Nikolai Fritz / Nicole Doll
Scharanthurim der Drachenzähmer
1. Das alte Lied
Das Lied von Scharanthurim dem Drachenzähmer kannte damals vor langer Zeit jeder im Land der Elfen.Es war ein typisches sehr altes Lied mit einfacher Melodie und einfachem Reimschema, das man leicht auswendig lernen konnte. In den Büchern war es, wie die meisten Lieder und Gedichte der Elfen, in Runen-Kurzschrift verfasst. Darin steht jeweils eine Rune für ein Wort oder einen Begriff und nicht als Buchstabe für einen Laut. Jedem Elfen waren die verschiedenen möglichen Bedeutungen der Runen als Begriff bekannt, womit es möglich war den Inhalt eines Liedes oder Gedichtes aus dem Zusammenhang heraus zu erschließen.
Der Name Scharanthurim bedeutet Mut eines Bären (Scharan = Mut, Thur = Bär).
Schranthurim der Drachenzähmer
Mit Kraft und Mut ritt er hinfort
weit weg zu einem Drachenort.
Den Drachen wollte er bezwingen,
sein Ei dann mit nach hause bringen,
ein braves Tier daraus zu machen,
das Koboldland dann zu bewachen.
Scharanthurim, so hieß der Reiter
trotz Grauen ritt er immer weiter.
Er hatte nur Axt, Schwert und Speer,
den Drachen töten, das war schwer.
Nun hoffte er auf großes Glück,
nur mit dem Ei wollt' er zurück.
Ins Drachenherz den Speer zu bringen,
welch' große Tat sollt' ihm gelingen?
Er sah sich in der größten Not,
traf nicht der Speer, so war er tot.
Doch siegte er mit List und Kraft,
und hat das Ei nach haus' geschafft.
Ein kleiner Drache wuchs heran,
und eine gute Zeit brach an.
Kein Drache flog mehr über's Land,
kein Kobold so sein Ende fand.
Scharanthurim wurd' Drachenreiter,
sein Ehr' und Ruhm erzählt man weiter.
Die Ereignisse, von denen das Lied erzählt, liegen lange Zurück in einer Zeit, als es bei den Elfen noch keine Schrift gab. Alle wichtigen Dinge wurden mündlich von einer Generation zur Anderen weiter gegeben. Wer sie nicht vergessen wollte, musste sie also auswendig lernen. Dabei waren Reim und Rhythmus in einem Lied oder Gedicht eine große Hilfe. Wenn nur ein bestimmtes Versmaß und eine Endung passend sind, ist die mögliche Auswahl an auswendig gelernten Versen kleiner und erleichtert die Erinnerung. Später begann man dann für jeden Begriff ein Zeichen zu verwenden und ritzte diese in eine Holztafel. So war das auswendig Gelernte einfacher aus dem Gedächtnis abzurufen.
Später wurden aus diesen Zeichen die Runen des elfischen Futhark (= Alphabet der Runen). Dieser war natürlich noch ganz anders als der heute bekannte nordisch-germanische Futhark (siehe Titelbild), bei dem mit der Kenntnis der lateinischen Schrift aus der Erinnerung an die Zeit der Elfen die Runen als Lautschrift wieder zum Leben erweckt wurden. Im Laufe der Entwicklung wurde bei den Elfen aus einem Zeichen für einen Begriff jeweils ein Buchstabe für einen einzelnen Laut. Auf die deutsche Sprache übertragen wurde beispielsweise aus dem Zeichen für „Adler” ein A und aus den Zeichen für „Drache” ein D, und so weiter.
Bei Liedern und Gedichten blieb die Bedeutung der Runen als Begriff erhalten. Man schrieb die Wörter nicht aus. Statt dessen verwendete man immer nur eine Rune für ein ganzes Wort oder einen Begriff. Das wurde dann nach und nach zu einer hoch komplexen Kunstform weiter entwickelt, bei der die Bedeutung eines Textes vollständig aus dem Zusammenhang heraus erschlossen werden konnte, ohne dass man ihn irgendwann einmal auswendig gelernt haben musste.
