzucken und Nicken. „Ich sehe mir den Schaden am Schiff an. Wir sollten auch unsere Vorräte wieder auffüllen.“

    Esther war sich nicht sicher, ob ihr Lager die Bezeichnung Vorrat überhaupt verdiente, nickte aber zustimmend. „Ich schau mal, ob ich geeignete Händler finde“, versprach sie und stieg vom Schiff. Edmund war längst außer Sichtweite.

    Seltsamerweise betrübte sie es etwas, dass er es offenkundig nicht für nötig hielt auf einen von ihnen zu warten.

    Ihre Beine trugen sie mitten durch belebte Straßen, an zahlreichen kleinen Läden und Verkaufsbuden vorbei. Sie konnte sich nichts ansehen, ohne direkt angesprochen zu werden. Einige Male versuchte jemand, ihr ein überteuertes Schmuckstück zu verkaufen oder sie mit seidenen Stoffen zu ködern.

    Davon überfordert, stieß sie blindlinks die Tür zu einem der Läden auf und floh hinein.

    Genervt pustete sie sich eine Strähne aus dem Gesicht.

    „Willkommen, willkommen!“, rief ihr jemand mit überschäumender Freundlichkeit entgegen und grinste sie breit an. „Kommt nur herein, schöne Dame, und seht Euch um! Hier findet Ihr alles, was Euer Herz begehrt! Schleifen, Bänder, Tanzschuhe, Hüte, maßgeschneiderte Mieder!“

    Esther hatte ihren Schock noch gar nicht überwunden, da wurde sie schon am Handgelenk ergriffen und weiter in den Laden gezogen. „Halt, wartet“, stotterte sie, bekam aber von dem dürren Verkäufer sogleich eine Schatulle mit glänzenden Ketten unter die Nase gehalten. Mit der freien Hand deutete er auf ein ausgestelltes Kleidungsstück. Er begann damit, weitere Dinge anzupreisen, von denen sie in Silberberg zuhauf besaß.

    „Haltet endlich den Mund!“, platzte es aus ihr heraus, woraufhin der Verkäufer verwirrt blinzelte.

    „Ihr wollt nichts kaufen?“, fragte er und klappte den Deckel der Truhe wieder zu.

    „Doch“, widersprach Esther, schnaufte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich hatte nur an etwas …“ Ihr Blick streifte das Kleid, welches im Moment noch eine Kleiderpuppe trug. „Ich brauche etwas Funktionales“, meinte sie dann. Allerdings schaffte sie es nicht, ihren Blick sofort von dem Kleid abzuwenden. Es war ein atembrauend schönes Kleid!

    Der Mann starrte sie an als wäre sie verrückt.

    „Könnt Ihr damit aufwarten oder nicht?“, wollte sie wissen.

    Schnell nickte der dünne Mann und winkte sie in eine andere Ecke des Ladens.

    Verunsichert schaute sie kurz hinter sich. Mit der Hand an ihrem Zauberstab folgte sie dem Kerl, wobei sie bemerkte, dass dieser Laden offenkundige Schätze beherbergte. War sie vielleicht doch nicht an einen gierigen Halsabschneider geraten?

    „Eurer Statur nach zu urteilen, sollten Euch diese Exemplare passen“, meinte er und breitete einige Kleidungsstücke auf einem Tisch aus.

    Sie bedachte erst den Händler mit einem skeptischen Blick und dann seine Ware. Überrascht stellte sie die einwandfreie Qualität fest, die Nähte waren sauber, nicht ein Faden linste hindurch. Auch der Stoff fühlte sich angenehm unter ihren Fingern an. Aber dennoch … irgendetwas fühlte sich falsch an. Die Teile passten nicht zu ihr.

    Sie trommelte mit den Fingern auf der Auslage herum und entdeckte hinter einigen zugemüllten Kisten etwas, dass ihre Aufmerksamkeit erregte. „Was ist damit? Steht es zum Verkauf?“

    „Oh, ich bin mir nicht sicher, ob das einer Dame wie euch gefallen wird“, meinte der Kerl und winkte ab.

    „Das zu beurteilen, solltet Ihr der Dame selbst überlassen, nicht wahr?“, säuselte sie und lächelte.

    Kaum hatte der Händler die Ware hervorgeholt, war es für Esther beschlossene Sache. Vorsichtig strich sie mit der Hand über den dunkelblauen Stoff des knöchellangen Gewandes. Die Jacke in gleicher Farbe fühlte sich robust an, der Lederbesatz an den Unterarmen sollten sie vor leichten Schnitten schützen. Die Silber glänzenden, verschnörkelten Muster am Kragen, dem Leder und an den Säumen verliehen den Kleidungsstücken etwas Edles, was Esther sehr gefiel. „Wie viel wollt Ihr dafür?“

    Nachdem sie sich über den Preis geeinigt hatten, kaufte sie noch weitere Einzelstücke bei dem Mann und kurz bevor sie ging, verlor die Vernunft und sie ließ sich auch noch das ausgestellte Kleid einpacken.

    Einige Zeit später und um etliches ärmer verließ sie vollbepackt das Geschäft und machte sich auf den Weg in das Badehaus, welches ihr von dem Verkäufer empfohlen wurde, wo sie sich zunächst mit einigen Seifen und Düften eindeckte.

    Dann ließ sie es sich im Wahrsten Sinne des Wortes gut gehen.

    Ein frisches Bad konnte wahrlich Wunder bewirken!

    Die neue Kleidung saß wie eine zweite Haut, wenn sie auch nicht dem Bild der typischen Gräfin entsprach. Unter ihrem neuen Gewand trug sie nun eine enge Hose und wadenhohe, schwarze Stiefel.

    Zufrieden schnappte sie sich ihren Zauberstab, woraufhin ein warnendes Kribbeln durch ihren Körper schoss. Alarmiert sah sie sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen.

    Dadurch nur noch mehr aufgeschreckt, sammelte sie ihr Hab und Gut zusammen und verließ das Badehaus, den Zauberstab in der Hand haltend.

    Immer wieder murmelte sie diese eine bestimmte Formel. Ob sie von den Menschen in ihrer Nähe für eine Irre gehalten wurde?

    Sie folgte dem immer stärker werdenden Gefühl im Körper, welches sie bis an das andere Ende des Hafens führte. Der Weg zurück zur Revenge dürfte sie einiges an Zeit kosten.

    Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie sich um. Dann entdeckte sie den Grund dafür, dass ihr Zauber angeschlagen war.

    Nur um sicher zu gehen, schlich sie etwas dichter heran und richtete ihren Zauber direkt auf ihn. Das war er! Eindeutig!

    Beinahe wäre ihr ein Jubelschrei entglitten, doch dann sah sie, dass der Kerl, dem das Blut gehörte, nicht auf die Elefteria stieg. Sondern auf ein Schiff, das den Namen Telara trug.

    Als sie das Wappen auf dem Hauptsegel sah, stockte ihr Herz für einen Schlag. Sie starrte das monströse Schiff mit großen Augen an.

    Was nun? Sie sollte zurück zur Revenge gehen und den Anderen davon berichten!

    Allerdings machte das nur Sinn, solange Edmund auch da war. Sie glaubte nicht, dass der sich sobald wieder blicken lassen würde. Und sie weigerte sich, die ganze Hafenstadt nach ihm abzusuchen.

    Entschlossen ging sie auf die Telara zu. „Bitte verzeiht“, sprach sie einen Mann an, der für sie den freundlichsten Anblick bot, und gerade dabei war, eines der Taue zu prüfen. Verwirrt blickte er zu ihr auf.

    Sie zauberte eines ihres schönsten Lächeln auf die Lippen. „Könnt Ihr mir sagen, wie lange der Kapitän mit seinem Schiff hier anliegen möchte?“

    „Was interessiert es Euch?“

    Also doch kein netter Kerl …

    Neben ihrem Lächeln ließ sie nun noch ihre Augen leuchten. „Nun … Dieses Schiff ist sehr … bewundernswert“, stammelte sie. Sie war einfach nicht für Lügengeschichten gemacht! „Mein Sohn, er.... liebt solch große Schiffe. Ich würde ihm gerne die Gelegenheit geben, ihm dieses … Prachtexemplar zu zeigen!“

    Der ältere Matrose zog die Augenbraue hoch und reckte das Kinn. Dann erst konnte sie den Kettenring an einem Hals sehen, der ansonsten von einem Halstuch verborgen war. Der Mann war ein Sklave!

    „Euer ... Sohn?“, fragte er mit deutlicher Skepsis in der Stimme, dein Blick streifte den Zauberstab in ihrer Hand.

    Sie blinzelte und sah kurz beschämt auf den Boden. Sie hatte ihn schon lange genug von seiner Arbeit abgehalten. Sollte sein Herr mitbekommen, dass er hier herumstand und mit ihr plauderte, gab es sicherlich mehr als Ärger.

    „Bitte entschuldigt die Störung“, brachte sie hervor und wollte sich abwenden, doch der Mann hielt sie am Handgelenk fest.

    „Drei Tage“, flüsterte er, ließ sie los und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, zu verschwinden.

    Die Gelegenheit ließ sie sich nicht nehmen. Ohne ein weiteres Wort bahnte sie sich einen Weg durch die Menge und brachte Abstand zwischen sich und der Telara.

    Drei Tage waren zumindest genug, um den Anderen davon berichten zu können. Sollte Edmund bis dahin nicht da sein, musste sie ihn eben zur Rückkehr zwingen. Einmal hatte das immerhin schon funktioniert.

    Trevor sich nicht verrechnet. Knappe zwei Wochen später war das Schiff weitestgehend repariert, sodass der Formwandler davon ausging, dass es auch schwamm und nicht direkt unterging, sobald es die Wasserkante berührte. Zwar war es noch weit davon entfernt, um mit den vielen anderen Schiffen mithalten zu können, aber es würde reichen, um sie ans nächste Ziel zu bringen.

    Esther hatte zusammen mit Trevor einen Plan ausgearbeitet, um das Schiff wieder zu Wasser zu lassen, wobei die Hauptarbeit eindeutig bei ihr lag. Ihre Aufgabe war recht simpel: aufpassen, dass es weder umkippte noch stecken blieb oder ähnliches.

    Bevor es aber so weit war, beschlossen sie, zunächst ihre Habseligkeiten an Bord zu schaffen.

    Und so verschwendeten sie einen halben Tag damit, ihr Lager zusammenzuschlagen, die Kisten mit den Schätzen umherzuschleppen und die Ladung zu sichern. Alles wurde ein letztes Mal kontrolliert und es schien, als würde jeder seine Aufgabe genau kennen. Die Frauen prüften den Lagerbestand und richteten die Schlafstätten her, während die Männer die Segel begutachteten und die Kursberechnung kontrollierten.

    Als Esther hinter Nelli aus dem Unterdeck ins Freie trat, hockte Trevor über eine Karte gebeugt auf den Planken und sprach leise mit Edmund, der an der Reling lehnte.

    „Wir sind unten fertig“, sagte sie, woraufhin die beiden sich zu ihr umwandten.

    Trevor rollte die Karte zusammen, erhob sich und blickte in den Himmel. Und sah sie schließlich an. „Dann kann es losgehen. Bis du bereit?“

    Esther begriff, dass die Frage an sie gerichtet war, weshalb sie knapp nickte. Wobei … „Unser Schiff braucht einen Namen“, meinte sie.

    Eine Weile lang hing Stille über die Anwesenden.

    „Revenge“, brach Trevor dann das Schweigen. Der Formwandler wandte sich zu Edmund um, als würde er sich von diesem sein Einverständnis holen wollen.

    Esther wartete, während sie von einem zum anderen blickte. Ihr stand es wohl kaum zu, in der Hinsicht Einwände vorzubringen.

    Revenge … Das erschien ihr passend.

    Edmund machte eine Geste, die sie irgendwo zwischen einem Schulterzucken und nicken einordnen würde. „Warum nicht.“

    Als niemand etwas dazu sagte, trat Esther an die Reling und streckte ihren Zauberstab vor. „Dann haltet euch mal an der Revenge fest.“ Sie lächelte zuversichtlich. „Wir nehmen Fahrt auf.“

    Im Nachhinein überraschte es sie, dass die Revenge unbeschadet zurück ins Wasser geglitten war. Und Esther konnte nicht einmal sagen, wie genau sie das geschafft hatte. Wichtig war nur, dass sie dieses Hindernis hinter ihnen lag und sie nun einen Schritt weiter waren.

    Esther sah zur Insel zurück.

    Nicht ein einziges Mal hatte sie sich gefragt, welchen Namen sie trug.

    In Anbetracht dessen, dass sie diesen Ort nicht wieder sehen wollte, war ihr das aber auch egal. Sie nahmen Kurs auf die Weißen Felseninseln.

    Nachdenklich stapfte Esther durch den Dschungel. Sie wusste, dass es falsch gewesen war, die Gruppe zu verlassen und mit den restlichen Arbeiten alleine zu lassen, aber sie konnte nicht weiter dort bleiben. Es hatte sie das dringende Bedürfnis überfallen, für einen Moment Luft zu holen – nur für sich zu sein.

    Sie schloss kurz die Augen und bahnte sich weiter einen Weg durch das Gestrüpp. Zwar hatte sie keine Ahnung, wohin sie überhaupt ging, aber das spielte nicht wirklich eine Rolle.

    Fahrig wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.

    Auf der Welt gab es unzählige Magier! Warum musste der Käufer des Fernrohrs ausgerechnet Thomas sein?

    Sie glaubte nicht an Schicksal, doch als sie das gehört hatte, kam sie nicht umhin, sich zu fragen, ob das ein schlechter Witz gewesen sein sollte.

    Das kann doch nicht wahr sein!

    Energisch zog sie den Zauberstab und schmetterte wutentbrannt einen winzigen Schild gegen einen Busch. Zahlreiche kleine Äste brachen und Blätter rieselten auf den Boden.

    Sie schnaufte und spürte, wie ihr Herzschlag sich etwas normalisierte.

    Wie konnte Edmunds Vater jemanden wie Thomas das Fernrohr anvertrauen?

    Kopfschüttelnd ging sie weiter.

    Genau genommen, wusste sie nicht einmal, warum sie sich daran störte. Die Ladung gehörte ihr nicht, sie war keinesfalls verantwortlich dafür.

    Und möglicherweise war Thomas nicht mehr der ekelhafte Kerl aus der Gildezeit. Immerhin konnten Menschen sich ändern.

    Lächerlich! Nicht der! So jemand wie er konnte sich nicht ändern!

    Aber was sollte sie machen? Sie konnte Edmund nicht verbieten, das Fernrohr an Thomas zu verkaufen und wenn, aus welchen Gründen sollte das geschehen? Sie hatte kaum Argumente dafür, wieso Thomas das Fernrohr nicht besitzen sollte.

    Ein – der Kerl hat mich angefasst, ist überhaupt der ekelhafteste Mensch auf der Welt und darüber hinaus nicht vertrauenswürdig – brachte den Händlersohn auch nicht dazu, den Verkauf abzubrechen.

    Sie sah über die Schulter und verwarf den Gedanken, wieder zum Lager zurückzukehren, schnell wieder, und ging weiter.

    Vergiss es! Du bist nur dabei, um Edmund sicher nach Samira zu bringen, was bisher zwar nicht ganz so gut geklappt hat, aber nun ja. Der Handel geht dich nichts an!

    Esther seufzte und fasste den Entschluss, in Samira auf das nächste Schiff zu steigen und nach Silberberg zurückzukehren. Mit Thomas und dem Handel wollte sie nichts zu schaffen habe. Überhaupt wäre sie froh, dem Kerl nie wieder zu begegnen.

    Abermals stieß sie den Atem aus und allmählich befiel sie doch das schlechte Gewissen. Sie drehte sich um und setzte dazu an, wieder zurückzugehen, stockte jedoch.

    Vor ihr breitete sich nichts weiter aus als eine grüne Wand aus Gestrüpp.

    Sie blinzelte und drehte sich einmal um ihre eigene Achse, was nur dazu führte, dass sie komplett die Orientierung verlor. Ich habe mich verlaufen …

    Sie kämpfte die aufkeimende Panik nieder.

    Beruhige dich!

    Es brachte jetzt nichts, wenn sie ausflippte.

    Erneut sah sie sich um und entdeckte in etwas Entfernung eine Anhöhe aus Felsen.

    Entschlossen ging sie darauf zu. Zwar wurde es allmählich dunkler, aber wenn sie sich beeilte, konnte sie vielleicht von dort oben das Wrack erkennen und die Richtung ausmachen, in die sie gehen musste.

    Am Fuß der Anhöhe zweifelte sie bereits an ihrem Plan.

    Von Weitem hatte es nicht so hoch ausgesehen. Sie zuckte die Schultern, Möglicherweise musste sie ja nicht bis nach ganz oben.

    Gut, dass ich auf Hosen umgestiegen bin …

    Sie atmete noch einmal durch und begann mit dem Anstieg. Die Felsen waren nicht steil, trotzdem fiel es ihr schwer, hinaufzuklettern.

    Ich bin das nicht gewohnt!

    Schritt für Schritt schob sie sich in die Höhe, den Zauberstab in der Hand haltend, für den Fall, dass sie einen Schild brauchte.

    Auf einem breiteren Stein gönnte sie sich eine Pause. Verschwitzt und schwer atmend, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Felswand und sah in den Dschungel hinaus. Wie zu erwarten, reichte es noch nicht. Das Wrack war nirgends zu sehen.

    Als sie den Blick über die Steine gleiten ließ, gewahrte sie neben sich dunkle Flecken. Sie fuhr mit den Fingern darüber du runzelte die Stirn. Festgetrocknet.

    Fast sah es aus wie Farbe, die von oben hinuntergetropft war. Egal, was es war, irgendwie wollte sie nicht wissen, um was es sich bei den Flecken handelte.

    Unweit der Flecken sah sie aus dem Augenwinkeln etwas zwischen zwei Steinen glitzern und nach kurzem Zögern kroch sie neugierig hinüber.

    Eine Münze … Nachdenklich drehte sie diese in ihrer Hand und sah sich um.

    Tatsächlich fand sie noch ein paar andere, aber bei Weitem nicht genug, um sie als Schatz zu bezeichnen.

    Sie richtete sich wieder auf, legte die Münzen auf einen Stein und kletterte weiter. Sobald sie wieder im Lager war, konnte sie den Anderen davon berichten. Jetzt nach Münzen zu suchen, ergäbe keinen Sinn. Die Nacht schien bereits hereinzubrechen und bis dahin sollte sie besser zurück sein.

    Einige Meter weiter bekam sie plötzlich keinen Stein zu fassen. Der Untergrund gab unter ihren Fingern nach und als sie sich hochzog und über den Rand des Felsens schaute, starrten leblose Augen ihre ins Gesicht. Und dann wusste sie auch, warum sich der Boden so seltsam unter ihren Fingern angefühlt hatte.

