1
Der Junge lag mit offenen Augen im Bett und starrte an die Decke,
an der sich die Lichtraute der Hoflampe abzeichnete. Er war ein
ernster blasser Knabe mit stillen traurigen Augen und zu klein für
sein Alter; er fürchtete sich vor dem großen Bett mit den
gedrechselten Beinen und den wirren Schnitzereien, in dem er sich
verloren vorkam. Er schloss die Augen und begann zu weinen. Er konnte
nicht verstehen, warum ihn die Mutter nicht mehr liebte und zur Tante
gebracht hatte. Vor der Tante hatte er noch mehr Angst als vor dem
schwarzen Bett; das Bett war unheimlich, aber es tat ihm nichts, doch
er wusste, irgendwann würde ihm die Tante etwas antun, denn die
Augen der Tante waren böse, hart und abweisend. Der Onkel ... Der
hatte große traurige Augen, noch trauriger als seine, aber die Tante
ließ ihn nicht zu ihm.
In die Tränen hinein versuchte er sich
zu erinnern. Irgendwann in seinem jungen Leben war etwas geschehen,
das er sich nicht erklären konnte. Er erinnerter sich noch, dass die
Mutter ihn eines Tages heftig umarmt und dabei entsetzlich geweint
hatte. Dann hatte sie ihn zur Tante gebracht. Seitdem war er nicht
mehr froh gewesen. Warum nahm sie ihn nicht mehr in den Arm, warum
gab sie ihm keinen Gutenacht-Kuss mehr? Was war das für eine große
fremde Stadt, in die sie immer fuhr, und in der sie so viel lernen
musste? Und warum holte sie ihn nicht wieder nachhause und von der
Tante und dem ständig hustenden Onkel weg?
Doch es fiel im
keine Antwort ein.
Wieder erklang das entsetzlich röchelnde
Husten des Onkels, der nebenan im Bett lag, todkrank, wie die Tante
sagte. Es hörte sich schrecklich an, besonders, wenn der Onkel
geräuschvoll abhustete, bevor er ausspuckte ...
Das Rechteck
in der Tür wurde hell. Er wartete, und ein Zittern erfasste seinen
dürren Körper. Würde die Tante jetzt hereinkommen? Der Ausschnitt
in der Tür wurde wieder dunkel, und er atmete erleichtert auf.
Als er genug geweint hatte, begann er zu träumen. Ja, ein Riese
sein ... Einer von diesen sagenhaften kirchturmhohen Geschöpfen, von
denen ihm die Großmutter früher erzählt hatte, wenn sie an seinem
Bettchen saß ... Doch auch die Großmutter besuchte ihn nicht mehr,
war sie vielleicht gestorben? Er hatte die Tante gefragt, doch die
hatte nur gesagt: „Halt den Mund!“
Ja, er wollte ein Riese
sein, wollte in dieser fantastischen Welt leben, in dieser
Riesenwelt, in keiner anderen. „Oh, wäre ich doch auch so groß!“,
seufzte er mit seiner kleinen dünnen Stimme, „oder auch nur halb
–“ Ein Weile starrt er wieder an die Zimmerdecke mit der
Lichterscheinung.
Wie gerne hätte er solch einen Riesen zum
Freund gehabt! Nein, nicht einen dieser wütenden Ungeheuer, die
Bäume ausreißen und Menschen und Tiere erschrecken ... Es sollte
ein sanfter, freundlicher Riese sein, der sich zu ihm, dem Däumling,
wie ihn die Großmutter scherzhaft nannte, herunterbeugt, ihn hoch
nimmt und die große weite Welt zeigt ... Ja, Freunde! Freunde besaß
er gar keine mehr. Die Tante hatte ihm den Umgang mit anderen Kindern
verboten, warum wusste er nicht. Aber so ein Riese ... Ha! Der würde
sich von der Tante nicht einschüchtern lassen! Und er würde ihm
sicherlich ein Tischlein-Deck-Dich bereiten und nicht immer nur
Haferbrei geben wie die Tante, tagaus, tagein, immer nur diesen
langweiligen Haferbrei. Vielleicht kannte der Riese ja auch das
Geheimnis, wie man sich unsichtbar machen konnte ...