2. Die Lange Dunkelheit
Es war dunkel und kalt. Schnee und Eis bedeckten überall das, was Flutwellen und Ascheregen von dem übrig gelassen hatten, was früher einmal auf der Erde wuchs. Immer wieder flogen Drachen über das endlose Eis und suchten nach den Körpern der großen Ungeheuer aus der vergangenen Zeit, die gefroren noch überall unter dem Schnee und Eis lagen. Die Drachen gruben sie aus, zerteilten sie und schafften deren Fleisch in ihre Höhlen in dem Bergen. Neben dem Feuer in ihren Höhlen ließen sie das Fleisch zuerst auftauen und räucherten es dann über dem Feuer. So konnten die Drachen lange Zeiten überstehen, in denen sie keine Nahrung fanden.
Nun drang die Sonne immer öfter durch den dichten Nebel aus Staub und Asche, der sich nach und nach auf dem Eis nieder schlug. Mit dem Licht der Sonne wurde es auch langsam wärmer. Bald begann das Eis zu schmelzen. Die Drachen suchten noch so viel Fleisch wie möglich zusammen und schafften es zum Räuchern in ihre Höhlen, bevor es auftaute und zu verfaulen begann.
Bald war das Eis vollständig weg getaut und gab das frei, was darunter dieLange Dunkelheit überdauert hatte. Das waren vor allem Samen der verschiedensten Pflanzen, aber auch kleine Tiere, die mit wenig Nahrung auskamen und so in Hohlräumen unter der Asche und dem Eis überleben konnten. Bereits nach kurzer Zeit bedeckte ein dichter Wald die Erde, und die Tiere, die überlebt hatten, vermehrten sich schnell. Da sie nun mehr als genug Nahrung fanden, wurden sie von Generation zu Generation größer. Das sicherte schließlich den Drachen ihr überleben, denn das geräucherte Fleisch der großen Ungeheuer war bald aufgebraucht.
Die Drachen rissen nun überall die Bäume heraus und schafften sich so Lichtungen wo sie landen konnten. Das Holz der Bäume nutzten sie als Brennstoff für die Feuer in ihren Höhlen. Je höher und dichter die Wälder nun wurden, desto schwieriger wurde es für die Drachen. Zwischen den hohen Bäumen konnten sie nicht mehr landen und zu Fuß im dichten Unterholz war es für sie fast unmöglich zu jagen. Also mussten sie immer warten, bis sich mal wieder ein Tier in eine der Lichtungen verirrte.
Im Schutz der hohen Bäume wurden nun nicht nur die Tiere immer größer. Der Wald bot nun Platz und Schutz für höhere Lebensformen, die sich nun innerhalb kürzester Zeit aus den Tieren im Wald entwickelten. Der Geist aus fernen Welten irgendwo weit weg im Himmel ließ sie nun nach einem Vorbild entstehen, wie es irgendwo dort weit draußen existierte. So gab es bald in den Wäldern die ersten Elfen und Kobolde. Und es gab Trolle, die so groß waren, dass nicht einmal ein Drache etwas gegen sie ausrichten konnte.
Trolle waren vor allem groß und stark. Sie konnten sich einfach nehmen, was sie zum leben brauchten, und fürchteten nichts und niemanden. Also hätte es für sie keinen Vorteil gebracht besonders schlau zu sein. Folglich waren sie es auch nicht. Anders war es für die Kobolde und Elfen. Wenn die sich in einer Lichtung zeigten, packte sie ein Drache, tötete sie und schaffte sie in seine Höhle. In den Wäldern mussten sie sich vor den Trollen in Acht nehmen. Die verspeisten alles, was man über einem Feuer rösten konnte, auch Elfen und Kobolde.
3. Der Anfang einer Zivilisation
Elfen und Kobolde mussten sich ihren Lebensraum dort suchen, wo sie vor den Trollen einigermaßen sicher waren. Das waren meistens Teile der Wälder zu denen man nur durch Sümpfe hindurch hin gelangen konnte. Sümpfe waren für die großen und schweren Trolle tödliche Fallen. Elfen und Kobolde waren schlau und fanden immer Wege dort hindurch, auf denen sie nicht stecken blieben und versanken. Zum Jagen mussten sie ihre Wohnorte durch die Sümpfe verlassen. Und dann galt es möglichst nicht mit den Trollen aneinander zu geraten.
Genau genommen waren Elfen und Kobolde die Selbe Art oder Rasse. Sie waren gleich intelligent und konnten auch miteinander Nachkommen haben. Es wurden auch immer wieder Elfen zu Kobolden. Umgekehrt ist da aber nichts überliefert, obwohl es sicherlich möglich gewesen wäre. Kobolde waren in allem das Gegenteil der Elfen. Während Schönheit, Ehrlichkeit, gepflegter Umgang und Fleiß bei den Elfen ein hohes Gut waren, strebten es die Kobolde an hässlich, verlogen, hinterlistig, grob und faul zu sein.