    Nichtsahnend hatte sie mit der Hand einfach in den aufgeschlitzten Bauch gegriffen, der Sebel steckte noch im Leib.

    Ihr entfuhr ein Schrei und aus Reflex löste sie den Griff.

    Sie konnte das Gleichgewicht nicht mehr halten, rutschte ab und überdies entglitt ihr der Zauberstab. Ihr Versuch, sich irgendwo festzukrallen, scheiterte. Tatsächlich machte sie es dadurch nur noch schlimmer. Unter ihrem Fuß lösten sich Steine und sie glitt endgültig in die Tiefe.

    Erneut schrie sie.

    Staub und kleine Steine rieselten ihr ins Gesicht, irgendwo schürfte sie sich die Arme auf, die Hose riss an der rechten Seite. Dann verkeilte sich ihr Bein und sie rollte einfach weiter den Hang hinunter, bis sich schließlich Dunkelheit um sie herum breit machte. Ein plötzlicher Druck um ihren Oberkörper ließ sie aufkeuchen und die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, kurz wurde ihr schwarz vor Augen. Das spärliche Licht machte es schwer, etwas zu erkennen. Die Luft roch … erdig und unter sich spürte sie sowohl Steine als auch Wurzeln.

    Hustend versuchte sie, sich aus ihrer halbseitigen Schräglage aufzurichten. Sie unterbrach dieses Unterfangen, als sich die Schnüre ihres Korsetts enger zuzogen und sie nur noch weniger Luft bekam, weshalb sie sich in ihre, nicht nur unbequeme sondern auch schmerzhafte Ursprungsposition begab. Als sie ihren Arm hinter den Rücken schieben wollte, stieß sie bereits mit dem Ellenbogen gegen die Wand, weshalb sie die Schnüre auf diese Weise nicht lösen konnte.

    Sie haben sich irgendwo verheddert …

    Langsam drehte sie den Kopf ein wenig und blickte zu dem fahlen Lichtschein hinauf.

    Wie gelähmt starrte sie den schmalen Streifen in einigen Metern Höhe an, durch den sie einen Fleck des Himmels sehen konnte.

    Das … durfte … nicht … wahr … sein …

    Ihre Sicht klärte sich, jedoch brannte der Dreck in ihren Augen. Rauswischen konnte sie ihn nicht, denn den Arm heben, ging in dieser Haltung nicht.

    Nun spürte sie auch das unangenehme Ziehen ihrer Schwürfwunden an den Händen, Armen und Beinen. Irgendetwas musste sie auch am Rücken erwischt haben … und im Gesicht. Es glich einem Wunder, dass sie sich nicht einfach das Genick gebrochen hatte.

    Und mein Zauberstab liegt da oben … und die anderen sind am Strand … wo ich auch hätte sein müssen … du Idiot!

    Ob es etwas brachte, um Hilfe zu rufen? Oder war sie zu weit in den Wald gegangen, sodass ihr Schrei im Dschungel verhallte?

    Schaden konnte es nicht, also brüllte sie mehrere Male hintereinander, bis ihr die Luft wegblieb und sie hustend um Atem rang.

    Einige Zeit machte sie so weiter, bis sie die Hoffnung aufgab und ihr Schrei nichts weiter war als unverständliches Gemurmel.

    Musste sie wirklich hier sterben? Alleine? Verhungern. Verdursten. In einem Felsspalt feststeckend?

    Müde schloss sie die Augen und spürte, wie Tränen über ihre Wangen rollte. Wenn sie nur bei den Anderen geblieben wäre …

    „Esther?!“, hörte sie plötzlich eine Stimme wie in weiter Ferner.

    Etwas in ihr wollte das einfach ignorieren, zu schwach war sie mittlerweile geworden. Dann zwang sie sich aber, ihre Konzentration zusammenzukratzen.

    „Esther!“ Panik und Sorge schwang in dem Ruf mit.

    „Trevor!“, rief sie krächzend, nachdem sie die Stimme identifizieren konnte. „Ich … bin hier!“ Wo genau auch immer dieses hier war …

    „Bleib wo du bist!“, hörte sie abermals den Wandler rufen.

    Als könnte ich irgendwo anders hin …

    Sie wollte noch etwas rufen, aber der Atem ging ihr immer mehr aus, so sehr hatte das Korsett sich zugezogen. Täuschte sie sich oder wurde die Luft tatsächlich stickiger? Und kamen die Wände näher?

    Sie zog ihre Hand zur Köpermitte und versuchte ihre abgehackte Atmung zu kontrollieren. Allmählich begann sie zu zittern.

    „Esther?“ Der Ruf kam näher, aber es schien ihr, als wäre Trevor noch immer zu weit weg, um sie zu finden.

    „Hier …“, keuchte sie und hoffte, dass man sie hören konnte und gleichzeitig ihre Panik in dem einzelnen Wort überhörte.

    Dann hörte sie ein Scharren ganz nahe am Felsspalt und dummerweise versuchte sie deshalb, sich in Bewegung zu setzten. Sogleich zogen sich die Schnüre noch enger zusammen und das Korsett presste sich erbarmungslos gegen ihren Oberkörper.

    Krächzend stolperte sie wieder zurück und starrte zur Öffnung hinauf.

    „Edmund!“, konnte sie Trevor rufen hören. „Esthers Stab!“

    „Ich bin … hier!“, kam es über ihre Lippen. Selbst in ihren Ohren klang das viel zu leise, trotzdem schob sich im nächsten Moment ein Schatten in ihr Blickfeld und verdunkelte das Loch, in dem sie steckte, fast zur Gänze.

    Sie blinzelte und erkannte dann Edmunds sowie Trevors fassungslose Gesichter.

    „Was …“, brachte Trevor hervor. „Hast du dir etwas gerbrochen?!“

    Esther schüttelte schwach den Kopf und versuchte mit der Hand an ihren Rücken zu deuten, um den Männern das Problem zu signalisieren. Sie war sich aber nicht sicher, ob das jemand sehen konnte.

    „Ich … hänge fest“, brachte sie atemlos hervor und presste die Hand weiter auf ihren Bauch. „Die … Schnüre …“

    „Ich laufe ins Lager zurück und hole Seile und ein Messer“, sagte Trevor. „Bleib du bei Esther!“ Seine Stimme klang ungewöhnlich gehetzt, fand sie. Dann verschwand der Formwandler aus ihrem Blick.

    Völlig außer Atem bettete sie den Kopf an einen Stein und schloss die Augen, um die näherkommenden Wände nicht sehen zu müssen.

    Sie wusste nicht, ob Edmund sie die ganze Zeit beobachtete, zu sehr war sie darauf bedacht, Ruhe zu bewahren und halbwegs vernünftig Luft zu holen.

    Einige Zeit geschah nichts, dann hörte sie wieder ein Schaben und Stimmen, die miteinander sprachen. Was geredet wurde, hörte sie nur am Rande ihres Bewusstseins.

    „Ich komme jetzt zu dir runter!“ Wieder war es Trevor. Dann rieselte ihr Dreck ins Gesicht, doch der Formwandler kam auch nach einige Zeit nicht bei ihr an. „Das wird nichts. Ich passe nicht durch den Spalt ...“

    „Guck mich nicht so an“, vernahm sie Edmunds Stimme. „Ich krieche da nicht runter!“

    Daraufhin entbrannte eine Diskussion, der sie aber kaum folgen konnte, zu sehr überschattete diese Situation ihre Konzentration.

    Schön. Jetzt stritten sie.

    Ich will doch nur hier raus!

    Sie krallte sich mit den Finger in die Erde und sie spürte, wie abermals Tränen in ihren Augen brannten. Gequält holte sie Luft und brachte ein Wimmern hervor.

    Obwohl sie es nicht beabsichtigt hatte, schien das beide Männer davon abzuhalten, weiter zu diskutieren.

    Es scharrte und rumorte am oberen Ende des Felsspalts.

    „Dafür schuldet ihr mir was …“ Täuschte sie sich oder klang Edmund genervt?

    Sie hatte sich diesen Platz auch nicht freiwillig ausgesucht …

    Wieder landeten kleine Steine und Dreck auf ihrem Körper. Sie drehte den Kopf etwas weg, damit sie es nicht allzu sehr in die Augen bekam.

    Dann schob Edmund sich langsam hinunter, bis er etwa auf ihrer Augenhöhe war. Gezwungenermaßen hingen sie beide nun dicht gedrängt aneinander, da der Spalt kaum genug Platz bot.

    Sie spürte die stetig wachsende Panik in ihrem Inneren und wie ihr der Schweiß ausbrach, aber sie riss sich zusammen und kämpfte den Drang zu schreien einfach nieder.

    Erst traute sie sich nicht, ihm ins Gesicht zu blicken, zu sehr schämte sie sich für diese Situation – ähnlich wie in der, als sie im Wasser ausgerutscht war.

    Allerdings lachte im Moment niemand über sie.

    Dann hob sie den Kopf und sah Edmund an.

    Edmund stand der Schweiß auf der Stirn und tatsächlich merkte sie erst jetzt wieder die Hitze. In der Hand hielt er ein Messer und ein konzentrierter sowie genervter Ausdruck lag auf seinen Zügen.

    Er schien etwas sagen zu wollen, musterte sie dann … für ihren Geschmack etwas zu lange. Doch sie sah, wie etwas von seiner angespannten Haltung abfiel. „Du solltest dir nachher unbedingt den Sternenhimmel anschauen“, meinte er und sie glaubte, eine Spur Mitleid in seiner Stimme zu hören. „Wir haben Vollmond“, setzte er noch nach.

    Deshalb ist es noch so hell …

    Sie wusste nicht, wieso er ausgerechnet in dieser misslichen Lage mit dem Mond und den Sternen um die Ecke kam, aber der ruhige Ton seiner Worte beruhigte sie und der Gedanke daran, bald wieder den Himmel sehen zu können, ließ sie beinahe wehmütig werden. „Das … klingt schön“, sagte sie und rang nach Atem.

    „Es ist ja nicht so, dass wir seit Wochen unter dem Sternenhimmel schlafen und arbeiten“, sagte er, während er um sie herumgriff. „Ein Teil Heimat oder? Dein Vater blickt in den gleichen Himmel.“

    Esther unterband den Drang, sich dichter an die Wand zu drücken.

    Reiß dich zusammen!

    „Vermutlich schläft … mein Vater längst“, versuchte sie ihre Gedanken von der erneut aufkommenden Panik auf das Gespräch zu lenken.

    „Würde er vermutlich nicht, wenn er wüsste, wie nah ich dir bin“, sprach Edmund und sie spürte, wie der Druck seines Körpers an ihrem sich verlagerte. „Mit einem Messer in der Hand …“

    Es war schon seltsam. Aufgrund der Andeutungen vorhin hätte sie mit anderen Kommentaren von ihm gerechnet.

    Sah Edmund ihre Angst? Ihre Panik? Und verzichtete deshalb auf Anzüglichkeiten?

    Sie beschloss, sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen.

    Die Bewegung in ihrem Rücken bemerkte sie deutlich und schon als er die erste Schnur durchtrennte, fühlte sie nichts anderes als pure Erleichterung.

    Gierig sog sie die Luft ein. „Höchstwahrscheinlich … würde er dich dafür in die Silberminen stecken“, gab sie zurück, immer noch atemlos. „Um ehrlich zu sein, mache ich mir aber keine Gedanken um das Messer in deiner Hand … ich will nur hier raus …“

    Edmund nickte nur. Ein konzentrierter Blick lag auf seinem Gesicht und sie spürte die Berührungen in ihrem Rücken, wie er die Schnüre ertastete und sie schließlich vorsichtig mit dem Messer durchtrennte.

    Seltsamerweise beruhigte sich ihr Herzschlag allmählich und mit jeder Schnur, die sich löste gelangte etwas mehr Atem in ihren Körper zurück.

    Wie fremdgesteuert drängte sie sich etwas weiter an Edmund, damit er besser an die letzte Verschnürung herankam.

    Und als er die Letzte zerschnitten hatte, keuchte sie erleichtert auf und wäre dabei ins Wanken geraten, stünden sie beide nicht so dicht aneinander.

    „Danke …“, murmelte sie kaum hörbar und immer noch um Luft ringend.

    „Bitte“, antwortete Edmund.

    Sie nickte nur und schob den Arm an seinem Körper vorbei, um sich des Korsetts zu entledigen. Es war hinüber, also konnte es auch hier unten vergammeln.

    Räuspernd versuchte sie, etwas Abstand zu gewinnen, was in Anbetracht des Ortes nicht möglich war. „Wie kommen wir jetzt hier heraus?“, wollte sie wissen und warf einen schnellen Blick nach oben, wo noch immer der Umriss von Trevors Gestalt zu sehen war.

    „Das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du in ein Erdloch fällst, Gräfin, gab Edmund bissig von sich, weshalb sie kurz zusammenzuckte. „Du stehst mir übrigens auf dem Fuß. Aber darauf zu achten, wohin du trittst, scheint keine Stärke von dir zu sein.“ Er zog das Seil, an dem er heruntergeklettert war, zu sich und reichte es ihr.

    Die Panik, die sie vorhin noch verspürt hatte, verpuffte endgültig und machte einer wallenden Wut Platz.

    Wäre es ihr möglich gewesen, hätte sie ihm das Seil einfach energisch aus der Hand gerissen. So aber, konnte sie nur beherzt danach greifen. „Ja, genau! Ich habe es mir auch ausgesucht, in ein Erdloch zu fallen“, maulte sie und sah ihn finster an. Es war schon schlimm genug, dass sie überhaupt hier unten gelandet war. Musste er ihr das auch noch vorwerfen?

    Wie konnte man in einem Augenblick Nettigkeit heucheln und dann wieder so absolut herabwürdigend sein?

    Ob er auch so zu ihr wäre, wenn er wüsste, wieso sie abgerutscht war?

    Sie wollte es nicht wissen.

    Unsanfter als nötig drängte sie sich an ihm vorbei und trat ihm dabei absichtlich noch einmal auf den anderen Fuß. Dann sah sie unschlüssig nach oben, nicht wissend, was sie nun tun sollte.

    Hinter sich hörte sie, wie Edmund mit den Zähnen knirschte. „Du erinnerst dich an den erwähnten Sternenhimmel? Ich würde den gerne in diesem Leben auch nochmal sehen.“

    Sie rollte mit den Augen, schnaufte und machte sich dann vorsichtig an den Anstieg nach oben. Es war anstrengend, denn der Platz war nach wie vor sehr begrenzt. Außerdem konnte sie nicht viel sehen und ihre Kletterkünste waren miserabel.

    Fast konnte sie schon den Ausgang greifen, als sie abrutschte und einige Schritte nach unten glitt. „Verflucht“, schimpfte sie, nachdem sie sich irgendwie abfing.

    Bevor sie sich erneut nach oben hievte, hörte sie noch, wie Edmund sich über den ganzen Dreck beschwerte.

    Geschieht dir recht!

    Erst ihr den Gentleman vorgaukeln und dann wieder anders …

    Genervt kämpfte sie sich weiter und sah wenige Meter später, wie Trevor ihr eine Hand entgegenstreckte und sie hinaufzog.

    Schwer atmend blieb sie einen Moment einfach auf dem Boden liegen, genoss das Gefühl, wieder frischen Atem einziehen zu können und nicht mehr von Wänden zerquetscht oder von ihrer eigenen Korsage erwürgt zu werden.

    Dann erschien auch Edmund wieder am Tageslicht, der sich sogleich aufrichtete. Er schüttelte sich den Staub aus den Haaren und versuchte sich die Kleidung sauber zu klopfen.

    „Geht es dir gut?“, hörte sie Trevor fragen und half ihr beim Aufstehen.

    Sie nickte knapp und warf Edmund einen kurzen, wütenden Blick zu. „Es geht mir gut. Danke für die Hilfe.“

    „Hauptsache, dir ist nichts Schlimmeres passiert“, Trevor winkte ab. „Wie ist das eigentlich passiert?“, wollte der Formwandler schließlich wissen und sah sie fragend an.

    Ja. Was sollte sie sagen?

    „Ich habe mich vorhin im Wald … verirrt“, sagte sie und entschied sich, bei der Wahrheit zu bleiben. „Ich dachte, ich könnte von dort oben das Lager entdecken. Beim Hochklettern bin ich auf Münzen gestoßen … und einer Leiche. Ich bin abgerutscht und dann …“ Sie zuckte die Schultern und deutete mit dem Kinn in Richtung des Felsspaltes.

    Trevor sah nach oben. „Ich werde mir das ansehen“, beschloss er und blickte ihr wieder ins Gesicht. „Du solltest Oma über die Wunden schauen lassen“, schlug er noch vor und reichte ihr gleichzeitig den Zauberstab. Nickend nahm sie diesen entgegen, murmelte ein Danke und ging an Edmund vorbei, um von der Anhöhe hinunterzuklettern.

    Unten angekommen, begab sie sich in Nellis Obhut, mit der sie sogleich zurück ins Lager ging und die zahlreichen kleinen Schwürfwunden versorgen ließ. Der Heilerin erzählte sie ebenfalls, was passiert war. Glücklicherweise verzichtete Nelli auf jeden Kommentar. Noch mehr davon konnte Esther nicht ertragen.

    Während sie Nellis Untersuchungen am Rücken geduldig über sich ergehen ließ, wischte sie sich über das von Tränen angefeuchtete Gesicht. Ob es der abgefallenen Anspannung geschuldet war oder Edmunds Auftreten ihr gegenüber konnte sie nicht sagen.

    Jedenfalls nahm sie sich vor, nicht noch einmal zuzulassen, dass der Händlersohn so mit ihr umsprang. Sie blinzelte die neuerlichen Tränen weg, atmete ein paar Mal tief durch und bemühte sich um eine ausdrucklose Miene.

    Du bist eine Gräfin verdammt! Verhalte dich wenigstens einmal so!

    Während Trevor und Edmund weiterhin mit dem Aufstellen des Gerüstes beschäftigt waren, flickte Nelli die Segel.

    Langsam aber sicher war das Gerüst auch als solches erkennbar und Trevor hatte mehrfach versichert, dass nicht mehr viel fehlte bis es fertig war. Mittlerweile dauerte der Bau daran schon einige Tage und anfangs hatte Esther nicht einmal verstanden, wie die Konstruktion am Ende aussehen sollte. Mehrmals am Tag brüteten die Männer über ihre Zeichnung, verglichen sie mit ihrem Ergebnis, sprachen über neue Ideen, verwarfen Gedanken, um dann erneut zu diskutieren.

    Sie selbst war in dieser Zeit wenig hilfreich zur Hand gegangen. Viel mehr als Seile binden, hatten sie und Nelli nicht tun können. Und allein davon trug sie bereits brennende Stellen an den Handinnenflächen. Beschweren würde sie sich deshalb nicht, zumindest nicht laut. Von Anfang an wollte sie helfen und da würde sie wegen ein paar Blasen nicht jammern.

