Am Morgen weckte das unerträgliche Kreischen der Möwen Esther aus ihrem tiefen, aber wenig erholsamen Schlaf.
Sie schreckte hoch, wobei das Notizbuch, welches Edmund von der Telara mitgenommen hatte, mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel.
Ich bin also doch eingeschlafen.
Leicht verschlafen hockte sie auf der Bettkannte, bis eine stechende Erkenntnis sie überfiel.
Trevor!
Hektisch machte sie sich frisch, ließ ihre Haare allerdings offen. Das Hochstecken nahm nur unnötige Zeit in Anspruch und sie plagte ohnehin schon das schlechte Gewissen. Trotz ihrer Eile klemmte sie sich Buch und Kiste unter den Arm und hechtete förmlich hinaus.
Auf halben Weg zum Oberdeck hörte sie Geräusche aus der Küche.
Sie stieß die Tür mit etwas zu viel Schwung auf. „Entschuldigt meine Verspätung“, brummte sie noch immer leicht verschlafen. Obwohl sie mit Sicherheit den Eindruck erweckte, am meisten ausgeruht zu sein, denn in der Küche begegnete sie einem mürrisch aussehenden Edmund. Er trug nur Hose und Hemd, nicht einmal Schuhe hatte er an.
Er winkte ab und deutete auf die Arbeitsplatte. „Es gibt heute Brot, Rührei und etwas Aufschnitt. Ich habe keine Lust zu kochen.“
Sie schluckte und sofort regte sich ihr schlechtes Gewissen noch mehr, denn der Händlersohn sah mit seinen zerzausten Haaren aus, als hätte er die ganze Nacht hier verbracht. Und trotz seiner offensichtlichen Müdigkeit machte er Frühstück für alle.
Mit einem Seufzer stellte sie die Kiste auf die Dielen und lächelte. „Danke“, sagte sie. „Wie geht es Trevor?“, fragte sie dann und sah sich um. Aber von Trevor und Nelli fehlte jede Spur.
„Da solltest du die Alte fragen, sie ist die Heilerin.“
Da war etwas dran. Dennoch hatte sie sich etwas mehr von ihm erhofft. Unschlüssig sah sie über die Schulter zurück. Sollte sie zu Trevor und Nelli gehen?
Sie entschied sich dagegen, immerhin bestand die Möglichkeit, dass sie selbst noch schliefen. Esther zog sich stattdessen einen Stuhl dichter und begann, ihren Teller mit dem Frühstück zu beladen, während Edmund aussah, dem Essen keines Blickes würdigen zu wollen. Kurz hatte Esther sogar Sorge, er würde auf der Stelle einschlafen. Erneut bekam sie ein schlechtes Gewissen, weshalb sie nur halbherzig auf ihrem Brot herumkaute. „Ich habe heute Nacht versucht, die Zauber auf der Kiste zu entschlüsseln.“ Was stimmte. Sie hatte alle Zeichen und Symbole sorgsam studiert und vielleicht eine Lösung für das Problem gefunden.
Sie wusste zwar nicht, was sie sich davon versprach, ausgerechnet mit Edmund darüber zu reden, aber hier sitzen und schweigen, wollte und konnte sie nicht.
Außerdem war sie sich gewiss, dass Trevor in guten Händen war und Nelli würde ihnen schon Beine machen, sollte sie Hilfe brauchen.
Statt einer Antwort brummte Edmund nur etwas vor sich hin und nippte an seinem Kaffee.
Ja, was hattest du erwartet, Esther …
Sie ließ die Schultern sinken und schob den Teller von sich. „Ich werde später versuchen, sie zu öffnen“, meinte sie. „Aber nicht hier an Bord. Und vorher möchte ich wissen, wie es Trevor geht.“ Selbst jetzt bekam sie den Geruch von verbranntem Fleisch nicht aus der Nase.
Ohne eine Antwort auf ihre Bemerkung zu erwarten, klaubte sie sich das Buch von der Kiste herunter und prüfte ihre Formeln.
Und obwohl sie mit ziemlicher Sicherheit alles richtig gemacht hatte, passte irgendetwas noch nicht, das verriet ihr Bauchgefühl. Es war, als gäbe es eine Lücke im Konstrukt. Sie rieb sich nachdenklich die Stirn und nippte ebenfalls an ihrem Becher.
Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie Edmund sie müde beobachtete. Er schien nichts sagen zu wollen, denn er trank nur schweigend weiter.
Dann bleib doch stumm, du Stumpf.