In den Dörfern der Elfen waren die Häuser mit Schnitzereien verziert und bunt angemalt. Um sie herum gab es gepflegte Gärten, in denen Obst und Gemüse kultiviert wurde. Die Kobolde lebten in einfachen Holzhütten irgendwo im Wald, die um einen großen Platz mit einer Feuerstelle herum aufgebaut waren. Auf dem Platz hielten sie regelmäßig wilde Gelage ab, bei denen zu geröstetem Fleisch Unmengen von berauschenden Getränken aus Kräutern und Pilzen zu sich genommen wurden.
Zumindest in späterer Zeit gab es nach solchen Gelagen immer eine Vaterschafts- Verlosung. Da niemand mehr wusste, wer bei dem Gelage mit wem zusammen war, wurde auf diese Weise die Zuständigkeit für die Versorgung des Nachwuchses geregelt. Kobolde waren keine Gärtner. Sie waren Jäger und Sammler. Und weil es so schön bequem war, jagten sie immer öfter die Nutztiere der Elfen und sammelten in deren Gärten.
4. Trolljäger und Drachenzähmer
Die Bedingungen waren für die Elfen und Kobolde gut. Tiere für die Jagd und sonstige Nahrung gab es mehr als genug. So vermehrte man sich stark und es wurde eng hinter den Sümpfen, wo die Trolle nicht hin kamen. Der Streit zwischen Elfen und Kobolden wegen der weg gefangenen Nutztiere und leer geräumten Gärten wurde immer heftiger.
Für das Problem mit den Trollen fanden die Elfen bald eine Lösung: DenTroll-Bogen. Er war recht groß, aber noch klein genug, dass man ihn mit sich tragen konnte. Da er mit einer Seilwinde gespannt wurde, hatten seine massiven Pfeile auf kurze bis mittlere Distanz eine gewaltige Durchschlagskraft. Einen Troll konnte man damit böse verletzen und sogar töten. Das merkten die Trolle dann bald und trollten sich, wenn sie Elfen erblickten.
Gegen herum fliegende Drachen konnte man mit einem Troll-Bogen aber nichts ausrichten. Die Drachen griffen schneller von hinten an, als man sie mit diesem schweren Gerät anvisieren konnte. Und selbst die massiven Pfeile hätten einen Drachen nur verletzen und nicht töten können. So wurden nun zwar die gesamten Wälder besiedelt, aber die Möglichkeiten einen Garten anzulegen waren sehr beschränkt.
Das Problem waren die Flächen zum Anbau von Obst und Gemüse. Man konnte nur sehr kleine Lichtungen anlegen, die sich als Landeplatz für Drachen nicht eigneten. Dort gelangte aber zu wenig Licht bis zum Boden. Das Gemüse blieb klein, und wenn es längere Zeit sehr feucht blieb, verfaulte es. Auch die niedrig gehaltenen Obstbäume hatten mit zu wenig Sonne zu kämpfen. Da waren die Äpfel oft klein und schrecklich sauer.
Es lebten nicht nur die Elfen, sondern auch die Kobolde von dem, was in den Gärten wuchs. Also beschäftigte die Sache mit den Drachen sowohl Elfen als auch Kobolde. Während sich nun die Elfen weiter erfolglos um eine technische Lösung für das Problem bemühten, dachten die Kobolde in eine ganz andere Richtung. Sie hatten es inzwischen geschafft Wölfe als Helfer bei der Jagd ab zurichten. Und wenn man einen Wolf zähmen konnte, warum sollte das dann mit einem Drachen nicht auch möglich sein?
Bei den Wölfen töteten sie das Muttertier. Dann zogen sie die Welpen auf und richteten sie sie zur Jagd ab. Also musste man ein Drachenweibchen töten, nachdem es sein Ei abgelegt hatte, und dann den schlüpfenden Drachen aufziehen. Nur wie konnte man einen Drachen töten?
Man erzählte sich viele Geschichten von Begegnungen mit Elfen oder Kobolden und Drachen. Dabei wurde immer einmal berichtet, dass es einem besonders mutigen Kämpfer gelang einen Speer direkt in das Herz eines Drachen zu rammen. Das galt als der einzige Weg einen Drachen zu töten.