    Esther wandte den Blick von Trevor ab, der gerade einen weiteren Pfosten im Erdboden versenkte, und sah Edmund dabei zu, wie er eines der Seile um eine Querverstrebung wickelte und damit festschnürte. Wie der Händlersohn angekündigt hatte, war von der Verletzung nicht mehr viel zu sehen. Es überraschte sie ohnehin, mit welcher Verbissenheit er mittlerweile an die Arbeit ging. Möglicherweise lag es daran, dass man ein Ziel sah. Zwar ein kleines, aber immerhin.

    Seufzend rappelte sie sich auf, schnappte sich den Topf von der Kochstelle, trat bis an die Wasserkante heran und starrte auf das offene Meer hinaus. Die Sonne ging bereits unter und trotzdem hing die Hitze penetrant über diese Insel.

    Weil sie gerade nichts am Gerüstbau machen konnte, hatte sie sich bereit erklärt, für die Ordnung im Lager zu sorgen und eine Zwischenmahlzeit zuzubereiten.

    Warum habe ich noch einmal gesagt, dass ich kochen will?

    Ihr Blick glitt abermals zu den Männern hinüber.

    Ach ja …

    Sie wollte, dass Edmund sich auch einmal ausruhen konnte und nicht noch kochen musste nach der Arbeit …

    „So wird der Topf nicht sauber!“, rief die Hexe ihr belustigt zu.

    Esther unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte ausgesprochen schlecht geschlafen. Nachdem sie alle ihren Schlaf- und Arbeitsrhythmus umgestellt hatten, war es Esther schwergefallen, sich daran zu gewöhnen und offen gestanden, fiel es ihr immer noch nicht leicht, bei der Tageshitze zu schlafen.

    Dementsprechend müde und ausgelaugt war sie.

    Von ihrer miesen Stimmung ganz abgesehen. Ob es allgemein daran lag, dass sie nur schleppend vorankamen, weil sie einfach schlecht schlief oder weil ihr die Sache mit Edmund und dem Bannzauber nicht aus dem Kopf gingen, konnte sie nicht sagen.

    Mehrere Mal hatte sie schon vorgehabt, mit dem Händlersohn darüber zu reden und sich zu entschuldigen, nie aber die Gelegenheit ergriffen.

    Warum auch? Eigentlich müsste er gemerkt haben, dass sie sich nur Sorgen gemacht hatte. Genauso wie Nelli.

    Außerdem war sie selber sauer auf ihn. Immerhin hatte er ihr eine Affäre mit Trevor unterstellt! So ein Blödsinn! Absolute Frechheit!

    Aber wollte sie weiter darauf herumreiten?

    Sie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stapfte barfuß einige Schritte ins Wasser. Ihre Stiefel hatte sie in weiser Voraussicht am Lager gelassen.

    Ohnehin fühlte sie sich im Moment wenig gräflich. Eitel war sie keineswegs, aber sie brauchte auch keinen Spiegel, um zu wissen, dass sie dem Anblick einer Vogelscheuche glich. Leider konnte sie aus den gelagerten Sachen des Wracks nichts finden, was sich irgendwie auch nur annähernd als Haarbürste nutzen ließ. Deshalb blieb ihr bisher nichts anderes übrig, als die Haare mit den Fingern in Ordnung zu bringen. Zu diesem Zweck hatte Nelli ihr aus einem Stück Segeltuch ein Haarband herausgeschnitten. Es war deutlich fester und hielt selbst ihre lange Mähne in einem Zopf zusammen.

    Außerdem trage ich Hosen, latsche wie ein Bauer barfuß über den Sand und werde mit jedem Tag brauner.

    Von den kleinen Narben an ihrer Handinnenfläche ganz zu schweigen.

    Sie ging weiter, bis das Wasser beinahe ihre Knie berührte. Still, heimlich und im Gedanken verfluchte sie diese Insel, dieses Wrack und sich selbst, weil sie sich einbildete, Essen kochen zu können. Sie verfluchte Edmund seiner Unverschämtheit wegen und Trevor, weil es durch seinen Kuss überhaupt zu so einer Unterstellung gekommen war! Und Nelli … weil … keine Ahnung!

    „So ein verfluchter Dreck!“, schimpfte sie leise und wusste selber nicht einmal genau, warum sie meckerte. Sie beugte sie sich vor und stopfte beinahe energisch den Topf unter Wasser und wischte ihn mit der Hand aus.

    Warum regte sie sich eigentlich so sehr auf? An alledem war nichts so furchtbar, wie es sich vielleicht anhörte. Lag es etwa an der Zeit hier auf der Insel? Drehte sie langsam durch?

    Und jetzt spülst du den Topf mit Salzwasser aus, du Idiot!

    Allein aus Trotz wusch sie diesen weiter aus. Als sie damit fertig war, den Topf zu malträtieren, wandte sie sich um und wollte zurück ans Ufer waten.

    Sie kam keine zwei Schritte weit, als sie mit dem Fuß an einem Stein hängen blieb, ins Wanken geriet und sich mit einem spitzen Aufschrei auf den Hintern setzte. Wasser spritzte ihr bis ins Gesicht und sofort drang die Nässe durch die Kleidung. Der Topf flog im hohen Bogen über sie hinweg und klatschte hinter ihr auf die Meeresoberfläche.

    Mit geschlossenen Augen blieb sie sitzen und versuchte, die aufkeimende Wut niederzuringen und als wäre das nicht schon genug, sprang schallendes Gelächter zur ihr rüber.

    Mit zusammengepressten Lippen sah sie zu dem Gerüst hinüber, wo Trevor breit grinsend an einem Baumstamm lehnte und Edmund sich lachend an dem Ständerwerk festhielt.

    Sie verspürte üble Lust, einem der Männer den Topf an den Kopf zu werfen. Ganz egal, wem, es würde keinen Falschen treffen!

    Nellis Gesichtsausdruck wollte sie lieber nicht sehen, weshalb sie den Kopf in den Nacken legte und den Spott über sich ergehen ließ.

    Als sie den Blick wieder nach vorn richtete, sah sie, wie Edmund feixend auf sie zukam und schließlich ebenfalls ins Wasser trat. „Vielleicht sollte ich doch lieber das Kochen, wenn Ihr den Topf schon wegwerft“, meinte er frech grinsend, was nicht unbedingt dazu führte, dass sich ihre ohnehin schon schlechte Laune verbesserte.

    Wohlwissend, dass sie sich damit nur noch mehr nass machte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und biss sich auf die Unterlippe.

    Er lachte sie aus! Sie selbst fand an der Situation nichts erheiternd. Nicht einmal im Entferntesten … Oder störte es sie nur, weil sie es als Adlige nicht gewohnt war, dass man über sie lachte?

    „Blödsinn“, gab sie säuerlich zurück, blieb rein aus Trotz im Wasser sitzen und vermied es, Edmund anzusehen. „Ich habe den Topf nicht weggeworfen! Ich bin lediglich … ausgerutscht.“ Jetzt, wo sie es selber laut aussprach, klang es doch amüsant, weshalb sie den Anflug eines Lächelns unterdrücken musste.

    Offensichtlich gab ihr teilweises Zugeständnis Edmund nur noch mehr Anlass dazu, sich weiter über sie lustig zu machen. „Aha“, machte er und aus dem Augenwinkel sah sie, wie er über beide Ohren grinste.

    Esther war das genug, sie wollte nichts weiter als dieser Situation entkommen. Also griff sie hinter sich nach dem Topf, angelte ihn aus dem Wasser und versuchte sich halbwegs gekonnt aus ihrer Position in die Höhe zu stemmen.

    Wie konnte man es in einem einzigen Moment schaffen, sich derartig zum Gespött zu machen?!

    Edmund streckte ihr schließlich die Hand entgegen. „Darf man der Gräfin helfen?“, frage er und schien sich Mühe zu geben, seine Belustigung zu zügeln.

    Sie hielt inne und betrachtete seine angebotene Hand sowie seinen Gesichtsausdruck im Wechsel. Dabei keimte eine Idee in ihr auf …

    Räuspernd und ein Lachen unterdrückend griff sie nach seiner Hand. Als sie mit seiner Hilfe aufstand, stemmte sie sich gleichzeitig mit aller Kraft nach hinten.

    Es überraschte sie, dass es ihr gelang, Edmund mit sich zu ziehen.

    Er bekam nicht genug Zeit, um irgendwie zu reagieren, weshalb er ebenso wie sie selbst ins Taumeln geriet.

    Die Genugtuung, die sie in dem Moment verspürte, als er neben sie im Wasser landete, war gewaltig – auch wenn sie dadurch nun komplett getränkt wurde.

    Einen Moment lang kämpften sie beide darum, sich wieder aufzusetzen, was Esther eine Spur schneller gelang. Sie wischte sich prustend das Wasser aus dem Gesicht und sah, wie Edmund sich aufsetzte. Nach Luft ringend, blieb er neben ihr hocken und strich sich die nassen Haare zurück.

    Blinzelnd sah er sie an und sie wappnete sich bereits für die drohende Schimpftirade, die gleich über sie hereinbrechen würde.

    Dementsprechend verwirrt war sie, als Edmund plötzlich anfing, schallend zu lachen.

    Sie starrte ihn an, reglos und ohne zu verstehen, was hier vorging. Wieso war er nicht wütend? Sie hatte ihn ins Wasser gezogen! Zum Fallen gebracht! Wieso lachte er darüber?

    „Ihr hättet auch sagen können, dass Ihr über mich herfallen wollt“, meinte er gackernd und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.

    Für einen Augenblick rang Esther mit ihrer Fassung. Was hatte er gerade gesagt? Wie konnte er? „Mitnichten würde ich über dich herfallen, gab sie grinsend zurück und bemerkte zu langsam, dass sie die förmliche Anrede missachtete. Nun. Es war ohnehin zu spät, um das zu korrigieren.

    Aber eines musste sie zugeben: Sein Lachen hatte zumindest eine gute Wirkung.

    Sie spürte, wie ihre üble Laune langsam verebbte. „Das war einfach Rache für deine unverfrorene Unverschämtheit“, setzte sie nach.

    Edmund hob die Augenbrauen. „Unverschämt? Ich? Niemals!“ Er holte aus und spritzte ihr Wasser entgegen.

    Sofort drehte Esther sich ein wenig weg und hob schützend die Arme, um nicht die volle Ladung ins Gesicht zu bekommen. Sie spürte, wie der Rest ihrer schlechten Laune weggespült wurde.

    Es tat gut, für einen Moment die Probleme und Sorgen zu vergessen. Allerdings verwirrte es sie, dass es Edmunds Verdienst war, dass sie heute lachen konnte. Ein Fakt, den sie nur schwer für möglich hielt. Noch vor wenigen Tagen hätte sie so etwas nicht in Betracht gezogen.

    Sie schlug nun ihrerseits mit der Hand ins Wasser, sodass Edmund einige Tropfen entgegensprangen. „Du bist der Inbegriff von Unverschämtheit!“, rief sie ihm lachend zu.

    Sie hörte, wie Edmund hörbar die Luft einzog. „Autsch!“, gab er von sich und spritzte sie erneut nass.

    „Wenn ihr dann irgendwann fertig mit baden seid, dann gäbe es hier auch noch Arbeit!“, keifte Nelli zu ihnen rüber.

    Esther kicherte noch einen Moment weiter ehe sie sich beruhigen konnte. Grinsend sah sie Edmund an. „Normalerweise sollte ich dir das Du nach dieser Frechheit nicht anbieten, aber ich will mal nicht so sein … wie wäre das?“

    Er musterte sie kurz mit erhobener Augenbraue. „Meinetwegen“, sagte er schließlich, erhob sich und hielt ihr abermals die Hand hin.

    Dieses Mal ließ sie sich aufhelfen, ohne erneut ein Vollbad zu nehmen.

    Esther sah ihm dabei zu, wie er sein Hemd ausrang, und den Topf aus dem Wasser holte.

    Auch wenn sie die Korsage an den besonders heißen Tagen verfluchte, so war sie in diesem Moment froh, dass sie diese trug. Vermutlich würde das triefend nasse Hemd mehr offenbaren als sie gewollt hätte.

    „Dann kein Ihr mehr … schön“, meinte sie und lächelte schief. „Dann gäbe es noch eine zweite Sache, die ich dir sagen möchte.“ Wenn sie das jetzt nicht klärte, würde sie das vermutlich nie tun und es hing ihr ewig nach.

    „Die da wäre? Dass Ihr – du nicht kochen kannst?“ Er grinste. „Ich nehme den Topf gerne an mich … und versuche ihn noch einmal so zu waschen, dass wir nachher nicht alle literweise Wasser brauchen.“

    Gegen ihren Willen musste sie lachen. „Ich schaffe das schon“, beteuert sie, obwohl sie noch nie zuvor gekocht hatte, und nahm Edmund den Topf aus der Hand. Sie drehte diesen in ihren Händen und wurde wieder ernst. „Was ich eigentlich sagen wollte: Das mit dem Bannzauber tut mir leid. Ich hoffe, du verstehst, dass ich … lediglich besorgt war …“

    Edmund winkte ab. „Vor dir liege ich offenbar gerne am Boden.“

    Während sie nebeneinander aus dem Wasser wateten, sah Esther ihn von der Seite an. Ein Teil von ihr wollte wissen, was genau er damit meinte, andererseits war sie auch froh, dass das Thema offensichtlich nicht länger zwischen ihnen stand.

    Trotzdem wollte sie sicher gehen. „Du bist mir also nicht böse?“

    Edmund wog den Kopf. „Doch. Sehr.“

    Sie spürte, dass seine Ernsthaftigkeit gespielt war, weshalb sie ihm mit dem Ellenbogen gegen seinen Arm stieß. „Das ist nicht lustig Edmund!“

    Der ließ sich allerdings nicht beeindrucken. „Ist es auch nicht.“

    Das durfte doch nicht wahr sein. Sie stieß die Luft aus. „Kannst du dich bitte einmal klar ausdrücken?“

    Er blieb ernst. „Ich denke, um das wieder gut zu machen, bist du mir etwas schuldig“, sagte er trocken und stieg vor ihr aus dem Wasser.

    Esther folgte ihm kurz darauf und sah ihn fragend an. „Meine Entschuldigung genügt dir also nicht? Was willst du sonst hören?“

    Plötzlich grinste Edmund wieder. „Hören? Will ich gar nichts. Worte kann man viele äußern …“

    „Ach … und was willst du sonst?“, verlangte sie zu erfahren und hätte die Arme vor der Brust verschränkt, wenn sie dieser dämliche Topf nicht davon abhalten würde.

    „Gleiches mit Gleichem vergelten“, meinte er, weiter breit grinsend. Dann wandte er sich ab und kehrte zum Schiff zurück, noch bevor Esther in irgendeiner Form darauf reagieren konnte.

    Sie sah ihm gleichermaßen verwirrt wie sprachlos hinterher. Sollte sie ihm nach und eine Erklärung fordern? Was genau meinte er damit?

    Kurz schüttelte sie den Kopf und ging zum Lager, wo Nelli sie musterte.

    Den prüfenden Blick der Heilerin ignorierend, rieb sie sich etwas die Haare trocken und rang die Kleidung ein wenig aus. Angesichts der Hitze, würde diese ohnehin schnell trocknen.

    Stunden später, als die Nacht bereits hereingebrochen war und Esther eine Mahlzeit versaut hatte, berichteten die Männer, dass das Gerüst fertig war und sie das Schiff aus dem Wasser ziehen konnten.

    Trevor war schon eine viel zu lange Zeit verschwunden, bemerkte Esther. Er war die ganze Nacht über nicht aufgetaucht und das bereitete ihr Sorgen. Also raffte sie sich irgendwann auf und ging in die Richtung, in der sie ihn hatte verschwinden sehen. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass Nelli und Edmund blieben. Sie mussten dem Formwandler nicht unbedingt zu dritt auf die Nerven gehen. Es reichte schon, wenn sie ihn wieder einmal belästigte.

    Eine Weile ging sie am Strand entlang und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab, sah immer mal in den Wald hinein, vermied es allerdings, seinen Namen zu rufen. Bestimmt war er nicht weit gelaufen.

    Plötzlich gewahrte sie in etwas Entfernung ein dunkles Bündel im Sand und als sie näher kam, konnte sie Trevors Stiefel erkennen und das Knäuel stellte sich als seine Kleidung heraus.

    Ganz ohne ihr Zutun suchte sie die Wasseroberfläche nach Trevor ab.

    Sie fand ihn nach kurzer Zeit, hüfttief im Wasser und mit dem Rücken zu ihr stehend. Er schob sich gerade seine nassen Haare mit beiden Händen zurück, als wäre er gerade erst von unter Wasser aufgetaucht.

    Sie wollte ihrem ersten Impuls folgen, sich umdrehen und wieder gehen, aber sie blieb. Wie erstarrt blickte sie auf seinen Rücken, der von zahlreichen größeren und kleineren Narben gezeichnet war. Was er wohl schon durchmachen musste?

    Bisher hatte sie es entschieden gemieden, Trevor oder einen der anderen Seemänner länger als notwendig anzusehen.

    Es ziemte sich einfach nicht!

    Jetzt aber, stellte sie fest, dass sie den Formwandler ganz unverhohlen und neugierig musterte.

    Sie konnte nicht verkennen, dass Trevor ein attraktiver Mann war und vermutlich würden ihm viele Frauen zu Füßen liegen. Auch konnte sie nicht abstreiten, dass sie während des Kusses und einige Zeit danach ein gewisses … Hochgefühl verspürt hatte. Doch das erwartete Kribbeln in ihrem Körper blieb aus.

    Sie senkte den Blick und schob unschlüssig mit der Stiefelspitze etwas Sand umher, bevor sie schließlich etwas Mut zusammenfasste.

    Mit vor der Brust verschränkten Armen drehte sie sich ein wenig zur Seite und sah in den Himmel hinauf. „Trevor?!“, rief sie und wartete auf eine Reaktion.

    „Aye …?“, kam es dann von ihm. Die Überraschung in seiner Stimme war deutlich zu hören.

    Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sich herumdrehte und sich über das Gesicht wischte.

    Sie bemerkte, dass sie ihm beinahe wieder das Gesicht zugedreht hatte, weshalb sie sich nur noch ein wenig weiter abwandte und sammelte. „Ich wollte nur schauen, ob bei dir alles in Ordnung ist“, sagte sie laut und scharrte erneut mit dem Fuß im Sand umher.

    Die Antwort ließ nicht auf sich warten. „Aye … alles in Ordnung! Ich … brauchte nur einen Moment!“

    Esther nickte nachdenklich. Das war wohl mehr als verständlich. Es kam immerhin nicht jeden Tag vor, dass man mit einem Verstorbenen Kontakt aufnehmen und mit ihm sprechen konnte.

    Sie begriff, dass Trevor die Geste vermutlich nicht sehen konnte. „Ich gehe dann wieder zu den anderen zurück“, meinte sie deshalb.