Sie wandte sich der Kiste zu und dann wieder den Aufzeichnungen. Es musste ihr etwas entgangen sein. Zunächst hatte sie es auf die Müdigkeit geschoben, aber eine Komponente fehlte. Und auch wenn sie der Lösung nahe war, konnte sie die Kiste mit ihren Formeln nicht öffnen. Das könnte eine schöne Blamage werden.
„Dieser … Mistkerl“, flüsterte sie und begriff zu spät, dass sie nicht alleine im Raum war.
„Gibst du schon auf?“, hörte sie plötzlich Edmunds Stimme.
Aha. Also war er doch nicht verstummt.
„Ich würde gerne nein sagen, aber das wäre gelogen“ gab sie zu. „Ich weiß, die Lösung liegt vor mir, aber …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich bin das etliche Male durchgegangen, aber da ist etwas, was nicht passt.“
Dass sie mit dieser fehlenden Komponente eher Gefahr lief, alles andere in die Luft zu sprengen, außer der Kiste, ließ sie lieber unbemerkt.
Und war Edmund überhaupt der Richtige, um über ihr Versagen zu sprechen?
Außerdem sollte er lieber ins Bett gehen und schlafen statt mit ihr über dieses Problem zu sprechen. Es war ihre Aufgabe, diese Kiste zu öffnen.
Edmund erhob sich gähnend. „Dann lass ich dich mal allein“, sagte er und machte Anstalten, die Küche zu verlassen. „Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.“
So, wie er das sagte, hörte es sich eher an wie lass mich zufrieden.
Und sie war versucht, ihn in Ruhe zu lassen. Schlussendlich brachte das aber nichts.
„Edmund?“, hielt sie ihn deshalb auf und schob das Buch über den Tisch. „Schau mal hier rüber und vergleiche die Zeichen, mit denen auf der Kiste. Findest du eine Ungereimtheit?“ Sie deutete erst auf Thomas Gekrakel, dann auf ihre eigene Aufstellung und auf die Truhe.
Sie spürte deutlich den Widerwillen in Edmund, aber er kam dennoch zurück und betrachtete abwechselnd das Buch und die Kiste. „Eine Ungereimtheit?“, fragte er und hob die Augenbraue. „Sehe ich aus wie ein Alchemist?“
Esther wandte sich ihm zu und zog die Stirn kraus. „Also erst einmal sind das nicht alles alchemistische Zeichen, sondern auch magische Versiegelungen.“ Sie mustere ihn. „Und zweitens … nein, du siehst nicht aus wie ein Alchemist.“
Genau genommen sahen die Alchemisten für sie aus wie ganz normale Menschen, also konnte auch jemand, der wie Edmund aussah, ein solcher sein.
„Gut, da wir das geklärt haben“, meinte er unbeeindruckt, „wie soll ich da nun eine Ungereimtheit erkennen? Es sind eben Gekrakel.“
In diesem Moment verspürte Esther üble Lust, ihm den Becher Kaffee an den Kopf zu werfen. Gekrakel …
Diese Zeichen und Symbole waren mitnichten nur Gekrakel! Sicherlich wirkte die Handschrift als hätte jemand betrunken versucht, einen Schwan zu zeichnen, aber hinter diesem Gekrakel steckte jede Menge Macht, von der Edmund nichts ahnte.
Sie machte sich gerade für eine ausschweifende Erklärung bereit, als Edmund auf etwas in dem Buch zeigte.
„Ich meine“, begann er und schmunzelte, „was soll das sein? Das sieht aus, als hätte ein Besoffener seinen Namen in den Sand gepisst.“
Verwundert folgte sie dem Fingerzeig und verzog nachdenklich das Gesicht. „Für mich sieht das eher wie … ein Fleck … aus.“ Sie zog sich das Buch dichter heran. Nein, es war kein Fleck. „Grundgütiger!“, rief sie, sprang auf und wusste vor lauter Freude nicht, wohin mit sich. „Das ist es!“ Ohne weiter darüber nachzudenken, umarmte sie Edmund.
Der allerdings blieb wie versteinert an Ort und Stelle stehen, was Esther allerdings weder störte noch nahe ging. Sie wusste, dass ihre Reaktion für ihn kaum verständlich war, also ließ sie ebenso schnell von ihm ab, wie die Welle der Freude über sie hereingebrochen war. „Du hast mir sehr geholfen“, sagte sie zu ihm und vervollständigte ihre Formeln. „Danke.“ Sie lächelte und betrachtete ihre eigenen magischen Symbole. „Damit wird es sicher klappen.“
„Bitte gerne.“ Edmund lächelte ebenfalls, wobei sie eine gewisse Zufriedenheit darin erkannte.