Wenn man nun einen Drachen aus dem Ei heraus groß zog, sollte man ihn so abrichten können, dass er andere Drachen aus dem Land der Elfen und Kobolde vertrieb. Wenn er dort aufwuchs, sollte er dieses Land auch als sein Revier ansehen, das ein Drache immer gegen andere Drachen verteidigte.
5. Mit dem Mut eines Bären
Einer der Kobolde, die nun los zogen um ein Drachenei zu beschaffen, war Scharanthurim. Dieser Name dürfte nicht sein richtiger Name sein, sondern ist wohl ein Ehrentitel für seinen Mut eines Bären. Vielleicht steht dieser Name oder Titel auch für viele, die damals für das Ei eines Drachen los zogen. Aber eigentlich ist es ja auch egal, hier also die Geschichte von Scharanthurim dem Drachenzähmer:
Es war Frühjahr. Der letzte Schnee war weg getaut und die Tage wurden länger und wärmer. Scharanthurim nahm seine Axt, seinen Speer und als Proviant Wasser in einem Schlauch aus Leder, getrocknete Früchte und geräuchertes Fleisch. So zog er zu Fuß los. Ein Schwert, wie es in dem Lied besungen wird, hatte er wohl nicht, und die Klinge seiner Axt dürfte wie die Spitze seines Speeres aus Stein gewesen sein. Aber einen Bogen und Pfeile wird er bei sich gehabt haben. Wir sind ganz am Anfang bei der Zivilisation der Elfen und Kobolde. Da konnten sie bestimmt noch keine Metalle verarbeiten. Und von den geheimen Rezepturen für das besondere Eisen der späteren magischen Schwerter wussten sie erst recht noch nichts. Da wurde bei dem Lied einfach etwas dazu gedichtet.
Scharanthurim kam nur recht langsam voran. Wenn seine Vorräte zur Neige gingen, musste er erst einmal jagen und dann ein Feuer anzünden um das Fleisch darüber durch Rösten oder Räuchern haltbar zu machen. Viel Proviant konnte er nicht mit sich führen. Also musste er oft jagen und Feuer machen. Immer wieder suchte er einen besonders hohen Baum, auf den er hinauf klettern konnte. Nur von dort oben konnte er sehen, ob er in der richtigen Richtung zu den Bergen unterwegs war. Sonst zeigte ihm nur das Moos an den Baumstämmen wo es nach Norden ging. Das reichte aber nur für eine grobe Orientierung.
Bald folgte er einem kleinen Fluss. Der wurde immer reißender, und es zeigte sich ein immer enger werdendes Tal. Er kam den Bergen so langsam näher. Inzwischen war es Hochsommer. Es wurde also langsam Zeit, dass er zu einer Drachenhöhle gelangte. Wenn er die gefunden hatte, musste er noch für den Winter eine Hütte bauen. Holz dafür gab es in den Wäldern genug, und seine Axt war scharf. Nur mit Stroh oder Schilf für ein dichtes Dach konnte es schwierig werden. Eine Höhle als Unterschlupf zu suchen war nicht ratsam. Da hätte es leicht eine wenig schöne Begegnung mit Wölfen oder Bären gegeben, oder in der Höhle wohnte ein Troll.
Das Tal wurde enger, und seine Hänge wurden immer steiler. Bald war auch das Geschrei eines Drachen immer lauter zu hören, der da irgendwo herum flog. Die Richtung stimmte also: immer weiter das Tal hinauf. Es wurde kälter und es gab bald nur noch kleine und verkrüppelte Bäume. Schließlich waren die Hänge nur noch mit Wiesen bedeckt und es zeigte sich ein atemberaubendes Panorama mit schneebedeckten Gipfeln. Dann tauchte er auf, der Drache. Er hatte etwas in seinem Maul und steuerte auf einen Hang zu, wo er dann verschwand. Den Kobold beachtete er nicht. Wo der Drache verschwunden war, stieg Rauch auf. Also war dort seine Höhle, in der ein Feuer brannte.
Scharanthurim musste weiter zurück ins Tal, wo er noch genug Holz für seine Hütte und später das Feuer darin fand. Im Winter wurde es so hoch in den Bergen schrecklich kalt. Und den musste er hier verbringen, wenn er nicht verpassen wollte, wie sich zwei Drachen im Frühjahr paarten. Das Gras der Bergwiesen mähte er mit seiner Axt erst einmal ab und breitete es aus, damit es in der Sonne zu Stroh trocknete. Dann schichtete er es hoch auf und deckte es mit Blättern zum Schutz vor Regen ab. Danach ging es an den Bau der Hütte.