    Sie wollte sich schon wieder gänzlich abwenden und gehen, als Trevor doch noch einmal das Wort an sie richtete. „E … Esther?“, hörte sie ihn unsicher fragen.

    Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn abwartend an. „Ja?“

    „Hast du Angst vor mir?“, wollte er wissen

    Die Frage ließ sie den Kopf schief legen und die Stirn runzeln. Wie kam er auf den Gedanken? Sicherlich hatte Trevor eine Seite an sich gezeigt, die sie erschreckte, aber konnte sie da gleich von Angst sprechen? Bisher hatte es nur einen Menschen gegeben, vor dem sie sich wirklich fürchtete …

    Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Nein“, antwortete sie schlicht. Wenn, dann verspürte sie in genau diesem Augenblick nur ein gewisses Unbehagen. Und das lag lediglich an der Kleidung, die er eben nicht trug.

    Er nickte verstehend. „Gut, das ist gut“, meinte er. „Mein Vater behauptete das. Dass ich dir Angst machen würde …“

    Esther blickte kurz auf den Kleiderstapel vor sich und überlegte, was sie ihm sagen konnte. Unrecht hatte sein Vater nicht gänzlich. Bei dem Gedanken daran, was geschehen war, lief ihr noch immer ein kalter Schauer über den Rücken. Dennoch war Trevor ihr so etwas wie ein Freund geworden, jemand, auf den sie sich verlassen konnte.

    Sie seufzte und sah ihm schließlich wieder ins Gesicht. „Du solltest nicht so viel Wert auf die Worte eines Toten legen, weißt du …“

    Trevor wischte sich über das Gesicht. „Er hat zumindest keinen Grund, mich zu belügen. Ihm kann es egal sein …“

    Sie zögerte kurz. „Ich habe auch keinen Grund, dich anzulügen. Wenn ich Angst vor dir hätte, wäre ich jetzt nicht hier.“

    „So meinte ich das nicht. Also nicht so, dass du mich belügen würdest. Ich glaube sogar, du gehörst zu einen der ehrlichsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Das, was auf dem Schiff geschehen ist … ist nicht das, was ich bin. Nicht gänzlich. Ich wollte das nur klarstellen, bevor alle anfangen, mit scharfen Gegenständen unter den Kopfkissen zu schlafen.“

    Sie brauchte einen Moment, um Trevors Worte zu begreifen. Was sollte das? Er hatte doch schon mehrfach bewiesen, dass er nicht nur töten oder verletzen konnte … Gingen ihm die Worte seines Vaters tatsächlich so nahe? Andererseits … Wie würde sie selber reagieren, wenn sie so etwas von ihrer Mutter hören würde …

    „Trevor …“, begann sie, um Zeit zu schinden. „Du solltest wissen, dass ich dir vertraue … vielleicht hilft dir das ein wenig …“ Sie wusste nicht, was sie ihm noch sagen konnte, also trat sie schließlich den Rückzug an. „Ich lasse dich dann wieder allein …“ Eigentlich wollte sie noch sagen, dass sie sich wünschte, dass er mit ins Lager kam. Aber sie ließ das unausgesprochen.

    Ohne auf ein weiteres Wort des Formwandlers zu warten, ging sie in Richtung des Lagers zurück, darum bemüht, den Blick nach vorne zu richten. Irgendwann verlor sie den Kampf gegen ihre Neugier, wobei sie sich einredete, dass sie nur wissen wollte, ob Trevor ihr folgte, und sah über ihre Schulter zu ihm zurück. In diesem Moment machte der Formwandler die letzten Schritte aus dem Wasser und griff nach seiner Kleidung.

    Augenblicklich spürte sie Hitze auf ihrem Gesicht und mit einem Ruck wandte sie sich wieder um und stapfte entschlossen weiter.

    Am Lager angekommen, musterten Nelli und Edmund sie abwartend.

    „Ich habe Trevor gefunden“, meinte sie, bevor irgendeiner auf die Idee kam, ihr eine Frage zu stellen. „Schätze, er ist auch gleich hier …“

    Sie ignorierte Edmunds hochgezogenen Augenbrauen sowie Nellis verschmitztes Grinsen und räumte ihren Schlafplatz auf.

    Esther sah Edmund kurz hinterher. Der Händlersohn schien ungewöhnlich guter Laune zu sein. Sie beschloss, diesen Umstand beruhigt hinzunehmen, denn es war ein Zeichen dafür, dass es bergauf ging. Hoffte sie zumindest.

    Sie vergewisserte sich noch, ob bei Nelli alles in Ordnung war. Die Hexe schlief noch immer und Esther wusste, dass das nach einem schweren und so dunklen Zauber normal war. Immerhin hatte sie selber am eigenen Leib erfahren, wie es war, sich zu verausgaben.

    Sie erhob sich vollständig und wandte sich dem Formwandler zu. Unsicherheit machte sich in ihr breit, aber es half nichts. Es konnte nur gut sein, wenn sie den Dolch endlich los wurde.

    „Trevor?“, fragte sie und machte eine Kopfbewegung nach rechts, sobald sich der Wandler zu ihr herumgedreht hatte. „Auf ein Wort?“

    Trevor schien für einen Moment verwirrt zu sein, verstand dann aber und nickte. Nebeneinander entfernten sie sich ein kleines Stück von Nelli.

    Einerseits wusste Esther, dass es unlogisch war, sich von der Hexe zu entfernen, andererseits fühlte sie sich etwas entspannter.

    Sie blieb stehen, wandte sich Trevor zu und zog Francis Dolch aus ihrem Gürtel. Nachdenklich drehte sie ihn zwischen den Fingern und hielt ihn dem Wandler hin. „Ich wollte dir den wiedergeben“, erklärte sie und sah ihn an. Dass er sein Hemd nicht trug, störte sie mittlerweile nicht mehr. Während der Zeit auf der Eleftheria hatte sie sich an einen solchen Anblick gewöhnt und wenn sie ehrlich sein sollte, so war Trevor keinesfalls unansehnlich. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Wesentliche. „Ich denke, in deinen Händen ist er nützlicher als in meinen.“

    Er zögerte nicht und nahm ihr die Waffe ab, woraufhin Esther nichts anderes als Erleichterung verspürte.

    Einerseits, weil sie mit solchen Waffen nichts zu schaffen haben wollte und andererseits, weil sie ohne ihn vielleicht die Geschehnisse der Meuterei endgültig vergessen konnte – wenigstens die unangenehmen Erinnerungen davon. Sie nutzte den kurzen Moment, indem Trevor den Dolch untersuchte, und musterte den Wandler. Angesichts seiner puren Anwesenheit würde sie den Kuss keineswegs vergessen können. Aber wollte sie das überhaupt? Einfach bei Seite schieben, was zwischen ihnen geschehen war?

    Jede andere Adelige hätte ihn bereits gelyncht, gar gemeuchelt.

    Trevor hatte einen Teil ihrer Ehrbarkeit gestohlen, aber sie spürte nicht das Verlangen, ihm deshalb überhaupt einen Vorwurf zu machen.

    Doch sie wusste, dass ihr Ansehen und das ihres Vaters in Mitleidenschaft gezogen werden konnte, sollte dieses Ereignis die Eleftheria verlassen. Allerdings schätze sie die verbliebene Mannschaft nicht so ein, dass sie den Wert dessen erkannten und es deshalb keinesfalls verbreiteten.

    Sie hatte zu ihm gesagt, dass sie wusste, dass er es nur getan hatte, um ihr während der Meuterei zu helfen. Allerdings gab es tief in ihrem Inneren immer noch dieses sanfte Kribbeln, was sie nicht zuzuordnen wusste.

    Ist das ein Gefühl, das man bekommt, wenn man geküsst wird?

    Ihre letzte Erinnerung an ein solches Ereignis war keine besonders Schöne und hatte mit abgetrennten Fingern geendet.

    Dies stand im starken Kontrast zu dem, was sie mit Trevor erfahren hatte. Und das verwirrte sie zutiefst und rief ihr einmal mehr ins Gedächtnis, wie unbeholfen sie bei solcherlei Dingen war.

    „Das ist wohl wahr …“, riss Trevors Stimme sie plötzlich aus den Gedanken. Er lachte kurz auf, allerdings bemerkte Esther sofort, dass es betrübt klang.

    Sie setzte dazu an, etwas zu sagen. Aber ihr fiel auf die Schnelle nichts ein, was sie hätte erwidern können, weshalb sie es zunächst bei einem zaghaften Lächeln beließ. „Die Klinge könnte etwas stumpf sein“, meinte sie dann und versuchte damit, ihre eigene Unsicherheit zu überspielen.

    „Ein Dolch ist auch keine Hiebwaffe, sondern eine Stichwaffe“, erklärte er murmelnd. Es wirkte, als würde er vielmehr mit sich selbst sprechen als mit ihr.

    Sie wischte sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich gebe zu, das mein Wissen dahingehend einige Lücken aufweist.“ Sie hatte eigentlich überhaupt keine Ahnung, wovon Trevor sprach, aber das musste sie nicht unbedingt offen zugeben. „Übrigens – die Klinge habe ich noch nicht gereinigt“, schob sie hinterher.

    Trevor sah sie lächelnd an. „Mach dir keine Gedanken. Ich säubere den Dolch. Du hattest genug fremdes Blut an dir kleben ...“

    Sie zog fragend die Augenbrauen zusammen. „Du meinst … es ist noch Blut an der Klinge?“ Fast hatte sie vergessen, dass sie damit einen der Männer verletzt hatte – oder verdrängte sie diesen Gedanken absichtlich?

    Trevor nickte. „Blut wird geradezu bräunlich, wenn es trocknet.“ Er hielt ihr den Dolch hin und zeigte auf die Rinne.

    Esther folgte seiner Deutung mit ihrem Blick und es schien ihr als würden ihre Mühlen ausgesprochen langsam mahlen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis ihre Gedanken alle Hacken geschlagen hatten.

    „Bei den Göttern!“, entfuhr es ihr, als sich die letzten Fetzen in ihrem Kopf zusammengesetzt hatten. „Mit dem Blut kann ich die Eleftheria möglicherweise finden!“

    Der Formwandler sah sie überrascht an. „Wegen … dem Blut?“

    Wieder dauerte es, bis Esther begriff, dass jetzt Trevor derjenige war, der keine Ahnung hatte. Sie winkte ab. „Nicht direkt.“ Sie holte kurz Luft. „Ich bin nicht nur Schutzmagierin sondern auch Aufspürerin. Erinnerst du dich an das, was ich gesagt habe, als wir Nelli gesucht haben? Ich kann mithilfe von Gegenständen, die dazugehörigen Personen finden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die betreffende Person noch lebt und den Gegenstand für eine Weile bei sich gehabt haben muss. Den Dolch habe ich direkt gedanklich verworfen, weil Francis tot ist. Aber der Kerl, zu dem das Blut gehört … der lebt und befindet sich hoffentlich noch auf dem Schiff …“

    „Das ist ziemlich praktisch“, sagte der Formwandler. „Dann sollten wir uns mit den Reparaturen beeilen, bevor die Eleftheria zu weit weg zum Aufholen ist.“

    Sie nickte schnell und sah Trevor eindringlich an. „Tu mir bitte den Gefallen und wisch das Blut vorsichtig mit einem Tuch ab und gib es mir dann. Ich werde den Zauber erst wirken, wenn es sinnvoll ist.“

    Trevor nickte ebenfalls. „Aye.“

    Eigentlich war die Unterhaltung damit beendet, aber Esther befiel das dringende Bedürfnis, noch etwas zu sagen. Aber was? Sie beließ es schließlich dabei.

    „Danke“, raunte sie, schlang die Arme um den Oberkörper und wandte sich langsam ab. „Ich gehe wieder hinüber zu Nelli.“

    „Gern geschehen!“, rief er noch schnell. „Aber danke ... für was genau?“

    Sie stoppte im Schritt und richtete den Blick aufs Meer. Ja. Für was eigentlich? Dafür, dass er fast ihretwegen gestorben wäre? Dafür, dass er an ihrer Seite gestanden hatte, als die Mehrheit sie los werden wollte. Dafür, dass er einfach da war …

    Schließlich zuckte sie die Schultern und sah ihn über die Schulter hinweg an. „Such dir etwas aus“, meinte sie dann. „Da gibt es einiges, wofür ich mich bedanken müsste …“

    Der Formwandler sah sie zunächst skeptisch an und grinste schließlich. „Dann ebenfalls ein ´Danke´.

    Esther kam nicht mehr dazu, etwas darauf zu erwidern, denn Trevor wandte sich bereits ab und ging zum Schiff.

    Erst war sie versucht, ihn zu fragen, ob er Hilfe brauchte, aber sie wollte auch Nelli nicht alleine lassen und Edmund kehrte mit Sicherheit auch bald zurück.

    Einen kurzen Moment stand sie recht ratlos am Strand herum und blickte auf die wogenden Wellen hinaus. Dann griff sie an ihren Gürtel, zog den Zauberstab heraus und streckte ihn nach vorn.

    Ohne große Probleme errichtete sie einen Schild aus Wasser. Probeweise zwängte sie den Schild in alle erdenklichen Formen, breitete ihn aus, engte ihn ein, und ließ ihn schließlich fallen.

    Das Gleiche wiederholte sie mit einem Gemisch aus Sand, Steinen und Muscheln.

    Es war ihr wichtig, zu wissen, dass sie weiterhin in der Lage war, stabile Schilde zu errichten. Zwar hatte sie nicht damit gerechnet, irgendetwas an Kraft eingebüßt zu haben, aber wenn die Gedanken zu sehr umherflogen, litt auch die Konzentration.

    Ihr Blick glitt zum Schiff hinüber. Und eines wusste sie bereits jetzt – um dieses Ding zu stützen würde sie ihre gesamte Konzentration brauchen und einen starken Energieschild.

    Sie erwog den Gedanken, die Magiesteine zu holen und den Umgang damit zu üben. Dann schossen ihr die Bilder des Sturms wieder in den Kopf und sie verwarf den Gedanken schnell wieder. Es war niemanden geholfen, wenn sie sich auch noch selbst verletzte, weil sie sich und ihre Kräfte überschätzte. Nein, es musste auch ohne magische Verstärker gehen und das würde es auch!

    Während Nelli weißt Gott was anstellte, entschied Esther, dass sie Rumsitzen für sie nicht in Frage kam. Auch die Männer nutzten die Zeit für Sinnvolles und erleichterten das Schiff um ihre nunmehr nutzlose Fracht.

    Esther schnappte sich einen Bündel Kleidung und trat den Weg zur Quelle an.

    Zwar hatte sie keine Ahnung, ob sie ihnen passen würde, aber es war allemal besser als die dreckige und teils blutbeschmierte Kleidung, die sie alle im Moment trugen.

    Mehr stolpernd als wirklich gehend erreichte sie die Quelle. Wie auch schon die letzten Tage ließ sie der purer Anblick dieses Ortes entspannter werden.

    Sie warf den Stapel Wäsche auf den Boden neben einem großen Felsen und erleichterte sich um ihren Gürtel samt Tasche. Dabei fiel der Dolch mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde.

    Den habe ich ganz vergessen …

    Sie hob ihn auf, legte ihn auf den Stein und sah sich um.

    Dann machte sie sich daran, einige Schlingpflanzen von den Baumstämmen zu reißen. Ein schwieriges Unterfangen, wie sich schnell herausstellte. Die Pflanzen hingen so fest, sodass sie mit aller Kraft daran ziehen musste. Nach einiger Zeit hackte sie sogar mit dem Dolch darauf herum und dachte kurzzeitig darüber nach, einen der Männer zu holen.

    Trevor schafft das bestimmt trotz gebrochener Rippe und Schusswunde!

    Aber sie schaffte es schließlich aus eigener Kraft, genug zusammenzugetragen. Nachdem sie die Blätter entfernt hatte, verknotete sie die Enden jeweils an Ästen fest, sodass sie später die gewaschene Wäsche zum Trocknen rüber legen konnte.

    Völlig außer Atem entledigte sie sich ihrer Korsage, warf sie zu ihrem Gürtel und dem Dolch und besah sich ihre schmerzenden Hände. Sie waren dreckig und einige rote Stellen zeichneten sich ab. Außerdem war ihr Verband an der Rechten verrutscht, weshalb sie ihn schließlich löste. Die Verletzung durch den geborstenen Magiestein war bisher gut verheilt. Aber es ließ sich erkennen, dass kleine Narben blieben.

    Ein Schandfleck, der ihren Wert in den Augen der Angehörigen ihrer Gesellschaftsschicht minderte. Energisch ballte sie die Hand zu einer Faust.

    Finde dich mit diesem Makel ab! Es gibt Schlimmeres!

    Sie krempelte sich die Ärmel hoch und machte sich daran, die Wäsche nacheinander zu waschen. Während sie leise ein Lied vor sich hin summte, fragte sie sich, ob sie das überhaupt richtig machte. Das war für sie immerhin das erste Mal, dass sie ihre Kleidung alleine reinigte und es war anstrengender als gedacht. Bereits nach drei Teilen stand ihr ob der Hitze abermals der Schweiß auf der Stirn und ihre ohnehin schmerzenden Finger fühlten sich taub an. Hartnäckig wusch sie weiter bis zum letzten Stück. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie gebraucht hatte. Keuchend rang sie eine Hose aus, die von der Länge her Trevor passen müsste, und hängte sie über ihre provisorische Wäscheleine.

    Mit schief gelegtem Kopf besah sie sich ihre Arbeit und stellte fest, das ihr Plan aufgegangen war.

    Die aufgehängte Wäsche stellte gleichzeitig einen Schichtschutz für sie während des Badens dar, der sie zumindest aus einer Richtung vor neugierigen Blicken bewahrte. Sie wusste zwar, dass sie sich bei den Anderen in dieser Hinsicht keine Gedanken machen musste – Trevor und Edmund besaßen genug Anstand, während sie aus erster Hand wusste, dass Nelli von ihrem Körper bereits nahezu alles gesehen hatte – aber Vorsicht war besser als Nachsicht.

    Ohne zu wissen, worauf sie eigentlich wartete, ließ sie ihren Blick durch die Umgebung gleiten. Dann schälte sie sich aus ihrer restlichen Kleidung. Nacheinander landete alles auf dem Boden.

    Vorsichtig streckte sie den Zeh ins Wasser. Es war recht kühl, weshalb sie einige Anläufe brauchte, um schlussendlich bis zur Hüfte in der Quelle zu stehen. Dann ging sie mit einem Ruck in die Hocke und holte tief Luft.

    Bei den Silbererzen! Das ist kalt!

    Aber es tat auch gut, den Dreck der letzten Tage abzuwaschen.

    Sie stieß sich vom Boden ab und einige Schwimmzüge später tauchte sie mit dem Kopf unter und genoss das Gefühl, den Sand aus den Haaren zu spülen.