Diese
unheimliche Stelle unten an seinem Rücken schmerzte, und er drehte
sich auf die Seite.
Das Licht hinter der Glasscheibe in der Tür
ging an, aber es ging nicht wieder aus. Er hörte die schweren
Schritte der Tante die Treppe hoch stapfen, ein Schatten näherte
sich der Tür und wurde schnell größer. Die Tür ging auf, die
Tante trat ein, machte Licht, und er musste blinzeln. „Aufstehen!“,
befahl sie, „es ist so weit!“
2
Die Tante hatte einen Schirm aufgespannt, aber nur für sich, er
musste im Regen gehen. Als sie an dem Haus, einem schmucklosen
Gebäude mit hohen, schmalen Fenstern, ankamen, war er tropfnass. Die
Tante schloss die Tür auf, sie traten ein. Sie führte ihn in einen
kleinen Raum und befahl: „Ausziehen!“ dann ging sie weg. Es war
kalt, und er fror. Als sie wiederkam und sah, dass er immer noch
nicht fertig war, riss sie ihm schimpfend die restlichen Kleider vom
Leib. Dann ergriff sie fest seine Hand und zerrte ihn mehr als dass
sie ihn führte in einen anderen Raum, der war groß und voller
schwarz gekleideter Leute. Sie saßen im Halbkreis um eine schräge
Kiste herum, über dem ein schwarzes Tuch hing. Auch die Wände des
Saales, vor denen dicke hohe brennende Kerzen mit seltsamen Zeichen
standen, waren mit schwarzen Tüchern verhüllt. Er musste sich vor
die Kiste stellen, mit dem Rücken zu den Leuten, und die Tante
befahl: „Rühr dich nicht von der Stelle!“ Dann setzte sie sich
vor den Halbkreis.
Im Raum war es jetzt absolut ruhig; nur ab
und zu knisterte eine der Kerzen kurz auf. In dem flackernden Schein,
der den großen Raum in eine erhellte Dunkelheit tauchte, erschien
der schmale weiße Körper des Knaben wie ein zuckendes Bündel
Nichts. Er begann wieder zu zittern, doch nicht nur vor Kälte,
sondern vor Scham, denn er fühlte schamlose Blicke auf seinen Rücken
gerichtet wie Nadelstiche. Obwohl er es nicht sehen konnte, wusste er
genau, wohin die Blicke gingen; sie gingen auf die schmerzende Stelle
unten an seinem Rücken, auf dieses kleine, kurze, stielartige
Gebilde, das die Tante Teufelsschwanz nannte.
Auf einmal
erklang ein seltsamer, unheimlicher Gesang; es war eigentlich kein
richtiges Singen, sondern eher ein monotoner Singsang wie aus
unbekannten Höhlenwelten, vorgetragen von hohen Männerstimmen. Zwei
der schwarz gekleideten Gestalten traten hervor, fassten ihn an Armen
und Beinen und legten ihn mit dem Bauch auf den Katafalk. Der Gesang
würde jetzt lauter, die Sänger bewegten sich langsam und mit
brennenden Kerzen in der Hand auf ihn zu, schließlich blieben sie
vor der Bahre stehen.
Er blickte an die hohe Wand vor sich, wo
schemenhafte Schattengebilde hin und her flatterten. Ein unförmiges
zottiges Ungeheuer erschien, mit einem einzigen, brennenden Auge; es
wurde größer und größer und nahm bald sie gesamte finstere
Wölbung des Raums ein. Er schloss die Augen, doch das Trugbild
blieb. Ein Augenblick nüchterner Überlegung sagte ihm, dass es kein
wirkliches Ungeheuer sein konnte, denn wirkliche Ungeheuer hausen
nicht in Räumen mit brennenden Kerzen, und schon gar nicht in
Kirchen, denn eine Kirche war dieses Haus, er erkannte es am Geruch.
