Neuer Montag, neuer Abschnitt. Da das Kapitel so lang ist, werde ich es diesmal in drei Abschnitte teilen, damit es für euch leichter ist mit dem Lesen. Die Fragen bleiben bei mir aber die gleichen wie beim ersten Abschnitt - hat das ganze Überlänge und wenn ja, was kann weg und was soll definitiv bleiben?
Kapitel 5.2 - Aleyna
Ich schaue in den Himmel und versuche Norden auszumachen. Nacht wandert langsam über mich hinweg. Ein tiefes Blau schiebt sich über die Welt und verschluckt die letzten Lichtstrahlen der Sonne. Bald ist nur noch ein blassgelber Streifen hinter dem Meer von Sternen zu sehen. Ich erklimme eine Düne und setze mich in den warmen Sand. Er rieselt sanft den Hügel unter meinen Füßen hinab, wird vom Wind erfasst und fortgeweht.
Ich lasse meinen Kopf in den Nacken fallen und atme die kühle Luft ein, die mit der Dunkelheit gekommen ist. Direkt über mir funkelt eine schmale Linie aus Sternen. Der Pfeil.
Ich höre die Stimme meines Vater, als wäre es erst gestern gewesen, dass er mich mit in die Wüste nahm. Wir hatten uns in dicke Decken gekuschelt und er erzählte mir von einer Zeit lange bevor er mit meiner Mutter nach Reqem gekommen war. Wo er durch die Wüsten dieser Welt von einem Stamm zum nächsten gezogen war.
„Vertraue niemals deinen Füßen, mein Kind“, hatte er gesagt, „oder du wirst dich zwischen den Dünen verlieren. Sieh zu den Sternen und sie werden dir den Weg weisen.“
Er hatte sich in den Sand fallen lassen und streckte mir eine Hand entgegen. Ich hatte nicht einen Augenblick gezögert. Hatte mich von ihm in den weichen Sand ziehen lassen und zu den strahlenden Lichtern aufgeschaut.
„Siehst du die Sterne dort über der Stadt?“ Und er zeigte über uns in den Himmel, direkt über Reqem. „Das ist der kleine Fuchs. Wo immer du in dieser Wüste wanderst, unter ihm wirst du immer dein Zuhause finden.“
Ich konnte zuerst nur die spitzen Ohren und den Schwanz ausmachen. Aber dann sah ich die Beine und die funkelnden Augen des Fuchses und das Gefühl von Heimat hatte sich in meiner Brust ausgebreitet. Ich hatte gelächelt und mir die Form der Sterne eingeprägt.
„Und dort“, mein Vater hatte nach Westen gezeigt, „siehst du dort die Katze, die über den Himmel streift?“
Ich hatte die Sterne abgesucht. Hatte versucht, Formen in den leuchtenden Punkten zu erkennen. Schließlich hatte ich die Katze weit in der Ferne entdeckt. Ihre Pfoten berührten schon den Horizont und doch wirkte sie viel größer als der kleine Fuchs direkt über uns.
„Sie führt zu den Ruinen der Arikée.“
„Wer sind die Arikée?“, hatte ich gefragt.
„Sie sind unsere ältesten Vorfahren. Sie waren die ersten, die je unser Land bewohnt haben. Damals erstreckten sich dort die größten Seen und Wälder, die unsere Welt je gesehen hat. Doch heute wird das Land von rauen Felsen und tiefen Rissen und Löchern im Boden gespalten. Nur noch die Geister unserer Ahnen irren dort umher.“
„Kann man sie sehen, die Geister?“
„Nein, mein Schatz. Du hörst sie im Wind. Hörst sie flüstern und spürst ihre Finger auf deiner Haut. Folge niemals dieser Katze oder sie führt dich direkt ins Verderben.“
Ich schauderte und rückte dichter an meinen Vater heran. Ich liebte seine Geschichten und bettelte ihn abends oft nach ihnen an. Doch hier draußen, mit dem Wind im Nacken und der Wüste schutzlos ausgeliefert, überkam mich ein leichtes Gruseln.