Sie leerte ihren Becher Kaffee und erhob sich. „Ich sollte am besten so schnell wie möglich damit beginnen, die Kiste zu entsiegeln. Je eher wir das erledigt haben, desto besser.“
Edmund kratzte sich an der Schläfe. „Ähm … ja, in Ordnung.“ Plötzlich grinste er. „Wenn du nochmal Hilfe brauchst, für die du dich bedanken willst, sag Bescheid.“
Esther musterte ihn. Brauchte sie bei dem, was jetzt kam, seine Hilfe? Alleine zu gehen, wäre für alle anderen sicherer. Sie sah kurz das Buch an. Bezüglich ihrer Entsiegelung war sie sich sicher, aber im Inneren der Kiste konnte noch immer eine Überraschung auf sie warten.
Und falls Edmund etwas passierte, würde sie sich das nie verzeihen. Andererseits konnte es auch sein, dass sie sich bei dem Versuch, die Kiste zu öffnen, verletzte. Wie würde er sich dabei fühlen? Vermutlich plagte ihn dann nur die Angst, was mit ihm geschah, sollte ihr Vater das dann herausfinden.
So oder so. Jetzt war es an ihr, eine Entscheidung zu treffen. „Bist du sicher? Willst du nicht eher hierbleiben, für den Fall, dass Nelli Unterstützung benötigt?“, fragte sie, was eher ein Versuch war, um Edmund freiwillig zum Bleiben zu bewegen.
„Ach, ich denke, das Mütterchen kommt allein zurecht.“ Wieder grinste Edmund. „Trevor ist pflegeleicht und hat das Schlimmste hinter sich.“
Esthers Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Also wusste Edmund doch mehr über Trevors Befinden und war vorhin nur maulfaul gewesen.
Sie spürte, dass sie bei dem Händlersohn auf Granit biss. „Also schön. Aber können wir uns darauf einigen, dass du auf mich hörst, wenn ich dir eine Anweisung gebe? Du bist kein Magier und ich möchte nicht, dass du … den Zauber gefährdest.“ Eigentlich meinte sie, dass sie nicht wollte, dass Edmund sich verletzte, aber das brachte sie aus ihr unerklärlichen Gründen nicht über die Lippen.
Edmunds Lächeln wurde breiter, beinahe engelsgleich. „Natürlich.“
Allein dafür hätte sie ihm ins Gesicht schlagen können. Und dafür, dass er sie direkt angelogen hatte. Sie verkniff sich das Grinsen. Dann musste sie eben vorsorgen.
„Wir sollten Nelli und Trevor zumindest Bescheid geben“, meinte sie und wandte sich zum Gehen um. Sie wollte nicht, dass die beiden sich unnötig Sorgen machten.
„Ich werde mir dann mal meine Stiefel anziehen“, murmelte Edmund, als sie die Küche schon fast verlassen hatte.
Nachdem sie in Nellis Zimmer niemanden angetroffen hatte, klopfte sie leise bei Trevor an. Doch auch da reagierte keiner.
Schulterzuckend öffnete Esther vorsichtig die Tür und bemerkte schnell, dass beide tief im Schlaf versunken waren. Dennoch versetzte der Anblick ihr einen Stich im Herzen, auch wenn die zwei ziemlich ruhig wirkten.
Sie presste die Lippen aufeinander und kritzelte kurz entschlossen eine knappe Nachricht für Nelli auf einen umliegenden Fetzen Papier. Wenn alles glatt ging, würden sie ohnehin schnell wieder zurück sein.
Auf leisen Sohlen verließ sie das Zimmer, huschte zurück in die Küche und musste feststellen, dass Kiste und Buch nicht mehr dort waren.
Edmund hielt sich bereits am Oberdeck auf, der ihr das Notizbuch entgegenhielt und sich selbst die Kiste unter den Arm klemmte, wobei er sie vorsorglich mit einem Tuch etwas abdeckte.
Das fand Esther gar nicht so unklug. Es könnte immerhin sein, dass einer von Thomas Männern ihnen begegnete und die Truhe erkannte.