Die Hütte war gerade fertig, als es plötzlich bitter kalt wurde, und der erste Schnee fiel. Es war erst der neunte Vollmond in diesem Jahr, also eigentlich noch viel zu früh für den Winter. Scharanthurim machte es sich am Feuer gemütlich und verließ nur noch zum Jagen und Holz Sammeln die Hütte. So ging es bis zum Frühjahr.
Als er die Hütte verließ um die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings zu genießen, hörte er plötzlich ein lautes Geschrei von weit oben bei den Gipfeln. Es war der Ruf eines Drachen, aber abwechselnd in zwei verschiedenen Tonlagen. Das mussten zwei Drachen sein. Also eilte er durch tiefen Schnee hindurch hinauf zu den Bergwiesen. Und da sah er sie, die beiden Drachen. Sie führten in der Luft einen wilden Tanz auf und schrien dabei immer lauter. Dann verschwanden beide in der Höhle. Kurze Zeit später verließ der eine Drache die Höhle und flog davon.
Scharanturim zitterte nun vor Aufregung. Die beiden Drachen hatten sich gepaart, und der in der Höhle verbliebene musste das Weibchen sein. Also war dort auch das Ei. Nun war es soweit den Drachen zu töten und das Ei aus der Höhle zu holen. Wer würde also bald sterben? Er oder der Drache?
Die Sonne stand bereits tief über den Gipfeln. Die Berge warfen lange Schatten. Also wurde es bald dunkel und, wie in der letzten Nacht, furchtbar kalt. Scharanthurim sehnte sich nach dem wärmenden Feuer in seiner Hütte. Für heute hatte er genug gesehen. Also machte er sich an den Abstieg durch den tiefen Schnee zurück ins Tal.
Während er sich durch seine eigenen Fußstapfen vom Aufstieg den Weg zurück bahnte, sah er, wie der Drache über ihm umher kreiste. Er schrie laut und durchdringend. Es waren seltsame, wehmütig klingende Laute. Was hatte das zu bedeuten? Ahnte der Drache vielleicht irgendwie etwas. Scharanthurim durchzog ein eiskalter Schauer. Er sah im Geiste, wie er dem Drachen mit seinem Speer gegenüber trat. Der stand mit wachsamen Augen einfach nur regungslos da, die Schwingen ausgebreitet und für einen Angriff bereit. Dann wurde es gespenstisch still. Es gab keinen Luftzug und an den wenigen kleinen Bäumen, die den Weg säumten, bewegte sich kein Blatt. Der Drache war davon geflogen.
Von den verschneiten Bergwiesen, aus denen die Gipfel heraus ragten, zog nun eine eisige Kälte ins Tal hinab. Es wurde dunkel. Monoton wie eine Maschine setzte Scharanturim seine Schritte in die alte Spur im Schnee den Berg hinunter zur Hütte. Der Himmel war wolkenlos, und der fast volle Mond tauchte die Umgebung in ein gespenstisches Licht. Alles wirkte wie in einer anderen Welt.
Die ganze Nacht saß nun Scharanthurim in seiner Hütte und starrte in die Glut des Feuers. Für die Nacht hatte er zwei dicke Scheite aufgelegt, die jetzt mit wenigen Flammen so langsam vor sich hin glühten. Er wickelte sich in eine Decke ein. Durch die Ritzen zwischen den als Wand aufeinander gelegten Stämmen drangen Nässe und Kälte von draußen immer mehr in den Innenraum. Unter dem Rauchabzug im Dach staute sich immer mehr Qualm. Draußen musste die Luft feucht sein. Wie schon öfter zuvor jetzt im Frühjahr zog wieder dichter Nebel auf. Die Gedanken kreisten nur noch um den Drachen. An Schlaf war nicht zu denken.
So langsam wurde es draußen hell. Scharanthurim legte noch ein paar Scheite auf das Feuer, ging zur Tür und öffnete sie. Er blickte vor eine weiße Wand. Man konnte nicht einmal einen Schritt weit sehen. Ein Versuch eines Aufstiegs zurück den Berg hinauf zur Höhle des Drachen wäre da gefährlicher Leichtsinn gewesen. Also blieb nur abwarten übrig. Die unaufhörliche Grübelei über das, was nun bevor stand, wurde immer unerträglicher.