    Einige Zeit verbrachte sie im Wasser, schwamm umher und ließ sowohl ihren Körper als auch ihre Gedanken zur Ruhe kommen. Es war, als würde in diesem Moment eine Last von ihr abfallen, zusammen mit dem Schmutz der letzten Tage, und sie um einiges leichter werden lassen.

    Mit einem besseren Gefühl im Gemüt, stieg sie aus dem Wasser, rang die Haare aus und rieb ihren Körper mit einem Stoffstück trocken, welches sie dann ebenfalls über die Leine legte.

    Sehnsüchtig blickte sie auf ihre Robe hinab, entschied sich aber schnell dagegen, sie wieder anzuziehen. Einerseits war sie bereits an viel Stellen dreckig und roch vermutlich genauso schrecklich wie sie aussah, anderseits schien es ihr in Anbetracht der geplanten Reparatur besser, auf Funktionalität umzusteigen.

    Ihre Robe war nicht nur zu dick für körperliche Arbeit, sondern auch viel zu unpraktisch.

    Fröstelnd pflückte sie sich ein Hemd von der Leine und zog es sich über. Sie stellte zufrieden fest, dass es passte. Ob es mal einem Schiffsjungen gehört hatte?

    Schnell verwarf sie den Gedanken, schlüpfte in eine dunkle Hose und steckte das Hemd hinein. Erstaunlicherweise schien ihr diese ebenfalls wie an den Leib geschneidert. Die Kleidung war noch ziemlich klamm, aber sie war sich sicher, dass es bei der Wärme schnell trocknen würde.

    Sie seufzte, als sie sich in ihre eigenen Stiefel quälte. Vermutlich machte sie in diesem Aufzug keinen sonderlich gräflichen Eindruck und sie konnte womöglich froh sein, wenn die Anderen nicht hinter vorgehaltener Hand über sie lachten. Aber was soll´s - für falschen Stolz war in ihrer aller Lage kein Platz.

    Sie stand auf und zog ihre Korsage über. Während ihrer Zeit in der Gilde hatte sie schnell gelernt, wie man dieses Kleidungsstück selber schnürte.

    Dann legte sie den Gürtel mitsamt Zauberstab wieder an. Zum Schluss verband sie ihre Hand wieder sorgsam, sodass Nelli nichts zu meckern hatte.

    Probeweise schloss und öffnete sie die Hand einige Male. Es schmerzte nicht mehr und sie war sich sicher, dass sie den Verband bald weglassen konnte. Aber dahingehend würde sie Nelli einmal um eine Meinung fragen.

    Dann hob sie nachdenklich Francis Dolch vom Boden auf und war für einen Moment versucht, ihn einfach ins Wasser zu werfen. Dann steckte sie ihn ebenfalls in ihren Gürtel. Sie hatte sich vorgenommen, die Waffe Trevor zu geben und das würde sie auch tun.

    Das Haar musste sie notgedrungener Maßen zunächst trocknen lassen, bevor sie es zusammen binden konnte.

    Sie seufzte und sammelte ihre Kleidungsstücke ein. Vermutlich sah sie nunmehr selber aus wie eine Deckshelferin und sie kannte nicht einmal Deckshelferinnern. Gab es so etwas überhaupt?

    Mein Vater würde mich lynchen …

    Sie musste zugeben, dass es mehr als ungewohnt war, in einfacher Kleidung zu stecken. Zwar konnte sie den gewaltigen Ballkleidern noch nie sonderlich viel abgewinnen, das hieß aber nicht, dass sie nicht auf ihr Äußeres achtete.

    Sie warf einen letzten Blick auf die restliche Wäsche, die sie zum Trocknen einfach hier lassen würde. So konnte sich außerdem jeder das nehmen, was er wollte. Dann trat sie den Rückweg an und wenig später erreichte sie das Lager. Hoffentlich waren die Anderen dezent genug um sich nicht anmerken zu lassen, wie sie sich über sie lustig machten.

    Sie versuchte, sich so leise wie möglich zu nähern. Warum genau sie das machte, wusste sie nicht – sich zu verstecken machte keinen Sinn.

    Augenblick drehten Edmund und Trevor, die bisher in einem Gespräch miteinander vertieft waren, die Köpfe herum. Während der Händlersohn sie mit erhobener Braue von Kopf bis Fuß musterte, wirkte der Formwandler auf eine gewisse Weise amüsiert.

    Sie stockte ob der Blicke ihrer männlichen Begleiter kurz im Schritt und sah an sich hinunter. „Stimmt … etwas nicht?“, fragte sie zögerlich.

    Trevor fasste sich zuerst. „Keine Sorge“, meinte er schnell. „Ich habe bereits Frauen in Hosen gesehen. Der Unterschied ist nur … Du würdest vermutlich selbst der Kleidung eines Bettlers Anmut verleihen.“

    Sie blinzelte, besah sich abermals ihre Gestalt und spürte, wie ihr Gesicht erhitzte.

    In feiner Gesellschaft hätte sie nichts weiter tun müssen, als zu Lächeln und sich für das Kompliment höflich zu bedanken. Andererseits hätte es in ihren Kreisen nicht einmal wie ein Kompliment gewirkt, sondern eher wie eine Herabsetzung ihrer Person. Allerdings war Trevor niemand aus ihrem Stand. Er konnte gar nicht wissen, wie die Männer in ihrer Gesellschaftsschicht Frauen Komplimente machten. Und der Unterschied war auch, dass Trevors Worte echt waren und nicht nur eine Farce. So hoffte sie es zumindest.

    Ehrlich lächelnd sah sie ihn an. „Danke Trevor, dass ist lieb von dir“, meinte sie. Auf keinen Fall wollte sie dem Wandler das Gefühl vermitteln, etwas Falsches gesagt zu haben. Denn das hatte er nicht. Seine Worte nahmen ihr ein wenig das Unwohlsein. Sie legte ihre alte Kleidung auf ihrem Lager an. „Ich dachte, es wäre vielleicht besser, funktionale Kleidung anzuziehen statt der Robe … in Anbetracht der geplanten Reparatur des Schiffes“, setzte sie nach, richtete sich auf und sah die Männer an.

    „Ein Kleid eignet sich nur bedingt dafür“, stimmte Trevor zu. „Der Saum könnte irgendwo hängen bleiben und du dadurch stürzen. Die Hose macht durchaus mehr Sinn.“

    „Ihr wollt bei der Reparatur helfen?“, warf Edmund ein. Noch immer blickte er sie mit erhobener Augenbraue an.

    Trevor warf dem Händlersohn einen Blick zu. „Wenn wir auf der Insel nicht alt und grau werden wollen, sollten wir alle anpacken“, trat er Esther bei. „Und schlechter mit Werkzeug umgehen als du ist kaum möglich“, fügte er murmelnd hinzu.

    Esther sah zu Edmund und bemühte sich, ihn nicht anzugrinsen. Was wohl in ihrer Abwesenheit geschehen war, was Trevors letzte Aussage bekräftigte?

    Edmund verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper. „Oh entschuldige bitte, dass auf einer einsamen Insel ein Wrack zu reparieren nicht zum Privatunterricht gehörte und du deshalb mit einer Unkenntnis gestraft bist!“

    Esthers aufkeimendes Lächeln erstarb und besorgt glitt ihr Blick zu Trevor hinüber.

    Wieder wollte sie etwas sagen, aber der Formwandler kam ihr zuvor.

    „Es geht nicht um Unwissenheit, sondern darum, dass wir unser Bestmögliches versuchen“, meinte er. „Egal, ob Frau oder Mann … wir wollen alle von der Insel herunter.“

    Esther entschied, dass diese Unterhaltung in eine falsche Richtung ging. Sie wandte sich an den Händlersohn. „Um Eure Frage zu beantworten, Edmund“, sagte sie schnell und lächelte ihn versöhnlich an. Sie wollte keine weitere Diskussion vom Zaun brechen, so etwas konnten sie in ihrer derzeitigen Lage beim besten Willen nicht gebrauchen. „Ja. Ich werde bei der Reparatur helfen.“ Letzteres sagte sie nur, um ihren Standpunkt noch einmal klarzustellen.

    Edmund zuckte lediglich die Schultern. „Hab nichts dagegen“, erklärte er, nicht aber, ohne Trevor böse anzufunkeln.

    Der Formwandler grinste lediglich.

    Esther war froh, an einer Auseinandersetzung vorbeigeschlittert zu sein

    Sie ließ ihren Blick über das Lager gleiten. „Wo ist Nelli? Ist sie noch nicht wieder hier?“, wollte sie von den Männern wissen, woraufhin diese einen schnellen Blick tauschten.

    „Ist sie nicht bei Euch?“, fragte Edmund. Sie meinte, einen Hauch Besorgnis in seiner Stimme zu hören.

    Sie beantwortete seine Frage mit einem Kopfschütteln und sah in den Himmel hinauf. Es war bereits merklich dunkler geworden. Obwohl Esther fest davon überzeugt war, dass die Hexe wusste, was sie tat, so konnte sie eine gewisse Unruhe in ihrem Inneren spüren.

    Eine ganze Weile gingen Edmund und sie schweigend nebeneinander her. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen und Esther hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich so weit von den Anderen entfernt hatten.

    Sie warf einen Seitenblick auf Edmund, der seine Hände weiterhin in seinen Taschen vergrub. Er schien mit den Gedanken weit entfernt zu sein.

    Sie wollte etwas sagen, aber ihr fiel nichts ein, worüber sie hätten sprechen können. Es war alles gesagt worden … obwohl …

    „Was hat die Eleftheria eigentlich geladen“, fragte sie und durchbrach damit die Stille. „Es muss ziemlich wertvoll sein, wenn Armod sich darum so reißt.“

    Sie wusste, dass es sie rein gar nichts anging, was Edmund transportierte, aber vielleicht verriet er es dennoch. Wenn nicht, dann war es für sie auch in Ordnung.

    Edmund wandte den Kopf zu ihr um und musterte sie. Ein fragender Ausdruck glitt über seine Züge. Im fahlen Licht der Sterne wirkte sein Gesicht beinahe noch ebenmäßiger als am Tag. Zu perfekt hatte Nelli gesagt.

    Er schien ernsthaft darüber nachzudenken, ob er antwortete oder nicht. „Vater hat mir eingeschärft, niemanden davon zu erzählen“, meinte er schließlich und zuckte die Schultern. „Aber der ist eh nicht hier.“

    Sie runzelte ob der Bemerkung bezüglich seines Vaters die Stirn. Offenbar schien es gewisse Reibungspunkte zwischen Edmund uns seinem Vater zu geben. Doch bevor sie entscheiden konnte, ob sie ihn darauf ansprach, redete Edmund bereits weiter.

    „Die Ladung bestand über die Kisten im Lagerraum hinaus aus einem magischen Fernrohr. Vater hat mit irgendeinem Kerl in Samira einen Handel abgeschlossen.“

    Esther stockte kurz im Schritt. Ein Windzug erfasste die Jacke. Eilig griff sie danach und zog sie etwas enger um ihre Schultern. Ein magisches Fernrohr? Das konnte doch nicht wirklich das sein, woran sie gerade dachte?

    „Was für ein Fernrohr?“ Sie schaffte es nicht, die Panik aus ihrer Stimme zu verbannen, weshalb Edmund sie wieder verwundert ansah.

    „Angeblich kann man damit Magie über sehr große Distanzen erkennen und aufspüren“, erklärte er unsicher und sah nach vorn. „Auch kleine Mengen, die in magischen Wesen stecken … Formwandler oder Nymphen zum Beispiel. Damit ist es nicht notwendig, dass ein Magier bezahlt werden muss, um Formwandler aufzuspüren.“

    Das Fernrohr von Chresvol …

    Esther sah in den Sternenhimmel hinauf. Kaum zu glauben, dass ein solches Relikt in Edmunds Hände gekommen war. Oder vielmehr in den Besitz der Familie von Stein. Sie fragte sich unweigerlich, wie das passiert sein könnte und nahm sich vor, Edmund bei Gelegenheit danach zu fragen.

    „Wenn das stimmt und Ihr wirklich dieses Fernrohr besitzt … müssen wir es wiederholen“, sagte sie drängend. „Es gehört zu den mächtigsten Artefakten des Magiertums und darf auf keinen Fall in die falschen Hände geraten. Und Armod scheint mir genauso jemand zu sein.“

    Daraufhin sah Edmund sie an, als hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt. Natürlich. Er wusste selber, dass Armod ein Kerl war, der vermutlich seine eigene Mutter verkauft hatte.

    „Wohin genau sollte ihr das Fernrohr bringen?“, wollte sie wissen. Das Reiseziel kannte sie – Samira. Aber mit keiner Silbe hatte Edmund verraten, an wen das gute Stück gehen sollte.

    „Nach Samira“, lautete Edmunds schlichte Antwort und sie rollte die Augen.

    Mit erhobener Augenbraue sah sie Edmund an. „Ich wollte eher wissen, mit wem Eurer Vater den Handel eingegangen ist.“

    Wieder schien er zu überlegen, ob er die Information preisgeben wollte … oder durfte? „Ich versuche nur zu helfen“, setzte sie deshalb nach.

    „Mit einem Magier“, eröffnete er schließlich, machte aber nicht den Eindruck, als würde er mehr verraten wollen.

    Zunächst genügte ihr diese Information. Zwar ging es sie nichts an, an wen Edmunds Vater das Fernrohr verkaufte, aber sie würde sich besser fühlen, wenn ein solches Artefakt nicht in irgendwelche Hände geriete.

    Sie kannte die Magier aus Samira nicht und hoffte daher, dass der Handelspartner das Fernrohr sicher verwahren würde.

    Vorausgesetzt, sie bekamen es, bevor die Piraten es auf der Eleftheria entdeckten.

    „Wenn Armod beschließt, das Fernrohr von Chresvol an jemanden zu verkaufen, der … Böses … im Sinn hat …“, begann sie, sprach aber nicht weiter, weil sie bemerkte, dass sie die korrekte Bezeichnung des Gegenstandes benutzt und damit mehr preisgegeben hatte, als sie eigentlich wollte.

    Glücklicherweise schien Edmund dieser Umstand nicht zu verwirren. „Dann haben wir ein Problem … ich weiß“, setzte er ihren Satz fort. „Deshalb durfte auch keiner davon wissen. Hoffen wir, dass Armod so dumm ist, wie ich glaube …“

    „Das hoffe ich auch“, warf Esther zustimmend ein.

    „Dann dürfte er das Ding nicht einmal finden.“

    Forschend sah sie den Händlersohn an. Wo er das Fernrohr wohl versteckt hielt? Sie ahnte allerdings, dass Armod und seine verbliebenden Männer ihre Mühe haben werden, diesen Gegenstand zu finden. Was auch gut so war! Solange sie nicht wussten, dass das Fernrohr sich auf der Eleftheria befand, konnte nichts passieren und Esther zweifelte daran, dass Armod das Artefakt überhaupt als solches erkannte.

    Sie selbst wusste, dass das Fernrohr von Chresvol eines von mehreren magisch berührten Artefakten war. Brachte man alle Relikte zusammen, so hieß es, konnte man wahrhaftige Allmacht erreichen – selbst als Nichtmagier. Außerdem erzählte man sich hinter hervorgehaltener Hand, dass sich die Macht nur demjenigen zeigt, der sie zu führen verstand. An alle Gegenstände konnte Esther sich nicht erinnern – da war irgendetwas mit einer Hand oder doch ein Fuß? Auch, wie viele sie insgesamt zählten, wusste sie nicht genau. Da gingen die Meinungen der ihr bekannten Chroniken ebenfalls weit auseinander. Auch über den Verbleib der Relikte wusste man nichts, außer, dass sie über alle Kontinente verstreut waren – so sagte man jedenfalls. Deshalb fiel es ihr so schwer zu glauben, das eine Händlerfamilie an das Fernrohr von Chresvol geraten sein könnte.

    Aber sie beschloss, Edmund zu vertrauen und ihm dabei zu helfen, das Artefakt an einen geeigneten Ort zu bringen. Dass es sich bei dem Käufer um einen Magier handelte, schien ihr zumindest ein gutes Zeichen zu sein.

    Sie runzelte die Stirn, als ihr etwas an Edmunds Worten auffiel. Er hatte Wert darauf gelegt, dass niemand von dem Fernrohr wusste. „Wir sollten die anderen einweihen“, schlug sie vor. Sie fand, dass Trevor und Nelli ein Recht darauf hatten, zu wissen, womit sie es zu tun hatten – immerhin war jeder von ihnen auf eine andere Art und Weise durch die Magie berührt worden.

    Edmund schien das anders zu sehen. „Nein! Sie dürfen es nicht wissen!“

    Esther spürte, wie sich ihr Stirnrunzeln vertiefte. „Warum nicht?“

    „Weil …“ Edmund druckste herum und legte den Kopf in den Nacken, bevor er sie schließlich ansah. „Ich überlege es mir.“

    „Von mir erfährt niemand etwas“, versicherte sie ihm, auch wenn sie die Entscheidung nicht gänzlich nachvollziehen konnte.

    Er nickte daraufhin nur knapp.

    Sie glaubte, in seinen Augen so etwas wie Erleichterung zu erkennen. Sicher war sie sich aber nicht.

    Während er nach vorne sah, musterte sie ihn mit einem Seitenblick.

    Edmund zeigte, seit sie ihn auf dem Stein entdeckt hatte, so viele Gefühle wie in ihrer gesamten gemeinsamen Reise zusammen – oder besser gesagt, nicht gezeigt hatte.

    Es schien ihr fast unwirklich, dass Edmund zu so etwas wie Trauer oder gar Mitgefühl imstande war. Aber er hatte es bewiesen.

    Schnell wandte sie ihren Blick wieder ab. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie ihn anstarrte.

    Gerade als die Stille erneut über sie hereinbrechen wollte, gewahrte sie zwei schattenhafte Gestalten unter den Palmen sitzen.

    Esther beschleunigte ihre Schritte. Nicht, weil sie von Edmund weg wollte, sondern weil ihr langsam die Beine schmerzten. Sowohl vom Laufen als auch wegen der nassen Kleidung. Sie fror entsetzlich, aber sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Die Jacke half nur bedingt dagegen, aber sie war froh, dass Edmund sie ihr überlassen hatte.

    Sie sah kurz über Schulter. Edmund folgte ihr etwas gelassener oder war es eher Unsicherheit, die er nur überspielen wollte?

    Wenigstens lief er nicht zum Stein zurück.

    Sie gesellte sich zu den Anderen, setzte sich neben Trevor in den Sand und bemerkte, wie Edmund aufschloss und die Beteiligten von oben herab ansah.

    Esther vermied es, Trevor anzusehen.

    Wie sollte sie dem Wandler auch erklären, dass der Händlersohn sich seit ihrer Strandung verkrochen und sie seitdem nicht ein einziges Mal nach ihm geschaut hatte, sondern an Trevors Seite geblieben war.

    Sie wusste, dass das falsch gewesen war und das schlechte Gewissen nagte an ihr. Doch Nelli hatte ihr mehrmals gesagt, dass Edmund noch Zeit brauchte.

