Beiträge von McFee

    8

    „Bravo!“, ließ sich Elektryon, der jetzt wieder vor ihm stand, vernehmen, „auch diese Prüfung hast du im großen Ganzen bestanden. Leicht ist es dir nicht gefallen. Sogar von unserem Platz aus konnten wir deine Seelenkämpfe erkennen.“

    „Was heißt im großen Ganzen?“, fragte Avro verblüfft. „Hab ich bestanden oder nicht? Was fehlt denn noch?“

    „Ein klein wenig mehr Aufrichtigkeit hätte deinen Reuebekundungen mehr Glaubwürdigkeit verliehen. Und ganz aus freien Stücken waren sie auch nicht. Schließlich hattest du Angst, vom nächsten Bergsturz verschüttet zu werden. Aber sei´s drum. Du hast dich wenigstens bemüht, und nur das soll zählen. Schreiten wir nun zur letzten Prüfung.“

    Elektryon schwieg ein wenig, wie um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, dann fuhr er fort (was allerdings nur Avro wahrnehmen konnte): „Da du in deinem Leben nur dich selbst geliebt hast –“

    „Das ist doch wohl maßlos übertrieben!“, stieß Avro hervor, „in meiner Jugend habe ich viel geküsst und geliebt, und an manche heiße Nacht kann ich mich –“

    „Äußere dich nicht zu Dingen, von denen du nichts verstehst! Ich meine die reine Liebe, wie man sie etwa zu seinen Kindern oder zu anderen Menschen empfindet, die einem am Herzen liegen, ohne daraus einen Gewinn zu schlagen. Natürlich hast du geliebt. Den Sex, das Geld, allerlei Nichtigkeiten. Aber diese Liebeleien sind für dein Seelenheil eher hinderlich.“

    Elektryon gab dem Rappen die Sporen, worauf der mit funkensprühenden Hufen ein paarmal um Avro herumtrabte.

    „Aber Herr des Himmels“, Avro jetzt hilfesuchend, „kann man die reine Liebe denn lernen?“

    „Versuch es, Avro, versuch es!“

    Der Rappen mit den feurigen Hufen erhob sich in die Luft und war kurze Zeit später verschwunden.


    Avro befand sich immer noch am Rand des Abgrunds, in dem es jetzt unerwartet ruhig geworden war. Keine Feuergarbe, kein heißer Qualm, kein Schrei. Nur ein leichter Schwefelgeruch deutete darauf hin, dass sich hier eben noch ein Inferno abgespielt hatte. Dafür begannen die Felswände zu schimmern; Avro hatte den Eindruck, als befinde sich in der Tiefe eine starke Lichtquelle.

    Eine Gestalt im Sternenkleid kam auf ihn zu, er erkannte sie sofort: Es war die Himmelsjungfrau, der er vor dem Schwarzen Loch nicht geholfen hatte. Sie trat, übersät mit glitzernden Sternen, an ihn heran.

    „Avro“, vernahm er, „dort unten, in der Tiefe des Abgrunds, befindet sich der Anfang eines kosmischen Wurmlochs. Solch ein Wurmloch ist der einzige Weg, diesem höllischen Planeten zu entkommen und in unser gewohntes Universum zurückzukehren. Warum das möglich ist, kann ich dir nicht erklären, aber es ist so. Ich habe mich entschlossen, auf meinen Platz am Himmel des Universums, das mir die Alten Männer zugewiesen haben, zurückzukehren. Mir fehlen die Liebe des Wassermanns und das Funkeln von Millionen und Milliarden braver Seelen, die mich dort umgeben. Dieses Universum hier ist mir doch zu düster, und die Einsamkeit zehrt an meiner Strahlkraft.“

    Avros vierte Hülle machte einen Sprung. „Himmelsjungfrau“, ließ er vernehmen, „du kommst wie gerufen! Nimm mich mit! Ich befürchte nämlich, dass ich die letzte Prüfung nicht bestehen werde. Ich soll die reine Liebe zeigen. Wie denn? Wo denn? Bei wem denn? Hier ist niemand, den ich lieben könnte, schon gar nicht rein.“

    Inzwischen hatte die Helligkeit weiter zugenommen. Die Wände der Schlucht strahlten jetzt in blendend reinem Weiß.

    „Doch! Du könntest mir einen Liebesdienst erweisen, den ich nicht erwidern könnte, der mir aber von großem Nutzen sein würde. Diese Wurmlöcher nämlich haben Astrophysiker errechnet; es sind mathematisch belegte Fantasie-Gebilde, die nur solange bestehen, bis ein anderer kommt und eine neue Theorie entwickelt, die die alte über den Haufen wirft. So jedenfalls hat es mir Einsteins Astralleib zu verstehen gegeben. Es kann also sein, dass dieses Wurmloch schnell wieder verschwunden ist. Außerdem haben sie den Nachteil, dass nur einer hindurch passt.“

    In der Höhe rauschte Flügelschlag auf. Elektryon auf seinem Rappen, neben sich die Himmelsprinzessin, schöner den je, beide umtanzt von einem Kranz weißer Wolken.

    Avros Astralleib erzitterte, denn er ahnte, was jetzt kommen würde. Die Jungfrau würde ihn bitten, das Wurmloch benutzen zu dürfen; er, indes, solle zurückbleiben und auf das nächste Wurmloch warten. Natürlich! Sie gab ihm Gelegenheit, sein Versagen von damals wieder wett zu machen.

    Aber ich liebe sie doch gar nicht, dachte er, und sie liebt mich nicht, wo kann denn da reine Liebe sein?

    „Es gibt viele Arten der reinen Liebe“, tönte es von oben, begleitet von fernen Glockenklängen. „Selbstlose Hilfsbereitschaft ist eine davon!“

    Die Helligkeit war jetzt so stark, dass sie alles überstrahlte. Nur verschwommen nahm Avro die Himmelsgestalten und die Jungfrau wahr. Er wollte antworten – –


    9

    Das Gewitter hatte sich verzogen. Eine klare helle Abendsonne brachte das Gesicht des alten Mannes zum Leuchten.

    Die Schwester sagte: „Jetzt ist es aber genug, Herr Prät! Sie werden sich noch erkälten.“ Energisch zog sie den Rollstuhl ins Zimmer zurück, mit dem festen Vorsatz, nicht mehr auf Einwände zu reagieren. „Es wird Zeit. In einer halben Stunde –“

    Die junge Frau stutzte. Auf Zehenspitzen schlich sie um den Stuhl herum. Der Patient saß wie erstarrt da, die Augen weit geöffnet, die Brust unbewegt. Sein Mund war so geformt, als wollte er etwas sagen. Mit einem leisen „Herrje“ schloss sie die Balkontür und klingelte nach dem Hausarzt. Der prüfte mit weichen Fingern den Puls des Dasitzenden und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in seine Augen.

    „Kein Puls, kein Pupillarreflex“, murmelte er und richtete sich wieder auf. „Herr Prät ist tot.“


    ENDE

    7

    „Wohin führst du mich Amenophis, mein Freund?“, fragte Avro in banger Erwartung.

    Schweigen.

    „He, du komischer Vogel, warum antwortest du nicht? Hast doch genug Münder.“

    Schweigen. Dann: „Nenn mich nicht Freund!“, sagten alle Köpfe gleichzeitig.

    „Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“

    „Weil Freundschaft auf Wesensverwandtschaft beruht. Wie kann denn ein Vogel mit dem Astralleib eines Menschen wesensverwandt sein?“

    „Weil auch du einen Astralleib besitzt“, antwortete Avro knapp.


    Avro spiegelte den Himmel mit seinen Millionen Lichtpunkten in sein inneres Erleben und erkannte die Jungfrau im Zenit, genau über ihm. Sie lag dort an der Seite eines ihm unbekannten Sternbildes. Es schien ihm, als betrachte sie ihn und blinzele ihm sogar zu. Jetzt bewegte sie sich sogar, ein wenig nur, doch deutlich wahrnehmbar. Doch die Bewegung war nur eine listig-luftige Täuschung, eine atmosphärische Narretei, verursacht durch die Hitze der Berge. Er wusste: Sie würde ihm nie beispringen, so wie er ihr nicht beigesprungen war. Und dieser Amenophis würde ihm erst recht nicht helfen.

    Die Verlassenheit schlug über Avro zusammen wie ein gewaltiger Tsunami.

    Zwei seltsame Astralgestalten flatterten heran, und Avro musste grinsen. Sie glichen übergroßen Spiegeleiern, nur war ihr Dotter nicht gelb, sondern dunkelrot, und das Eiklar drumherum nicht weiß, sondern durchsichtig wie Medusenschleier, die sich im Wasser bewegten. Die Gestalten ließen sich auf einem vor Hitze dampfenden Felsen nieder und hüpften wie Tanzbären darauf herum. Dabei blitzte es in ihrem Inneren immer wieder auf.

    Avro gebot „Halt“ und sah den mseltsamen Gestalten eine Weile zu. Dann fragte er: „Hey, ihr beiden! Wenn euch der Fels zu heiß ist, warum nehmt ihr nicht einen andere? Es gibt doch genug abgekühlte Plätze in dieser Gegend.“

    „Wir wollen dich aus der Nähe betrachten“, sagte die größere der beiden Erscheinungen, „einen Besucher aus der alten Welt haben wir lange nicht mehr gesehen.“ Avro kam es vor, als sei sie von einer wirren Mähne umgeben. „Der letzte Besucher war vor mehr als Zweitausend Jahren hier. War irgendein Religionsgründer, der nach seiner Wiederauferstehung versehentlich in das Schwarze Loch geraten war, dasselbe, das auch dich hierher gebracht hat.“

    „Und wo ist er jetzt?“

    „Keine Ahnung! Sah sich nur kurz um und war wieder weg. Und wie kommst du hierher?“

    „Ich bin ein Freund der Himmelsprinzessin Gorgophone, der Tochter der Andromeda. Ich soll hier nachschauen, ob die physikalischen Gesetze, die ein gewisser Einstein erfunden hat, auch in diesem Universum –“

    „– physikalische Gesetze erfindet man nicht, man findet sie –“

    „– auch in dieser Welt zutreffen, insbesondere, ob ein Astralleib, wenn er von einem Schwarzen Loch verschlungen worden ist, überlebt und wieder in seine gewohnte Welt zurückkehren kann.“

    „Die erste Frage kann ich dir beantworten!“, rief das haarige Spiegelei und blitzte stark, „sie gelten auch hier. Ich habe beschlossen, dass sie zutreffen und die entsprechenden Berechnungen angestellt. Die zweite Frage. . . nun ja.“ Das haarige Ei schüttelte sich, sodass tausend silberne Funken aufflogen – „Das möchte ich auch gerne wissen. Aber auch wenn ich einen Weg zurück wüsste, ich wollte gar nicht zurück.“

    „Darf man wissen, warum?“

    „Auf der Erde gibt es für mich nichts Neues mehr. Hier ist vieles überraschend und unbekannt und noch ohne die passende Theorie. Also existiert es nicht wirklich.“

    „Verstehe ich nicht. Das alles hier, auch wenn es noch so unheimlich ist, soll nicht existieren? Ich empfinde es doch!“

    „Eben! Es ist Einbildung! Solange ich es nicht durch die entsprechenden Berechnungen zur Theorie erhoben habe und somit die Möglichkeit der Realität besteht, bleibt es nicht wirklicher als ein Traum.“

    Avros zweite Hülle verblasste einen Moment verblüfft. „Wer bist du?“

    Das haarige Ei wurde sichtlich größer. „Ich bin Albert Einstein, der Erfinder der Relativitätstheorie. Das größte physikalische Genie, das die Welt je gesehen hat.“

    „Warum blitzt du denn so stark?“

    „Weil ich erregt bin und vor Geistesblitzen nur so sprühe. Deshalb tanze ich auch. Nicht wegen der Hitze.“

    „Na, na, Albert“, ließ sich jetzt das zweite Ei vernehmen, „nun übertreib mal nicht.“ Es war rundlicher und hatte früher wohl einen Schnurrbart getragen. „Du hast zwar die Relativitätstheorie, die Gravitationstheorie und noch einiges mehr gefunden, gut und schön, aber ich, der ich in meinem Leben Karl Schwarzschild hieß, habe das Schwarze Loch und die kosmischen Wurmlöcher erfunden. Wenn ich nicht wäre, wären wir nicht hier.“

    Und ich auch nicht, dachte Avro betrübt.

    „Aber ich habe mit meiner Theorie die Voraussetzungen geschaffen“, protestierte Einstein, „ohne die wärst du gar nicht auf die Idee gekommen, dass es so etwas wie Schwarze Löcher überhaupt geben könnte.“

    „Papperlapapp! Du behauptest, ein schwarzes Loch käme dadurch zustande, dass in ihm die Gravitation unendlich groß und die Raumzeit unendlich stark gekrümmt sei. Halten zu Gnaden: Diese mathematische Singularität besitzt physikalisch gesehen jedoch keine Aussagekraft. Erst durch meine Entdeckung –“

    „Herr!“, rief das Ei mit der Mähne, „Sie wagen es –“

    „Herr!“, rief das Ei mit dem Bartschatten, „Ja, ich wage es –“

    Die Astralgestalten machten Anstalten, sich wie zwei kämpfende Amselmännchen aufeinander zu stürzen. Avro schüttelte den Kopf und befahl: „Weiterfahren!“

    Allmählich nahm sein Seelenfahrzeug Fahrt auf; der komische Vogel Amenophis trieb zur Eile an; unter den Kufen knirschte der Sand. Er hielt genau auf die feuerspeienden Berge am Horizont zu, ihre Flammen röteten den Himmel. Der Weg wurde schwieriger; je höher sie kamen, desto mehr Geröll in ausgefahrenen Rinnen beschwerte die Fahrt – ein Zeichen, dass Avro nicht der einzige Prüfling war. Rechts und links stiegen eigenartig geformte Felsen auf, die an urzeitliche, roh behauene Statuen mit gewaltigen Köpfen und mächtigen Leibern erinnerten; es waren Laternen, in ihren Augenhöhlen lag glühende Lava. Der Weg verengte sich zu einem schmalen Grat zwischen zwei Schluchten, aus denen Töne wie grässliche Sinfonien aufstiegen; Dissonanzen warfen sich wie Kampfhähne gegeneinander; ein Heulen und Jammern erfüllte die heiße Luft.

    Jetzt, wo keine Beschwernis eines irdischen Leibes auf ihm lag, war Avro in der Lage, Unsichtbares zu erkennen, Geheimes, Verborgenes, Unausgesprochenes, auch nur Gedachtes; das, was seit Urzeiten durch´s Weltall kreiste: Unerfüllte Wünsche; die Gier der Nimmersatten, geheime Sehnsüchte; unanständige Tagträume; die gehauchten Worte heimlichen Liebesgeflüsters und dergleichen mehr. In seiner dritten Hülle steckten immer noch Fähigkeiten, die ihr der Herr des Alten Mondes mitgegeben hat; die jeder Mensch mehr oder weniger besitzt, aber nur selten nutzt.

    Das Getümmel und Gestöhn verstärkte sich. Jetzt vernahm er auch Kriegslärm und Kettenrasseln; die Schreie Verwundeter oder Gefolterter; das Greinen frierender Kinder; die Verzweiflung ihrer Mütter und viel weiteres Elendsstöhnen.

    Urplötzlich zügelte Amenophis die Zugtiere. Das Gefährt blieb abrupt stehen und riss Avros Astralleib nicht nur aus den Gedanken, sondern auch aus dem Wagen. Er rollte bis hart an die Kante des tiefen Abgrunds, in dem es brauste und brodelte; Flammen stiegen auf; dicker, stinkender Qualm fuhr ihn an. Der bunte Vogel Amenophis kroch auf ihn zu, riss seine drei Schnäbel auf und machte Anstalten, Avros Astralleib in den Abgrund zu stürzen. Obwohl solch ein Körper weder Lust- noch Schmerzwahrnehmungen aufweist und auch nicht versengt werden kann, war Avro doch so erschrocken, dass er auf seine Art laut aufschrie; die alte Angst vor dem Verbrennen steckt tief in der Kreatur. Amenophis, von dem Schrei offenbar selbst erschrocken, flatterte kreischend davon und nistete sich als Sternbild irgendwo am Himmel ein.