Erst am darauf folgenden Morgen war es draußen klar und frei von Nebel. Dafür war es wieder bitter kalt. In der Nacht war zudem einen halben Schritt hoch Schnee gefallen. Scharanthurim nahm seinen Speer, hängte sich seinen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen über die Schulter und steckte sich seine Axt an den Gürtel. Da er die ganze Zeit noch nichts gegessen hatte, nahm er noch einen Beutel mit geräucherten Fleisch und seinen mit Wasser gefüllten Lederschlauch mit. So marschierte er los.
Der frisch gefallene Schnee war weich und pulvrig. So machte er die Schritte darin nicht besonders beschwerlich. Es ging zügig voran. Bei der Drachenhöhle war dann alles ruhig, irgendwie zu ruhig. Wo war der Drache? War er in der Höhle oder flog er irgendwo herum, wo er von der Höhle aus nicht zu sehen war? Scharanthurim nahm allen Mut zusammen. Er stellte sich etwa dreißig Schritte vor dem Höhleneingang auf und rief so laut er konnte: „He Drache, komm raus und zeig dich!”. Dann waren in der Höhle dumpfe Schritte zu hören, die immer lauter wurden. Scharanturim erstarrte vor Angst.
Einen Moment später kam der Drache aus dem Höhleneingang. Er breitete seine Schwingen aus und richtete sich hoch auf. Mit seinen Augen fixierte er den Kobold. Dann kam plötzlich aus seinem Maul ein gewaltiges Feuer, das Scharanthurim beinahe erfasste. Der rannte davon, so schnell er konnte. Ein gutes Stück entfernt drehte er sich um. Der Drache stand immer noch vor dem Höhleneingang. Scharanturim fand Deckung hinter einem Felsen. Dort wartete er nun und sah immer wieder am Felsen vorbei zum Drachen hinüber. Der schaute sich noch eine Weile um und verschwand dann wieder in der Höhle.
Scharanturum dachte an die Geschichten, die man sich erzähle. Der Speer musste das Herz des Drachen treffen. Aber wo war bei einem Drachen das Herz? Er fühlte sich auf seine Brust. Sein Herz schlug wie wild. Also war klar, wo es sich befand. Nun stellte er sich die Brust des Drachen vor, so wie er vor dem Höhleneingang gestanden hatte. Wenn das Herz nun bei einem Drachen an der selben Stelle war, wie bei ihm, wusste er, wo der Speer hin treffen musste. Aber war es dort? Er wusste es nicht.
6. Sieg oder Tod
Scharanturim setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an den Felsen. Er dachte nach. Warum war er überhaupt hier? Alle haben immer über ihn gesagt: „Das ist irgendwie kein Junge. Der ist doch viel zu klein und zu schwach. Schaut euch nur seine zarte Haut an. Das ist doch die eines Mädchens. Und überhaupt ist das kein richtiger Kobold. Aus der Ferne betrachtet sieht der aus wie eine schöne Elfe.” Keiner wollte so richtig etwas mit ihm zu tun haben. Die Mädchen sagten: „Hau ab, du bist ein Junge.” Und die Jungen sagten: „Mit einer Elfe spielen wir nicht”.
Es war nicht lange her, da wurde seine Mutter krank und starb. Wer sein Vater war, wusste er nicht. Das war so üblich bei den Kobolden. Er sah seinen Vater bestimmt jeden Tag, wenn der nicht aus einem anderen Dorf stammte, was eher unwahrscheinlich war, aber er kannte ihn nicht. Also war er nun ganz alleine. Und er hörte von gezähmten Wölfen und die Geschichten von den Drachen. So beschloss er alleine fort zu ziehen und einen Drachen aus dem Ei heraus groß zu ziehen und zu zähmen.
Nun wurde er sehr traurig. Sollte er nun einfach da hin zurück, wo niemand wirklich etwas mit ihm zu tun haben wollte? Was hatte er da überhaupt noch verloren? Irgendwie war es da doch besser, wenn er jetzt beim Kampf gegen den Drachen den Tod fand. So war es wenigstens ein ehrenvoller Tod. Lebendig wollte ihn ja niemand bei sich haben. Also entweder der Speer traf, und das Herz war bei einem Drachen an der selben Stelle wie bei einem Kobold oder Elfen, oder er fand seinen Tod mit allen Ehren im Kampf. Zu verlieren war da doch nichts.