    Aber wie viel? Noch mehr Tage? Wochen oder gar Monate?

    Sie sah in die Richtung, wo Edmund sich seit einer geraumen Weile alleine aufhielt.

    So lange konnten sie nicht warten, denn sie mussten von dieser Insel runter und Edmund wusste das mit Sicherheit genauso gut wie sie selbst.

    Esther hatte Verständnis für ihn, aber jeder trug in der derzeitigen Situation sein Päckchen und nicht nur Edmund.

    Sie schnaufte hörbar und stand auf.

    Er hatte genug Zeit gehabt, um über die Geschehnisse nachzudenken. Jetzt mussten sie nach vorne blicken – sie alle.

    Sie vergewisserte sich schnell bei Nelli und Trevor, dass diese zurechtkamen und ging zu Edmunds … Versteck. Währenddessen überlegte sie sich sorgsam, was sie ihm an den Kopf werfen wollte und wie sie ihn dazu bringen konnte, seinen Hintern hochzukriegen. Sie legte ihren Frust und teilweise auch Wut in ihre Worte.

    Dann entdeckte sie ihn im Schatten einer Palme auf einem Stein hocken, die Beine angezogen und das Kinn auf den Knien gebettet. Mit leerem Blick starrte er auf das Meer hinaus, beinahe teilnahmslos … und ihre Worte verflogen mit dem leichten Strandsand im Wind.

    Vorsichtig näherte sie sich ihm und verschränkte die Arme vor ihrem Körper. „Edmund?“, fragte sie zögerlich.

    Er ignorierte sie.

    Natürlich ignoriert er dich. Was hast du gedacht? Dass er dich in eine herzliche Umarmung schließt?!

    Sie scharrte mit der Schuhspitze im Sand herum und biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht sollte sie einfach gehen und ihn weiter schmollen lassen. Möglicherweise war es für sie alle besser, wenn er hier weiter in der Sonne verbrannte.

    Sie stieß die Luft zwischen den Zähnen aus. Nein, sie konnte und wollte ihn hier nicht sitzen lassen! Niemand sollte alleine sein, auch Edmund nicht. Gerade er nicht.

    Entschlossen ging sie zu ihm und stellte sich unmittelbar vor ihn. Für einen kurzen Moment verspürte sie üble Lust, ihn mit Nellis Stock auf die Stirn zu schlagen und war froh darüber, dass dieser nicht in greifbarer Nähe war.

    Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Kommt“, forderte sie ihn so wortkarg auf, wie er sie immer abspeiste.

    Er sah gar nicht zu ihr auf. „Nein“, kam es von ihm.

    Sie spürte erneut, wie Frust und Wut sie durchfluten wollten. Das konnte doch nicht wahr sein! Wollte er ewig hier herumsitzen?

    Schön. Sollte ihr recht sein!

    Sie wollte gehen, aber sie blieb.

    „Vielleicht interessiert es Euch, dass Trevor wieder wach ist“, hörte sie sich sagen und ließ den Arm sinken.

    „Wie? Was?“ Verwirrt blickte er ihr schließlich in die Augen. „Wirklich?“

    In diesem Moment wurde Esther bewusst, dass Edmund an Trevors Überleben gezweifelt hatte. Sie nickte zur Bestätigung. „Er ist noch schwach, aber er wird wieder. Aber Ihr nicht, wenn Ihr weiter hier rumsitzt und Löcher in die Luft starrt.“

    Er warf einen kurzen Blick in die Richtung, wo die anderen saßen. „Ich komme trotzdem nicht mit!“

    So langsam verlor sie die Geduld. Wovor auch immer er Angst hatte – diese Angst war unbegründet. Sie vergaß ihren gesellschaftlichen Stand – wobei dieser in den letzten Tagen nicht mehr existent gewesen war, immerhin hatte sie eben noch Trevors Wunden gesäubert – ignorierte die Kluft, die sich noch zwischen Edmund ihr befand und ergriff mit beiden Händen sein rechtes Handgelenk. „Wir gehen nicht zu den Anderen“, erklärte sie ihm. „Aber ich für meinen Teil habe zu lange gesessen und Ihr auch!“

    Ein verwunderte Gesichtsausdruck machte sich auf Edmunds Gesicht breit. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“

    Fassungslos starrte sie ihn an. War das sein verfluchter Ernst? Offenbar schien es ihm egal zu sein, was mit Trevor war und auch ihre derzeitige Lage ging ihm wohl sonst wo vorbei.

    Sie wollte nicht glauben, dass ihn das alles nicht berührte. Oder ging es ihm doch nahe?

    Resigniert ließ sie seinen Arm wieder los und trat einige Schritte zurück. Er folgte ihr mit seinem Blick.

    „Was stimmt nicht mit Euch?“, entfuhr es ihr zu ihrer eigenen Überraschung. „Ihr sitzt hier, siecht vor Euch hin, obwohl wir stattdessen überlegen müssten, wie es weiter geht!“ Wieder verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah ihn abwartend an, rechnete aber kaum mit einer Antwort, mit der man arbeiten konnte.

    „Was mit mir nicht stimmt? Was stimmt mit Euch nicht?“, konterte er. „Ich will nicht reden und dennoch fragt ihr immer wieder nach! Ich versuche ja schon eine Lösung zu finden! Aber wir sitzen nun mal auf einer verfluchten Insel fest!“

    Sie wusste selbst, dass sie festsaßen. Das musste er ihr nicht noch sagen!

    „Ihr wisst aber, dass Ihr nicht alleine nach einer Lösung suchen müsst“, stellte sie fest. „Trevor, Nelli und ich werden Euch helfen. Aber das können wir nicht, wenn Ihr hier auf dem Stein hockt …“ Wie festgetrockneter Vogelmist. Sie ließ den Rest des Satzes unbeendet und besann sich im letzten Moment auf ihre Erziehung.

    „Jaja, Sorgen, Freunde, blabla“ Er winkte ab. „Das hat die Hexe schon versucht.“

    Das hatte gesessen. Tiefer als sie zugeben wollte.

    Sie spürte, wie ein Engegefühl sich um ihren Hals legen wollte. Der letzte Rest Mitleid, den sie bis eben für ihn aufbringen konnte, verflüchtigte sich. „Was seid Ihr eigentlich für ein emotionaler … Klotz?!“ Mittlerweile war es ihr egal, ob er zuhörte oder nicht, was er über sie dachte oder ob die Kluft zwischen ihnen noch größer wurde. Jeder von ihnen hatte eigene Sorgen, aber niemand außer Edmund steckte den Kopf in den Sand. „Ihr wollt nicht, dass man sich Sorgen um Euch macht? Das könnt Ihr aber nicht verhindern. Ihr braucht keine Freunde? Dann findet Euch damit ab, dass Ihr irgendwann alleine dasteht! Ihr wollt nicht reden? Dann lasst zu, dass Euch Eure Schuldgefühle auffressen!“ Sie wusste, dass sie eine Grenze überschritten hatte. Aber ihre Worte konnte sie nicht mehr länger zurückhalten. Doch kaum, dass sie das ausgesprochen hatte, bereute sie es schon wieder. Fahrig fuhr sie sich über die Stirn. „Es tut mir leid, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“

    Offenbar hast du auch zu lange in der Sonne gesessen! So wirst du ihn jedenfalls nicht dazu bringen, aus seinem Loch gekrochen zu kommen.

    Edmund starrte sie eine ziemlich lange Weile einfach stumm an.

    Hast du super hinbekommen, Esther! Ganz fabelhaft!

    „Ihr habt Recht“, sagte er plötzlich wie aus dem Nichts und sie glaubte fast, sie hätte sich verhört.

    Sie blinzelte verwirrt. „Was … genau meint Ihr?“

    „Mit allem“, stieß er aus und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Ich ... kann nicht mit zurück ... Trevor wurde wegen mir verletzt. Ich dachte, er stirbt. Er ist bestimmt wütend. Ich ... schätze, sowas machen Freunde nicht, das Leben des anderen riskieren. Nelli meint, das mit der Meuterei ist nicht meine Schuld, aber es fühlt sich so an...“ Er stockte und schluckte schwer. „Und Manfred ...“ Wieder schwieg er und Esther wartete geduldig, ob darauf noch etwas folgte. Mit jedem Wort, das er sagte, verflog ihre Wut immer ein Stückchen mehr.

    „Tut ... mir leid. Ich will Euch nicht damit belasten“, meinte er dann, stand auf und wandte sich zum Gehen um.

    „Edmund!“ Esther holte ihn schnell ein, ergriff ihn abermals am Arm und bevor sie sich zurückhalten konnte, legte sie ihm ihre freie Hand auf die Wange. „Nichts davon ist Eure Schuld. Redet Euch das bitte nicht ein. Trevor macht sich ebenso Sorgen um Euch wie Nelli und ich. Und … Manfred hat sein Schicksal gewählt als er sich gegen Euch wandte.“

    Edmund wich ihrer Berührung aus, weshalb sie die Hand schließlich sinken ließ. „Doch! Es ist meine Schuld!“, beharrte er. „Egal was Ihr oder die Hexe behaupten. Ich hätte alles besser im Auge behalten müssen. Das war allein mein Fehler.“

    Innerlich schüttelte sie den Kopf. Wie konnte jemand so stur sein? „Niemand ist ohne Fehler“, sagte sie. „Und wenn, dann trifft mich ebenfalls Schuld. Ich bin dazugekommen, um Euch und die Anderen vor genau solchen Gefahren zu beschützen … und habe versagt.“

    „In der Regel fordern Fehler aber keine Menschenleben.“ Er wich ihrem Blick aus, so als würde er sich in diesem Moment an seinen Kampf erinnern. „Und Ihr habt nicht versagt. Der Sturm hat Euch geschwächt. Das wäre jedem so gegangen. Ihr habt Euer Bestes gegeben.“

    Sie sah betreten auf ihre Hand, die immer noch seinen Arm umklammert hielt. Eigentlich hatte sie bereits loslassen wollen, aber sie fürchtete, dass er wieder davon laufen könnte. Außerdem spürte sie, wie ein seltsames Gefühl von ihr Besitz ergriff. Etwas, das sie kaum benennen konnte. „Da habt ihr recht“, gestand sie. „Und die Last, ein Menschenleben genommen zu haben, kann ich auch nicht mildern. Ich weiß auch nicht, wie es ist, jemanden …“ Sie brach ab, als ihr die richtigen Worte nicht einfallen wollten. „Aber Ihr habt es getan, um uns zu schützen.“ Da fiel ihr ein, dass sie sich für seinen Einsatz noch gar nicht bedankt hatte. „Ich danke Euch, Edmund.“ Seine letzte Bemerkung überging sie. Letztendlich hatte nicht der Sturm sie niedergezwungen, sondern der Magiestein. Aber sie wollte weder Edmund noch die Anderen beunruhigen. Und auch wenn jeder behauptete, dass sie rein gar nichts gegen die Meuterei hätte unternehmen können, so linderte dies keineswegs ihre Schuldgefühle. Bis zu einem gewissen Grad verstand sie Edmunds Gedanken daher und sie spürte, dass ihm die ganze Situation zu schaffen machte. Sie war froh, dass er sich letztendlich geöffnet hatte. Seine Fassade bröckelte weiter …

    „Und ich danke Euch für Eure Hilfe während des Sturms“, sagte er, nachdem sie abermals eine Weile geschwiegen hatten.

    Sie nickte leicht. „Ich habe nur getan, wofür Ihr mich mitgenommen habt“, erklärte sie. „Und ich verspreche, dass ich Euch dabei helfen werde, die Eleftheria zurückzubekommen.“

    „Ich weiß überhaupt nicht, ob ich die Eleftheria zurück will“, erklärte er und schaute auf ihre Hand auf seinem Arm. „Und könntet Ihr mich loslassen? Ich kann auch allein stehen.“

    Esther sah ihn kurz mit verengten Augen an und löste ihren Griff schließlich. Das Gefühl von eben verflog. Sie machte eine Kopfbewegung hinter sich, in die entgegengesetzte Richtung von Trevor und Nelli. „Gehen wir ein Stück?“

    Edmund folgte ihrer Geste mit seinem Blick. „Wozu soll das gut sein?“

    Sie lächelte ehrlich. „Ich weiß es nicht“, gestand sie ihm. „Findet es heraus.“ Damit wandte sie sich ab und sah über die Schulter zu ihm zurück.

    Sie sah, wie Edmund die Arme vor seinem Körper verschränkte und sie musterte. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, seufzte er schwer und folgte ihr schließlich. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er nicht viel von ihrer Idee hielt und es hatte sie überrascht, dass er sich dazu durchrang.

    „Was meintet Ihr damit, dass Ihr nicht wisst, ob Ihr das Schiff zurückhaben wollt?“, fragte sie, nachdem sie einige Schritte schweigend nebeneinander hergelaufen waren.

    Edmund sah sich unruhig um. Er schien mit sich und der Frage zu ringen. „Ich bin offenbar nicht für Verantwortung gemacht.“

    Esther sah ihn prüfend von der Seite an und strich sich einige Haarsträhnen zurück. Seine Antworten auf ihre Fragen erwiesen sich wie immer als wenig aussagekräftig. Aber sollte sie nachbohren? Wollte er lieber in Ruhe gelassen werden? Aber warum hatte er sie begleitet? Sicherlich nicht, um sich anzuschweigen. Oder?

    „Wie meint Ihr das?“, fragte sie schließlich zögerlich.

    „Dass mein Vater Recht hatte. Mehr nicht.“

    Sie spürte, dass er das Thema lieber mied. Offenbar war da einiges im Argen, worüber er nicht sprechen wollte. Esther respektierte das und beschloss, es dabei zu belassen. „Wenn Ihr irgendwann einmal reden wollt“, schob sie vorsichtig hinterher, „ich würde Euch zuhören.“

    Sie sah aus dem Augenwinkel, wie er zustimmend nickte.

    Das muss vorerst reichen.

    Sie hatte mehr erreicht, als sie glaubte. Immerhin war er aufgestanden und ging nun mit ihr am Strand entlang.

    Wenn sie nicht in einer solch misslichen Lage stecken würden und Edmund in besserer Verfassung gewesen wäre, hätte sie an dem Spaziergang sogar Gefallen gefunden. Jetzt aber schien es ihr, als würde sie es nur machen, um auf angenehmere Gedanken zu kommen. Noch immer verfolgten sie die Bilder der Meuterei. Als Trevor erwachte, war ihr eine schwere Last von der Schulter gefallen, aber dennoch sah sie seine Taten nach wie vor klar vor ihrem inneren Auge. Einerseits war er während des Kusses so vorsichtig und zart gewesen und andererseits, als er gekämpft hatte, so brutal und rücksichtlos. Eigentlich hätte sie Angst vor Trevor verspüren müssen, aber das war nicht der Fall gewesen. Vorhin hatte sie gespürt, dass es ihm unangenehm war, mit ihr über die Ereignisse zu sprechen. Sie hoffte nur, dass er …

    Sie schloss kurz die Augen, verschränkte die Arme vor dem Körper und seufzte.

    „Und was bedrückt Euch?“, hörte sie Edmunds Stimme und überrascht sah sie zu ihm auf. Hatte er sie wirklich gehört? Er musterte sie eingehend.

    Wollte sie mit ihm über ihre Gedanken reden?

    Sie zuckte die Schultern. „Nichts“, meinte sie ausweichend. „Ich bin nur noch etwas erschöpft und ein wenig durcheinander.“

    Genauso wie er wollte auch sie nicht direkt mit ihren Gefühlen hausieren gehen.

    Aus Edmunds eingehender Musterung wurde ein skeptischer Blick. „Aha.“

    Augenblicklich fühlte sie sich schlecht. Vorher hatte sie ihn beinahe gezwungen mit ihr zu reden, jetzt war sie es, die ihn auflaufen ließ. Aber was sollte sie auch sagen? Bisher hatte sie mit niemanden gesprochen, selbst mit Nelli nicht. Doch wieso sollte sie ausgerechnet Edmund erzählen, was sie bewegte?

    „Falls Ihr dennoch darüber reden wollt“, meinte er dann zögerlich, „ich renne nicht weg.“

    Sie überlegte und holte bereits Luft, um vor ihm ihre Sorgen auszubreiten.

    Dann nickte sie aber nur knapp. „Danke“, schob sie hinterher, weil sie nicht wusste, ob er ihre Geste gesehen hatte. „Das weiß ich zu schätzen.“

    Chance vertan …

    Eine ganze Weile gingen sie noch schweigend am Strand entlang und die Sonne begann bereits vom Himmel hinabzugleiten.

    Edmund hatte seinen Blick auf den Wald gerichtet und da gewahrte Esther etwas in einiger Entfernung.

    Sie kniff die Augen zusammen. „Edmund!“, rief sie und ergriff ihn am Ärmel, zog und zerrte beinahe daran, so aufgeregt war sie. Mit ihrer freien Hand deutete sie nach vorn, wo sich einige Schritte weit im Wasser ein auf Grund gelaufenes Schiff befand.

    Schnell stellte sie allerdings fest, dass die Begeisterung für ihre Entdeckung eher einseitig war.

    „Ja, toll, noch ein Idiot, der hier gestrandet ist. Klasse!“, maulte Edmund.

    Esther allerdings beschleunigte ihre Schritte und zerrte den Händlersohn einige Meter mit, bevor sie ihn los ließ. „Versteht Ihr nicht?“, rief sie. „Wenn es noch segeltauglich ist, könnten wir damit von der Insel verschwinden!“

    „Ja klar, die sind vermutlich nur versehentlich hier gestrandet. Die warten nur darauf, uns mitzunehmen!“

    Esther warf einen Blick hinter sich, wo Edmund seine Kleidung zurechtrückte, ihr aber weiterhin folgte.

    An der Wasserkante blieb sie stehen und wartete, bis Edmund zu ihr aufgeschlossen war.

    „Meint Ihr, es gibt noch eine Besatzung zu dem Schiff?“, fragte sie zweifelnd. „Wenn ja, dann hätten sie sich doch bestimmt schon aus dem Staub gemacht, oder etwa nicht?“ Sie legte den Kopf schief. Ihr Wissen, was Schiffe betraf, war nicht groß. Aber sie sah, dass die Segel schon bessere Tage erlebt hatten.

    Edmund sah sich kurz um und heftete den Blick dann auf das Schiff.

    „Es liegt hier schon eine ganze Weile. Ich denke nicht, dass tatsächlich noch jemand da ist.“ Er schaute über die Schulter in den Wald. „Das hätten wir sicherlich bereits gemerkt.“

    Esther nickte zustimmend und grinste ihn dann an. „Dann stört es wohl auch niemanden, wenn wir es uns … ausleihen.“ Sie ging ins Wasser und watete auf das Schiff zu.

    „Ähm ... ich halte das für keine gute Idee“, hörte sie Edmund sagen.