    Wieder brandete der Höllenlärm auf, eine rechte Teufelssinfonie. Avro unterschied jetzt einzelne Stimmen, manche kamen ihm sogar bekannt vor. Er blickte hinunter, in lodernde Flammen unter schwarzem Qualm. Doch dank seiner Fähigkeit, durch alles hindurch zu sehen und zu gehen, ohne Schaden zu nehmen, auf Widerstand zu stoßen oder sonst wie aufgehalten zu werden, sah er sich auf einmal von alten Bekannten umgeben, die wie ein Schwarm aufgeregter Fledermäuse um ihn herum flatterten. Er erschrak, denn er erkannte: Das waren alles Verstorbene, denen er zu Lebzeiten übel mitgespielt hatte. Eine dieser Schreckgestalten flog ganz dicht an ihn heran, setzte sich auf eine verkrüppelte Baumwurzel, deren Schuppenhaut wie rotes Gold glänzte, und flüsterte. „Avro, erkennst du mich?“

    Natürlich erkannte er die Gestalt. Sogar nach so vielen Jahren, sogar unter diesen widrigen Umständen. Es war Erika, seine erste Frau, ein gutgläubiges, sanftes Geschöpf. Sie hatte ihm, unerfahren mit den Abgründen des männlichen Charakters und im Vertrauen auf seine Ehrlichkeit, ihre Erbschaft und einen Haufen Bargeld überlassen auf das lose Versprechen hin, bei blühenden Geschäften alles, zumindest aber das Erbe ihrer Mutter, zurück fordern zu können. Aber nach einigen Jahren unbeschwerten Wohllebens war nichts mehr da, was sie hätte zurückfordern können. Das Fahren teurer Motorräder hatte Avro mehr behagt als das Führen seines Betriebs mit zehn Angestellten. Wieder sah er die traurigen alten Augen der jungen Frau auf sich gerichtet, während er ihr mitteilte, er werde Konkurs anmelden müssen, gerade in dem Augenblick, als sie ihm sagen wollte, dass sie schwanger sei.

    „Schwanger?“, schrie er, „auch das noch!“ Tags darauf war er verschwunden.

    Erneut brach ein Sturzbach von Jammern, Klagen und Verwünschungen los, ein grauenhaftes Heulen und Zähneknirschen. Flammen loderten auf: eine Feuergarbe tanzte wie ein glühender Mückenschwarm über dem Abgrund. Deutlich fühlte er die heißen Schwingen vogelähnlicher Gestalten an seinem Leib. Es waren die Seelen von Menschen, die er als Freischärler in irgendeinem Regionalkrieg gegen Geld getötet hatte, in einem Konflikt, der ihn nichts anging. Nach seiner Pleite war er, um den Gläubigern zu entkommen, einer ausländischen Privatarmee beigetreten. Dort lernte er auch seine zweite Frau kennen, Violetta, und baute, als der Krieg vorbei war, mit ihr fern der alten Heimat eine neue Existenz auf. Aber auch diese Beziehung war nicht von Dauer . . .

    Violetta warf brennende Rosensträuße auf ihn, und sofort war die Erinnerung wieder wach . . . Zum x-ten Mal hatte er ihren Hochzeitstag vergessen; in aller Eile, denn es war schon nach Geschäftsschluss, lief er zur Blumenbude im Bahnhof und erwarb eine Handvoll halb verwelkter roter Rosen, die er seiner Frau, in einer Vase zurecht gerückt, überreichte. Auf einmal sah er sich von drei Bouquets der Sorte „Siegerin von Mühlhausen“ umgeben – so hieß diese Rosensorte – eines stand in der Vase auf dem Tisch, herbstsonnenbeschienen und mit verblassender Farbkraft, die beiden anderen spiegelten sich in den schwarzen Pupillen seiner Frau, die ihn katzenhaft ansah und die unmissverständlich signalisierten: Du oder ich. Er verließ wortlos den Raum. Es kam zu keinem Rosenkrieg – was nahe gelegen hätte – man trennte sich in gegenseitigem Einvernehmen; sie verband sich später mit einem Menschen aus der IT-Branche, er kaufte sich eine Eigentumswohnung (die er zunächst vermietete) in dieser teuren Seniorenresidenz, einem denkmalgeschützten Backsteinbau aus dem sechzehnten Jahrhundert. Dann zog er selber ein.

    Seitdem waren ihm rote Rosen und überhaupt alles Rote ein Greul (man kann sich gut vorstellen, welches Unbehagen ihm gerade dieser feurige Planet einflößte).

    Das Geschrei verstärke sich noch weiter, überlagert von den grausen Klängen nie gehörter urzeitlicher Instrumente. Eine eklige Gestalt flog auf ihn zu, krallte sich in seiner Hülle fest und rief mit stinkendem Atem: „Avro, hast du uns nichts zu sagen?“

    Avros Empfindungsleib erbebte. Obwohl ihn die Krallen nicht schmerzten, spürte er sie doch als unangenehme Eindringlinge in seine inneren Bezirke. Am liebsten hätte er sich wieder in seinen alten Ernährungsleib verkrochen oder das Spektakel ins Reich der Träume verschoben. Doch schon rief ein vielstimmiger Chor: „Avro, hast du uns nichts zu sagen? Avro, hast du uns nichts zu sagen?“

    Die Aufforderung war eindeutig. Er sollte etwas tun, wozu er in seinem ganzen irdischen Leben nicht fähig gewesen war. Er versuchte, das eine oder andere Wort hervor zu würgen; doch der Ton blieb ihm unterwegs stecken.

    Plötzlich was atemlos Stille.

    Von einem Hang löste ich ein riesiger Bergsturz; glühende Felsbrocken stürzten donnernd zu Tal und gaben den Blick auf zwei hohe helle Gestalten im Inneren des Berges frei. Avro erkannte sie sofort: Es war die Himmelsprinzessin, neben ihr der schimmernde Reiter; offensichtlich warteten sie. Doch es war abzusehen, lange würden sie nicht mehr warten, denn das Pferd mit den feurigen Hufen flatterte ungeduldig mit den Flügeln.

    „Ich . . . ich . . . bitte euch um . . . Entschuldigung“, brachte er mühsam hervor, doch allmählich wurde seine Beichte klarer. „Ich weiß, dass viele unter mir gelitten haben, und es tut mir aufrichtig Leid. Ich kann nicht behaupten, dass ich euch alle geliebt habe, aber ich habe auch niemanden gehasst. Was ich getan habe hielt ich für alternativlos –“

    Wieder krachte ein Berghang zu Tal, jetzt in unmittelbarer Nähe. Schwarzer, funkensprühender Qualm stieg auf, und eine hohle Stimme rief: „Die Wahrheit Avro, die Wahrheit! Es gibt immer eine Alternative!“

    „Ja . . . doch . . . ich weiß, es gibt immer eine Alternative“, stammelte Avro, denn der nächste Bergsturz kündigte sich an, „alles, was ich euch angetan habe, geschah aus eitler Selbstsucht und Gedankenlosigkeit.“

    Er redete noch eine Weile; dann geschah etwas mit seiner dritten Hülle, was seine erste nie fertiggebracht hatte: Sie weinte unsichtbare Tränen der Reue.

    Sein Astralleib strahlte jetzt in einem ganz hellen Grün.

    Forts. folgt

    6

    Avro schlug die Augen auf, wie man so sagt – nun ja, ein Astralleib kann natürlich nicht irgendwelche Augen aufschlagen noch irgendwelche Ohren spitzen oder die Nase rümpfen (geschweige denn darin bohren), aber er kann es so empfinden. In seiner Eigenschaft als Bewusstseinsträger oder Bewusstseinsleib projiziert der Astralleib die Außenwelt wie ein Spiegel in sein inneres Erleben –

    Überhaupt, Sinnesorgane!

    Ist dir, liebe Leserin, und dir, lieber Leser, schon einmal aufgefallen, wie unzuverlässig unsere Sinne zuweilen sind? Einen Berichterstatter, der uns solche Bären aufbindet, würde man glatt für einen Lügner halten . . .

    Was nehmen die Sinnesorgane des Menschen denn überhaupt wahr! Nicht nur, dass sie tricksen und täuschen, diese Organe. Nur einige Beispiel: Hören wir den Schrei einer Fledermaus, obwohl er geschrien wird? Sehen wir die Farbe der Verzweiflung, die sich über dem Horizont ausbreitet wie grauses Gewölk? Schmecken wir den Geschmack der Einsamkeit, obwohl er uns entgegenkommt in tausendfachen Schattierungen?

    Also: Nichts anderes nehmen wir wahr, als was vor dem Theatervorhang zu sehen und zu hören ist! Das Augenscheinliche, das Grobe, das problemlos Glaubhafte. Der Mensch, unheilbar leichtgläubig wie ein unmündiges Kind! Was sich hinter dem Vorhang abspielt, all das bleibt uns verborgen. Zumindest meistens.

    Und nicht nur das: Wir wollen es nicht sehen. Warum also sollte Avro mit seiner zweiten Hülle der Bewusstheit, deren Wahrnehmung dank fehlender Ablenkung bis aufs Äußerste geschärft war, nicht einen Berg Feuer speien sehen und eine Prinzen reden hören? (Wir meinen ja nicht mit den Augen sehen oder erblicken – eher eine Art innerer Erkenntnis, wie man plötzlich Dinge 'sieht', die man vorher nicht wahrgenommen hat, weil man zu beschäftigt war oder nicht interessiert).

    Genug davon.

    Avro schlug also die Astral-Augen auf. Eine metallisch klingende Stimme sagte: „Bravo, Avro, du hast die erste Prüfung bestanden. Willkommen auf Purgatorio, dem Planeten der Läuterungen.“

    „Wer redet da?“

    „Ich, Prinz Elektryon, der Bruder von Gorgophone, die dich in der anderen Welt betreut hat. Hier, in dieser Welt, bin ich für dich zuständig.“

    Avro blickte nach oben. Ein rotgrauer Himmel, an dem sich schwarze Wolken wälzten, zwei dunkelrote Sonnen, drei müde leuchtende Monde. Avro blickte nach unten: Glimmende Erde, glühende Steine, kochende Quellen. Avro blickte in die Ferne: Feuerspeiende Berge, steinerne Wälder, explodierende Sterne . . .

    „Ich sehe keinen Prinzen!“, rief er.

    „Du kannst mich nur sehen“, antwortete die Stimme, „wenn du keinen Prinzen mit goldener Krone und blonden Locken erwartest. Ich bin auch kein Sohn irgendeines Froschkönigs, und ich küsse auch keine Jungfrauen wach.“

    Trotz der glühenden Düsternis empfand Avro die Gegend auf ein unerklärliche Weise taghell erleuchtet.

    Ein dunkelblaues, geflügeltes Pferd mit schnaubenden Nüstern und Funken sprühender Mähne kam auf ihn zu. Auf dem Pferd saß ein Ritter in glänzendem Harnisch und blitzendem Schwert. Seine Augen waren zwei Sonnen, sein Helm ein grüner Mond.

    „Wo bin ich?“, fragte Avro.

    „Auf einem feurigen Planeten in einem anderen Universum“, antwortete der Reiter, nachdem er sein Pferd zur Ruhe gebracht hatte. „Es ist eine von den unzähligen Parallelwelten, die den kosmischen Raum bilden. Das Schwarze Loch hat dich hierher katapultiert.“

    (Wir wollen jetzt nicht in den Fehler verfallen, den Leser dahingehend zu belehren, wie sich doch der Mensch irren kann, besonders wenn er Astrophysiker ist. Nur so viel: Ein Schwarzes Loch ist offensichtlich doch nicht das Ungeheuer, das alle Materie verschlingt und auslöscht, wie diese Leute behaupten, sondern offensichtlich die Tür zu einer anderen, unbekannten Welt).

    „Ein anderes Universum,“ staunte Avro. „Wer kommt denn auf so etwas? Nie gehört.“

    „Warum solltest du auch. Du hattest andere Gedanken im Kopf. Doch es ist so. Es gibt ellenlange Rechenmodelle von ellenlangen Rechenkünstlern, nach denen Hunderte, Tausende, ja Millionen solcher Welten mit Millionen Sonnen und ihren Trabanten möglich sind – behagliche, unbehagliche, blaue, grüne, gelbe, sogar glückliche. Warum auch nicht? Möglicherweise leben in diesen unbekannten Welten ja auch menschenähnliche Wesen, nur weniger gierig, weniger egoistisch, weniger kriegerisch, weniger lieblos, nicht so zerstörerisch wie der Homo sapiens? Alles ist möglich, bis irgendjemand den rechnerischen Gegenbeweis erbringt.“

    Avro blickte betreten zur Seite. Weniger lieblos . . . weniger egoistisch . . . nicht so zerstörerisch . . . Da hatte der seltsame Prinz etliche wunde Punkte getroffen . . .

    Eine Frauengestalt in einem durchsichtigen Kleid näherte sich. Sie blieb vor Avro stehen und sah ihn sonderbar lächelnd an. Avro erkannte die Gestalt wieder. Es war die junge Frau, die im Schwarzen Loch verschwunden war. Nur waren ihre Haare nicht mehr wüst und wirr, sonder ein Kranz langer, wie polierte Bronze schimmernder Strahlen. Sie warf ihm so etwas wie einen Handkuss zu und schwebte davon.

    „Im anderen Universum war sie das Sternbild Jungfrau und bestand aus vielen hell leuchtenden Sonnen“, erklärte Elektryon. „Dann schlug sie Amor, der alte Schlingel . . . Von Liebe zu einem anderen Sternbild entbrannt, verließ sie ihren Platz am Himmel, um sich in die Arme des Geliebten, den Wassermann, zu werfen. Dabei achtete sie nicht auf den Weg und kam dem Höllenschlund zu nahe. Sie wird jetzt wieder einen Platz am Himmel einnehmen, aber nicht hell leuchtend, sondern dunkel glühend wie verglimmende Kohlen.“

    „Für meinen Geschmack ein bisschen zu viel Glühen und Glimmern, hier“, meinte Avro. „Wenn es so viele Paralleluniversen gibt, wie du behauptest, warum musste es gerade dieser unselige Planet sein? Warum nicht ein lieblicher, heller, behaglicher, träumerischer oder vielleicht sogar ein glücklicher?“

    „Den hättest du auf der Erde haben können“, versetzte der Prinz kalt, „alles war vor deinen irdischen Augen ausgebreitet wie auf einem silbernen Tablett, alles, wonach deine Seele jetzt verlangt. Aber du hattest ja andere Dinge im Kopf. Jetzt ist es zu spät.“

    Elektryon schwieg ein Sternschnuppenverglühen lang und fuhr dann fort: „Und wegen der nächsten Prüfung.“

    „Sag mal, Prinz, du kommst mir vor wie das Reiterstandbild im Stadtpark. Irgendwelche Schmierfinken haben es blau angemalt. Kann es sein –“

    „Genug geschwatzt“, schnitt Elektryon unwillig Avros Rede ab, „kommen wir zur nächsten Prüfung. Du hast Mut und Seelenstärke bewiesen, gewiss.“ Er saß ab, ging auf Avros Astralleib zu, ergriff ihn am oberen Ende und warf etwas in die Luft, das sofort in Flammen aufging.

    „Deine zweite Hülle ist nun verbrannt“, sagte er, „die brauchst du ja jetzt nicht mehr. Damit wären wir bei deiner dritten Hülle, der Empfindungshülle, oder die Hülle der Gemütswelt.“

    Bei diesen Worten schrumpfte Avro – genauer: Sein Astralleib – sichtlich zusammen. Da hatte der Himmelsprinz einen weiteren wunden Punkt getroffen. Es war nämlich so: Im irdischen Leben war er alles Mögliche gewesen, nur kein Gemütsmensch. Jeder Fleck auf dem Teppich hatte ihn aufgeregt; jede Fliege, die sich den Kopf an der Fensterscheibe wund stieß, musste erschlagen werden, sie könnte ja einen punktfeinen Fleck auf der Scheibe hinterlassen; und wenn ihm jemand aus Versehen die Vorfahrt nahm . . . oha!, dann konnte er stundenlang über die Rücksichtslosigkeit der Leute schimpfen. Lappalien, nichts als Lappalien, die jedoch das Zusammenleben mit ihm manchmal hart auf die Probe stellten.

