Mit angespannter Miene blickte Esther nach vorn und beobachtete, wie die steilen Felsen, die ob der Sonne blendeten, immer dichter kamen. Sie war bisher noch nicht oft mit einem Schiff unterwegs gewesen, doch noch nie hatte sie sich so sehr nach Land unter ihren Füßen gesehnt wie jetzt. Es überraschte sie doch über alle Maße, dass die Revenge sie alle über das Wasser trug. Nicht nur ihrer zweifelhaften Reparaturfähigkeiten wegen, sondern auch der zahlreichen kaputten Stellen nach dem Angriff des Riesenkraken. Oder sollte sie besser Monster sagen? Das Vieh hatte um ein Haar ihren Zauberstab zerschmettert.
Sie stieß sich von der Reling ab und verschwand ins Unterdeck. Es war an der Zeit, sich etwas von dem Schatz zu sichern. Das Erste, was sie davon kaufen würde, war neue Kleidung. Nichts gegen die einfache Kleidung, aber sie war dann doch etwas anderes gewohnt.
Auf dem Weg nach unten, huschte der junge Andre an ihr vorbei, auf dem Arm immer noch das verletzte Tier.
Der hat es aber eilig …
Verwirrt sah sie ihm nach. Sie teilte Nellis Bedenken. Irgendetwas stimmte mit Andre nicht. Und sie würde herausfinden, was es war.
Sie klaubte schnell ihre Sachen zusammen, was sich im Wesentlichen aus den Magiesteinen, ihrem Zauberstab, etwas Geld und dem Stein, den sie einst von Trevor erhalten hatte, zusammensetzte. Beim Einpacken, fiel ihr das Tuch, mit welchem Trevor das Blut des Decksmannes vom Dolch gewischt hatte, in die Hände. Nach kurzem Überlegen zückte sie ihren Zauberstab. Ein Versuch war es immerhin wert. Es dauerte nicht lange und der Spruch war über ihre Lippen gerollt. Jetzt hieß es abwarten, ob ihr Stab bald eine Reaktion zeigte. Sie rechnete allerdings nicht damit, den Kerl in der Nähe zu finden.
An Deck half sie dabei, die Revenge zum Anlegen klar zu machen.
Sie wusste nicht, was sie von den weißen Felseninseln erwartet hatte, aber so ein gigantischer Hafen war es sicherlich nicht. Auch die zwischen den steilen Felshängen erbauten Häuser beeindruckte sie. Allem Anschein nach bot dieser Ort doch einiges. Arm wirkten die Bewohner auf den ersten Mal zumindest nicht.
Die Einfahrt in den Hafen gestaltete sich doch schwieriger als erwartet, da sie an einigen aus dem Wasser ragenden Felsen vorbei mussten.
Kurz erwog Esther den Gedanken, einen Schild zu errichten, da sie immer wieder nur haarscharf an den kantigen Steinen vorbeischrammten. Außerdem wusste sie nicht, was sie an Land erwartete, daher wollte sie ihre Kraft lieber aufsparen, zumal ihr Aufspürungszauber ihr ohnehin schon einiges an Energie entzog.
Trevor stand der Schweiß auf der Stirn, während er anwies, was sie zu tun hatten.
Während Edmund immer wieder bissige Kommentare von sich hören ließ, hatte Esther zu tun, nicht gleich über Bord zu gehen. Wer hier ein Schiff sicher hindurchsteuern konnte, musste mit Glück gesegnet sein. Das hatte mit Können nichts mehr zu tun.
Trotz aller Widrigkeiten und ihrem offensichtlichen Ungeschick schafften sie es, einen der zahlreichen Stege anzusteuern.
„Jetzt sachte!“, rief Trevor, doch gleich darauf donnerte die Revenge gegen die Kante und knarzte bedrohlich.
Esther strauchelte. Das war alles andere als sachte. Unsicher beugte sie sich über die Reling und begutachtete die Schiffswand. „Zumindest scheint nichts beschädigt worden zu sein“, mutmaßte sie.
„Nicht mehr als ohnehin schon, meinst du wohl eher“, gab Edmund von sich.
Esther rollte die Augen. Es gab wohl keinen Tag, an dem der Händlersohn nicht meckerte. Sie verkniff sich jeden weiteren Kommentar.
Kaum hatten Trevor und Edmund das Schiff festgezurrt, stapfte ein runder Kerl auf sie zu und begrüßte sie lautstark auf den strahlenden weißen Felseninseln.
Es folgte ein Wortwechsel, von dem nur einige Bruchstücke wie Geld, Wucher und Abzocke zu ihr hinüberdrangen.
Sie sah, wie Edmund dem Mann genervt einige Geldstücke in die Hand drückte.
„Und was jetzt?“, fragte sie in die Runde, nachdem Trevor wieder an Bord geklettert war.
„Edmund will sich umschauen“, meinte der Formwandler und deute mit dem Daumen hinter sich.