    Sie achtete nicht darauf, sondern setzte ihren Weg fort, bis sie etwa bis zur Hüfte im Wasser und genau vor dem Schiff stand. Prüfend legte sie ihre Hände auf das Holz, aber auch hier hatte sie keine Ahnung, ob der Zustand in Ordnung war. Sie watete um den Bug herum und suchte nach einem Weg, um hinaufsteigen zu können.

    „Esther ... wenn das Schiff irgendwie ins Rutschen kommt oder Planken morsch oder kaputt sind, verletzt Ihr Euch vielleicht.“ Seine Stimme klang sowohl genervt als auch besorgt, aber da entdeckte sie bereits die klapprige Leiter aus Seilen und Holzsprossen.

    Entschlossen griff sie danach und setzte den Fuß auf die erste Sprosse, die sie sah.

    Ganz blöde Idee, Esther …

    Vielleicht hätte sie sich hinlegen sollen, aber Esther wusste, dass sie keine Ruhe fand. Die Ereignisse lagen noch schwer auf ihr und sie schaffte es nicht, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.

    Während sie den Strand entlang ging, tauchten immer wieder die Bilder der Meuterei vor ihrem inneren Auge auf. Sanft rollten die Wellen über den weißen Sand und die Palmen raschelten im Wind. Sie ließ ihren Blick über die exotischen Pflanzen wandern, sah noch einmal kurz über die Schulter zurück zu den Anderen, und verschwand kurz darauf im Wald.

    Nachdem sie einige Schritte gegangen war, setzte sie sich an einen Baum und zog die Knie an. Es dauerte nicht lange, bis ihr wie von selbst die Tränen über die Wangen rannen. So sehr sie diese vorhin noch zurückgehalten hatte, so schnell kehrten sie zurück und das mit aller Macht, als begriff ihr Körper erst in diesem Moment, was geschehen war.

    Ihr Vater hatte es vorausgesehen und sie musste sich eingestehen, dass sie einer solchen Reise nicht gewachsen war. Hätte Edmund einen männlichen Magier anstelle ihrer Person mitgenommen, wäre es nie so weit gekommen.

    Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen, als der leblose Körper des Kochs in ihren Gedanken auftauchte.

    Er starb, weil er sie geschützt hatte.

    Übelkeit stieg in ihr auf und sie presste sich die Hand auf den Mund. Schwer schluckte sie den sauren Kloß hinunter.

    Bilder des zertrümmerten Schädels und des aufgeschlitzten Bauches wurden wieder präsenter, die Geräusche aufeinanderprallenden Waffen lauter.

    Esther stemmte sich in die Höhe, Schwindel übermannte sie und flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus.

    Sie sah Francis abgetrennten Kopf, die Leiche des Steuermanns, die über Bord ging, hörte die zwei Schüsse.

    Alles drehte sich um sie herum. Haltsuchend lehnte sie sich mit einer Hand gegen die Palme und erzitterte als sich ihr Mageninhalt vor ihren Stiefeln ergoss.

    Stiev, der Koch, der Steuermann und die anderen Männer würden vermutlich noch leben, wenn sie nicht gewesen wäre. Oder Nelli …

    Trevor und Edmund hätten niemanden töten müssen.

    Andererseits hätte der Händlersohn nur verraten müssen, was für eine wertvolle Ware er an Bord hatte.

    Sie ließ die Hände sinken und richtete sich vorsichtig auf.

    Hör auf! Niemand trägt die Schuld an dieser Situation.

    Wütend und schniefend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und den sauren Speichel aus den Mundwinkeln. Sie war froh, dass weder Edmund noch Nelli sie so sahen.

    Und es hilft niemanden, wenn du jetzt hier sitzt und heulst!

    Sie atmete einige Male tief durch, zupfte ihren Zauberstab unter ihrem Ärmel hervor.

    Mit der anderen Hand zog sie zögerlich den Dolch aus ihrem Gürtel. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie damit auf jemanden eingestochen hatte. Obwohl sie dafür da war, die Menschen zu beschützen, hatte sie einen der Männer verletzt.

    Sie verdrängte den Gedanken und drehte sich unschlüssig einmal im Kreis. Dann schlug sie unbeholfen eine Kerbe in den Baum, an dem sie gesessen hatte.

    Sie würde Trevor fragen, wie man mit dem Dolch vernünftig umging, sobald er wieder wach war. Oder sie gab ihm dieses Ding einfach zurück, was vermutlich besser war. In ihren Händen hatte diese Waffe keinen Zweck.

    Falls er wieder aufwacht …

    Bevor sie weiter über Trevors Zustand nachdachte, setzte sie sich in Bewegung.

    Sie wusste, dass er überleben würde. Er musste es einfach schaffen …

    Esther verbot es sich, eine andere Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen.

    Schließlich wagte sie sich weiter in den Wald hinein. In regelmäßigen Abständen machte sie Kerben in die Bäume, damit sie später den Weg wieder zurück fand.

    Wonach genau sie suchte, wusste sie nicht, aber es lenkte sie ab und gab ihr das Gefühl, nicht nutzlos in der Ecke zu sitzen, wo sie ohnehin keine Ruhe fand.

    Sie hielt darin inne, die Rinde zu malträtieren und überlegte, ob Edmund seit dem Sturm überhaupt geschlafen hatte, während sie sich in ihrem Zimmer ausgeruht hatte. Sicherlich war er damit beschäftigt gewesen, die Aufräumarbeiten zu überwachen. Sie dachte an das, was Trevor über den Händlersohn gesagt hatte. Das er besorgt um sie war. So kühl und übellaunig wie er immer wirkte, konnte sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Anderseits hatte sie seine zitternde Stimme auf dem Beiboot gehört, als er sich nach Trevors Zustand erkundigte.

    Konnte es sein, dass Edmund den kühlen und berechnenden Händler nur mimte, um nicht schwach zu wirken? War dies eine Fassade? Eine Fassade, die langsam zu bröckeln begann?

    Nachdenklich ließ sie den Dolch sinken und fuhr mit den Fingern über die Kerbe, die sie auf Augenhöhe in den Baum geritzt hatte.

    Hoffentlich nehme ich das später überhaupt noch wahr …

    Sie sah unsicher über ihre Schulter und fragte sich, ob es vielleicht besser wäre, zurück zu den Anderen zu gehen.

    Bevor sie den Gedanken zu Ende spinnen konnte, ging sie weiter.

    Drei Kerben später gab plötzlich der Boden unter ihren Füßen ein wenig nach. Überrascht stockte sie und sah hinab, hockte sich hin und befühlte die Erde.

    Sie war feuchter als vor ein paar Schritten noch.

    Esther hob den Blick und versuchte durch die dichte Blätterwand etwas zu erkennen. Doch sie sah nicht, was sich dahinter verbarg.

    Sie erhob sich und folgte dem immer nasser werdenden Pfad, wobei sie auch hier die Bäume kennzeichnete, obwohl sie immer unruhiger wurde. Aber es brachte nichts, wenn sie losstürmte und den Weg nicht markierte.

    Mit dem Dolch kämpfte sie sich stolpernd durch die Büsche. Blätter peitschten ihr ins Gesicht und je weiter sie kam, desto besser hörte sie das Rauschen.

    Und dann tat sich vor ihr wahrhaftig ein Paradies auf.

    Zu ihren Füßen breitete sich eine Quelle aus, die sie auf vielleicht fünfzig Fuß schätzte. Sie könnte aber auch kleiner oder sogar größer sein. Schätzen war nicht ihre Stärke. Ein schmaler Wasserfall brauste rauschend hinein und verbreitete eine angenehme Kühle.

    Esther steckte den Dolch in den Gürtel und verstaute ihren Stab in der Schnalle. Dann stieg sie vorsichtig die Böschung hinab. Am Ufer fiel sie auf die Knie und tauchte die Hände ins kalte Wasser. Das eingetrocknete Blut – Trevors Blut - löste sich von ihren Fingern und sie schrubbte so lange, bis davon nichts mehr zu sehen war. Zögerlich starrte sie auf das Wasser, dass sie sich in die hohle Hand geschöpft hatte und probierte es schließlich.

    Es ist Süßwasser!

    Erleichterung machte sich in ihr breit. Ohne Wasser hätten sie hier kaum überleben können. Damit war zumindest ein Problem gelöst.

    Nachdem sie das Bild kurz auf sich hatte wirken lassen, erhob sie sich und nahm den gleichen Weg wieder zurück.

    Als sie wieder am Strand ankam, suchte sie sich einige Steine und legte sie auf einen Haufen. Anschließend steckte sie einen Ast hinein. Das würde als Wegweiser dienen, damit sie die Quelle wiederfanden.

    Zu Schade, dass sie nichts hatte, um das Wasser zu transportieren. Sie würde sich besser fühlen, wenn sie Nelli, Edmund und Trevor etwas davon hätte mitbringen können.

    Sie sah in den dunkler werdenden Himmel hinauf. Es erschien ihr ratsam, wieder zurück zu den Anderen zu gehen, bevor die Nacht vollständig hereinbrach.

    Etliche Schritte später entdeckte Esther die Hexe neben Trevor an einer Palme lehnend.

    „Ich habe eine Süßwasserquelle gefunden“, sagte sie leise, woraufhin Nelli sich zu ihr umwandte. Esther sah sich besorgt um und noch bevor die Heilerin etwas erwidern konnte, fragte Esther: „Wo ist Edmund?“

    Etliche Augenblicke vergingen, in denen Esther einfach mit offenem Mund geschockt auf Trevor hinabstarrte. Dann zerrte sie den Formwandler mit Nellis Hilfe auf den Rücken, ließ sich von der Bank gleiten und landete mit den Knien auf dem Boden des Beibootes. Dabei ignorierte sie, dass ihre Kleidung nass und mit dem Blut getränkt wurde. Sacht bettete sie Trevors Kopf auf ihren Oberschenkeln und strich ihm über die Wange. „Trevor“, flüsterte sie.

    Er reagierte nicht.

    „Trevor!“, rief sie lauter.

    „Lebt er noch?“, wollte Edmund hinter ihr wissen. Sie glaubte, die Andeutungen von Sorge in seiner Stimme zu hören, die sie teilte. Das Boot kam ins Straucheln als auch Edmund näher kam. „Ihr bekommt ihn doch wieder hin, oder?“

    Wen er damit meinte, konnte Esther nicht sagen. Aus ihr unerklärlichen Gründen brannten Tränen in ihren Augen. Woher sollte sie wissen, ob er noch lebte? Ihre Hände zitterten und ihre Sicht wurde unscharf.

    Trevors Wunde am Kopf war aufgegangen, bemerkte sie. Aber das erklärte seinen Zustand nicht. Urplötzlich musste sie an die Schüsse denken und daran, wie man auf ihn eingestochen hatte.

    „Er atmet noch“, meinte Nelli plötzlich. „Aber nur sehr schwach.“

    Esther meinte ein erleichtertes Seufzen hinter sich zu hören.

    Kurzerhand griff die Hexe nach dem Dolch, der in Esthers Gürtel steckte, und schnitt die Oberbekleidung des Formwandlers einmal der Länge nach auf.

    Was Esther dann sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie wandte den Blick ab und hielt blinzelnd die Tränen zurück. Erst als Nelli ihre Hand packte und diese auf das Stoffstück presste, das auf Trevors Schlüsselbein lag, zwang Esther sich, wieder hinzusehen.

    „Wir müssen die Blutung stoppen“, meinte Nelli und sah sie eindringlich aber auch verständnisvoll und mitleidig an.

    Esther nickte nur benommen, während Nelli die Wunde an Trevors Bauch mehr schlecht als recht versorgte.

    Mit den Mitteln, die ihnen hier zur Verfügung standen, konnten sie kaum etwas ausrichten.

    Wie von selbst legte sich auch ihre zweite Hand auf die Wunde.

    Halte durch Trevor …

    Eine Welle verschiedenster Gefühle rollte über sie hinweg. Einerseits war es die Fassungslosigkeit über diese feige Meuterei. Dann die Sorge um Trevor und das er den Kampf gegen seine Wunden vielleicht verlor. Und die Wut auf sich selbst, weil sie wieder nicht verhindern konnte, dass er sich verletzte.

    Sie wusste, dass sie sich an seinem Zustand keine Schuld geben sollte. Trevor würde das vermutlich nicht wollen. Außerdem hatte sie gar keine Möglichkeit gehabt, ihn irgendwie zu beschützen.

    Weil du schwach bist, schoss es ihr durch den Kopf. Eine bejammernswerte Magierin, die nicht einmal ihre Freunde beschützen kann …

    Plötzlich reichte Nelli eines der Ruder an Esther vorbei hinüber zu Edmund.

    „Hier“, wies die Hexe an. „Da müsste Ihr wohl jetzt rudern.“

    Esther hörte nicht zu, als die beiden begannen, zu diskutieren.

    Stumm sah sie auf Trevor herab und versuchte, Ordnung in ihr gedankliches Chaos zu bringen, was ihr nur bedingt gelang. Immer wieder quälte sie die Frage, wie es nur zu dieser Situation kommen konnte.

    Es kam ihr so vor, als hätten die Meuterei beinahe auf einen Moment der Schwäche gewartete und dann zugeschlagen.

    Sie haben gewartet, bist du geschwächt warst.

    „Seht Ihr hier jemanden, der sonst noch rudern kann?“, fragte Nelli mit einem säuerlichen Unterton in der Stimme und reichte Edmund auch das zweite Ruder. „Entweder Ihr rudert oder wir können gleich alle schwimmen.“

    Esther sah über ihre Schulter zu dem Händlersohn. Wie er stur auf das Meer starrte, während er ruderte, wirkte er auf eine unbestimmte Weise verbissen, aber erweckte auch den Anschein eines eingesperrten und drangsalierten Tieres. In sich gekehrt, als würde er in diesem Moment jedes einzelne Detail der letzten Momente im Kopf noch einmal durchgehen.

    Sie konnte sich nur vorstellen, wie er sich fühlte. Binnen weniger Augenblicke hatte er beinahe alles verloren.

    Esther öffnete den Mund, um ihm ein paar tröstende Worte zu spenden, aber ihr fiel nichts ein, was dieser Situation hätte gerecht werden können. Selbst sich für seinen Schutz bei ihm zu bedanken, brachte sie nicht über sich.

    Vermutlich würde er darauf ohnehin nicht eingehen. Verständlicherweise, musste sie gestehen. Wer hörte schon gerne aufbauende Worte, wenn man vor dem Nichts stand.

    Plötzlich drehte er sich herum und sie sahen sich an.

    Sie rang mit sich, doch nicht einziges Wort wollte ihre Lippen verlassen. Er musste ihren besorgten Gesichtsausdruck einfach sehen, denn sie schaffte es nicht, diesen zu verbannen.

    „Das wird schon“, sagte er zwischen zwei Ruderschlägen. „Er ist zäh.“

    Esther war sich nicht sicher, ob er die Worte wirklich an sie richtete oder sich damit nur selber Mut machen wollte.

    Zäh war Trevor wirklich.

    Und genau genommen traf das auch auf Edmund zu. Sie hatte in dem Durcheinander auf der Eleftheria gesehen, wie er sich gegen den Piraten behauptet und schließlich getötet hatte.

    Ob er das erste Mal getötet hatte?

    Esther hoffte, dass sie ein solches Bild wie auf der Eleftheria nicht so schnell noch einmal sehen würde. Sicherlich träumte sie die nächsten Nächte davon, wie Trevor dem Steuermann das Gesicht zertrümmert oder Edmund seinen Degen aus dem Körper des Piraten gezogen hatte …

    Edmund und Trevor riskierten ihre Leben für sie und Nelli.

    Bei Edmund würde sie sich bedanken, sobald sie ein wenig zur Ruhe gekommen waren.

    Ihr Blick glitt zu Trevor. Sie hoffte, dass sie in seinem Fall überhaupt noch Gelegenheit dazu bekam.

    Wie gelähmt ließ sie sich von den Männern wegbringen.

    Schock, Wut und Verwirrung wechselten sich in ihrem Inneren ab und das sorgte dafür, dass ihre Gedankenwelt wie von einem Sturm durchgerüttelt wurde.

    Mühselig stieg sie über die Reling und setzte einen Fuß in das Beiboot, dankbar dafür, dass sie von ihrem Kleid noch zur Robe gewechselt war. Umständlich zog sie das andere Bein nach und kam kurz ins Wanken, als das Beiboote schaukelte. Sorgsam achtete sie darauf, dass ihre Haare den Dolch in ihrem Rücken nach wie vor verdeckten.

    Glücklicherweise hatten die Matrosen sie nicht durchsucht, weshalb die Magiesteine und das Auge von Zydderfon sowie ein wenig Geld in ihrer kleinen Gürteltasche verstaut blieben. Ihr Zauberstab verbarg sich unter ihrem eng anliegenden Ärmel. Hätte sie ihn in der Schnalle am Rücken getragen, wäre ihr dieser mit Sicherheit abgenommen worden. Ungeachtet dessen, dass ihre magischen Fähigkeiten noch zertrampelt auf dem Boden lagen.

    Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von den Meuterern herumschubsen zu lassen wie ein kleines Kind.

    Haben die überhaupt eine Ahnung, mit wem sie sich gerade anlegen?

    Sie wussten es, aber es war denen mehr als egal.

    Wenn ich meine Magie benutzen könnte, hätten diese … Piraten … nichts zu lachen!

    Die ganze Situation schien ihr wie ein schlechter Scherz.

    Vor gefühlten wenigen Augenblicken hatte sie gesamte Besatzung vor dem Tod bewahrt und nun wurde sie deswegen von Bord geworfen, weil Einzelne an die Lügen alter Märchen glaubten?

    Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie auf das schmale Brett in dem Beiboot niedergestoßen wurde. „Geht das auch weniger grob?“, entfuhr es ihr gereizt und sie sah den Mann grimmig an, während sie sich sein Gesicht einprägte. Sie erntete von dem Kerl jedoch nur einen amüsierten Blick.

    Sie vermied es, an ihren Handfesseln zu rütteln, wobei ihr Blick sich schließlich auf Trevor heftete.

    Ein undeutbares Kribbeln fuhr durch ihren Körper. Für einen kurzen, unendlich schrecklichen Augenblick hatte sie ihm seinen Verrat geglaubt. Aber als er dann vor ihr gestanden hatte und …

    Im ersten Moment war sie versucht gewesen, ihn einfach wegzustoßen und ihm eine Ohrfeige zu verpassen.

    Wie konnte er es wagen …

    Im Nachhinein wusste sie selbst nicht genau, warum sie zugelassen hatte, dass Trevor sie küsste.

    Sie spürte den Druck des Messers in ihrem Rücken und riss ihr Augenmerk von der Gestalt des Wandlers los. Sein Blick hatte gezeigt, dass er sich sofort Vorwürfe machte.

    Ihre Gedanken sagten ihr, dass sie wütend auf ihn sein sollte – sie war es aber nicht.