Mein Vater legte einen Arm um meine Schultern und zeigte ein letztes Mal empor.
„Aber das, meine kleine Leyna, ist das wichtigste Zeichen von allen. Der Pfeil.“
Diesmal musste ich den Himmel nicht absuchen, um das Bild zu finden. Ich sah ihn sofort. Eine leuchtende Linie aus Sternen in der Mitte des Himmels, die mit ihrer Spitze nach Norden deutete.
„Wichtiger als unser Fuchs?“, hatte ich ihn leise gefragt.
Mein Vater hatte gelächelt und mich sanft an sich gedrückt.
„Ja, sogar wichtiger als unser Fuchs. Denn egal, von wo du in den Himmel schaust, dieser Pfeil wird dir immer den Weg weisen. Selbst wenn du vollkommen verloren in dieser Welt umherirrst, wirst du immer wissen, wo Norden ist. Und du wirst immer wissen, in welcher Richtung dein Zuhause liegt.“
Zuhause. Wie sehr sehne ich mich danach, mich wieder in die warmen, sicheren Arme meiner Mutter schmiegen zu können. Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören. Wie gerne würde ich mich umdrehen und dem kleinen Fuchs folgen. Mich auf die warmen Stufen zu unserem Haus setzen und die feinen Linien im Boden nachzeichnen, die Lyana so mühevoll eingeritzt hatte.
Blumen blühten dort auf flachgetretener Erde und wilde Tiere spähten aus riesigen Blättern hervor. Meine Schwester hatte sie hier alle festgehalten. Die Zeichnungen und Bilder des Scriptors. Hatte tagelang auf dem harten Boden gekauert und mit einem kleinen Stöckchen die verlorene Welt zum Leben erweckt. Nun lag sie begraben unter der Asche unserer Stadt.
Ich werde nie wieder hierher zurückkommen. Ich schließe meine Augen und halte die Bilder fest. Bewahre sie tief in mir auf. Dann konzentriere ich mich wieder auf den leuchtenden Pfeil über mir. Norden. Das ist mein einziges Ziel. Im Norden finde ich Wasser.
Ich mache mich auf den Weg in Richtung der Pfeilspitze. Die Dünen werfen nun schwarze Schatten im Licht des schmalen Mondes. Erschaffen neue Täler und Berge. Selbst feine Wellen, die der Wind in den Sand gemalt hat, erscheinen wie tiefe Furchen. Und trotz der vielen Schatten und der Dunkelheit um mich herum, erstrahlt die Wüste selbst in einem hellen Licht. Als könnte sie das Licht der Sonne festhalten. Als würde sie jedes noch so kleine Leuchten am Himmel reflektieren.
Ich komme an den Feldern vorbei, die durch hohe Pfähle markiert sind. Unsere Ernte ist vorüber und die Knollen im Sand brauchen Zeit, um sich zu verbreiten und zu wachsen. Aber wem nützen sie noch? Im Herbst wird niemand mehr kommen, um die neuen Knollen zu ernten. Also grabe ich nach den alten, trockenen Knollen, die wir im Frühjahr hier zurückgelassen haben. Ich finde eine Hand voll und stecke auch sie in meine Taschen.
Dann wandere ich weiter über schmale Dünen und durch breite Täler. Vorbei an vereinzelten Steinen und vertrockneten Zweigen, die aus dem Sand ragen. Ich pflücke so viel wie meine Taschen tragen können und kaue immer wieder auf den staubigen Stängeln herum. Aber irgendwann beginnen meine Füße wieder zu schmerzen und meine Beine werden schlapp.
Ich ziehe eine der Knollen hervor und zupfe ein dünnes Blatt aus ihr heraus. Am liebste würde ich sie über einem Feuer garen oder die Blätter im Wasser kochen. Ich habe sie noch nie roh gegessen und von einigen Pflanzen kann einem übel werden. Manche machen sogar krank, wenn sie nicht lange genug gekocht wurden. Aber ich habe nichts, um ein Feuer zu machen. Ganz zu schweigen davon es am Leben zu erhalten, um die Knollen lange genug darüber zu garen. Abgesehen davon habe ich genug Flammen für ein ganzes Leben gesehen.