    „Nun also“, fuhr der Prinz auf seine nur für Avro verständliche Art fort, „kommen wir zur zweiten Prüfung. Du warst, als du noch in deinem physischen Körper stecktest, wie ich schon andeutete, ein arger Egoist und eitler Hallodri – ich meine damit deine Sucht nach Geld, Gut und allerlei läppischen Tand. Hingegen: Um deine Mitmenschen hast du dich kaum gekümmert. Im Gegenteil, du verlachtest die am Leben Gescheiterten oder Zukurzgekommenen noch und schimpftest sie Versager, Faulpelze, Tagediebe, Parasiten am Tropf der Solidargemeinschaft. Die Ursachen ihres Unglücks kümmerte dich nicht. Jüngstes Beispiel: Die verzweifelten Bemühungen der Himmelsjungfrau, dem schrecklichen Inferno zu entkommen, hast du herzlos begrinst und nicht den geringsten Versuch unternommen, ihr zu helfen –“

    „Es hätte doch nichts genutzt“, warf Avro ein, „es zog zu stark.“

    „Papperlapapp! Was redest du da für einen Unsinn!“, herrschte ihn Elektryon mit Zornesbeben an. Seine Augen verdunkelten sich, und der helle Tag erlosch wie bei einer totalen Sonnenfinsternis. Doch schon war sein Ärger verflogen, und es wurde wieder hell. „Du bist auch so einer, der für alles eine Ausrede bei der Hand hat. Also höre: Ich werde dich jetzt wieder verlassen. Amenophis wird dich zum Ort deiner nächsten Prüfung geleiten. Hast du bestanden, sehen wir uns wieder. Wenn nicht . . . tja . . .“

    Jetzt war auch Avros Seelenfahrzeug wieder da, ein schlittenartiges Gefährt auf zwei Kufen. Davor zwei vogelähnliche Kreaturen mit schuppigen Körpern, die von einer schlangenförmigen Gestalt mit drei Vogelköpfen und sechs krummen Beinen gezügelt wurden. Avro hatte also die ganze Zeit auf dem kochend heißen Boden gehockt, ohne es zu merken.

    „Auf geht´s“, krähte der dreiköpfige Vogel Amenophis. Das Gespann setzte sich in Bewegung.

    Die Gestalt des Reiters löste sich auf, die fremde Welt versank in dunkel glühender Dämmernis. Doch es stellte sich heraus, dass die Gegend keineswegs hoffnungslos lichtarm war, nachdem die prinzlichen Scheinwerfer-Augen verschwunden waren. In Wolkenlücken funkelte ein Unzahl von Lichtpunkten wie verglimmende Kohlen, die Sonnen waren nicht dunkelrot, sondern hell-violett, und die drei Monde: Einer, der größte, der anscheinend vollständig aus Eis bestand, glitzerte geheimnisvoll und von innen heraus; der zweite aus erstarrender Lava, deren Glutnester glühende Funken um sich warfen; der dritte, der kleinste, ein knollenartiges Gebilde mit schuppiger Oberfläche, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als die abhanden gekommene Nase eines Milliarden Lichtjahre entfernten Roten Riesen. Aus den schwarzen Bergen am Horizont stiegen Feuersäulen auf wie Zeugnisse Jahrtausende alter Brände. Doch die glühende Dämmerung reichte aus, um klare Sicht zu schaffen; alle Gegenstände und Konturen traten klar und deutlich hervor.

    Forts. folgt

    4

    Die Himmelprinzessin besann sich lange, bevor sie antwortete. Schließlich sagte sie: „Was heißt schon tot . . . Wenn dich deine Kinder auch nicht groß beweinen, so haben sie doch bereits einen Sarg bestellt. Dabei denken sie an dich, in welcher Weise auch immer. Du bist gestorben, aber nicht tot. Wirklich tot ist jemand erst, wenn niemand mehr an ihn denkt.“

    „Den Spruch kenn´ ich. Aber er beantwortet meine Frage nicht.“

    Die Himmelsprinzessin schüttelte ungehalten den Kopf.

    „Avro, was soll diese unkosmische Ungeduld? Du hast doch jetzt Zeit, viel Zeit, Äonen von Zeit! – Es gibt für dich kein irdisches Ich mehr, wie es auch keinen irdischen Leib mehr gibt. Du hast die äußerste, grobstoffliche Hülle, die Gestalt deines irdischen Leibes, des Nahrungsleibes, abgeworfen und bestehst nur noch aus der ätherischen Lichtgestalt, welche die vier inneren Hüllen umgibt –“

    „ Welche vier inneren Hüllen meinst du?“

    „Ähem . . . Jeder Mensch besteht außer aus der Nahrungshülle noch aus vier so genannten ätherischen Hüllen. Mit deinem physischen Dahinscheiden ist, wie ich schon andeutete, die erste Hülle, die des Organischen und Verweslichen, also die aus Nahrung gemachte Hülle, vor dir abgefallen. Es folgen vier feinstoffliche Hüllen, die von außen nach innen immer feiner werden: Deine jetzige Hülle ist Träger des Bewusstseins, der Triebe und des Egoismus, dann folgt die Hülle des Erkennens und Verstehens. Die nächste Hülle ist die der Barmherzigkeit und der Liebe. Zuinnerst befindet sich die Hülle der ewigen Glückseligkeit – –“

    „Ha, also doch!“, rief Avro dazwischen, „jetzt weiß ich auch, dass nicht meine Ex hinter meinem Rollstuhl stand, sondern mein Todesengel, was wohl aufs Gleiche herauskommt –“

    „Rede keinen Unsinn“, herrschte ihn die Prinzessin ungehalten an, „und unterbrich mich nicht!“

    Avro hörte nicht mehr zu. Er dachte nach. Ja, die Triebe, die Triebe . . . Sie hatten ihm nicht nur in seinen besten Jahren stark zugesetzt. Jetzt, wo er in der Lage war, in der Dunkelheit zu sehen, wurde ihm bewusst, dass er lange Zeit seines Lebens in einem Haus mit geschlossenen Fensterläden verbracht hatte. Seine Ehe mit Violetta war nicht nur an den roten Rosen zerbrochen . . . Das hatte er den Leuten, die ihn danach fragten, erzählt. Eine reine Schutzbehauptung. Es war seine Knickrigkeit gewesen, die schon an offensichtlichen Geiz grenzte . . . Zu spät hatte er eingesehen, dass ein dickes Bankkonto, das man sich und seinen Kindern vom Munde abgeizt, nicht einen Pfifferling wert ist. Dann hatte er in bestimmten Situationen wenig Charakterstärke bewiesen. Aus Bequemlichkeit und Kleinmut war er allen Konflikten ausgewichen, die der Alltag so mit sich bringt, auch da, wo er im Recht war – was seine Frau manchmal zur Weißglut gebracht hatte. Aber im Feiern, im Feiern, ja, da war er ganz groß gewesen. Er dachte zurück an die lärmenden Feste, an die roten, alkoholgetränkten Gesichter, an den gewaltigen Appetit der Zechbrüder, an ihren noch gewaltigeren Durst und an die unbändige Lust auf geselligen Schabernack bis hart an die Grenze der Geschmacklosigkeit. Dass er seine Familie dabei immer mehr aus dem Blick verlor, merkte er erst, als es schon zu spät war – –

    – „der allerdings noch der Läuterung bedarf.“ Gorgophone blickte Avro jetzt scharf an. „Deshalb, wegen dieser Beschwerungen, an die du gerade gedacht hast, schimmert dein Astralleib jetzt dunkelgrün; am Ende der Läuterung, im Zustand der Glückseligkeit, wird er strahlend weiß sein.“

    Avro – oder besser: Seine zweite Hülle fühlte sich peinlich berührt und ertappt. „Was muss ich tun?“, flüsterte er.

    Die Himmelsprinzessin lachte unhörbar auf. Der Ausdruck der Zerknirschung auf Avros Äther-Gesicht war einfach zu drollig.

    „Siehst du den dunklen Fleck dort neben dem roten Drachenkopf? Die Astronomen nennen ihn Schwarzes Loch, das angeblich alles in sich aufsaugt, das in seine Nähe gelangt und für alle Zeiten vernichtet. Als Beweis werfen sie ellenlange Berechnungen aus, die kein normaler Sterblicher nachvollziehen kann. Also höre: Deine erste Aufgabe wird sein, herauszufinden, ob diese Berechnungen stimmen, ob solch ein Schwarzes Loch wirklich das Unwiederbringliche Verschwinden bedeutet, das endgültige Ende aller Materie – oder ob etwas ganz anderes hinter dieser seltsamen kosmischen Erscheinung steckt.“ Die Sternenprinzessin bedachte sich kurz, dann fuhr sie fort: „Was mich aber noch mehr interessiert ist die Frage, ob darin auch Astralleiber wie deiner auf Nimmerwiedersehen verschwinden.“

    Avro fuhr hoch. „Ich soll –“

    „Du sollst gar nichts. Du willst. Und wenn du nicht willst, lassen wir das Experiment bleiben.“

    Avros Astralleib geriet in heftige Bewegung. „Auf das vage Versprechen einer fernen Glückseligkeit hin", rief er (natürlich nur für einen Astralleib hörbar) soll ich den vollständigen Untergang riskieren? Meine teuerste Prinzessin, ich denke, das ist doch etwas zu viel verlangt. Auch ein Astralleib hängt am Leben. Dann eben ohne ewige Glückseligkeit –“

    „O du Tor!“, rief die Prinzessin und warf in putziger Theatralik die Hände hoch, „Avro, o du meine liebe Seele! Glaubst du denn, ich würde Unmögliches von dir verlangen? Du sollst endlich mal Mut und Seelenstärke beweisen, indem du dich in das Schwarze Loch begibst und nachschaust, was es damit auf sich hat. Es ist keine Reise ohne Wiederkehr; du kannst jederzeit umkehren, denn schließlich unterliegt dein Astralleib nicht den Gesetzen der physischen Natur, sondern denen des Alten Mondes, der älter ist als alle Naturgesetze der realen Welt. Du brauchst es nur wünschen, und es geschieht. Jedoch . . . Eine Umkehr wäre allerdings jammerschade, denn dann hättest du bereits bei der ersten Prüfung versagt. Also, überlege gut. Willst du?“

    Avro dachte eine Weile nach. Schließlich meinte er: „Gut, wenn es so ist . . . Ich will.“

    Ein gewaltiger Chor rauschte auf; der Gesang schien aus den Tiefen des Alls zu kommen und war doch anscheinend ganz ganz nah. Worte waren nicht zu verstehen; es war wieder dieser eigenartige, gestaltlose Singsang, den Avro schon mehrmals, allerdings viel leiser, vernommen hatte, und der keinerlei irdischen Chorgesängen glich. Immer wieder schossen, wie Blitze aus gigantischen Gewittern krasse Dissonanzen durch den mit Sternen übersäten Raum.

    Doch nicht das war es, was Avros Aufmerksamkeit jetzt voll in Anspruch nahm: Seine Seelenpatin, die Himmelsprinzessin, verlor immer mehr an Glanz; ihre köstliche Gestalt löste sich auf; nur noch schwach hörte er ihre Stimme (dabei muss endlich bemerkt werden, dass er sie nicht wirklich hörte und auch nicht wirklich sah, denn er besaß ja weder Ohren noch Augen; auch sprach die Himmelsprinzessin nicht wirklich, denn es wäre sinnlos gewesen: Wo war eine Atmosphäre, die Schallwellen übertragen hätte? Die Verständigung geschah durch innere Übereinkunft zweier ätherischer Lichtgestalten, die sich gegenseitig in harmonische Schwingungen versetzten wie die Saiten einer Harfe oder Geige) – – ihre verlöschenden Schwingungen hinterließen in Avros Bewusstsein den Eindruck, als habe gerade jemand gesagt: „Nur Mut, Avro, Mut, Mut! Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder!“

    Dann war da nur noch der Chorgesang.


    5

    Schon seit einiger Zeit fühlte sich Avro von einer unsichtbaren Kraft gezogen; zunächst ganz sanft, dann immer zupackender; schon begann sich sein Astralleib zu verformen; aus dem Ei wurde etwas, das wie ein Stück rundlich-grüner Seife aussah; die Sterne in seiner scheinbaren Nähe begannen, sich zu bewegen; die beiden Roten Riesen, die Seelensterne der in ewiger Liebe verbundenen Gatten, verschoben sich gegen den Himmels-Hintergrund, einem Haufen gigantischer Milchstraßen; in rasanter Fahrt verschwanden sie hinter seinem Rücken. Natürlich war dies eine Täuschung; nicht die Sterne bewegten sich, sondern Avros Seelenfahrzeug; wenn sein Astralleib auch den Gesetzen des Alten Mondes unterworfen war, so galt doch hier, was ein grauhaariger witziger Weiser namens Einstein herausgefunden hatte, nämlich: Alle Bewegung ist relativ. Auch beobachtete Avro zu seinem großen Erstaunen eine Gruppe von sieben Sternen, die bisher in göttlicher Gelassenheit geruht hatten. Es war ein Häuflein ehemaliger Pensionärsseelen weiß der Teufel welchen Amtes, die jetzt in hektische Bewegungen geraten waren, als ob ihnen jemand die Ruhegehälter verkümmern wollte. Was natürlich ausgemachter Unsinn ist, denn Astralleiber benötigen keine Ruhegehälter, sie ruhen in sich.

    Aber es blieb nicht nur bei Bewegungen.

    Die Himmelskörper, die in immer schnellerer Fahrt an ihm vorbei sausten, änderten Gestalt und Farbe; was eben noch dunkelrot schimmerte, sah jetzt dunkel-violett aus und war kurz darauf nicht mehr zu erkennen; gleißend helle Sonnen wurden erst grün, dann blau und verblassten im nächsten Moment zu einem öden Grau. Und dann, was war auf einmal mit Gestalten und Formen los? Alles veränderte sich, verengte sich, verwirrte sich, verirrte sich: Was eben noch rund war, wurde erst zum Oval, dann zum schmalen Strich. Das Sternbild des Orion, an dem er gerade vorbei sauste, stand mit hängendem Gürtel und abgemagert wie ein Besenstiel; der Sirius, die große, stolze Sonne, glich einem zusammengefalteten Kinderlampion. Die Jungfrau – tja, was war aus der Jungfrau geworden? Dahingefläzt wie eine faule Katze lag sie da. Avro sah – nein, gewahrte – ach, ach!, ihre schlanken Beine verquer, der edle Busen zusammengefallen. Und erst der Große Bär: Er lag ausgestreckt, wie ein Häufchen Elend, und rührte sich nicht.

    Avro schrie auf (zumindest kam es ihm so vor): Sein Seelenfahrzeug, dieses feine Gespinst aus uralten Überlieferungen und demiurgischem Willen, war verschwunden; er befand sich jetzt im freien Fall und raste in atemberaubendem Tempo auf das Schwarze Loch zu – –

    Nun ja, wir müssen dem kundigen Leser nicht erklären, das Avro sich bereits mit annähernd Lichtgeschwindigkeit bewegte, eine Geschwindigkeit, die alle Gegenstände und alle Entfernungen – und sogar die Zeit!, schrumpfen lässt ( wieder so ein Weissagung des witzigen Weisen vom Olymp der Physik; ob´s stimmt, wird man nie erfahren).

    Schon sah er sich von Gesteinstrümmern umgeben, die das „Loch“ in rasenden Wirbeln umkreisten – von Bruchstücken kollidierter und zerborstener Felsbrocken; von kraterübersäten Meteoren; von irrwitzige Meteoriten, von Trümmern eisiger Monde; von Kaskaden feuriger Lichtatome, Strahlen naher Sonnen, die der höllische Schlund aufsaugte und zum Erlöschen brachte; sogar dichter galaktischer Staub verschwand darin, wie von einem Staubsauger angezogen. Ein unbekanntes Sternbild (Avro befand sich ja bereits hart am Rande des sichtbaren Alls) –: Eine schlanke Frauengestalt mit wirren Haaren; sie machte verzweifelte Anstrengungen, dem Orkus zu entkommen: Die wild strampelnden Beine; das rasende Hin- und Herwerfen des Leibes, die verzweifelten Versuche, irgendwo mit den Händen Halt zu finden; alles vergebens . . . Avro musste innerlich grinsen, (das heißt, seine zweite Hülle kräuselte sich wie die Lippen eines Küssenden) – es sah einfach zu komisch aus. Immer weiter rutschte die Gestalt in Richtung Große Gähne – ein letztes verzweifeltes Aufbäumen noch, ein letztes Öffnen des Mundes zum Schrei – dann war sie verschwunden. All das wurde von dem unheimlichen Himmelsschlund angezogen und aufgesaugt; das Drama drang mit bestürzender Wucht auf ihn ein, denn sein Bewusstsein war geschärft und in nie gekanntem Maße gesteigert. Er meinte, sein Astralleib müsse zerspringen.

    Schon dachte er an Umkehr.