„Wir brauchen einen etwas abgelegenen, möglichst menschenleeren Ort“, sagte sie, als sie den Steg passierten. „Auf den Karten konnte ich nicht wirklich etwas finden, ist dir da vielleicht etwas ins Auge gestochen?“, fragte sie an Edmund gewandt. Er schien, als würde er sie nur widerwillig begleiten und sie war sich beinahe sicher, dass dem so war.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Edmund die Augenbraue hob. „Das ist eine Insel … mit nur einer Stadt drauf. Quasi die Hälfte der Landmasse ist menschenleer und abgelegen.“
„Also müssen wir nur raus aus der Stadt?“, schlussfolgerte sie wenig geistreich.
Das sie eventuell die falschen Karten angesehen hatte, behielt sie lieber für sich. Würde man sie allein im Wald aussetzen, wäre sie einfach verloren, das war Fakt.
„Und darauf bist du ganz allein gekommen?“, fragte er mit einem großen Anteil Sarkasmus in der Stimme.
Ja, gib noch Salz in die Wunde …
Sie ging nicht weiter darauf ein. Nach einer Weile des Schweigens sprach sie blindlinks eine Frau und einen Herren an, die mit einem Karren unterwegs waren, die sie freundlicherweise mitfahren ließen.
Edmund folgte stur und stumm, was Esther genauso still hinnahm.
Insgeheim hoffte sie, dass er einfach nur zu müde war. Und sie nicht nur des Pflichtbewusstseins wegen begleitete oder für was auch immer.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie die Leute darum bat, anzuhalten. Mit wenigen Worten bedankte sie sich bei ihnen und wünschte eine gute Reise. Das Übliche eben. Und sie hoffte, dass es denen egal war, was sie und Edmund an diesem gottverlassenen Ort mit nichts anderem als einer Truhe unter dem Arm wollten.
Nachdem der Karren außer Sichtweite war, trat sie auf die von Bäumen umsäumte Wiese hinaus. Dieses Mal hatte sie die Kiste gleich selber getragen, genauso wie das Buch.
Letzteres drückte sie Edmund in die Hand, der ihr mit mürrischer Miene gefolgt war.
Esther zog ihren Zauberstab und streckte ihn vor. „Tut mir leid …“, murmelte sie.
Auf ihren Befehl hin, breitete sich die blau schillernde Energiebarriere sofort aus und zwang den Händlersohn auf Abstand. Schritt für Schritt musste er sich von ihr entfernen. „Ist das dein Ernst?“, fauchte er genervt und ließ sich bockig auf den Boden fallen.
Ohne eine weitere Erklärung wandte sie sich der Kiste zu. Ihr Herz schlug vor Aufregung. Wenn sie versagte, waren die Mühen der Anderen umsonst gewesen.
Denke nicht zu viel darüber nach!
Mit dem auf die Kiste gerichteten Zauberstab murmelte sie die fremdsprachige Formel.
Zunächst geschah einen Atemzug lang nichts, dann aber hörte sie ein leises Klacken, ein Rattern und wieder ein Klacken. Als würden sich im Inneren kleine Zahnräder bewegen. Erneut klackte es.
Neugierig trat sie näher heran, ging in die Hocke und war erstaunt, als sich der Deckel öffnen ließ.
Sollte es tatsächlich so einfach gewesen sein?
Als hätte man ihre Frage gehört, schoss etwas in die Höhe und schwirrte wie eine Fliege vor ihrem Gesicht herum. Da war es wieder, das Klacken.
Und dann vermehrten sich die metallenen Fliegen in atemberaubender Geschwindigkeit.
Irritiert erhob Esther sich und bevor sie begriff, was da vor sich ging, wurden aus den kleinen Tierchen, hunderte, zeigefingerlange Stacheln.
Einen Lidschlag später rasten sie auf Esther nieder.
„Esther!“, schrie Edmund. „Lass mich rein!“
Weil du auch so viel ausrichten kannst …
Konzentriere dich, du darfst dich jetzt nicht ablenken lassen.
Sie reagierte instinktiv und errichtete neben ihrem Energieschild einen weiteren, der aus den tausenden Kieselsteinen in ihrer Nähe bestand. Sofort spürte sie, wie beide Barrieren ihren Tribut forderten, aber auf keinen Fall wollte sie Edmund in Gefahr bringen. Wer wusste schon, was diese Viecher anrichteten.
Die Steine umwölbten sie wie eine schützende Mauer und sie hörte, wie die Fliegen klappernd dagegen flogen, andere sirrten allerdings daran vorbei und befielen sie hinterrücks.
Aber da sie damit gerechnet hatte, verformte sie ihre Steinbarriere, sodass nun auch ihre Rückseite geschützt war.