Wenn das so war … „Ihr könnt sicherlich auch eine Weile auf mich verzichten, oder?“
Trevors Antwort war eine Mischung aus Schulterzucken und Nicken. „Ich sehe mir den Schaden am Schiff an. Wir sollten auch unsere Vorräte wieder auffüllen.“
Esther war sich nicht sicher, ob ihr Lager die Bezeichnung Vorrat überhaupt verdiente, nickte aber zustimmend. „Ich schau mal, ob ich geeignete Händler finde“, versprach sie und stieg vom Schiff. Edmund war längst außer Sichtweite.
Seltsamerweise betrübte sie es etwas, dass er es offenkundig nicht für nötig hielt auf einen von ihnen zu warten.
Ihre Beine trugen sie mitten durch belebte Straßen, an zahlreichen kleinen Läden und Verkaufsbuden vorbei. Sie konnte sich nichts ansehen, ohne direkt angesprochen zu werden. Einige Male versuchte jemand, ihr ein überteuertes Schmuckstück zu verkaufen oder sie mit seidenen Stoffen zu ködern.
Davon überfordert, stieß sie blindlinks die Tür zu einem der Läden auf und floh hinein.
Genervt pustete sie sich eine Strähne aus dem Gesicht.
„Willkommen, willkommen!“, rief ihr jemand mit überschäumender Freundlichkeit entgegen und grinste sie breit an. „Kommt nur herein, schöne Dame, und seht Euch um! Hier findet Ihr alles, was Euer Herz begehrt! Schleifen, Bänder, Tanzschuhe, Hüte, maßgeschneiderte Mieder!“
Esther hatte ihren Schock noch gar nicht überwunden, da wurde sie schon am Handgelenk ergriffen und weiter in den Laden gezogen. „Halt, wartet“, stotterte sie, bekam aber von dem dürren Verkäufer sogleich eine Schatulle mit glänzenden Ketten unter die Nase gehalten. Mit der freien Hand deutete er auf ein ausgestelltes Kleidungsstück. Er begann damit, weitere Dinge anzupreisen, von denen sie in Silberberg zuhauf besaß.
„Haltet endlich den Mund!“, platzte es aus ihr heraus, woraufhin der Verkäufer verwirrt blinzelte.
„Ihr wollt nichts kaufen?“, fragte er und klappte den Deckel der Truhe wieder zu.
„Doch“, widersprach Esther, schnaufte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich hatte nur an etwas …“ Ihr Blick streifte das Kleid, welches im Moment noch eine Kleiderpuppe trug. „Ich brauche etwas Funktionales“, meinte sie dann. Allerdings schaffte sie es nicht, ihren Blick sofort von dem Kleid abzuwenden. Es war ein atembrauend schönes Kleid!
Der Mann starrte sie an als wäre sie verrückt.
„Könnt Ihr damit aufwarten oder nicht?“, wollte sie wissen.
Schnell nickte der dünne Mann und winkte sie in eine andere Ecke des Ladens.
Verunsichert schaute sie kurz hinter sich. Mit der Hand an ihrem Zauberstab folgte sie dem Kerl, wobei sie bemerkte, dass dieser Laden offenkundige Schätze beherbergte. War sie vielleicht doch nicht an einen gierigen Halsabschneider geraten?
„Eurer Statur nach zu urteilen, sollten Euch diese Exemplare passen“, meinte er und breitete einige Kleidungsstücke auf einem Tisch aus.
Sie bedachte erst den Händler mit einem skeptischen Blick und dann seine Ware. Überrascht stellte sie die einwandfreie Qualität fest, die Nähte waren sauber, nicht ein Faden linste hindurch. Auch der Stoff fühlte sich angenehm unter ihren Fingern an. Aber dennoch … irgendetwas fühlte sich falsch an. Die Teile passten nicht zu ihr.
Sie trommelte mit den Fingern auf der Auslage herum und entdeckte hinter einigen zugemüllten Kisten etwas, dass ihre Aufmerksamkeit erregte. „Was ist damit? Steht es zum Verkauf?“
„Oh, ich bin mir nicht sicher, ob das einer Dame wie euch gefallen wird“, meinte der Kerl und winkte ab.
„Das zu beurteilen, solltet Ihr der Dame selbst überlassen, nicht wahr?“, säuselte sie und lächelte.
Kaum hatte der Händler die Ware hervorgeholt, war es für Esther beschlossene Sache. Vorsichtig strich sie mit der Hand über den dunkelblauen Stoff des knöchellangen Gewandes. Die Jacke in gleicher Farbe fühlte sich robust an, der Lederbesatz an den Unterarmen sollten sie vor leichten Schnitten schützen. Die Silber glänzenden, verschnörkelten Muster am Kragen, dem Leder und an den Säumen verliehen den Kleidungsstücken etwas Edles, was Esther sehr gefiel. „Wie viel wollt Ihr dafür?“
Nachdem sie sich über den Preis geeinigt hatten, kaufte sie noch weitere Einzelstücke bei dem Mann und kurz bevor sie ging, verlor die Vernunft und sie ließ sich auch noch das ausgestellte Kleid einpacken.