    Je näher er dem Zentrum des Schwarzen Lochs kam, desto unerträglicher wurden das Chaos. Ihn bedrückte die Vorstellung, er könne unter Bergen von Trümmern und kosmischem Abfall begraben sein für ewige Zeiten und in Vergessenheit geraten. Und wenn das Loch seinen Astralleib doch in Nichts auflöste? Und überhaupt, wer weiß denn, was hinter einem Schwarzen Loch liegt? Möglicherweise ein anderes, noch weitläufigeres Universum? Ein Universum aus Antimaterie? Ein kleiner Lichtblitz nur, und er war ausgelöscht? War er dann im Nirwana der Buddhisten, dem totalen Ausgelöschtsein, der endgültigen Bedürfnislosigkeit? Aber er wollte doch die Glückseligkeit erfahren, die Wiedererlangung des paradiesischen Zustandes vor dem Sündenfall.

    Avro ging hart mit sich ins Gericht. Hatte er doch der Himmelsprinzessin versprochen, Seelenstärke zu beweisen und sich nicht wie ein Hasenfuß zu benehmen. Ha, dachte er, d i e hat gut Reden! Die hat sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht!

    Avros Zweite Hülle bebte vor verzweifelter Unentschlossenheit! Sein ganzes Empfinden stemmte sich gegen die Versuchung, aufzugeben und umzukehren. Hatte die Prinzessin nicht gesagt, der Gedanke an Umkehr reicht schon? Wenn er jetzt kniff . . . Abgesehen von der Schande. Andrerseits . . . Was war, wenn sie ihn verließ und er als einsame Sternschnuppe ziellos durch das unübersehbare All irrte? Schreckliche Vision!

    Doch eine Hoffnung blieb ihm: Die Andeutung der Prinzessin, es gäbe ein Wiedersehen. Und er stürzte sich in den ungeheuren Schlund hinab.

    Forts. folgt

    2

    Avro Prät fühlte sich nach hinten gezogen. „Herr Prät“, sagte eine weibliche Stimme, „das Gewitter bricht gleich los.“ In der Tat; am bleigrauen Himmel kämpften ungeheure Titanen mit feurigen Schwertern einen geräuschlosen Kampf.

    „Es wäre gut, wenn Sie zurück ins Zimmer kämen und wir die Türen schließen könnten.“

    Avro erfasste ein schlimmer Verdacht. War das nicht die Stimme seiner Frau?

    „Violetta, du hier?“, rief er verwirrt.

    „Bitte, kommen Sie ins Zimmer zurück!“, sagte die Stimme.

    „Was ich in meiner Wohnung tue, entscheide immer noch ich!“, rief er aufgebracht. Seine gichtigen Finger verkrampften sich in den Greifreifen des Rollstuhls. „Lass gefälligst den Rollstuhl los!“

    „Herr Prät, seinen Sie doch vernünftig!“

    „Ich will aber nicht vernünftig sein!“, keifte er.

    Die Schwester, eine Mongolin mit glattem Gesicht und eckig nachgezogenen Augenbrauen, seufzte tief und schickte sich an, wenigstens den Seitenflügel zu schließen.

    Auf einmal wurde Avros Geist wunderbar klar; die Schatten der Vergangenheit wichen, und eine nie gekannte Heiterkeit hüllte ihn wohlig ein. Alle Unbestimmtheit und Besorgnis schmolzen dahin wie Butter in der heißen Pfanne.

    Jetzt wusste er, was zu tun war.

    Ohne weiter zu überlegen gab er mit der gesamten Kraft, die seine dürren Arme noch hergaben, den Reifen seines Krankenstuhls einen kräftigen Schwung; der Rollstuhl flog über die Terrasse, sauste über den Garten, über die sturmgepeitschten Kiefernwipfel, über das aufbrausende Wasser des Hafenbeckens und war Sekunden später hinter einer zuckenden Gewitterwolke verschwunden.


    3

    Eine bodenlose Nacht, aus der gleichwohl die spitzen Strahlen unzähliger Sterne schossen . . .

    Allmählich erholte sich Avro aus seinem Erstaunen und versuchte sich zu erinnern, wie lange er schon durch diese schwarze Nacht mit ihrer brausenden Stille und den Millionen und Abermillionen funkelnder Lichtpunkte flog. Seit gestern, seit einer Woche, seit einem Jahr, seit hundert Jahren? Er versuchte sich zu erinnern, doch da war nur ein unbestimmter Nebel. Unmöglich, genaues zu erkennen. Aber noch mehr überrascht war er von dem Anblick, den sein Körper jetzt bot – oder das, was noch davon noch übrig war – er blickte auf eine Art Riesen-Ei, das an den Enden grün und in der Mitte rot schimmerte.

    Jetzt traten eigenartige Erscheinungen auf.

    Da war wieder diese Klänge, die ihn an den Gesang von Kindern in einer riesigen Halle oder Kirche erinnerte, das der Arzt als Tinnitus bezeichnet hatte, nur deutlicher. Auch darüber versuchte er nachzudenken. Wer sang da? War es Engelsgesang? Erstaunt suchte er Einzelheiten zu erkennen. War er im Himmel seiner Großmutter? Die fromme Frau war überzeugt gewesen, dass es einen Himmel mit singenden Engeln gebe. Quatsch! Dass es überhaupt einen solchen Himmel gebe, daran hatte er schon als Zwölfjähriger nicht mehr geglaubt.

    Und jetzt rief auch noch eine weit hallende Stimme: „Avro, wo bleibst du denn? Ich warte!“

    Also wo war er? Und: Wer rief da?

    Jetzt verebbte der Gesang, es wurde wieder ruhig. Dafür erblickte er in anscheinend unendlicher Ferne einen winzigen Lichtpunkt, der sich aus dem Sternenhimmel löste, sich rasch vergrößerte und in atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zukam, immer größer, größer und heller wurde und schließlich irritierend nah vor ihm stehen blieb. Die Helligkeit war jetzt sehr stark; er wollte eine Hand vor die Augen legen, doch wo waren seine Hände? Wo seine Füße? Auf einmal zersprang der Lichtball, und eine über die Maßen strahlende Gestalt stand vor ihm. Ein betörender Duft ging von dieser Erscheinung aus; ein Duft, der ihn an seine erste Liebe in duftendem Heu erinnerte. Auf ihrem Gesicht lag die Anmut eines überaus zarten Wesens, aber auch ein leiser sanfter Spott. Um ihren Kopf herum ein Kranz blendender dichter Strahlen.

    „Wer bist du?“, rief Avro verblüfft.

    „Ich bin Gorgophone, Tochter der Andromeda und eine der Himmelsprinzessinnen. Ich bin bestimmt, dich zum Stern deiner Seele zu führen!“

    „Wie . . . zum Stern meiner Seele?“

    „Ja, du hast richtig gehört. Der Große Demiurg hat am Anfang der Zeit bestimmt, dass jedem Lebewesen ein Stern zugeordnet ist, in den seine Seele zurückkehrt. Da hast du Glück; nicht jedem Sterblichen wird eine Himmelsprinzessin auf dieser Reise zugeteilt.“

    Avro blickte eine Weile verdrießlich vor sich hin. Also bin ich wohl gestorben . . . Jetzt erst bemerkte er, dass er nicht fror, hier im Weltraum bei angeblich bitterkalten Temperaturen. Wo er doch in der letzten Zeit, sogar im Hochsommer, ständig gefröstelt hatte. Auch sein Rollstuhl sah ganz anders aus. Wo waren die Räder? Wo die Schwungreifen, wo die Fußstützen?

    Aus dem ehemaligen Stuhl war eine Art Kanu geworden, dessen Konturen, je genauer er hinsah, desto mehr auseinander flossen.

    „Dein Seelenfahrzeug“, erklärte Gorgophone, die Avros Gedanken erriet, „der Große Demiurg hat allen Menschen solch ein Fahrzeug bestimmt, auf denen ihre Seelen aus dem Himmelsbereich in die irdische Welt hinabfahren und nach einer gewissen Zeitspanne wieder auffahren. Manchmal sind diese Fahrzeuge Rollstühle, manchmal Rennwagen oder SUV´s, manchmal Krankenhausbetten, je nachdem, in welchem Vehikel der Mensch seine letzten Stunden verbringt.“

    „Äh –“, stotterte Avro, „heißt das, mein Rollstuhl war mein Seelenfahrzeug?“

    „Der Vorläufer davon, ja.“

    Ein großer, flammender Himmelskörper näherte sich, der von einem anderen, viel kleineren, eifrig umkreist wurde.

    „Was ist das?“, wollte Avro wissen.

    „Die Seele eines Hundes umkreist die Seele seines ehemaligen Herrchens“, erklärte die Himmelsprinzessin, „eine häufige Erscheinung unter den Sternen. Doch es sind nicht nur Hunde, auch Katzen und andere Tiere kommen vor. Manchmal sind es auch Pflanzen, beziehungsweise deren Seelen, die ihren Stern umkreisen. Zum Beispiel in den Ringen des Saturn. Die Astronomen sehen nur Gesteinsbrocken. Aber in Wirklichkeit –“

    „Sind darunter auch langstielige rote Rosen?“

    „Wie kommst du denn darauf?“, wisperte die Himmelsprinzessin verblüfft.

    „Langstielige rote Rosen habe ich meiner Frau zu jedem Hochzeitstag geschenkt. Trotzdem hat unsere Ehe nicht lange gehalten.“

    Die Himmelsprinzessin lachte ein Jungmädchenlachen. „Eine Rosenseele hat weder Stiel noch Farbe. Die Seele ist ein lichtartiger und ätherischer Körper, den alle Lebewesen besitzen.“

    „Ich wusste gar nicht, dass Pflanzen auch eine Seele haben.“

    „Warum denn nicht? Nur, im Gegensatz zum Menschen besitzen Pflanzen und Tiere keine Vernunftseele. Obwohl manche einen solchen geistigen Aspekt nicht nur dem Menschen, sondern der gesamten Natur zusprechen; auf diese Weise, behaupten sie, durchdringen sich Ideales und Reales wechselseitig.“

    Zwei riesige Sterne, die wie Kohlenglut schimmerten und sich in gehörigem Abstand langsam umkreisten, zogen vorbei.

    „Was da gerade an uns vorbei fliegt“, erklärte die Himmelsprinzessin, „sind die Seelensterne zweier Ehegatten, die sich in ewiger Liebe umkreisen. Aber auch unschöne Dinge passieren; neulich ist ein riesiger Seelenstern, nachdem er immer größer wurde, explodiert und hat den gesamten Himmel für einige Zeit taghell erleuchtet. Wahrscheinlich war´s eine Philosophenseele oder die eines Dichters, deren Geisteskraft für seinen Stern zu groß war. Zum Glück kommen solche Unfälle nur sehr selten vor.“

    Sie kamen an einem kleinen, bläulich schimmernden Stern vorbei, der in rasender Geschwindigkeit um sich selbst kreiste.

    „Ah! Der Stern einer Balletttänzerin“, rief Avro etwas voreilig.

    „Nein“, sagte Gorgophone, „der Stern eines Zahnarztes, den die Erinnerungen an auskömmliches Bohren immer noch umtreiben.“

    „Hmm“, brummte Avro und schwieg – sozusagen mit zusammengekniffenen Lippen – wenn er denn welche gehabt hätte. Er betrachtete den Sternenhimmel, hinter dem sich anscheinend noch ein zweites Universum verbarg. Die sonderbarsten Lichtgestalten sah er da: Schlangenförmige Wesen mit mehreren Köpfen, krakenähnliche Gebilde mit ein, zwei, drei, vier Armen; gewaltige Haufen leuchtender Punkte, die sich gegenseitig zu durchdringen schienen, nebelartige, ovale Figuren, kosmische Setzeier mit dunklen Rändern und großen gelben „Augen“, einzelne Riesensterne, aber auch dunkelrot schimmernde Zwerge; dunkle, schwach leuchtende Schatten, Elefantenrüssel und andere Tierformen aus dunklem Staub.

    „Alle diese Sterne dort beherbergen eine Seele“, murmelte er. Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Doch die Prinzessin nahm sie als solche wahr.

    „Nicht alle“, sagte sie, „es müssen ja noch Sterne für zukünftige Generationen da sein.“

    „Ha!“ Avro lachte schwach. „Wenn ich an den Zustand der Erde zurückdenke, glaube ich nicht, dass es noch sehr viele Seelensterne braucht.“

    „Wer redet denn noch von der Erde!“, rief die Prinzessin mit einer entzückenden Unmutsfalte auf ihrer ansonsten strahlend glatten Stirn. „Das Universum ist bevölkert mit Milliarden und Abermilliarden beseelter Wesen. Und sie alle haben ihren Stern. Und es werden immer mehr. Das ist überhaupt der Grund, warum es sich das All immer weiter ausdehnt und die Astronomen an kein Ende kommen.“

    „Und warum haben unsere Astronomen dergleichen Wesen noch nie entdeckt, obwohl riesige Teleskope den Himmel seit Jahrzehnten Tag und Nacht belauschen?“

    „Weil sie mit den falschen Mitteln suchen. Sie suchen mit Radio-, Röntgen-, Infrarot und was weiß ich für Strahlen, aber mit diesen Mitteln der Physik werden sie nie eine kosmische Seele entdecken.“

    „Was müssten die Astronomen also tun?“

    „Das fragst du, Avro Prät, obwohl du es genau weißt?“

    „Ich?“

    „Ja du!“

    „Ich wüsste nicht –“

    „Blicke dich um!“

    Avro blickte sich um. Er sah den mit Sternen übersäten Himmel, sah die unendliche Tiefe des Alls mit seinen Milliarden Lichtgestalten –

    „Ja natürlich!“, rief er, „wie konnte ich es nur vergessen! Diese ganze kosmische Herrlichkeit, geschaffen nur für die unwürdigen Bewohner eines einzigen Planeten – höchst unwahrscheinlich!“ Er schwieg und überlegte eine Weile, ob er diesen Gedanken nicht weiter ausspinnen sollte. Doch er wurde gestört.

    Denn da war wieder diese seltsame Musik, die ihn davon abbrachte; ein fremdartiges An- und Abschwellen von Klängen, ohne Form und feste Gestalt, ohne besondere Höhen und Tiefen. Auch konnte er keine Harmoniefolgen erkennen, weder thematische Entwicklung noch irgend eine andere musikalische Gesetzmäßigkeit, etwa einen deutlichen Kontrapunkt; der Strom der Töne floss mehr oder weniger gleichmäßig dahin –, obwohl, wie jetzt gerade, ein Klanggebilde ab und zu den Eindruck eines köstlichen Akkordes erweckte, und Tausend Engelsstimmen erfüllten daraufhin den Weltraum.

    Nach einer Weile fragte er: „Was ist mit mir? Wo sind meine Arme, wo meine Beine? Wo Nase, Ohren und so weiter? Warum kann ich mich nicht mehr bewegen? Und überhaupt . . . warum höre ich und sehe, obwohl ich keine Ohren und Augen mehr habe? Warum fühle ich, obwohl . . . äh . . . ich anscheinend gestorben bin?“

    Forts folgt

    Hallo Tariq, vielen Dank für deinen Spoiler.

    Da will ich nicht um das eine oder andere Adjektiv feilschen. Mein Ansatz war, einen sprachlich dichten und bildreichen Text zu verfassen, der dem Inhalt entspricht. A. P. begibt sich in eine Welt, in der u. a. das persönliche Zeitempfinden keine Rolle mehr spielt. An dieser Entschleunigung, dachte ich mir, könnte doch in einer Zeit, in der niemand Zeit hat, der eine oder die andere Lesende gefallen finden. Warten wir´s ab, die Geschichte fängt ja erst an. Dass du das Thema spannend findest, freut mich, und ich verspreche, auch weiterhin für reichlich Spannung und reichlich Kopfkino zu sorgen. Nur ist der Film schon fertig und muss nicht noch erst entwickelt werden.

    Die Durchnummerierung hat folgenden Sinn: Mit jedem Kapitel entfernt sich A. P. mehr von dem Dasein, das er bisher gewohnt war - und das wir auch gewohnt sind - , um dann im 9. am überraschenden Ziel seiner Himmelfahrt anzukommen. Mehr will ich nicht verraten . . .

    Das PQP wäre sicherlich grammatikalisch richtig.

    1

    Avro Prät saß auf der Terrasse und blickte verträumt ins Weite. Eine starke Abendsonne rötete das bleiche Gesicht des alten Mannes, seinen struppigen Bart, seine mürrische Miene, die grauen verlassenen Augen, die trotz ihres Alters noch voller Klarheit waren. Das Buch, in dem er gelesen hatte, entglitt seinen Händen . . . Er neigte den Kopf zur Seite und begann, mit offenen Augen leise zu schnarchen.