Wieder hörte sie Edmund ihren Namen schreien.
Fokussiert darauf, sich die Biester vom Hals zu halten, bemerkte sie fast gar nicht, wie schnell ihre Kraft schwand.
Hatte die Entsiegelung so viel Magie gekostet? Verdammt!
Sie musste sich beeilen.
Auf ihren magischen Befehl hin, fielen die Kieselsteine zu Boden, und sie erschuf eine zweite Energiebarriere.
Blitzschnell weitete sie diese aus und presste sie mitsamt der manipulierten Mücken gegen ihren äußeren Schild. Nach und nach zerplatzten sie dort, übrig blieb nur weißer Rauch.
Erschöpft ließ Esther sich auf die Knie fallen, ihre Schilde lösten sich auf und kurz verschwamm die Welt vor ihren Augen.
Bis sie ein Klicken hörte.
Wie kann das sein?
Obwohl sie keine Kraft mehr besaß, sprang sie auf, doch es war viel zu spät.
Schmerzen schossen urplötzlich durch ihre linke Schulter. Sie stolperte zurück und keuchte auf. Der Schock erstickte ihren Schrei. Wie paralysiert fasste sie sich an die blutende Wunde.
„Esther!“, rief Edmund erneut. Dieses Mal war seine Stimme deutlich näher. Sie spürte, wie er sie von hinten stützte und ihr half, sich zu setzen. Obwohl sie mehr als dankbar für seine Hilfe war, ließ sie sich dennoch widerwillig in seine Arme gleiten
„Die Kiste“, presste sie zwischen den Zähnen hervor. „Ist das Fernrohr drin?“
„Du bist verletzt“, überging er damit ihre Frage und begann, am Stoff ihrer linken Schulter zu zupfen.
Sie zog vor Schmerz die Luft ein, gab sich aber Mühe, sich nicht allzu viel anmerken zu lassen. Sicherlich war es nicht angenehm, aber auszuhalten. „Das ist halb so wild“, meinte sie und versuchte erfolglos, seine Hand beiseite zu wischen. „Und was machst du da überhaupt?“
„Mir die Wunde anschauen.“ Sie konnte hören, wie seine Zähne mahlten. „Auch, wenn ich darüber nachdenke, nochmal nachzutreten.“
Esther wandte sich zu ihm um, aber er war so auf die Wunde fixiert, dass er ihr nicht ins Gesicht sah. „Wieso nachtreten? Es ist doch alles gut gelaufen. Die Kiste ist offen.“
Der Ausdruck in Edmunds Miene veränderte sich. „Die Kiste ist doch gerade völlig egal, oder?“, fuhr er sie sauer an.
Hätte sie nicht noch halb in seinen Armen gehangen, wäre sie vermutlich aufgesprungen und hätte etwas Abstand genommen. So aber blieb ihr nichts anderes übrig, als in dieser Position zu verharren. „Warum bist du so wütend? Wegen der Kiste sind wir hierhergekommen und meine Wunde werde ich auch überleben.“ Sie verstand es nicht. Müsste er nicht eigentlich froh darüber sein, dass sie es geschafft hatte und er obendrein unverletzt aus der Sache herausgekommen war?
„Warum ich wütend bin?“, brummte er, ohne den Kopf zu heben. Er drückte auf der Wunde herum, was Esther mit zusammengepressten Lippen über sich ergehen ließ. Es fehlte noch, dass sie jetzt anfing, zu flennen. „Ich habe nichts gegen deinen blöden Schild gesagt, als du angefangen hast. Aber es stört mich gewaltig, wenn ich wie ein Idiot am Rand stehen und dabei zuschauen muss, wie du verletzt wirst, ohne irgendwas ausrichten zu können!“ Kurzerhand rupfte er etwas von seinem Hemd ab. „Und jetzt lass die Kiste erstmal Kiste sein und mich das wenigstens verbinden.“
Für einen Moment war sie so sprachlos, dass sie zunächst gar nicht bemerkte, wie Edmund begann, die Stoffbahn um ihre Schulter zu wickeln.
War ihm überhaupt klar, dass er rein gar nichts hätte tun können, um das zu verhindern? Aber vielleicht ging es ihm auch nicht unbedingt darum. So oder so. Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihn in eine solche Lage zu bringen.
„Tut mir leid“, murmelte sie betroffen. „Ich tat es nicht, um dich zu bevormunden, sondern nur zu deinem Schutz.“ Nun konnte sie sich einen Schmerzenslaut nicht verkneifen, als Edmund den Stoff zuzog. Ob er absichtlich rabiater als notwendig vorging, wusste sie nicht. Aber das hatte wehgetan.