Er überlegte weiter. Dabei öffnete er seine Haare, die er hinten zusammen gebunden hatte. Nun hingen sie offen bis zu den Hüften herunter. Er strich sich darüber. Sie waren zart und weich wie bei einer schönen Elfe. Er sollte sie immer abschneiden, weil lange Haare beim Kampf und bei der Jagd behindern. Aber er liebte seine langen Haare. Und wenn er sie hinten zusammen steckte, störten sie doch beim Kampf oder bei der Jagd nicht. Bei den Elfen hatten viele Männer schöne lange Haare wie er. Und die waren genauso gute Krieger und Jäger wie die Kobolde.
Im Geiste sah er nun noch einmal den Drachen vor sich, so wie er vor dem Höhleneingang stand. So konnte der Drache durch die Luft fliegen, von allen Seiten angreifen und dabei auch noch Feuer speien. Wie sollte er also da mit dem Speer überhaupt nur in seine Nähe kommen? Im offenen Zweikampf gab es also nicht die geringste Chance. Aber der Höhleneingang war recht eng. Soweit er es erkennen konnte, war der Gang lang und gerade, hatte aber seitlich immer wieder kleine Nischen. In so einer Nische konnte man doch Deckung finden. Und in dem engen Gang konnte der Drache nicht ausweichen. Wenn man also plötzlich auftauchte und an der richtigen Stelle mit dem Speer zu stach, konnte es funktionieren.
Sollte er jetzt zurück zur Hütte und später wieder zurück kommen? Wieder mehrere Tage mit quälenden Grübeleien. Nein. Es musste jetzt passieren. Dann war es endlich vorbei. So oder so.
Scharanthurim steckte sich seine Haare wieder zusammen und machte sich auf zur Drachenhöhle. Wieder war dort alles ruhig. Er schlich leise und vorsichtig in die Höhle hinein. Wie bereits vorher schon erkannt, war der Gang schmal und fast gerade. So führte er tief in den Fels hinein. Nicht weit vom Eingang entfernt gab es eine Nische, hinter der sich ein zarter schlanker Kobold vollständig verstecken konnte.
Wie viele Schritte waren es gewesen, bis der Drache den Höhleneingang erreicht hatte? Er erinnerte sich: Bum, bum, bum, .... ; 1, 2, 3, .... 12, 13. Dreizehn Schritte waren es. Nun stellte er sich vor den Höhleneingang. Er zählte. Bei 3 rannte er zu der Nische. Bei 8 war er in der Deckung. Jetzt wären es noch fünf Schritte gewesen, bis der Drache am Eingang eintraf. Das sollte reichen. Langsam verließ er die Höhle. Der Rauch des Feuers darin brannte in seinen Augen. Er brauchte eine Weile, bis er wieder richtig sehen konnte. Es hatte ihn auch das helle Licht geblendet, als er sich dem Eingang genähert hatte. Also müsste der Drache ähnliche Probleme mit dem Sehen haben, wenn er die Höhle verließ. So war die Chance größer nicht bemerkt zu werden.
Er stellte sich wenige Schritte vor den Höhleneingang. Einen Moment hielt er noch inne. Dann schrie er: „Komm raus Drache, ich töte dich!” und rannte los. Bum, bum, bum ... . Er war gerade in der Nische verschwunden, da tauchte der Drache auf. Scharanthurim zielte mit dem Speer genau auf die Stelle der Brust, wo er das Herz vermutete. Der Drache erreichte die Nische. In dem Moment rammte er mit aller Kraft den Speer in die Brust des Drachen. Ein breiter Strahl aus warmem Blut traf ihn nun. Dann ein kurzer gequälter Schrei und der Drache brach zusammen. Nun war es gespenstisch still.
Aus einer riesigen Lache aus Blut am Boden stiegen heftig Blasen auf. Scharanthurim griff dort hin. Er verbrannte sich die Finger. Was war das? Er rührte mit dem Arm durch das Blut und schob dabei ein kleines Päckchen aus der Blutlache heraus. Es war ein Stück glühende Holzkohle in Blätter eingewickelt. Das musste der Drache bei sich gehabt haben. Aber wozu diente es? Das war jetzt aber nicht so wichtig. Was war mit dem Drachen? War der jetzt wirklich tot oder irgendwie nur betäubt?