    Über dem Garten, in geradezu brutalem Kontrast zum sanftroten Abendhimmel, lag das zackige Kronengewirr der alten knorrigen Kiefern des Stadtparks; ihre Nadeln, dick mit Wachs überzogen und von Sonne übersättigt, blitzten wie winzige Schwerter. Darunter, wie in erstarrter Verzweiflung ringend, das krumme sturmgeformte Geäst, schlangengleich und rötlich übermalt.

    Weiter hinten, am dunstigen Horizont, baute sich gerade eine Gewitterfront auf.

    Der raue Schrei einer Krähe, die ihn von hoher Baumwarte beäugte, weckte ihn aus seinem Schlummer. Er blickte auf den Garten mit seiner schwellenden Blütenpracht. Duftende Philadelphien, weiße Gartenhibisken, großblütige Hortensien und viel farbenfrohes Geblüm.

    Und da war wieder diese Musik, die er schon seit einiger Zeit, vornehmlich in den Abendstunden, vernahm. Sie stammte weder aus irgend einem Radio, noch aus dem Fernseher, noch vom Marktplatz – sie war einfach da, in seinem Kopf – mal lauter, mal leiser, wie aus weiter Ferne.

    „Ein Tinnitus!“, sagte der HNO-Arzt näselnd, „in Ihrem Alter muss man damit rechnen. Können Sie nachts schlafen?“

    Avro konnte nachts gut schlafen, und er wusste jetzt auch, dass es keine Phantomklänge waren, die er da hörte, sondern Himmelsmusik.

    Er hielt die Hand vor die Augen und blickte zur Sonne, ohne sie direkt anzusehen. „Irgendetwas stimmt mit ihr nicht“, murmelte er, „schon halb acht, und immer noch hoch am Himmel!“ Er schüttelte den Kopf. „Sollte sie das Untergehen verlernt haben? Wie war´s denn gestern?“ Er versuchte, sich zu erinnern, doch da war nur blendende Helligkeit.

    Inzwischen war die Gewitterfront näher gerückt. Dunkelgraue Wolkenkissen mit gleißend weißen Rändern entstanden und verschwanden wieder. Darüber lag immer noch, als ginge ihn das alles nichts an, der blendend blaue Hochsommerhimmel.

    Ein kalter Windhauch, Vorbote des Gewitters, fuhr durch den Garten und wehte den Duft seiner Lieblingsrose heran. Avro schob die Nase vor und sog den Duft mit weiten Nüstern gierig ein wie seine Kehle einen köstlich kühlen Wein. Es war ein sanfter, milder, leiser Rosenduft, und man musste schon eine sehr gute Nase haben, um ihn aus den anderen Düften des Gartens heraus zu riechen. Wie auch diese Rose eine ganz besondere war: Beim Aufblühen bildete sich im Zentrum der Blüte eine Stelle, die an reines helles Gold erinnerte, während der Rest noch in unbestimmter Farbigkeit lag. Allmählich vergrößerte sich der Fleck und erglühte wie flüssiges Kupfer, dessen Strahlkraft jetzt auch die anderen Blütenblätter erfasste und sie in ein strahlendes Gelb verwandelte; für ein, zwei Tage war der Strauch eine geradezu überirdische Schönheit, ein Wunder an Leuchtkraft, dessen Leuchten noch bis in die späte Dämmerung hinein das Auge entzückte.

    Doch seltsam. Obwohl der Wind jetzt stark wehte und sich die anderem Sträucher im Garten bogen – dieser Srauch bewegte sich nicht. Er stand da wie eine Fata Morgana über der Wüste. Was er schon immer vermutet hatte, jetzt empfand er Gewissheit: Dieser Rosenstrauch war eine Lichterscheinung aus einer anderen Welt.

    2

    Avro Prät fühlte sich nach hinten gezogen. „Herr Prät“, sagte eine weibliche Stimme, „das Gewitter bricht gleich los.“ In der Tat; am bleigrauen Himmel kämpften ungeheure Titanen mit feurigen Schwertern einen geräuschlosen Kampf. „Es wäre gut, wenn Sie zurück ins Zimmer kämen und wir die Türen schließen könnten.“

    Avro erfasste ein schlimmer Verdacht. War das nicht die Stimme seiner Frau?

    „Violetta, du hier?“, rief er verwirrt.

    „Bitte, kommen Sie ins Zimmer zurück!“, sagte die Stimme.

    „Was in meiner Wohnung gut ist, entscheide immer noch ich!“, rief er aufgebracht. Seine gichtigen Finger verkrampften sich in den Greifreifen des Rollstuhls. „Lass gefälligst den Rollstuhl los!“

    „Herr Prät, seinen Sie doch vernünftig!“

    „Ich will aber nicht vernünftig sein!“, keifte er.

    Die Schwester, eine Mongolin mit eckig nachgezogenen Augenbrauen, seufzte tief und schickte sich an, wenigstens den Seitenflügel zu schließen.

    Auf einmal wurde Avros Geist wunderbar klar; die Schatten der Vergangenheit wichen, und eine nie gekannte Heiterkeit hüllte ihn wohlig ein. Alle Unbestimmtheit und Besorgnis schmolzen dahin wie Butter in der heißen Pfanne. Jetzt wusste er, was zu tun war. Ohne weiter zu überlegen gab er mit der gesamten Kraft, die seine dürren Arme noch hergaben, den Reifen seines Krankenstuhls einen kräftigen Schwung; der Rollstuhl flog über die Terrasse, sauste über den Garten, über die sturmgepeitschten Kiefernwipfel, über das aufbrausende Wasser des Hafenbeckens und war Sekunden später hinter einer zuckenden Gewitterwolke verschwunden.


    Forts. folgt

    Hallo Der Wanderer,

    vielen Dank für deine anerkennenden Worte. Ich habe nur in Verse gesetzt, was man in jedem Geschichtsbuch lesen kann. Ich bin ganz in die antike Welt eingetaucht und schrieb die Bilder auf, die ich dabei sah. Es war, als habe mir Erato persönlich die Feder geführt, und eine seltsame Heiterkeit ergriff mich. Ich hoffe, dass man dem Gedicht diese Heiterkeit anmerkt und manch üble Nachricht für einen Moment vergessen lässt.

    Liebe Grüße

    McFee

    "Nehmt die Feder in die Hand und dichtet wie einst Goethe und Schiller."

    Ich habe es versucht . . .


    „Nie werd ich die Nacht vergessen“,

    schwärmte Salomé die Schöne

    wie von schwerem Rausch besessen.

    Von der Burg Posaunentöne.


    Sagte da des Kaisers Enkel

    Gaius, den sie Caesar nennen:

    „War doch alles nur Geplänkel,

    jetzt lern Rom mal richtig kennen!“


    Vor des Caesars goldnem Wagen,

    Viergespann mit feur´gen Rappen,

    Sklaven Palmenwedel tragen.

    Lobgesang betresster Knappen.


    An des Hügels sanften Hängen,

    des Aspicius´ Gebäude.

    Marmorglanz mit Harfenklängen,

    Kraftgesang gelebter Freude.


    Eilt herbei, der reiche Prasser:

    „Ave Caesar, lass dich grüßen!“

    Blanke Glatze, wie ein Fass er:

    „Salomé, zu deinen Füßen!“


    Auf dem Rasen, unter Pinien,

    schwer bewacht von schwarzen Hünen:

    Roter Glanz der Feuerlilien,

    nackter Tanz auf hohen Bühnen.


    Und der Tische Köstlichkeiten!

    Muscheln, Austern, Weinbergschnecken,

    die dem Gaumen Lust bereiten

    und der Schlemmer Gier erwecken.


    Hase, Rebhuhn, wilde Schweine,

    von der Bärenzung´ Oblaten,

    Vögel, Frösche, große, kleine,

    Igelfisch- und Gänsebraten.


    Aus Ägypten süße Weine,

    aus dem Norden Honigtränke.

    Nur das Beste, Edle, Reine.

    Nichts kommt aus der nächsten Schänke.


    Trunken sind die ersten Gäste.

    „Sklave! Federchen des Pfauen!“

    Opfern ungeniert das Beste,

    unter dem Gekreisch der Frauen.


    Pauken dröhnen, Flöten schrillen,

    seht die Schar der Gladiatoren!

    Tod-Verachtung, Siegeswillen,

    jetzt zum Kampfe auserkoren.


    „Zehnkampf gibt´s, des Hausherrn Wille,

    zum Ergötz des jungen Caesar!“

    schreit der Rufer in die Stille.

    Frisch geharkt ist die Arena.


    Wollust hinter Myrtenhecken,

    schriller Schrei für taube Ohren,

    Lex verzehrt die letzten Schnecken.

    Wutgeheul der Gladiatoren.


    Parther, Syrer, auch Germanen,

    dreist erschachert mit Sesterzen

    – Alte, Junge, Veteranen –

    zur Erbauung kalter Herzen.


    Schon sind etliche zuschanden,

    wälzen sich auf blut´gem Boden.

    Nur noch zweie stehn in Banden,

    stolz das kühne Haupt erhoben.


    Beifallssturm und lautes Johlen –

    niemand will des Kampfes Ende.

    Salomé, ganz unverhohlen,

    wirft vors Antlitz ihre Hände.


    „Caesar“, schluchzt sie, „lass es enden!

    Siehst du nicht des Bluts Geträufel?

    Blut´ges Fleisch, zerstoch´ne Lenden!

    Sei ein Mensch, und sei kein Teufel!


    Lass die Zweie doch am Leben,

    Charon hat schon acht bekommen!

    Was soll denn der Kampf noch geben?

    Bin von Grauen ganz benommen.“


    Schon erhebt sich böses Murren.

    Blutleer sind des Caesars Wangen.

    „Ach, Prinzessin, wie sie knurren.

    Volk von Rom! Ich hör´s mit Bangen.


    Soll ich fremde Bäuche füttern?

    Nur mit Härte kann ich siegen.

    Härte wird das Volk erschüttern

    und mir dann zu Füßen liegen.“


    „Drehst den Daumen du nach oben

    schonst du beider Sklaven Leben!

    Mancher Fechter wird dich loben

    dir die Hand zum Treueid geben.


    Tausend ist die Zahl der Fechter,

    die durch Romas Straßen wanken.

    Zeige Großmut, sei Gerechter!

    Einstmals werden sie´s dir danken.“


    „Dir, Geliebte, will ich dienen,

    lege mich zu deinen Füßen.

    Sei´s! Das Leben schenk ich ihnen.

    Soll ihr Lob die Nacht versüßen.


    Hör, Sejanus, Gardewächter!

    Nimm sie auf in meine Truppe,

    Stör dich nicht an Hohngelächter,

    Zierde meiner Fechtergruppe.“


    Salomé, im Griechenflore,

    weit entfernt von Schwert und Lanzen

    doch ganz nah an Gaius Ohre:

    „nur für dich will ich heut tanzen.“

    Grendelbert freute sich sehr über die Hilfe. Man-Úan aber war sehr zornig!

    Ich würde die Erzählung hier auslaufen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kleinen den erzählerischen salto mortale, der jetzt folgt, verstehen. Außerdem ist er mE überflüssig. Das Paradoxon "Guter Bösewicht" wurde doch in kindgerechter Weise mehrfach vorgetragen. "Man-Úan aber war sehr zornig" ist doch schon fast ein guter Schluss.

    Kommt her, ihr lieben Leute, alte und auch junge,

    hab neue, wundersame Mär –

    mein Affe hier gibt euch Gewähr –

    und hört ein seltsam Lied von dieses Sängers Zunge.

    Ein Ritter kühn, der alten Sippe ganzer Stolz,

    verlor einst seine dritten Zähne,

    – ich schäm´ mich fast, dass ich´s erwähne –

    denn das Gebiss, ja das Gebiss – es war aus Holz.

    Aus edlem, festen Span und reichlich dickem Kleister,

    mit Fäden fein zum festen Biss,

    bemalt mit guter Farb´, gewiss,

    er ließ es fertigen bei einem hochberühmten Meister.

    Wie kam´s? Es war des Ritters schnödes Missgeschick

    und nicht des Alters Räuberhände,

    dass seine Zunge Leere fände.

    Und dann – ach, ach! Hier die Ereignisse auf einen Blick:

    Auf einem Ritterfest geschah´s im großen Köln am Rhein:

    Das Ross sprang hoch, jedoch zu kürzlich,

    und machte drum den Ritter stürzlich.

    Der Sand, der Sand war weich, doch nicht der ekle Stein.

    Da lag er nun, der Rittersmann, im Kreise seiner Zähne,

    der Helm zerbeult, der Mund zerbläut,

    im Zwölfuhrmittags Kirchgeläut,

    und helles Blut entquoll wie eines Feuerengels Strähne.

    Ihr sagt: Ein Ritter, dreist und wild in tollen Schlachten,

    der beißt doch nicht, er haut und sticht,

    so hat ein Zahn doch kein Gewicht,

    wer, Teufel, sagt ihr Leut´, würd´ ihn darum verachten?

    Doch ach, ihr Leut, denkt ihr denn gar nicht an die Minne?

    An´s Stelldichein auf grüner Au,

    am Bach mit einer schönen Frau?

    Des Ritters Sinn: Dass er der Liebsten Herz gewinne?

    Nun muss nicht jeder, weder tags noch in der Nacht,

    will er ´ne holde Herrin wählen,

    von heißer Lieb und Treu erzählen,

    Doch lachen sollt´ er können. Herzhaft, mit Bedacht.

    Er tut´s. Doch ach! Sie sieht in seines Mundes Gähne

    und senkt verstört die holden Lider.

    Sie denkt bei sich: Mit dem? Nie wieder!

    Aus ihrem Augenpaar tropft nicht die kleinste Träne.

    Doch unbesiegbar ist des Ritters kühner Stolz,

    wenn auch sein Blut zu Eis geronnen.

    Zu herrlich sind der Minne Wonnen.

    Gebiss, Gebiss, ruft er, und sei es auch aus Holz! –

    Nun hält er´s in der Hand, das seltene Gebilde,

    er legt´ es an, sich zu gewöhnen –

    soll´n ihn die Brüder doch verhöhnen!

    Will reiten schnell zu seiner Braut in spe Mathilde.

    Sein frohes Herz erfasst erneute Liebesglut.

    Herbei ruft er den feschen Knappen:

    Du Striegle mir den schnellsten Rappen!

    Was lange währt, denkt er, wird endlich, endlich gut.

    Geschwind jagt er dahin durch Wald und rote Heide,

    durch Fluss und Tal und schwarzes Moor,

    Schon steht Mathild´ am hohen Tor,

    ihr gold´nes Haar erglänzt wie köstliches Geschmeide.

    Er springt vom Pferd: He Knapp´, versorg´ das edle Ross!,

    die hohe Sinn voll Minnefieber.

    Sie sieht in an – o du mein Lieber!,

    der Blicke Glut: Verwundert sieht´s der Knappen Tross.

    Sie löst vom goldnen Haar das Jungfernkranz-Gewinde.

    Mein Herz, ruft sie, wie froh es ist!

    Ich weiß, in angemess´ner Frist

    bescherst du mir, mein Lieb, das bunte Braut-Gebinde.

    Am Linden-Brunnen lassen sich die beiden nieder.

    Des Lautenschlägers heit´res Spiel

    erspart dem Ritter Worte viel.

    Ein Gaukler eilt herbei, sein Kleid wie Pfau-Gefieder.

    Mathilde sieht´s und klatscht vergnüglich in die Hände.

    Der arme Ritter lacht befreit –

    und sein Gebiss, es fliegt so weit –

    vergaß er doch die allzu zarten Halte-Bände.

    Er ritt dann nach Jerusalem, ins heilige Land,

    wo er mit wenig echten Zähnen

    bei fürchterlichen Sarazenen

    in schwerem Kampfgewühl die ewige Ruhe fand.

    Das Lied ist aus. Spart nicht mit euren milden Gaben.

    Der Sänger schweigt und wirft den Hut,

    und, liebe Leute, füllt ihn gut.

    Der schwere Krug steht schon bereit, der ihn wird laben.

    Der halbierte Ritter

    Eine unglaubliche Geschichte in Versen


    Ein Ritter aus uraltem Stammes-Adel

    (solch einem sucht man wie im Heu die Nadel)

    ein Recke, kühn und fest wie schwere Eiche,

    berühmt für seinen Mut im ganzen Reiche.

    Mit Harnisch, Schienen und des Halses Berge,

    überragt er all´, als wären´s winz´ge Zwerge,

    sein stolzes Ross mit Feuer sprüh´den Nüstern

    stets fest, sollt auch die Nacht den Tag verdüstern –

    ritt einst als Kaisers Knappe gegen Osten

    (wie´s damals üblich war auf eigne Kosten),

    ins ferne Land der wütenden Tataren

    die Christenheit vor Unheil zu bewahren.