Also riskiere ich einen kleinen Bissen von dem Blatt. Kaue langsam und vorsichtig auf ihm herum. Dann laufe ich ein Stück weiter, ehe ich ein weiteres Blatt abzupfe und esse. Nach einer Weile befinde ich die rohen Blätter für ungefährlich und esse die ganze Knolle. Es geht mir nun viel besser. Meine Beine können wieder mit Kraft den Sand bezwingen und der Schmerz in meinen Füßen ist ein wenig abgeflaut.
Ich laufe so schnell wie möglich. Bringe Düne um Düne hinter mich, solange die Sterne noch über mich wachen. Ich kann mich einige Wochen mit den Zweigen und Knollen in meiner Tasche durch die Wüste schlagen. Aber ohne Wasser überlebt selbst der sparsamste Körper nur wenige Tage. Ohne den Brunnen hätte es kein Reqem gegeben. Sogar in den Tiefen der Wüste scheint sich der Boden noch an Tage voller Regen zu erinnern. Hält das viele Wasser in sich verschlossen, auch wenn in meinem ganzen Leben noch nicht ein Tropfen vom Himmel gefallen ist.
Während ich an den Brunnen und Regen und das Wasser tief im Boden denke, fahre ich mit meinen Fingern über meine Lippen. Sie sind spröde und rissig nach den Tagen ohne Wasser. Auch mein Mund ist trocken und ich versuche vergeblich zu schlucken. Der Wind nimmt zu und weht in meine Kleider hinein. Kälte dringt bis zu meinen Knochen durch und ich zittere. Schließlich nehme ich mein Tuch vom Kopf und hülle mich darin ein. Meine Haare wehen nun im Wind und ich kämpfe mich einen Schritt nach dem anderen voran.
Ich werde die ganze Nacht laufen müssen, um die Wüste Arikharrs hinter mich zu bringen. Wenn ich den Fluss heute nicht erreiche, muss ich einen weiteren Tag unter der Sonne überstehen. Und dieses Mal liegen keine Zelte auf dem Weg, die mich vor ihr schützen.
Ich laufe und laufe, immer weiter durch den schweren Wüstensand. Die Stimme meiner Mutter klingt in meinen Ohren und treibt mich voran. Es waren immer ihre Geschichten, die mir Kraft gaben. Die uns von einer Mahlzeit zur nächsten brachten oder uns halfen, friedlich einzuschlafen. Manchmal vertrieben sie auch einfach nur die Langeweile. Tauchten unsere eintönige Welt in bunte Farben.
„Seht ihr dort, die funkelnde Straße?“, fragte sie uns eines Abends und zeigte in den Himmel.
Ich beobachtete das Flimmern der heißen Luft über dem Marktplatz inmitten des frischen Windes, schaute den Funken des Feuers nach und blickte schließlich hinauf zu den Sternen.
„Sie sind einst in unserer Welt gewandelt. Sie kennen unser Land, haben jede Zeit mit bezeugt. Sie allein kennen jede Geschichte, die unser Volk jemals erzählt hat.“
„Wer waren sie?“, meine Schwester gähnte und kuschelte sich enger an unsere Mutter heran.
„Sie waren wie du und ich. Sie waren die ersten, die je unser Land betreten haben. Sie sind unsere Ahnen.“
„Was ist aus ihnen geworden?“, fragte ich leise.
„Sie haben ihre Magie für nächste Generationen geopfert und sind in den Himmel zurückgekehrt.“ Meine Mutter lächelte traurig.
Ich hatte sie nie nach ihren Eltern gefragt. Hatte unsere Familie so wie sie war immer als vollständig empfunden. Erst jetzt war mir klargeworden, dass sie bereits vor uns eine Familie hatte.
„Werden wir alle zu Sternen, wenn wir sterben?“, fragte Lyana.
„Wir werden zu einem Teil dieser Welt. Wir werden zu Bäumen und Blumen, zu Staub und zu Sternen.“
Ich hatte noch nie jemanden sterben sehen. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, so alt zu sein.