Doch die unbewusste Spiegelung seiner Angst erwies sich als stärker;
die Erscheinung kam auf ihn zu, schon berührte sie seine Schultern,
er schrie und wollte sich aufrichten, doch kräftige Hände drückten
ihn auf sein Lager zurück.
Was jetzt geschah, nahm er nur
bruchstückhaft und wie aus weiter Ferne wahr. Fremde, kalte Hände
betasteten seinen Körper; er ertrug die Qual mit zusammengebissenen
Zähnen. Dann drehten sie ihn auf den Rücken; er vernahm Worte, die
er nicht verstand; der Gesang setzte wieder ein; er hörte, wie die
Tante „Teufel“ schrie und „besessen!“, und dann war auch das
Ungeheuer wieder da. Seine weiße behaarte Pranke senkte sich und gab
ihm einen Schlag auf den Mund; gleichzeitig erklang über ihm eine
laute dunkle Stimme, die Worte in einer unverständlichen Sprache
rief. Der Schlag war nicht gerade schmerzhaft gewesen, aber doch
deutlich spürbar. Er öffnete die Augen und erblickte über sich
zwei winzige, flackernde Kerzenflammen, die sich in der Brille eines
Mannes mit bärtigem Gesicht spiegelten. Wieder senkte sich die
Pranke – und jetzt sah er, dass es nicht die Pranke des Ungeheuers
von der Wand war, sondern eine stark behaarte menschliche Hand –
und wieder verspürte er einen leichten Schlag auf die Oberlippe, und
die dunkle kratzige Stimme über ihm wurde noch lauter. Als sich die
Hand zum dritten Mal zum Schlag näherte, biss er blitzschnell zu.
3
„Ich habe den Jungen immer gut behandelt“, sagte
die Frau. Ihr rundes, fülliges, glänzendes Gesicht war abweisend,
das grau-braune, stark ondulierte Haar wirkte wie einbetoniert, ihr
mit Goldfäden durchwirktes, hellbraunes Kleid glitzerte, besonders,
wenn sie sich bewegte. Die Frau, die ihr gegenüber saß, war in
schlichtem Dunkelgrau gekleidet, von Gestalt her unscheinbar,
überschlank, geradezu zierlich. In ihren müden, dunkel umrandeten
Augen lag die Erschöpfung vieler durchwachter Nächte und
zerschlagener Hoffnungen.
„Und zu essen bekommt er auch
genug.“
„Dann muss er einen Bandwurm haben“, sagte die
zierliche Frau, die Mutter des Jungen. „Für sein Alter ist er zu
klein und zu dünn.“
Die Luft in dem engen Raum roch muffig,
stickig, abgestanden, wie überhaupt die ganze Wohnung nicht angenehm
roch; es stank nach kaltem Zigarettenrauch und den ölig-fettigen
Ausdünstungen der Ölradiatoren.
„Bandwurm! Unsinn!“ Die
Frau mit der Betonfrisur machte eine unbestimmte Handbewegung und
blickte ihre Schwester böse an. „Er hat den Satan im Leib, und der
isst gerne mit!“
„Mein Gott, Martha, was redest du da! Den
Teufel! Doch nicht in einem kleinen Jungen! Das kann doch nicht dein
Ernst sein.“
„Ich hab ihn gestern während unserer
Performance Dr. Immendorf gezeigt“, sagte die Frau, ohne den
Einwand ihrer Schwester zu beachten. „Er ist derselben Ansicht,
besonders, nachdem der Böse aus dem Mund des Jungen gefahren ist und
ihn in den Zeigefinger gebissen hat, als er versuchte, die
missgestaltete Oberlippe zu beschwören.“ Da die Schwester mit
zusammengekniffenen Lippen schwieg, fuhr sie fort: „In der
menschlichen Natur liegt eine starke Neigung, unangenehme Wahrheiten
zu ignorieren. Mia“, rief sie beschwörend, „nimm doch endlich
Vernunft an! Dein Junge ist besessen! Na gut, man könnte eine
Teufelsaustreibung versuchen. Aber ich fürchte, bei ihm bringt das
nichts. So, wie er den dunklen Mächten verfallen ist, dürfte auch
der geschickteste Exorzist machtlos sein. Da müssen stärkere Mittel
her.“
Die Mutter blickte alarmiert auf. „Stärkere Mittel?