Scharanthurim verließ die Höhle. Seine Augen brannten. Wieder brauchte er eine Weile, bis er wieder richtig sehen konnte. Er wartete. In der Höhle rührte sich nichts. Also wagte er sich wieder hinein. Er quetschte sich zwischen dem leblosen Körper des Drachen und der Höhlenwand hindurch. Nun sah er den Kopf des Drachen mit weit geöffnetem Maul und aufgerissenen starren Augen. In der Brust steckte noch der Speer. Er zog ihn heraus und legte ihn neben dem leblosen Drachen ab.
Nun ging er weiter in die Höhle hinein. In der Dunkelheit wurde das Flackern des Feuers immer intensiver. Dann erreichte er die Kammer, in der das Feuer brannte. Es war vor allem Glut mit nur wenigen Flammen. Entsprechend dunkel war es in der Kammer. Sharanthurim duckte sich. Weiter unten brannte der Rauch nicht so heftig in den Augen und die Luft war auch besser zu atmen. Neben dem Feuer waren mehrere Stapel mit Holz, nach Dicke sortiert. Über dem Feuer gab es ein Gestell aus recht dünnen Zweigen, auf dem jede Menge Fleisch zum Räuchern lag. Aber wo war jetzt das Ei?
Scharanthurim legte ein paar dünnere Holzstücke auf das Feuer, damit es mehr Flammen und damit mehr Licht gab. Er setzte sich an das Feuer. Es trug das Gewand eines Kriegers der Kobolde. Das war nun getränkt mit Drachenblut. Das Blut trocknete und es wurde immer steifer und klebte an der Haut. Dabei entstand ein unangenehmer Geruch. Eine Möglichkeit es zu waschen gab es aber nur weiter unten im Tal bei dem kleinen Fluss.
Das Feuer flammte auf und spendete nun mehr Wärme und auch etwas Licht. Scharanturim zog seine Jacke aus und öffnete wieder seine Haare. Dann genoss er nur noch die Wärme, die das Feuer verbreitete. Es war nun angenehmer als in der Hütte, wo immer der Wind durch alle Ritzen pfiff. Jetzt sah er in einer Nische neben dem Feuer etwas rundes, bläulich-violettes hervor schimmern. Es war das Ei des Drachen. Er hatte sein Ziel also tatsächlich erreicht, begriff aber irgendwie immer noch nicht richtig, dass er noch lebte. Er nahm ein Stück geräuchertes Fleisch aus seinem Beutel und knabberte daran herum.
Wie sollte es nun weiter gehen? Wann würde der kleine Drache schlüpfen? Wie musste er überhaupt mit dem Ei umgehen? Vögel brüteten. Ein Drache legte sein Ei aber offensichtlich einfach neben das Feuer. Also brauchte es Wärme, bei einem Drachen wie bei einem Vogel. Sollte er nun in der Höhle bleiben? Irgendwie gemütlich war es ja. Aber wie würde der kleine Drache reagieren, wenn er schlüpft und seine tote Mutter erkennt? Sollte er nun den toten Drachen zerteilen und in kleinen Stücken aus dem Höhleneingang hinaus schaffen? Dann wäre da immer noch die Blutlache, die er nicht restlos beseitigen konnte. Dafür wäre viel Wasser nötig gewesen, was es da oben in den Bergen nicht gab. Schnee gab es wohl noch genug, aber wie lange sollte es dauern den aufzutauen?
... so, das war's erst einmal ...
Spätestens im 6. Kapitel erkennt man, dass die Geschichte nicht mehr von Nikolai Fritz, sondern bereits von Nicole Doll geschrieben wurde. Ich konnte mir eine Anspielung auf Transgender einfach nicht verkneifen. Man muss ja schon sehr unglücklich sein, wenn man sein Leben für einen fast aussichtslos erscheinenden Kampf gegen einen Drachen aufs Spiel setzt. In diesem Sinne passt es, denke ich.
Bis jetzt entspricht die Geschichte noch dem, was in dem alten Lied besungen wird - vom Transgender-Aspekt einmal abgesehen. Aber wie soll es nun weiter gehen? Ich habe da, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Würde ich das ganze weitere Leben des Drachenzähmers ausführlich beschreiben wollen, wäre das wieder Stoff für mindestens einen ganzen Roman. Aber Nicole interessiert sich ja für diese Elfen-Geschichten nicht mehr - oder vielleicht irgendwie doch noch?