    Mit hohem Mut macht er sich auf zum Kampfe.

    Von Weitem schon vernahm er Kriegsgestampfe,

    auch Todesschrei und eh´rner Schwerter Klänge,

    Trompetenschall und wüste Kraftgesänge –

    da traf ein Hieb ihn, teuflisch, ganz von hinten,

    der Schwertstreich eines Ritters voller Finten,

    der teilte ihn, bei allen frommen Seelen!,

    vom Kopf hinab bis zu den Kronjuwelen.

    Man fragt sich nun, trotz allem Kriegsgetöse:

    Wo ist die gute Hälfte, wo die böse?

    Denn jeder Mensch hat gut´ und böse Seiten,

    das kann sogar ein Heil´ger nicht bestreiten.

    Wird nicht die linke Hälft´ schnell zum Verräter,

    wie oft bezeugt in Kämpfen unsrer Väter?

    Kann man in Kampfesnot noch auf sie hoffen?

    So fragt man sich und steht und schweigt betroffen.

    Die rechte Seit´: von Alters her die gute,

    das rechte Herz erfüllt von kühnem Mute.

    Doch Kettenhemd und Harnisch sind zerhauen

    das Pferd halbiert. Worauf kann sie noch bauen,

    wo doch die linke krampft um Schild und Zügel,

    auch sitzt an Pferdes Steige nur ein Bügel.

    Doch Ross und Reiter haben noch zwei Augen,

    mit etwas Umsicht wird´s zum Kampf noch taugen.

    Da fängt die böse Hälfte an zu röhren:

    Du wolltest mich mit deiner Art betören!

    Hab unter dir nun lang genug gelitten,

    die Nase voll von deinen guten Sitten!

    Bin endlich frei mit allen meinen Trieben,

    kann endlich mich und immer mich nur lieben.

    Will jetzt verraten, stechen, um mich hauen!

    Die gute Hälfte hörte es mit Grauen.

    Ein Tosen, rau, wie mächt´ger Löwen Brüllen

    braust an, die beiden Hälften einzuhüllen,

    ein Haufe blutverschmierter Sarazenen

    beginnt, die beiden Hälften zu verhöhnen,

    die Bogen lang, die Spitzen scharf geschliffen.

    Und eh sie die Gefahr noch kaum begriffen:

    ein Krieger, frech, zielt auf die gute Seite –

    doch mangels Körper fliegt der Pfeil ins Weite.

    Der nächste Schuss zielt auf der bösen Stirne,

    doch wo ein Schädel war, ist kaum noch Hirne.

    Auch hier reicht schon ne winzig kleine Wende,

    der Pfeil verfehlt und landet im Gelände.

    Die Krieger sehn´s mit überquelln´dem Staunen,

    die Kehlen voller angsterfülltem Raunen:

    Der Kerl, der Christenhund, er kann wohl zaubern,

    drum lasst uns fliehen, schnell und ohne zaudern.

    Da spricht ein Hüne, hoch wie Tannenspitzen:

    Ihr Memmen all´, nun bleibt gefälligst sitzen!

    Es ist der Christengott, der lehrt sie wehren,

    ich gehe hin und lasse mich bekehren.

    Doch auch die böse Hälfte musste leiden,

    so manche Wunde schlugen ihr die Heiden

    mit Hieb und Stich und mörderischen Streichen.

    Und rundherum vermehrten sich die Leichen.

    Was nützt ein Schwert ohn Schild, wen´s gilt zu streiten?

    Was nützt eine halbes Ross, das nicht zu reiten?

    Was nützt ein Helm, zerbeult von tausend Hieben?

    Da fällt es schwer, das Vaterland zu lieben.

    Die gute Seit sowohl als auch die böse –

    zum Himmel stieg vermehrtes Schlachtgetöse –

    beschlossen nun, sich wieder zu vereinen,

    anstatt geschlag´ne Wunden zu beweinen.

    O heil´ger Gesorg, höre unser Flehen!,

    – die gute Seit´!, – Wir können kaum noch stehen!

    Auch sankt Andreas, Helfer von Burgunden!

    Erbarmt euch schnell und heilet unsre Wunden.

    Und schicke uns – die böse!, – doch den Drachen,

    der niemals schläft, mit Feuer spein´dem Rachen,

    das Heil´ge Vlies, des Gold´nen Schafs Gehäute

    des Jason und der Argonauten Beute,

    das Fell, das Wunder wirkt in allen Teilen,

    das Wunden heilt, die sonst kein Arzt kann heilen! –

    Der Drache schwebt, das gold´ne Fell in Krallen,

    herbei und lässt es auf die Hälften fallen.

    Und Mann und Pferd, sie wachsen jetzt zusammen,

    verwundert sehn´s der Sarazenen Mannen.

    Ein Ende nimmt das Kämpfen und das Rauben,

    zu wunderbar erscheint der Christenglauben.

    Und schon beginnt ein Hasten und ein Laufen,

    in Scharen lassen sich die Heiden taufen.

    Und Frieden ziert Jerusalemens Gassen.

    Der Kaiser staunt und kann es gar nicht fassen.

    Hallo Tarik,

    hallo Der Wanderer,

    dass euch die Geschichte gefallen hat freut mich. Die beiden "Uppser" sind schon korrigiert. Vielen Dank für euer Feedback.

    LG

    Plötzlich waren sie da. Ich versuchte, sie zu zählen – vier, fünf, sechs – weiter kam ich nicht. Anscheinend hatte ich das Zählen verlernt. Jetzt begannen die Wölfe, mich zu umkreisen, langsam, bedächtig, ohne Hast. Das stärkste Tier, wohl der Rudelführer, das Alphatier, mit struppigem Fell, sah mich mit eisgrauen Augen an. Doch sein Blick war nicht etwa grausam oder blutdürstig. Der Blick war eher ernst, kalt, fast gelangweilt. In ihm lagen die haushohe Überlegenheit des Wolfs gegenüber dem unbewaffneten Menschen sowie Millionen Jahre Kampferfahrung.

    Ich wusste sofort: Dies konnte kein Traum sein, dazu war die Situation zu realistisch. Ich roch sogar diesen Geruch, diesen herben, strengen Raubtiergeruch, wie ich ihn im Zoo vor dem Wolfsgehege gerochen hatte, hörte dieses gefährliche rrrr – rrrr. Wie damals nistete sich auch jetzt wieder Übelkeit in meiner Magengegend ein. Und doch, irgendwie roch es jetzt anders – nicht so tierisch, aber doch über die Maßen abstoßend.

    Seltsamerweise bewegte mich die Frage, wie ich in diese unbekannte Gegend gelangt war, jetzt fast genauso wie die Anwesenheit der Wölfe. Ich konnte mich nicht erinnern, eine Waldwanderung vorgehabt zu haben, noch dazu an einem Wochentag, an einem Arbeitstag ... War nicht heute Montag?

    Die Tiere trabten jetzt schneller, der Kreis wurde enger. Nur nicht die Nerven verlieren, dachte ich, wenn ich jetzt losrenne, fallen sie über mich her. Irgendwo hatte ich gelesen, dass man schreien soll, wenn einem Elefanten zu nahe kommen. Anscheinend mögen Tiere Menschengeschrei nicht. Also schrie ich. Aber ich hörte nichts. Alles blieb stumm. Wenn etwas schrie, dann war es die Stille, die schrie. Also hatte ich auch das Schreien verlernt. Verzweifelt griff ich mir an die Kehle ...

    Der Leitwolf, das riesige Tier, sprang auf mich zu und riss den Rachen auf, Fangzähne blitzten. Ich blickte entsetzt in das furchtbare Raubtiergebiss und roch den stinkenden Atem ...

    Auf einmal waren die Tiere verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Ich war wieder allein. Und das Sonderbare: Ich wunderte sich noch nicht einmal.

    Dafür beunruhigte mich jetzt ein seltsames Geräusch. Es kam von weit her, doch ich vernahm es ganz deutlich. Es klang, als werfe jemand trockene Erbsen auf den Boden. Oder war´s das Geknatter von Gewehren, das Rasseln von Panzerketten? Bestürzt dachte ich: Jetzt ist also auch bei uns Krieg ... Ich wollte aufstehen und wegrennen. Aber auch das ging nicht. Meine Füße steckten in zähem Morast fest. Das Geräusch war jetzt ganz nah ... Eine panische Angst ergriff mich. Ich bekam keine Luft mehr; mir war, als müsse ich ersticken ...

    Ein krachender Donner ließ mich hochfahren. Das knisternde Geräusch war jetzt genau über mir. Ich benötigte eine ganze Weile, um festzustellen, dass ich auf dem Sofa lag, und dass es keine knatternden Gewehre oder rasselnden Panzerketten waren, die da dröhnten, sondern dicke Hagelkörner, die hart auf das Dachfenster trommelten. Doch woher kam dieser Nebel, und dann dieser ekelhafte Gestank? Plötzlich war ich hellwach. Die Erbsensuppe! Ich sprang auf und lief in die Küche. Die Suppe war gerade dabei, sich in eine schwarz-braune Masse zu verwandeln, und schwarzer Qualm schwebte über dem Herd.

    Hallo Mephistoria,

    ich habe mir erlaubt, deinen Text ein wenig zu durchforsten. Hast du niemanden, der deine Texte gegenliest? Die vielen Fehler verderben die Produkte deiner lebhaften Fantasie.

    LG

    McFee



    Hallo Jufington,

    vielen Dank für dein Feedback.

    Ich habe einiges kurz gehalten, die Geschichte sollte nicht zu lang werden. Außerdem ist die "Sitzung" nach dem Fingerbiss zuende, der Knabe gilt danach als hoffnungsloser Fall.

    „Geh jetzt! Wenn du zu spät kommst, sperren sie dir den Freigang!“

    Daraus wird deutlich, dass die Mutter eine Gefängnisstrafe absitzt und ihren Sohn bei der Tante untergebtacht hat.

    Natürlich, Perfomance passt auch inhaltlich nicht. Séance oder spiritistische Sitzung wäre besser.

    1

    Der Junge lag mit offenen Augen im Bett und starrte an die Decke, an der sich die Lichtraute der Hoflampe abzeichnete. Er war ein ernster blasser Knabe mit stillen traurigen Augen und zu klein für sein Alter; er fürchtete sich vor dem großen Bett mit den gedrechselten Beinen und den wirren Schnitzereien, in dem er sich verloren vorkam. Er schloss die Augen und begann zu weinen. Er konnte nicht verstehen, warum ihn die Mutter nicht mehr liebte und zur Tante gebracht hatte. Vor der Tante hatte er noch mehr Angst als vor dem schwarzen Bett; das Bett war unheimlich, aber es tat ihm nichts, doch er wusste, irgendwann würde ihm die Tante etwas antun, denn die Augen der Tante waren böse, hart und abweisend. Der Onkel ... Der hatte große traurige Augen, noch trauriger als seine, aber die Tante ließ ihn nicht zu ihm.

    In die Tränen hinein versuchte er sich zu erinnern. Irgendwann in seinem jungen Leben war etwas geschehen, das er sich nicht erklären konnte. Er erinnerter sich noch, dass die Mutter ihn eines Tages heftig umarmt und dabei entsetzlich geweint hatte. Dann hatte sie ihn zur Tante gebracht. Seitdem war er nicht mehr froh gewesen. Warum nahm sie ihn nicht mehr in den Arm, warum gab sie ihm keinen Gutenacht-Kuss mehr? Was war das für eine große fremde Stadt, in die sie immer fuhr, und in der sie so viel lernen musste? Und warum holte sie ihn nicht wieder nachhause und von der Tante und dem ständig hustenden Onkel weg?

    Doch es fiel im keine Antwort ein.

    Wieder erklang das entsetzlich röchelnde Husten des Onkels, der nebenan im Bett lag, todkrank, wie die Tante sagte. Es hörte sich schrecklich an, besonders, wenn der Onkel geräuschvoll abhustete, bevor er ausspuckte ...

    Das Rechteck in der Tür wurde hell. Er wartete, und ein Zittern erfasste seinen dürren Körper. Würde die Tante jetzt hereinkommen? Der Ausschnitt in der Tür wurde wieder dunkel, und er atmete erleichtert auf.

    Als er genug geweint hatte, begann er zu träumen. Ja, ein Riese sein ... Einer von diesen sagenhaften kirchturmhohen Geschöpfen, von denen ihm die Großmutter früher erzählt hatte, wenn sie an seinem Bettchen saß ... Doch auch die Großmutter besuchte ihn nicht mehr, war sie vielleicht gestorben? Er hatte die Tante gefragt, doch die hatte nur gesagt: „Halt den Mund!“

    Ja, er wollte ein Riese sein, wollte in dieser fantastischen Welt leben, in dieser Riesenwelt, in keiner anderen. „Oh, wäre ich doch auch so groß!“, seufzte er mit seiner kleinen dünnen Stimme, „oder auch nur halb –“ Ein Weile starrt er wieder an die Zimmerdecke mit der Lichterscheinung.

    Wie gerne hätte er solch einen Riesen zum Freund gehabt! Nein, nicht einen dieser wütenden Ungeheuer, die Bäume ausreißen und Menschen und Tiere erschrecken ... Es sollte ein sanfter, freundlicher Riese sein, der sich zu ihm, dem Däumling, wie ihn die Großmutter scherzhaft nannte, herunterbeugt, ihn hoch nimmt und die große weite Welt zeigt ... Ja, Freunde! Freunde besaß er gar keine mehr. Die Tante hatte ihm den Umgang mit anderen Kindern verboten, warum wusste er nicht. Aber so ein Riese ... Ha! Der würde sich von der Tante nicht einschüchtern lassen! Und er würde ihm sicherlich ein Tischlein-Deck-Dich bereiten und nicht immer nur Haferbrei geben wie die Tante, tagaus, tagein, immer nur diesen langweiligen Haferbrei. Vielleicht kannte der Riese ja auch das Geheimnis, wie man sich unsichtbar machen konnte ...

    Diese unheimliche Stelle unten an seinem Rücken schmerzte, und er drehte sich auf die Seite.

    Das Licht hinter der Glasscheibe in der Tür ging an, aber es ging nicht wieder aus. Er hörte die schweren Schritte der Tante die Treppe hoch stapfen, ein Schatten näherte sich der Tür und wurde schnell größer. Die Tür ging auf, die Tante trat ein, machte Licht, und er musste blinzeln. „Aufstehen!“, befahl sie, „es ist so weit!“


    2

    Die Tante hatte einen Schirm aufgespannt, aber nur für sich, er musste im Regen gehen. Als sie an dem Haus, einem schmucklosen Gebäude mit hohen, schmalen Fenstern, ankamen, war er tropfnass. Die Tante schloss die Tür auf, sie traten ein. Sie führte ihn in einen kleinen Raum und befahl: „Ausziehen!“ dann ging sie weg. Es war kalt, und er fror. Als sie wiederkam und sah, dass er immer noch nicht fertig war, riss sie ihm schimpfend die restlichen Kleider vom Leib. Dann ergriff sie fest seine Hand und zerrte ihn mehr als dass sie ihn führte in einen anderen Raum, der war groß und voller schwarz gekleideter Leute. Sie saßen im Halbkreis um eine schräge Kiste herum, über dem ein schwarzes Tuch hing. Auch die Wände des Saales, vor denen dicke hohe brennende Kerzen mit seltsamen Zeichen standen, waren mit schwarzen Tüchern verhüllt. Er musste sich vor die Kiste stellen, mit dem Rücken zu den Leuten, und die Tante befahl: „Rühr dich nicht von der Stelle!“ Dann setzte sie sich vor den Halbkreis.

    Im Raum war es jetzt absolut ruhig; nur ab und zu knisterte eine der Kerzen kurz auf. In dem flackernden Schein, der den großen Raum in eine erhellte Dunkelheit tauchte, erschien der schmale weiße Körper des Knaben wie ein zuckendes Bündel Nichts. Er begann wieder zu zittern, doch nicht nur vor Kälte, sondern vor Scham, denn er fühlte schamlose Blicke auf seinen Rücken gerichtet wie Nadelstiche. Obwohl er es nicht sehen konnte, wusste er genau, wohin die Blicke gingen; sie gingen auf die schmerzende Stelle unten an seinem Rücken, auf dieses kleine, kurze, stielartige Gebilde, das die Tante Teufelsschwanz nannte.