Einige Zeit später und um etliches ärmer verließ sie vollbepackt das Geschäft und machte sich auf den Weg in das Badehaus, welches ihr von dem Verkäufer empfohlen wurde, wo sie sich zunächst mit einigen Seifen und Düften eindeckte.
Dann ließ sie es sich im Wahrsten Sinne des Wortes gut gehen.
Ein frisches Bad konnte wahrlich Wunder bewirken!
Die neue Kleidung saß wie eine zweite Haut, wenn sie auch nicht dem Bild der typischen Gräfin entsprach. Unter ihrem neuen Gewand trug sie nun eine enge Hose und wadenhohe, schwarze Stiefel.
Zufrieden schnappte sie sich ihren Zauberstab, woraufhin ein warnendes Kribbeln durch ihren Körper schoss. Alarmiert sah sie sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen.
Dadurch nur noch mehr aufgeschreckt, sammelte sie ihr Hab und Gut zusammen und verließ das Badehaus, den Zauberstab in der Hand haltend.
Immer wieder murmelte sie diese eine bestimmte Formel. Ob sie von den Menschen in ihrer Nähe für eine Irre gehalten wurde?
Sie folgte dem immer stärker werdenden Gefühl im Körper, welches sie bis an das andere Ende des Hafens führte. Der Weg zurück zur Revenge dürfte sie einiges an Zeit kosten.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie sich um. Dann entdeckte sie den Grund dafür, dass ihr Zauber angeschlagen war.
Nur um sicher zu gehen, schlich sie etwas dichter heran und richtete ihren Zauber direkt auf ihn. Das war er! Eindeutig!
Beinahe wäre ihr ein Jubelschrei entglitten, doch dann sah sie, dass der Kerl, dem das Blut gehörte, nicht auf die Elefteria stieg. Sondern auf ein Schiff, das den Namen Telara trug.
Als sie das Wappen auf dem Hauptsegel sah, stockte ihr Herz für einen Schlag. Sie starrte das monströse Schiff mit großen Augen an.
Was nun? Sie sollte zurück zur Revenge gehen und den Anderen davon berichten!
Allerdings machte das nur Sinn, solange Edmund auch da war. Sie glaubte nicht, dass der sich sobald wieder blicken lassen würde. Und sie weigerte sich, die ganze Hafenstadt nach ihm abzusuchen.
Entschlossen ging sie auf die Telara zu. „Bitte verzeiht“, sprach sie einen Mann an, der für sie den freundlichsten Anblick bot, und gerade dabei war, eines der Taue zu prüfen. Verwirrt blickte er zu ihr auf.
Sie zauberte eines ihres schönsten Lächeln auf die Lippen. „Könnt Ihr mir sagen, wie lange der Kapitän mit seinem Schiff hier anliegen möchte?“
„Was interessiert es Euch?“
Also doch kein netter Kerl …
Neben ihrem Lächeln ließ sie nun noch ihre Augen leuchten. „Nun … Dieses Schiff ist sehr … bewundernswert“, stammelte sie. Sie war einfach nicht für Lügengeschichten gemacht! „Mein Sohn, er.... liebt solch große Schiffe. Ich würde ihm gerne die Gelegenheit geben, ihm dieses … Prachtexemplar zu zeigen!“
Der ältere Matrose zog die Augenbraue hoch und reckte das Kinn. Dann erst konnte sie den Kettenring an einem Hals sehen, der ansonsten von einem Halstuch verborgen war. Der Mann war ein Sklave!
„Euer ... Sohn?“, fragte er mit deutlicher Skepsis in der Stimme, dein Blick streifte den Zauberstab in ihrer Hand.
Sie blinzelte und sah kurz beschämt auf den Boden. Sie hatte ihn schon lange genug von seiner Arbeit abgehalten. Sollte sein Herr mitbekommen, dass er hier herumstand und mit ihr plauderte, gab es sicherlich mehr als Ärger.
„Bitte entschuldigt die Störung“, brachte sie hervor und wollte sich abwenden, doch der Mann hielt sie am Handgelenk fest.
„Drei Tage“, flüsterte er, ließ sie los und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, zu verschwinden.
Die Gelegenheit ließ sie sich nicht nehmen. Ohne ein weiteres Wort bahnte sie sich einen Weg durch die Menge und brachte Abstand zwischen sich und der Telara.
Drei Tage waren zumindest genug, um den Anderen davon berichten zu können. Sollte Edmund bis dahin nicht da sein, musste sie ihn eben zur Rückkehr zwingen. Einmal hatte das immerhin schon funktioniert.