Die Kreuzung vor Erbor
Er ist nervös als er den Schankraum der Taverne betritt. Er ahnt schon daß es Schwierigkeiten geben kann, er weiß es fast sicher - aber welche Wahl hat er?
Der Raum ist niedrig, die Decke aus groben Balken, schwarz verrußt vom Rauch des Kochfeuers, und der Geruch nach Schweiß, verbranntem Fett und billigem Bier liegt über allem. Um diese Zeit ist die Taverne nicht sehr voll, die Dorfbewohner nutzen die wenigen Stunden Tageslicht zur Arbeit und kommen erst nach Sonnenuntergang her. Trotzdem sitzen ein paar junge Männer nahe der Tür und unterhalten sich laut.
Er geht an ihnen vorbei zur Theke, zwingt sich dazu nicht zu hasten um nicht nervös zu wirken und eine rundliche Frau mit strähnigen dunklen Haaren mustert ihn.
"Was willst du?", fragt sie barsch. Sie kennt ihn nicht, und Mißtrauen ist in ihre Züge eingeschrieben. Er kann ihre Gedanken förmlich lesen - ein Fremder in so einem kleinen Dorf - wo kommt er her? Und was will er hier? Gehört er etwa zum fahrenden Volk?
"Einen Laib Brot und ein paar Scheiben Fleisch", verlangt er. Unglauben mischt sich in ihre Miene. "Ich habe Geld", setzt er schnell hinzu und läßt sie einen Blick auf den silbernen Halbpfennig werfen.
"Silber?", zischt sie so laut daß die anderen im Raum sich umdrehen. "Woher willst du kleine Ratte denn Silber haben? Wo hast du das gestohlen?"
"Es war ein Geschenk...", murmelt er verzweifelt, er ahnt schon was passieren wird, hat es vorher schon befürchtet. Aus dem Augenwinkel kann er sehen wie drei Männer aus der Gruppe an der Tür sich erheben. Er muß schnell handeln... und den Plan dafür hat er sich schon zurechtgelegt.
Blitzschnell taucht er ab und läuft nach rechts, und während einer der überraschten Männer nach ihm greift schlägt er einen Haken und taucht nach links in Richtung Tür.
"Dieb!", kreischt die Wirtin hinter ihm während schwere Stiefel über den Boden Poltern, eine Bank zu Boden geht und jemand ungehemmt flucht. Aber er ist schon draußen, in der kalten, klaren Schneeluft eines dämmrigen Winternachmittags und rennt den ausgetretenen Weg entlang, an tief eingeschneiten Hütten vorbei, zählt Schritte und als er an einem Blutspritzer mitten auf dem Weg vorbei kommt den er vorher bemerkt hat, wirft er die kleine Silbermünze schnell in den tiefen Schnee am Wegrand.
Keinen Moment zu früh - die Schritte von hinten kommen schnell näher und dann packt eine grobe Hand seine Schulter und er spürt wie er stolpert, wie sein Gesicht in den eiskalten Schnee gedrückt wird. Einen Moment später wird er hochgerissen, und zwei Schläge brennen auf seinen Wangen. Seine Angreifer sind nicht kräftig, grade mal an der Schwelle des Erwachsenseins, aber er kann ihnen wenig entgegensetzen.
"Wo ist das geklaute Silber!", brüllt ihn einer an, während der andere ihm den Arm verdreht. Der Schmerz treibt Tränen in seine Augen, und Blut läuft aus seiner Nase, aber ein anderer schlägt ihm die Faust in den Magen noch bevor er antworten kann. Gierige Hände zwingen seine kalten Finger auseinander, schütteln ihn dann, und werfen ihn zu Boden als keine Münze zu finden ist. Er legt die Hände schützend über seinen Kopf, das ist alles was er tun kann.
"Wo ist das Silber, du verdammter Dieb!", brüllt wieder jemand. "Wo hast du es versteckt?"
Tritte treffen auf seine Rippen, selbst durch die dicke Winterjacke abgeschwächt sind sie schmerzhaft und er keucht.
"Wo ist es?" - "Spuck's aus, Pathonbrut!" - "Rede, oder bei Ädon, ich schlag' dich zu Brei!"
Endlich geben sie ihm Zeit zu antworten.
"Ich hab's in der Taverne verloren...", wimmert er während Blut, Rotz und Tränen über sein Gesicht laufen und den weißen Schnee färben. "Es ist mir aus der Hand gefallen als ich abgehauen bin..."
Die drei sehen sich fast entsetzt an, und er weiß was sie denken - wenn die Wirtin das Geld findet, dann wird sie sicher nicht mit ihnen teilen. Und dann war all ihre Mühe umsonst! Er bekommt einen letzten Tritt in den Magen, dann lassen sie ihn in Ruhe und rennen zurück - vielleicht war die Wirtin ja unaufmerksam.
Eine Weile liegt er nur da, dann rafft er sich stöhnend auf, zieht Handschuhe über seine tauben Finger und humpelt aus dem Dorf hinaus in den Wald. Er will den dreien nicht noch einmal über den Weg laufen. Nachdem sie das Silber in der Taverne auch nicht finden werden...
Erst weit nach Mitternacht kommt er wieder ins Dorf, um im Mondlicht mit eisigen Fingern den Schnee zu durchwühlen wo er die kleine Münze hingeworfen hat. Er braucht lange um sie zu finden, und seine Hände sind taub und gefühllos als er den Halbpfennig endlich aus dem Schnee zieht. Aber welche Wahl hat er schon?