    Auf einmal erklang ein seltsamer, unheimlicher Gesang; es war eigentlich kein richtiges Singen, sondern eher ein monotoner Singsang wie aus unbekannten Höhlenwelten, vorgetragen von hohen Männerstimmen. Zwei der schwarz gekleideten Gestalten traten hervor, fassten ihn an Armen und Beinen und legten ihn mit dem Bauch auf den Katafalk. Der Gesang würde jetzt lauter, die Sänger bewegten sich langsam und mit brennenden Kerzen in der Hand auf ihn zu, schließlich blieben sie vor der Bahre stehen.

    Er blickte an die hohe Wand vor sich, wo schemenhafte Schattengebilde hin und her flatterten. Ein unförmiges zottiges Ungeheuer erschien, mit einem einzigen, brennenden Auge; es wurde größer und größer und nahm bald sie gesamte finstere Wölbung des Raums ein. Er schloss die Augen, doch das Trugbild blieb. Ein Augenblick nüchterner Überlegung sagte ihm, dass es kein wirkliches Ungeheuer sein konnte, denn wirkliche Ungeheuer hausen nicht in Räumen mit brennenden Kerzen, und schon gar nicht in Kirchen, denn eine Kirche war dieses Haus, er erkannte es am Geruch. Doch die unbewusste Spiegelung seiner Angst erwies sich als stärker; die Erscheinung kam auf ihn zu, schon berührte sie seine Schultern, er schrie und wollte sich aufrichten, doch kräftige Hände drückten ihn auf sein Lager zurück.

    Was jetzt geschah, nahm er nur bruchstückhaft und wie aus weiter Ferne wahr. Fremde, kalte Hände betasteten seinen Körper; er ertrug die Qual mit zusammengebissenen Zähnen. Dann drehten sie ihn auf den Rücken; er vernahm Worte, die er nicht verstand; der Gesang setzte wieder ein; er hörte, wie die Tante „Teufel“ schrie und „besessen!“, und dann war auch das Ungeheuer wieder da. Seine weiße behaarte Pranke senkte sich und gab ihm einen Schlag auf den Mund; gleichzeitig erklang über ihm eine laute dunkle Stimme, die Worte in einer unverständlichen Sprache rief. Der Schlag war nicht gerade schmerzhaft gewesen, aber doch deutlich spürbar. Er öffnete die Augen und erblickte über sich zwei winzige, flackernde Kerzenflammen, die sich in der Brille eines Mannes mit bärtigem Gesicht spiegelten. Wieder senkte sich die Pranke – und jetzt sah er, dass es nicht die Pranke des Ungeheuers von der Wand war, sondern eine stark behaarte menschliche Hand – und wieder verspürte er einen leichten Schlag auf die Oberlippe, und die dunkle kratzige Stimme über ihm wurde noch lauter. Als sich die Hand zum dritten Mal zum Schlag näherte, biss er blitzschnell zu.

    3

    „Ich habe den Jungen immer gut behandelt“, sagte die Frau. Ihr rundes, fülliges, glänzendes Gesicht war abweisend, das grau-braune, stark ondulierte Haar wirkte wie einbetoniert, ihr mit Goldfäden durchwirktes, hellbraunes Kleid glitzerte, besonders, wenn sie sich bewegte. Die Frau, die ihr gegenüber saß, war in schlichtem Dunkelgrau gekleidet, von Gestalt her unscheinbar, überschlank, geradezu zierlich. In ihren müden, dunkel umrandeten Augen lag die Erschöpfung vieler durchwachter Nächte und zerschlagener Hoffnungen.

    „Und zu essen bekommt er auch genug.“

    „Dann muss er einen Bandwurm haben“, sagte die zierliche Frau, die Mutter des Jungen. „Für sein Alter ist er zu klein und zu dünn.“

    Die Luft in dem engen Raum roch muffig, stickig, abgestanden, wie überhaupt die ganze Wohnung nicht angenehm roch; es stank nach kaltem Zigarettenrauch und den ölig-fettigen Ausdünstungen der Ölradiatoren.

    „Bandwurm! Unsinn!“ Die Frau mit der Betonfrisur machte eine unbestimmte Handbewegung und blickte ihre Schwester böse an. „Er hat den Satan im Leib, und der isst gerne mit!“

    „Mein Gott, Martha, was redest du da! Den Teufel! Doch nicht in einem kleinen Jungen! Das kann doch nicht dein Ernst sein.“

    „Ich hab ihn gestern während unserer Performance Dr. Immendorf gezeigt“, sagte die Frau, ohne den Einwand ihrer Schwester zu beachten. „Er ist derselben Ansicht, besonders, nachdem der Böse aus dem Mund des Jungen gefahren ist und ihn in den Zeigefinger gebissen hat, als er versuchte, die missgestaltete Oberlippe zu beschwören.“ Da die Schwester mit zusammengekniffenen Lippen schwieg, fuhr sie fort: „In der menschlichen Natur liegt eine starke Neigung, unangenehme Wahrheiten zu ignorieren. Mia“, rief sie beschwörend, „nimm doch endlich Vernunft an! Dein Junge ist besessen! Na gut, man könnte eine Teufelsaustreibung versuchen. Aber ich fürchte, bei ihm bringt das nichts. So, wie er den dunklen Mächten verfallen ist, dürfte auch der geschickteste Exorzist machtlos sein. Da müssen stärkere Mittel her.“

    Die Mutter blickte alarmiert auf. „Stärkere Mittel? Was hast du vor?“

    „Reg dich nicht auf! Zunächst noch gar nichts, ich stelle lediglich fest. Ad eins. Seit er hier ist, geht es Georg zunehmend schlechter. Mittlerweile ist seine Husterei kaum noch zu ertragen, und er kommt kaum noch aus dem Bett. Ad –“

    „Und warum hört er nicht mit dem Rauchen auf? Ich denke – “

    Die Frau sah ihre Schwester amüsiert an. „Ach nee, du denkst! Das überlass mal anderen! Im übrigen: Andere Männer in seinem Alter rauchen auch noch und sind nicht todkrank! Nein, dein Bankert ist´s, er hat Georg verhext! – Halt den Mund, ich bin noch nicht fertig! Ja, wenn es nur das wäre! Dann ist da auch noch dieser Stummelschwanz! Von hinten sieht er wie ein Ferkel auf zwei Beinen aus, dein holder –“

    „Martha, du übertreibst wieder mal maßlos! Das hat doch nichts mit dem Teufel zu tun! Wie oft soll ich das denn noch sagen! Eine seltene Fehlbildung, die immer mal wieder auftritt, und bei Hänschen fällt sie noch nicht einmal besonders auf! Sollte der Stummel größer werden, wird er wegoperiert.“

    „Solange ich hier das Sagen habe, wird nichts wegoperiert! Oder willst du etwa den bösen Mächten das Handwerk verbieten? Das Böse muss in der Welt sein, damit es Gerechtigkeit geben kann. So. Und als wäre ein Teufelsschwanz noch nicht Zeichen genug, hat er auch keinen Amor –“

    „Ach! Und du bist eine von den Gerechten! Da kann ich nur lachen! Du und gerecht! Du Geizknochen hast dich doch früher freiwillig noch nicht einmal von einem schnöden Stück Schokolade getrennt!“

    Die Frau im Glitzerkleid blickte hasserfüllt in das gepuderte, schminkeverschmierte Gesicht der Schwester, und ein leiser Ekel stieg in ihr hoch. „Wie siehst du wieder aus!“, grollte sie, „wie eine von der Straße! Pfui!“ Ihre Augen waren zwei winzige, spitze Dolche, die jetzt gnadenlos zustachen: „Ist dir inzwischen eingefallen, wer Hänschens Vater ist?“

    Die zarte Frau, kreidebleich, mit schwarzen Augenrändern, starrte ihre Schwester ein paar Sekunden lang sprachlos an. Dann sprang sie auf, der Stuhl knallte gegen die Wand. „Martha, ich verbiete dir, so mit mir zu reden!“, schrie sie mit quietschiger Stimme, „wie steht es doch in deinem schlauen Buch? Wer unschuldig ist, der werfe den ersten Stein.“ Doch ihr Aufbegehren brach kraftlos am ironisch-abweisenden Grinsen der Schwester zusammen, auch daran, dass sie die Schwächere war.

    „Mia, willst du mir etwa das Wort verbieten?“ Die Frau lachte höhnisch. „Schrei hier nicht herum, sonst wird der Junge noch wach, und setz dich wieder!“

    Die Mutter nahm den Stuhl hoch, setzte sich, weiß im Gesicht, und starrte vor sich hin.

    „Es passt alles zusammen“, fuhr ihre Schwester rohzüngig fort, „der Biss, der Teufelsschwanz, der fehlende Amorbogen. Dein Sohn gehört in das Reich des Bösen, und ich werde für Gerechtigkeit sorgen, denn irgendjemand muss es ja mal tun und die Konsequenzen ergreifen. Du bist zu schwach dazu.“

    „Wieso –“

    „Halt den Mund und hör endlich zu!“ Die Frau schlug mit der flachen Hand dröhnend auf den Tisch, „du weißt anscheinend nicht, was ein fehlender Amorbogen bedeutet. Was glaubst du wohl, warum Hitler diesen lächerlichen Stummelbart trug? Nicht weil er einen hässlichen Mund hatte, wie manche behaupten, sondern weil ihm der Amorbogen fehlte, genau so wie deinem unseligen Sprössling, und das wollte er vor seinen Anhängern verbergen! Solche Leute gelten nämlich seit alters her als lieblose und böse Menschen, und die Geschichte hat gezeigt, dass dieses Urteil kein Vorurteil ist!“ Sie dämpfte ihre Stimme zu einem leisen hohlen Flüstern. „Dein Hänschen ist die Reinkarnation Hitlers, und Hitler war von bösen Mächten besessen! Ich werde dafür sorgen, das er die Welt nicht noch ein zweites mal heimsucht! Denn ich gehöre zu den Sieben Gerechten, von denen das schlaue Buch, wie du es nennst, berichtet.“

    Die schmale Frau bäumte sich auf. „Willst du ihn umbringen?“, schrie sie in höchster Verzweiflung.

    Die Frau sah ihre Schwester kalt an. „Geh jetzt! Wenn du zu spät kommst, sperren sie dir den Freigang!“

    „Kann ich den Jungen ... Ich bin auch ganz leise.“

    „Nichts da! Geh jetzt endlich!“

    Das Gesicht der Schwester wurde kreideweiß. Sie stand auf und verließ grußlos und schwankend das Zimmer.

    4

    Der Junge lag schon eine ganze Weile wach; die lauten Stimmen und ein Hustenanfall des Onkels hatten ihn geweckt. Die Hoffnung, die Mutter, deren Stimme er erkannt hatte, jemals wiederzusehen, hatte er aufgegeben. Er wartete deshalb auch nicht darauf, dass die dunkle Scheibe in der Tür hell würde und die Mutter hereinkäme. Die Scheibe wurde hell – er hörte ihre leisen Schritte im Flur – und wieder dunkel. Mit klopfendem Herzen verfolgte er das Geräusch, bis es sich unhörbar in der Tiefe des Treppenhauses verlor. Dann fiel unten die Haustür zu.

    Enttäuscht schloss er die Augen. Nein, nicht die Mutter hatte ihn enttäuscht – die Riesen waren es! Nicht ein einziger hatte sein Versprechen eingelöst und ihn besucht! Und der Tante gezeigt, wer der Stärkere war! Also fürchteten sich die Riesen genauso vor der Tante wie der Onkel, der auch nur das machte, was die Tante befahl. Wenn auf die Riesen kein Verlass ist, dachte er, dann vielleicht auf Zwerge! Auch die Kurzen besitzen Macht!

    Ein Bild tauchte vor ihm auf, verschwommen wie hinter Nebelbänken ... Ein Riese, so groß und breit wie eine ganze Stadt, gefesselt am Boden, lauter Winzlinge krabbeln auf ihm herum und schießen ihm Pfeile ins Gesicht! Wie hieß er bloß, dieser Riese ... Gulli ... Gulli ... könnte er doch die Großmutter fragen ... ja, Gulliver hieß er, Gulliver!

    Und er beschloss, ein Zwerg zu werden in einer Welt voller Zwerge, und sie zu seinen Freunden zu machen! Er würde sich nicht lumpen lassen und ihnen seinen Haferbrei geben! Schon sah er die Tante gefesselt am Boden liegen, sah, wie sie sich vergeblich drehte und wendete, sich aufbäumte, sah, wie er eine Zwille nahm und ihr eine Erbse ins Auge schoss, und eine seltene Ruhe überkam ihn ...

    5

    Das Licht ging an und nicht wieder aus, die Tür öffnete sich; die Tante, einen groben Kartoffelsack in der Hand, trat auf leisen Sohlen ein. Einen Augenblick blieb sie mit angehaltenem Atem stehen und lauschte; aus dem Bett erklangen regelmäßige Atemzüge. Sie öffnete den Sack und beugte sich über den Jungen; ehe der begriff, was mit ihm geschah, hatte sie ihm den Sack übergestülpt. Der Knabe, jetzt hellwach, begann zu strampeln, doch vergeblich; die Sektenchefin klemmte sich Sack und Knaben einfach unter den Arm und ging damit ins Badezimmer. Dort band sie den Sack, in dem es seltsam ruhig geworden war, mit einer Schnur zu und legte ihn in die Badewanne.

    „Morgen früh wird es sich zeigen“, sagte sie, „wer stärker ist, das Böse oder das Gute, die Mächte der Finsternis oder des Lichts, die Gerechten oder die Ungerechten.“ Sie ließ Wasser einlaufen und prüfte die Temperatur. „Der HERR wird ein sicheres Urteil fällen ... lässt er dich schwimmen, habe ich mich getäuscht, gehst du unter ...“ Der Knabe, aus seiner Schockstarre erwacht, begann fürchterlich zu schreien und zu strampeln, doch die Tante redete unbeirrt weiter. „Keine Angst, ich weiß, du frierst schnell. Deshalb wird dieses Gottesurteil ausnahmsweise mit warmen Wasser durchgeführt. Eine Gerechte will nicht, dass jemand unnötig leidet!“ Sie regulierte den Zustrom so ein, dass die Wanne nicht überlaufen konnte, dann knipste sie das Licht aus, verließ das Badezimmer und schloss die Tür.

    *

    Die Erzählung basiert auf einer Zeitungsnotiz

    Die mutmaßliche Sektenchefin soll den vierjährigen Jungen,

    ihren Neffen ... in einen über seinem Kopf zusammengeschnürten

    Leinensack im Badezimmer ihres Hauses abgelegt

    und ertränkt haben. Die Angeklagte soll den Jungen als 'von

    den Dunklen besessen' angesehen und beschlossen haben,

    ihn zu töten ... Sie habe ihn als 'Schwein und Reinkarnation

    Hitlers' bezeichnet.

    Sonnabend, 6. Juni, abends

    Meine ferne Geliebte,

    das Dunkel lichtet sich, die Nebel lösen sich allmählich auf.

    Dass ich mich erst jetzt melde, hat einen Grund: Wegen einer mehrtägigen Seminarveranstaltung musste ich meine Versuche erst einmal unterbrechen. Allerdings hat mir die Pause gut getan. Mein Kopf ist wieder völlig klar, und nachts schlafe ich wie ein Murmeltier. Jetzt fühle ich mich stark genug, das letzte, entscheidende Experiment durchzuführen. Ich sage mir: Wenn du es beginnen konntest, sei auch fähig, es zu beenden.

    Aber zunächst ist es nicht soweit. Noch fehlt mir die letzte Gewissheit. Doch ich denke, dass es nur eine Frage von kurzer Zeit ist, bis ich das Geheimnis dieser Teufelsuhr vollständig gelüftet habe. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, was die Zeichen bedeuten.

    Vor ein paar Tagen weilte im Institut ein Professor der Tsinghua-Universität in Peking, ein Experte in altchinesischer Schriftkultur. Ich zeigte ihm die Uhr, und er meinte, es seien Zeichen der Nushu-Schrift. Im Alten China, erklärte er, waren Bäuerinnen von höherer Bildung ausgeschlossen. Sie erfanden diese Geheimschrift, die für Männer nicht zu entziffern war. Das Zeichen auf Positionen 6 bedeute Geburt, das auf 12 Tod, das auf Position 3 bedeute Jugend, die 9 Alter. Zu den anderen Zeichen konnte oder wollte er nichts sagen.

    War auch nicht nötig. Ich wusste genug. Zum Abschied riet er mir noch: Seien Sie vorsichtig, junger Freund, das Teil ist brandgefährlich!