„Ich werde zu einem Baum“, sagte Lyana bestimmt. „Ich werde groß und grün sein und riesige Blüten werden aus meinen Zweigen sprießen. Ich werde saftige Früchte tragen und jedem, der an mir vorbeikommt, eine schenken.“
Meine Mutter lachte und erfüllte den ganzen Platz mit ihrer warmen Stimme. Sie strich ihr über die hellen Haare und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel.
„Du, mein Schatz, wirst noch viele Jahrhunderte leben, ehe du zu einem Baum wirst.“
„Was ist aus Naani und Paapi geworden?“
„Ich glaube, sie sind zu Sternen geworden.“
Wir schauten nun alle in den Himmel. Die Sterne zwinkerten uns zu und ich fragte mich, was sie wohl alles erlebt hatten.
„Erzählst du uns ihre Geschichte?“ Ich kuschelte mich auf den Schoß meiner Mutter, rollte mich ein wie eine kleine Katze und guckte sie mit erwartungsvollen Augen an.
„Nun gut, wenn ihr sie unbedingt hören wollt“, sie seufzte leicht.
„Meine Eltern wurden geboren, als der letzte Regen auf unsere Erde viel. Wüsten nahmen schon den Großteil unserer Länder ein und die Magie unseres Volkes verebbte von Tag zu Tag. Meine Mutter war eine der letzten jenseits des Flusses, die diese Magie in sich trug.
Sie ließ welke Blumen erblühen, die ihre Mutter dann zum Kochen oder Heilen von kleineren Wunden nutzte. Sie pflegte kranke Tiere und hauchte ihnen neues Leben ein. Sie war eine Heilerin, die ihre Kraft aus dem wenigen Leben im Boden schöpfte und sie der Natur zurück gab.
Eines Tages wurde sie vom König in den Palast berufen. Seine besten Heiler waren in den Krieg gezogen, um den Verwundeten zu helfen, aber sein Pferd war erkrankt. Er hatte von ihrer Gabe gehört und so zog sie mit ihrer Mutter aus unserem kleinen Reqem in die große Stadt.
Sie verliebte sich sofort in das wunderschöne Petrea. Pflanzen wucherten aus jeder Straßenecke und Tiere bevölkerten die Gärten und Lüfte. Ihre Gabe wuchs mit jedem Tag, den sie im Palast verbrachte, und sie wurde schon bald zu einer großen Heilerin.
Doch der Regen schien für immer versiegt und außerhalb der Mauern von Petrea erging es unserem Volk schlecht. Sie hungerten nach Magie und der Kraft, die sie einst in sich getragen hatten. Sie beneideten einander um jeden Baum, jede Frucht und Krieg breitete sich weiter aus.
Schließlich schickte der König auch meine Mutter auf die Schlachtfelder und bat sie, so viele Leben wie möglich zu retten. Sie ging und versorgte die Verwundeten. Heilte die Tiere, die mit in die Schlacht gezogen wurden, und führte die Magie derer in die Erde zurück, die für immer gefallen waren.
Hier, inmitten der Blumen und Bäume der Gefallenen, lernte sie meinen Vater kennen.“
Meine Mutter schwieg eine Weile und wir schauten lange in die Flammen des großen Feuers, das jede Nacht auf unserem Marktplatz gezündet wurde.
Ich fragte mich, wie sie wohl gestorben waren. Warum sie so jung von uns gegangen waren. Ich wollte meine Mutter gerade danach fragen, doch dann sah ich den Schmerz in ihren Augen, die Trauer auf ihrem Gesicht. Und ich schmiegte mich noch enger an sie und meine Schwester heran.
Ich erinnere mich noch gut an die Finger meiner Mutter, wie sie sanft durch meine Haare fuhren, mein Gesicht streichelten. Das Feuer, vor dem wir saßen, versprühte seine letzten Funken und meine Gedanken wanderten fort. Wanderten an einen Ort, wo Bäume aus dem Boden sprossen, wo Regen den Boden feucht hielt und Sterne die nassen Blätter in ihr silbriges Licht tauchten.