„Ich weiß. Aber Freunde beschützen sich gegenseitig.“ Er rutschte etwas von ihr weg, besah sich sein Werk und nickte zufrieden. Schließlich erhob er sich grinsend und lehnte sich so weit vor, bis ihre Gesichter nahe beieinander waren. „Auch, wenn es mir natürlich Freude bereitet, dir so nahe zu sein und dich zu versorgen.“ Sein Grinsen wurde breiter und sie hörte deutlich den Schalk in seiner Stimme. „Noch einen Kuss gegen die Schmerzen?“
Gegen ihren Willen schoss ihr die Röte ins Gesicht und ihre Wangen wurden warm. Wieso auch immer sie so reagierte. Für so eine Frechheit hätte man Edmund in der Grafschaft des Hauses verwiesen. Und die gestellten Komplimente der feinen Gesellschaft prallten ebenso von ihr ab wie die fliegenden Käfer vorhin an ihrer Mauer. Warum also gelang es Edmund beinahe jedes Mal, sie in Verlegenheit zu bringen?
Sie legte den Kopf schief. „Ich werde es überleben“, gab sie mit Nachdruck zurück, mühte sich auf die Beine und brachte ein Lächeln zustande. Den Zauberstab verstaute sie wieder in ihrer Tasche und deutete mit der rechten Hand auf ihre verbundene Schulter. „Danke dafür. Wie es aussieht, schulde ich dir ein neues Hemd.“
Wider Erwarten zuckte er nur die Schultern „Ist nur ein Hemd“, meinte er beinahe abfällig und runzelte dann überrascht die Stirn. „Wow, kam das von mir?“ Er wandte sich der Kiste zu und stupste sie mit dem Fuß an, bevor er sich runterbeugte.
„Sieht aus wie ein Fernrohr“, bemerkte Esther trocken, als sie zu ihm aufgeschlossen war. „Aber ist es auch DAS Fernrohr?“
Vorsichtig nahm Edmund den Gegenstand an sich, wendete es mehrmals, um es von allen Seiten zu betrachten. Dann machte er Anstalten, hindurchgucken zu wollen, legte es allerdings wieder zurück. „Ja, ist meins …“
Kurz wunderte sie sich darüber, dass er es nicht getestet hatte, aber dann erinnerte sie sich daran, was er über die Fähigkeit dieses Gegenstandes sagte.
„Beim Magierkodex!“, rief sie triumphierend aus. „Endlich hat mal etwas geklappt!“
„Aber das ist nicht meins“, gab Edmund plötzlich von sich und nahm einen weiteren Gegenstand aus der Truhe, hielt ihn in die Höhe und musterte ihn ebenso wie das Fernrohr.
„Das sieht aus wie ein Horn“, stellte Esther laut fest und nahm es Edmund vorsichtig aus der Hand. Sie holte tief Luft. „Ich glaube, das ist ein weiteres Artefakt. Wenn ich mich nicht täusche, ist es das Horn von Kelton.“
„Klasse …“, gab Edmund wenig begeistert zurück.
Und Esther war ehrlicherweise auch nicht überwältigt von diesem Fund.
Macht Thomas etwa Jagd auf die magischen Relikte?
Er? Gerade er? War er der Meinung, er könnte sie benutzen?
Sie legte das Horn zurück in die Kiste. Einerseits weil sie großen Respekt vor diesen unscheinbar wirkenden Gegenständen hatte, andererseits weil ihre Schulte anfing, nervtötend zu pochen und zu schmerzen.
„Wir sollten zurück“, schlug sie vor, gerade auch, um sich vernünftig versorgen zu lassen. „Bevor Nelli und Trevor sich Sorgen machen.“
„Ja, gehen wir zurück, bevor sie sich Sorgen machen, dass wir so lange weg sind. Dann können sie sich stattdessen Sorgen machen, weil du verletzt zurückkommst.“
Was hätte sie darauf antworten sollen? Das beim Entsiegeln der Kiste ein gewisses Risiko mitschwang, dürfte niemanden entgangen sein.
Aber jetzt mit Edmund zu diskutieren, wollte sie nicht, schon allein, weil ihr die Kraft dazu fehlte. Und wenn sie weiter hier herumstanden, würde er nicht nur die Kiste tragen müssen, sondern auch sie. Und diese Genugtuung gab sie ihm sicher nicht.