    Auch wenn der Kuss nur dem Zweck gedient hatte, ihnen die Flucht zu erleichtern, so lag noch immer ein wärmendes Gefühl auf ihrer Haut. Und so sehr sie sich auch bemühte, es wollte nicht weichen.

    Verunsichert sah sie sich um und ließ ihren Blick über die umherstehenden Männer wandern. Offensichtlich hatte niemand bemerkt, was Trevor wirklich getan hatte, außer ihr einen Kuss aufzuzwingen.

    Aber was sollte sie jetzt tun? Ohne ihre Magie hatte sie den Bewaffneten nichts entgegen zu setzen.

    Ihre Gedanken glitten zu dem Dolch, den sie noch immer in ihrem Rücken trug.

    Und was mache ich jetzt damit? Jemanden abstechen? Auf keinen Fall!

    Trevor musste etwas anderes geplant haben …

    Sie verfolgte das Gespräch zwischen Armod und Trevor aufmerksam. Irgendwann kam der Moment, in dem der Formwandler eine Entscheidung treffen musste. Und das tat er, als er sich neben Edmund stellte.

    „Es ist deine Entscheidung, was du tun wirst, aber ich bin an deiner Seite“, hörte sie Trevor sagen.

    Sie schloss erleichtert die Augen.

    Ihr ganzer Körper war zum Zerreißen angespannt und egal, was nun geschah – sie würde nicht einfach fliehen und die anderen zurücklassen. Niemals.

    Esther wurde von Kopfschmerzen geweckt und als sie die Augen aufschlug, drehte sich die gesamte Umgebung. Blinzelnd richtete sie sich auf und legte keuchend die Hand an ihre Stirn. Sie wartete, bis der Schwindel vorüberging und ließ den Arm wieder sinken.

    „Ich hatte schon befürchtet, dass du gar nicht mehr erwachst, Mädchen.“

    Esther zuckte bei Nellis Stimme zusammen und wandte sich zu der Hexe um. Diese saß auf einem der gemütlichen Sessel, ihr Stock lehnte an der Seite, und sah sie forschend an.

    „Wie lange war ich weggetreten?“, wollte Esther von ihr wissen.

    Die Heilerin wiegte den Kopf. „So, wie du aussiehst, nicht lange genug.“

    Also zu lange …

    Umständlich schlug Esther die Decke zurück und starrte einen Moment betreten auf ihre Gestalt herab. Das hatte sie zuletzt nicht angehabt …

    Auch der Verband an ihrer linken Hand war beim letzten Mal noch nicht dagewesen.

    Bilder von dem entsetzlichen Sturm zeigten sich vor ihrem inneren Auge und siedend heiß fiel ihr ein, wie sie in diesen Zustand geraten war.

    Vorsichtig schwang sie die Beine über die Bettkante und kämpfte gegen einen erneuten Schwindelanfall an.

    Bei allen Silbererzen! Sie fühlte sich, als hätte ein Pferdekarren sie überfahren.

    Nachdem sie aufgestanden war und einen Blick in den Spiegel geworfen hatte, kam sie zu der Einsicht, dass sie auch genauso aussah. Ihr Gesicht war aschfahl und ihre Lippen beinahe farblos, die Augen glanzlos und gerötet. Sie erschrak, als sie sich selbst sah.

    Kein Wunder, dachte sie, du hast dich auch noch nie so sehr verausgabt.

    Nelli beobachtete sie, während sie sich umzog und ihre Haare umständlich verknotete. „Was soll das werden?“, fragte die Hexe.

    Verwundert blickte Esther die Ältere an, während sie einige geflochtene Haarsträhnen mit einer Nadel feststeckte. Wonach sollte das aussehen?

    „Ich brauche frische Luft“, meinte sie und strich das schmale, leichte Kleid glatt.

    Außerdem will ich mir nicht die Blöße geben und mich in meinem Zimmer verkriechen.

    Die komplette Besatzung dachte bestimmt auch so schon, dass sie schwach wäre. Immerhin war sie umgekippt wie ein gefällter Baum.

    Dieser Gedanke brachte plötzlich ganz andere Fragen zutage. Wieso war sie überhaupt noch hier? Müsste sie nicht auf dem Meeresboden liegen? Sie wusste noch, dass sie über die Reling gekippt und ihr der Zauberstab aus der Hand geglitten war.

    Mein Stab …

    Sie schloss kurz die Augen und drängte die Tränen zurück. Ohne ihren Stab war sie nutzlos. Keine vollwertige Magierin.

    „Kindchen?“, hörte sie Nellis Stimme wie in weiter Ferne. Die Hexe ergriff ihre Hand und drückte sie sanft.

    Esther holte tief Luft. Sie wollte Nelli nicht wieder mit ihren Gedanken auf die Nerven gehen. „Danke für deine Pflege“, brachte sie deshalb schnell zustande und lächelte gequält. Dann wandte sie sich kurzerhand ab und taumelte hinaus.

    Ob die Heilerin ihr folgte, überprüfte sie nicht, zu sehr war sie darauf konzentriert, halbwegs vernünftig zu laufen.

    So würdevoll wie irgendwie möglich, betrat sie das Oberdeck und blinzelte gegen das Licht. Von dem Sturm war nichts mehr zu sehen, außer den zahlreichen kleinen Schadstellen auf dem Schiff, die von einigen Matrosen repariert wurden.

    Als die Besatzungsmitglieder sich ihrer Anwesenheit bewusst wurden, hielten sie einen Moment in ihrer Arbeit inne.

    Warum starren die denn so?

    „Gräfin Esther?“, rief eine bekannte Stimme, weshalb sie sich eine Spur zu schnell herumdrehte und ins Wanken geriet.

    Edmund reagierte schnell und legte einen Arm um sie. Wie von selbst ergriff sie seine freie Hand und ließ sich von ihm stützen.

    Schwärze breitete sich vor ihren Augen aus und sie schluckte den dicken Kloß herunter, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte.

    Werde jetzt nur nicht wieder ohnmächtig!

    Sie schaffte es, im Hier und Jetzt zu bleiben. Mühsam rang sie sich zu einem dankbaren Lächeln durch.

    Sanft aber bestimmt führte der Händlersohn sie bis zur Reling, wo sie sich festhalten konnte. „Geht es Euch gut?“, fragte er und ein sichtlich besorgter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Solltet Ihr nicht noch im Bett liegen, anstatt hier herumzulaufen?“

    Sie überlegte einen Augenblick, vermutlich zu lange, um Edmund wirklich zu beruhigen. Flüchtig sah sie ihm in die Augen und wurde sich seiner Aura nur allzu bewusst. Sie spürte, dass seine Nähe ihr keineswegs unangenehm war und sie sich auf eine unbestimmte Art und Weise sogar wohl fühlte. Ungeachtet dessen, wie er sich manchmal aufführte.

    Aber was sollte sie sagen? Lügen? Antworten, dass ihr bestens ging?

    „Es ging mir schon besser, aber ich bin mir sicher, dass ich in ein oder zwei Tagen wieder ganz auf den Beinen bin.“

    Wie sie bereits geahnt hatte, stellte Edmund ihre Antwort nicht zufrieden. Aber er schien es dabei belassen zu wollen. „Dann setzt Euch wenigstens, statt herumzulaufen“, meinte er. „Es nützt niemanden etwas, wenn Ihr im Weg herumsteht, oder stürzt.“

    Esther zog eine Augenbrauen hoch. Noch deutlicher ging es ihrer Meinung nach nicht. Ihr Inneres kämpfte plötzlich gegen das angenehme Gefühl an, das sie in seiner Nähe verspürte. Sie brachte einen halben Schritt Abstand zwischen ihnen. „Ich fürchte, Ihr müsst Euch daran gewöhnen, dass ich von nun an im Weg herumstehen werde“, gab sie säuerlich zurück. „Ich meine mich erinnern zu können, dass mein Stab während des Sturms über Bord gegangen ist.“

    Edmund seufzte. „Ist er nicht. Ich habe ihn Euch abgenommen, als Ihr ohnmächtig geworden seid.“ Er griff hinter seinen Rücken und zog ihren Zauberstab hervor.

    Sie schaffte es nicht, das Zittern in ihrer Hand zu verbannen, als sie danach griff. Mit großen Augen starrte sie den Händlersohn an und prüfte den Stab auf Beschädigungen. Dann sah sie wieder Edmund an. „Danke“, hauchte sie zaghaft und kurz überfiel sie der Drang, Edmund zu umarmen, weshalb sie bereits einen Schritt auf ihn zumachten. Im letzten Moment hielt sie sich aber zurück und starrte auf den Boden.

    Sag etwas, bevor die Situation peinlich wird. „Wie geht es Euch?“, fragte sie schließlich und hob den Blick wieder.

    Er schien mit sich zu ringen. „Gut“, antwortete er dann, was Esther nicht im Geringsten befriedigte. Vielleicht war ihm auch einfach nicht nach einem Gespräch.

    Ein wenig kränkte sie es schon, dass er sie so abspeiste. Aber sie verspürte weder die Lust noch die Kraft, ihn weiter auszuquetschen. Außerdem – wer war sie schon, dass sie sich eine solche Unverschämtheit anmaßen durfte …

    „Und der Besatzung … geht es auch gut?“, wollte sie wissen.

    „Ich denke schon“, meinte er. „Mehr oder weniger.“

    Sie schluckte schwer. Wenn sie sich mehr Mühe gegeben hätte … dann wäre vermutlich niemand zu Schaden gekommen.

    Plötzlich stockte Esther der Atem. „Und Trevor?!“

    Deutlich sah sie das Bild vor sich, wie der Formwandler von der Kiste zerquetscht worden war. Sie hatte es nicht geschafft, rechtzeitig einen Schild zu errichten. Allein deshalb hatte er sich verletzt.

    „Der sitzt da drüben und trinkt seinen Tee“, gab Edmund zurück und zeigte auf eine Stelle hinter Esther.

    Mit klopfendem Herzen wandte sie den Kopf herum und sah in die entsprechende Richtung. Tatsächlich hockte der Formwandler dort auf der Treppe und schlürfte aus einem Becher.

    „Entschuldigt mich“, sagte sie zu Edmund und ging auf Trevor zu.

    Kurz vor ihm blieb sie stehen. Als er sie bemerkte, wollte er sich umständlich erheben. Sie winkte schnell ab und sah auf ihn herab. Er wirkte noch ziemlich mitgenommen. „Bitte bleibt sitzen!“, sagte sie schnell und deutete auf den freien Platz neben Trevor. „Darf ich mich neben Euch setzen?“

    „Sicher. Ich wollte mich ohnehin bei Euch bedanken.“

    Sie nahm neben ihm Platz, ihre Finger spielten mit dem Zauberstab. „Da gibt es nichts, wofür Ihr Euch bedanken müsstet. Meine Aufgabe wäre es gewesen, dafür zu sorgen, dass die Kiste Euch eben nicht zerquetscht.“

    Am liebsten hätte sie bei Edmunds Frage laut aufgelacht. Jeder Blinde dürfte sehen, dass ihre Schilde kaum mehr Kraft besaßen. Und bei dem, was vor ihnen lag, brauchte sie davon eigentlich noch jede Menge.

    Ein neuerlicher Wellenschlang rüttelte das Schiff durch. Esther taumelte und auch Edmund neben ihr suchte nach Halt.

    Er schien erstaunlich standfest zu sein. Auf seinem Gesicht lag ein grimmiger Ausdruck, aber auch Angst glänzte in seinen Augen. Angst, die auch sie verspürte.

    Sie schob dieses erdrückende Gefühl in den Hintergrund und konzentrierte sich auf das Chaos vor sich. Viel zu schwerfällig änderte die Eleftheria ihre Fahrtrichtung.

    Sie wollten an dem Strudel vorbeisegeln.

    Esther überlegte.

    Es musste dafür Sorge getragen werden, dass der Mannschaft dieses Manöver gelang.

    Doch bevor sie ihren Zauber umlenken konnte, schlug ein Blitz krachend auf ihren Schild ein. Sengender Schmerz jagte durch ihren Körper und lähmte sie für einen Augenblick. Tränen schossen ihr in die Augen und sie schrie auf.

    Grollend lachte Donner sie aus und erneut traf ein Blitz ihre Barriere.

    Sie spürte ihre Magie unter der Last bröckeln.

    Verdammt! Lange kann ich es nicht mehr halten!

    Von Schwindel gepackt, sackte sie zusammen und kauerte sich auf den nassen Brettern zusammen.

    Edmund ergriff ihre Schulter. „Esther?!“

    Als sie zu ihm aufblickte, sah sie echte Sorge in seinen Augen.

    Ob dieses Gefühl ihr galt oder einfach der Gesamtsituation geschuldet war, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur, dass sie etwas tun musste.

    Noch immer trieb das Schiff auf den massiven Strom zu.

    Für die Strömung schien die Eleftheria zu leicht zu sein, was bedeutete, dass sie hoffnungslos hineingezogen werden würden.

    Wie von selbst griff sie in ihre Gürteltasche und holte einen der Magiesteine hervor.

    Für irgendwas müssen die Dinger ja gut sein!

    Ein weiterer Blitzeinschlag ließ ihren Schild endgültig verschwinden und brachte den brutalen Wind zurück.

    Während Edmund einen Schritt zurückwich, erhob sie sich. Die Schlinge rutschte ihr von der Hüfte und sie blinzelte gegen den starken Regen an. Sie hörte zwar das Geräusch der wütenden See, die Donnerschläge und die panischen Rufe der Mannschaft, konzentrierte sich aber nur auf ihre Aufgabe.

    Nun ließ sie auch das Tau los und um einen festen Stand bemüht, reckte sie dem Strom aus Wasser und Wind den Stab entgegen. Mit der anderen Hand umklammerte sie diesen – dreimal verfluchten – Magiestein.

    Ob ihre Augen wegen des Regens brannten oder weil sie tatsächlich weinte, konnte sie nicht sagen. Wie in Trance murmelte sie ihren Spruch. Nichts geschah.

    Ich habe mich verausgabt, gestand sie sich selbst ein.

    Sie wiederholte den Spruch. Einmal, dann ein zweites und drittes Mal.

    Gerade als Verzweiflung sie unbarmherzig packte, spürte sie eine ungewohnte, pulsierende Kraft in sich, die von dem Magiestein über den Arm in ihren Körper floss. Wärme fing sie ein.

    Komm schon! Konzentriere dich!

    Abermals sagte sie ihren Spruch auf.

    Ganz langsam breitete sich unmittelbar vor ihr ein Silber leuchtender Schild aus. Geformt wie die Linse eines Fernrohrs wuchs er stetig an und pulsierte dabei, als würde er ihren eigenen Herzschlag imitieren.

    Plötzlich rauschte eine Welle der Energie durch sie hindurch. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und während sie die Luft wieder ausstieß, breitete sich der Schild rasend schnell aus und umwölbte einen Lidschlag später die gesamte Eleftheria. Feine Fäden, die wie filigrane Zweige aussahen, wanderten über ihre Barriere und ließen die Umgebung aufleuchten.

    Sie wusste sofort, dass sie das kaum würde halten können. Aber das bewahrte sie im Moment alle vor dem sicheren Tod. Und wenn sie sich beeilte, schaffte sie es vielleicht, das Schiff vor dem gefährlichen Sog zu retten.

    Entschlossen machte sie einen Schritt vor und presste ihren Schild gegen den Wirbel.

    „Lasst das … Steuerrad … los“, befahl sie, bemerkte aber, dass ihre Stimme viel zu leise war. Edmund jedoch hatte sie gehört und brüllte über das Deck hinweg. Sie hörte, wie der Befehl von einem zum anderen getragen wurde und hoffte, dass er sein Ziel schlussendlich erreichte.

    Dann änderte sie ihren Zauber. Zusätzlich zu ihrem großen Schild, formte sich eine zweite, kugelartige Barriere. Damit begann sie, das Schiff langsam von dem Strudel wegzudrücken. Kurz schien die Eleftheria deshalb in Stillstand zu geraten, dann aber bewegte sie sich von dem reißenden Strom weg.

    Ein Brennen in ihrer Handfläche ließ Esther zusammenzucken, was sie zunächst ausblendete und sich weiter auf ihre Magie konzentrierte .

    Sie wankte, als das Schiff sich aufbäumte und gleich darauf auf einer Welle hinabsauste. Das krachende Geräusch war ohrenbetäubend.

    Esther stolperte einige Schritte vor, kam direkt an der Reling zum Stehen und starrte geradewegs in den schwarzen Abgrund hinein.

    Sie hätte die Schlaufe behalten sollen …

    Das Zittern in den Knien ignorierend, verkrampfte sich die schmerzende Hand um den Stein. Sie lenkte all ihre Aufmerksamkeit dorthin.

    Ein Blitz traf ihren Schild und ließ ihn erzittern, ein Keuchen entrang sich ihrer Kehle.

    Dann spürte sie Wärme in ihrer Hand und Energie, die erneut ihren Körper flutete. Diesmal fühlte es sich allerdings … falsch an.

    Ein silbernes Leuchten durchzog das Holz ihres Zauberstabes.

    Immer mehr Energie schoss durch ihren Körper, viel zu schnell als das sie diese sorgsam bündeln konnte. Die anfängliche Wärme wandelte sich in gleißende Hitze um und lähmte ihre Sinne. Plötzlicher Kopfschmerz plagte sie und vor ihren Augen tanzten Sterne.

    Die Energie, die sie freigelassen hatte, jagte zurück in ihren Körper. Schmerz ließ sie aufschreien und zwang sie zum Rückzug.

    Ihr Schild krachte buchstäblich zusammen.

    Als das Schiff erneut in er abrupten Bewegung die Richtung änderte, kippte sie haltlos nach vorne und konnte sich wieder nur im letzten Moment an der Reling abstützen. Auch Edmund stürzte und rutschte einige Schritte über das nasse Deck.

    Haarscharf schrammte das Heck der Eleftheria an dem Strudel vorbei.

    Hatte sie es geschafft?

    Ihre Hand schmerzte mittlerweile so stark, als hätte ihr jemand einen Dolch hineingejagt. Prüfend betrachtete sie ihre Handfläche, von der die Überreste des Magiesteins wie ein zerbröselter Keks zerfielen und wie Asche vom Wind fortgetragen wurden. Blut troff von ihren Fingern auf die Holzbohlen und vermischte sich dort mit dem Wasser.

    Sie schluckte den sauren Speichel einfach herunter und versuchte, sich aufzurichten. Zitternd hob sie den Arm, um einen neuen Schild zu errichten, aber jedes Gefühl in ihrem Körper erstarb augenblicklich. Schwärze breitete sich vor ihren Augen aus. Das Schiff bäumte sich auf, jemand schrie ihren Namen – Edmund?

    Ihr Handgelenk wurde gepackt und der Zauberstab entrissen.

    Noch bevor die Welle gegen den Bug des Schiffes schlug, umfasste sie einer mit beiden Armen und zerrte sie zurück.

    Sie spürte, wie ihr Bewusstsein nun endgültig in die Dunkelheit glitt.