    Abends, vor dem Zubettgehen, stellte ich den große Zeiger auf Pos 3, den kleinen auf Pos 11. War gespannt, was nun geschehen würde. Am Morgen erwachte ich mit schwerem Liebeskummer – nein, nein, nicht du, meine Anastasia, warst der Grund meiner Verzweiflung, der Grund war eine erloschene Flamme; ich war damals siebzehn Jahre alt. Dieser Zustand hielt drei Tage an. Mich beschleicht ein unheimlicher Verdacht: Sollten die anderen Zeichen Schicksalszeichen sein? Dann könnte ja – brr, bizarrer Gedanke – dann könnte die Uhr mir möglicherweise auch noch die Zukunft voraussagen! Mich juckt es in den Fingern, die Probe aufs Exempel zu machen. Doch ich lass es lieber. Das Ding hat schon genug Verwirrung gestiftet.

    Wie es der Zufall will hält sich seit drei Tagen ein indischer Guru mit einem unaussprechlichen Namen im Institut auf, der wie ein Bruder des verstorbenen Professors aussieht, oder sein Klon: Silberweißes Haar, wallendes Gewandt, nur trägt er an den Füßen keine Mao-Latschen, sondern schneeweiße Plastik-Klogs. Diesen Guru fragte ich, ob er von einer fernöstlichen Technik wisse, mit der der Mensch aktiv in den Lauf der Zeit eingreifen könne. Er sah mich groß an, und für einen Moment befürchtete ich, der werde mich auslachen, doch das Gegenteil war der Fall. „Mein lieber junger Freund“, sagte er in astreinem Englisch, „warum sollte er denn nicht?“ Er lud mich zu einem Tee in die Cafeteria ein und erzählte mir eine Geschichte.

    Du schaust zur Uhr, mein Herz? Dann mache ich jetzt einen Absatz, und du liest morgen weiter.

    Die Erzählung des Gurus

    Ein Yogi kehrte nach vielen Jahren intensiver Meditation aus seiner Einsiedlerhöhle beim See Gaurikunt nach Hause zurück, um noch einmal seine alten Eltern zu besuchen. Als seine Mutter die Tür öffnete, erblickte er die kostbare Wohnungseinrichtung mit wertvollen Mandalas und kupfernem Töpfen und Kannen, und er kam augenblicklich zu dem Entschluss, seine Seele nicht mit dem Anblick des irdischen Wohlstands zu verunreinigen. Die Mutter wandte kurz den Kopf, um den Vater zu rufen, und als sie den Kopf wieder zurückdrehte, war der Sohn verschwunden. Er konnte in dieser kurzen Zeit unmöglich das Grundstück verlassen und sich weit fortbewegt haben, doch trotz allen Rufens und Suschens – der Sohn war und blieb wie vom Erdboden verschluckt. Auch in der Umgebung wurde er nicht mehr gesehen. Nach fünfzehn Jahren erblickte ihn die nun steinalte Mutter – der Vater war inzwischen gestorben – bei der Gartenpforte, wie er auf das Häuschen starrte und ihr wie geistesabwesend zuwinkte. Er war kaum gealtert! Dieses wurde von der Mutter, ihrer Tochter, und einer Nachbarin, die den Sohn vom Küchenfenster aus beobachtet hatte, bezeugt.

    “Unsere Gelehrten erklären dieses Ereignis dahingehend“, erzählte der Mann, der übrigens ein berühmter Yoga-Meister ist, „dass dem Sohn, der ja augenscheinlich einen sehr hohen Grad der Seelenreinheit erreicht hatte, eine zeitliche Entrückung geglückt war, das heißt, es war ihm gelungen, sich in eine Parallelwelt mit einem anderen Zeitverlauf zu versetzen; um dann nach fünfzehn Erdenjahren wieder in die Realwelt zurückzukehren, ohne den Ort verlassen zu haben.“

    Ich wand ein, das solche Dinge wie Parallelwelt und anderer Zeitverlauf für mich schwer glaubhaft seien. Aus naturwissenschaftlicher Sicht –

    Er lachte laut auf und rief: „Junger Mann! Gerade die Naturwissenschaften bestätigen es ja! Seit Einstein wissen wir doch, dass die Zeit keine absolute Konstante, sondern veränderbar ist! Und zu den Parallelwelten: Rechenmodelle belegen, dass es nicht nur eine, sondern wahrscheinlich hunderte verschiedener Welten gibt! Wenn Sie es genau wissen wollen, dann schau´n Sie ins Internet, da finden Sie alles zu diesem Thema, was Ihr Herz begehrt.“

    Ich muss wohl ziemlich ungläubig geguckt haben, denn der Svani sagte: „Natürlich, mit der Logik des Alltäglichen lässt sich so etwas nicht erklären. Aber was wollen Sie? Wollen Sie sich mit dem äußeren Schein begnügen? Dann bin ich nicht der richtige Gesprächspartner! Das Alltägliche ist nicht das Wirkliche! Das Wirkliche steckt hinter der sichtbaren Welt.“

    Das wisse ich genau so gut wie er, sagte ich einlenkend, mir ginge es auch nicht um Grundsätzliches, sondern um diese zeitliche Entrückung, von der er da gerade erzählt habe. Um ihn aus der Reserve zu locken, sagte ich: „Angeblich soll es so eine Art Chronometer geben, mit der man –“

    Er ließ mich nicht ausreden. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf. „Der Chronomat des Reathmandu!“ rief er, „was wissen Sie darüber?“

    Nicht viel, sagte ich wahrheitsgemäß, nur, dass sich der Chronometer angeblich unter dem Nachlass Holm-Seppensens befunden habe und jetzt aus dem Nachlass verschwunden sei.

    Er setzte sich wieder und blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann sagte er: „Ein Schüler des Meisters Reathmandu ist 1949 noch vor dem Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet nach Amerika geflohen und hat dort ein Buch mit dem Titel 'Die sterbenden Götter' geschrieben. In diesem Buch erwähnt der Verfasser auch ein uhrenähnliches Gerät, das seitdem verschollen ist. Der Verfasser schreibt: Der Meister habe ihm gegenüber behauptet, es sei ihm gelungen, mit Hilfe dieses eigens für ihn, den Meister, angefertigten Gerätes Raum und Zeit zu entkoppeln. Dadurch habe er einige Male einen Blick ins Jenseits werfen können, ohne dass sich seine Seele vom Körper trennen musste. Dann habe er sich nach vollständiger Reinkarnation darangemacht, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Was daran Dichtung, was Wahrheit sei, so der Autor, ließe sich nicht mehr feststellen, denn es gebe keine Belege. Sollte es tatsächlich Aufzeichnungen gegeben haben, dann seien diese Dokumente mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Wirren der chinesischen Kulturrevolution verloren gegangen. Seltsamerweise sei auch der Meister von einer Minute zur anderen spurlos verschwunden; man habe angenommen, er sei gestorben, doch seine Leiche wurde nie gefunden. 1985, als die Chinesen religiöse Rituale wieder zuließen, soll er in einem Kloster in der Nähe von Shirpan wieder aufgetaucht sein und dort bis zu seinem natürlichen Tode gelehrt haben, aber auch das ist nicht sicher belegt.“

    Plötzich sah er mich seinen stechenden Augen eindringlich an.

    „Haben Sie das Zeitgerät?“, fragte er leise.

    Ich schwieg. Für einen Moment war ich versucht, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch er redete schon weiter. „Junger Freund“, sagte er, „bringen Sie es zurück. Es wird Ihnen nichts nützen. Es gibt nur ganz wenige Menschen auf der Welt, bei denen es überhaupt eine Wirkung erzielen kann. Und zwar nur bei denen, deren Gehirn für ihre Strahlungen empfänglich ist. Das sind auf der ganzen Welt höchstens eine Handvoll Auserwählte.“

    So, jetzt weißt du Bescheid, und zwar, dass ich auserwählt bin. Und außerdem hundemüde. Alles weitere wie immer schriftlich.

    Dein . . .

    *

    Sonntag, 22. Juni, morgens um acht

    Heureka! Ich hab´s geschafft! Mitten in der Nacht wachte ich auf und fühlte mich wie neugeboren! Schnell vor den Spiegel – und was sah ich da? Das verschlafene Gesicht eines Teenagers! Fast hätte mich der Schlag gerührt. Nein, nicht wegen der Jugend, sondern wegen der heiligen Einfalt, die mir da entgegen grinste. Puh! Und dann diese Pickel auf der Stirn! Sah ich damals wirklich so aus? Na, dann danke ich vielmals. Oder arbeitet die Uhr doch nicht korrekt? Wie dem auch sei, heute morgen hatte ich glücklicherweise wieder mein altes, liebes, faltiges, trübes, kuscheliges – gut, ich hör´ schon auf – mein junges altes Schelmengesicht. Wieder juckt´s mich, irgendeinen Schabernack zu veranstalten, zum Beispiel ins Institut zu gehen. Es wäre ein Hauptspaß!

    Guten Morgen, mein Schatz! Hast du gut geschlafen? Ich hab´s!

    Wie gut, dass jeden Tag ein Bus nach Minsk abfährt. Dann bekommst du diese Nachricht noch heute Abend! Und wenn der Fahrer nochmal Geld von dir haben will, tritt ihm in den Allerwertesten! Er hat von mir schon reichlich abgesahnt!

    Küsschen und tschüs!

    *

    Freitag, 7. Juli, kurz vorm Zubettgehen

    Liebe Anastasia,

    du wunderst dich sicherlich, warum ich mich erst jetzt melde, wo ich doch vorher einen Brief nach dem anderen auf die Reise schickte. Es liegt an der Arbeit – nein, ich will ehrlich sein, es liegt nicht nur an der Arbeitsbelastung. Der Hauptgrund ist der: Es waren die vielen nächtlichen Experimente, die mich bis an der Rand der totalen Erschöpfung gebracht haben.

    Nun denn: Die Funktion der beiden Zeiger ist mir jetzt klar. Hat mich ´ne Menge Schlaf gekostet, aber was tut man nicht alles für eine verlockende Idee. Also: Der große Zeiger bestimmt das ungefähre Jahr der Zeitversetzung, der kleine deren Dauer. Ein Beispiel: Stelle ich den Großen auf 10, sehe ich am anderen Morgen wie ein achtzigjähriger Greis aus; stelle ich ihn auf Position 4 Uhr, wie letzten Sonnabend, erwache ich als Teenager. Position 6 beim kleinen Zeiger bedeutet: Ich bin für ein halbes Jahr zeitversetzt, bei 12 ein ganzes und so weiter uns so fort. Drücke ich beide Rädchen gleichzeitig, katapultiert mich das Ding wieder in mein ursprüngliches Lebensalter zurück.

    Ja, der Professor hat Recht. Das Ding ist nicht nur brand-, es ist lebensgefährlich. Und ja und wieder ja: Nur um Haaresbreite bin ich einer Katastrophe entgangen. Stell dir vor, mein Herzenstäubchen, dein Juri hätte damals, als er das Ding noch nicht kannte und damit blind herumexperimentierte, den großen Zeiger, ahnungslos wie er war – na sagen wir – auf halb 12 gestellt. Möglicherweise wäre es dann wegen Überschreitung meiner natürlichen Lebenszeit mit mir aus gewesen und ich wäre, tja, irgendwo im Nirwana gelandet oder ich wäre wie eine Seifenblase zerplatzt. Für ein Rädchendrücken wäre es ja dann zu spät gewesen. Brrr – mir wird fast schlecht, wenn ich daran denke. Oder aber der Zeiger wäre auf Position Geburt gelandet? Ich, wieder im Bauch meiner Mutter – –

    Was sagst du, zu viel wenn und wäre?

    Also dann ohne. Die ewige Jugend und die Unsterblichkeit interessieren mich im Moment nicht sonderlich. Als ich meine verpickelte Stirn sah, kamen mir alle meine Jugendsünden und -nöte wieder hoch. Es war manchmal zum Haareausraufen. Die Leiden des jungen Juri. Soll sich das nun alles wiederholen? Bitte nicht! Ich bin froh, dass ich mittlerweile aus dem Gröbsten heraus bin. Und nachdem ich eine Weile über die Unsterblichkeit nachdachte, sagte ich mir: Musst du jetzt nicht unbedingt haben. Denn mir fiel siedend heiß ein, was soll mir Unsterblichkeit, wenn ich – wenn ich mein – mir stockt der Atem – wenn ich mein Täubchen nicht mitnehmen kann? Gut – ich will ehrliche sein. Vielleicht denke ich in zehn, zwanzig Jahren anders. Aber jetzt besteht in Sachen Unsterblichkeit noch kein Handlungsbedarf.

    Wozu hat sich mein süßer Juri denn nun durchgerungen?, höre ich dich fragen.

    Gut. Dein süßer Juri sagt´s dir. Ich werde, trotz drohender Pickel und anderem jugendlichen Ungemach, das kühne Experiment wagen und mich in meine Kindheit zurückversetzen. Etwa in ein Alter von sechs, sieben Jahren. Das ist weit genug weg von meiner Geburt, wo – na sagen wir, wo etwas nicht wieder Gutzumachendes passieren könnte. Wenn –

    Du schlägst die Hände über dem Kopf zusammen: Muss das denn unbedingt sein?

    Ja, mein Täubchen, es muss sein. Ich möchte meine Mutter wiedersehen. Sie starb, da war ich acht. Damals, als sie ihre guten Augen für immer schloss, brach der Boden unter mir weg. Es war wie der Sturz in einen ungeheuren Abgrund. Mein Vater war mir keine Stütze. Der war selbst ein gebrochener Mann. Noch Jahre später erschien sie mir im Traum. Deutlich sah ich, wie sie die gebratene Ente und den Rotkohl auf den Tisch stellt und mir eine saftige Keule auf den Teller legt. Dann wieder sitzt sie an meinem Bett und erzählt mir eine Gutenachtgeschichte. Jetzt beugt sie sich über mich und gibt mir einen Kuss. Ich höre ihre etwas raue Stimme: Schlaf gut, mein Engel – genug davon. Du verstehst, was ich meine.

    Seit einigen Jahren jedoch werden diese kostbaren Träume immer blasser, und ich vermisse sie sehr. Zwischenzeitlich habe ich versucht, sie wieder aufleben zu lassen, indem ich Fotos meiner Mutter betrachtete. Doch es hat nicht viel gebracht. Fotos zeigen doch nur den Bruchteil einer Sekunde aus dem Leben eines Menschen. Nein, das ist mir zu wenig. Ich möchte sie noch einmal ganz für mich haben, wieder mit ihr an einem Tisch sitzen, ihre Stimme hören, ihre Hand auf meinem Kopf spüren ... Es würde herrlich sein! Für eine halbe Stunde nur, mehr nicht!

    Keine Angst, meine Liebe, ich werde kein Risiko eingehen. Ich werde den kleinen Zeiger – der die Zeitdauer der Entrückung regelt – so einstellen, dass ich mich höchstens eine halbe Stunde bei ihr aufhalte. Versprochen!

    Also, drück mir die Daumen!

    Wenn ich wieder zurück bin, melde ich mich sofort!

    Bis dahin dein Immer und Ewig . . .

    3

    Der Amtskönig legte den Brief beiseite und blickte eine ganze Weile nachdenklich auf seine Kaffeetasse. „Hmm . . . da war doch was“, brummte er, „da war doch was . . .“ Er steckte einen Finger in die Nase und drehte ihn mehrmals kräftig hin und her. Schließlich griff er zum Hörer, wählte und brüllte: „Frau Müller, ´ne Schalte zur Spusi, aber dall – wie, Sie heißen Meier? Ach . . . Frau Müller hat sich krank gemeldet? Wieso das denn?“ Es knackte ein paarmal, dann brüllte er: „Weichbrodt, nun hören Sie mal gut zu. Ihre Truppe hat doch vor ein paar Wochen die Wohnung dieses verschwundenen Russen untersucht– wie? Weißru – Unterbrechen Sie mich gefälligst nicht! – und auf einem Kopfkissen eingetrocknete Urinflecken gefunden. Wer sowas macht? Ich ahne es, aber ich verrat´s nicht. Haben Sie das Kissen auch auf Haare untersucht? Nein? Herr, dann aber dalli! Und zwar akribisch, rat ich Ihnen, akribischst!“

    Die erneute Untersuchung des Kopfkissens ergab folgendes: Man fand dort Haare, ihrer Färbung und Beschaffenheit nach offensichtlich von verschiedenen Personen, unter anderem von einem Säugling. Eine Genanalyse ergab jedoch, dass die Haare alle von ein und demselben Menschen stammten, jedoch aus verschiedenen Lebensaltern.

    ENDE