Was hast du vor?“
„Reg dich nicht auf! Zunächst noch gar
nichts, ich stelle lediglich fest. Ad eins. Seit er hier ist, geht es
Georg zunehmend schlechter. Mittlerweile ist seine Husterei kaum noch
zu ertragen, und er kommt kaum noch aus dem Bett. Ad –“
„Und warum hört er nicht mit dem Rauchen auf? Ich denke – “
Die Frau sah ihre Schwester amüsiert an. „Ach nee, du denkst!
Das überlass mal anderen! Im übrigen: Andere Männer in seinem
Alter rauchen auch noch und sind nicht todkrank! Nein, dein Bankert
ist´s, er hat Georg verhext! – Halt den Mund, ich bin noch nicht
fertig! Ja, wenn es nur das wäre! Dann ist da auch noch dieser
Stummelschwanz! Von hinten sieht er wie ein Ferkel auf zwei Beinen
aus, dein holder –“
„Martha, du übertreibst wieder mal
maßlos! Das hat doch nichts mit dem Teufel zu tun! Wie oft soll ich
das denn noch sagen! Eine seltene Fehlbildung, die immer mal wieder
auftritt, und bei Hänschen fällt sie noch nicht einmal besonders
auf! Sollte der Stummel größer werden, wird er wegoperiert.“
„Solange ich hier das Sagen habe, wird nichts wegoperiert! Oder
willst du etwa den bösen Mächten das Handwerk verbieten? Das Böse
muss in der Welt sein, damit es Gerechtigkeit geben kann. So. Und als
wäre ein Teufelsschwanz noch nicht Zeichen genug, hat er auch keinen
Amor –“
„Ach! Und du bist eine von den Gerechten! Da kann
ich nur lachen! Du und gerecht! Du Geizknochen hast dich doch früher
freiwillig noch nicht einmal von einem schnöden Stück Schokolade
getrennt!“
Die Frau im Glitzerkleid blickte hasserfüllt in
das gepuderte, schminkeverschmierte Gesicht der Schwester, und ein
leiser Ekel stieg in ihr hoch. „Wie siehst du wieder aus!“,
grollte sie, „wie eine von der Straße! Pfui!“ Ihre Augen waren
zwei winzige, spitze Dolche, die jetzt gnadenlos zustachen: „Ist
dir inzwischen eingefallen, wer Hänschens Vater ist?“
Die
zarte Frau, kreidebleich, mit schwarzen Augenrändern, starrte ihre
Schwester ein paar Sekunden lang sprachlos an. Dann sprang sie auf,
der Stuhl knallte gegen die Wand. „Martha, ich verbiete dir, so mit
mir zu reden!“, schrie sie mit quietschiger Stimme, „wie steht es
doch in deinem schlauen Buch? Wer unschuldig ist, der werfe den
ersten Stein.“ Doch ihr Aufbegehren brach kraftlos am
ironisch-abweisenden Grinsen der Schwester zusammen, auch daran, dass
sie die Schwächere war.
„Mia, willst du mir etwa das Wort
verbieten?“ Die Frau lachte höhnisch. „Schrei hier nicht herum,
sonst wird der Junge noch wach, und setz dich wieder!“
Die
Mutter nahm den Stuhl hoch, setzte sich, weiß im Gesicht, und
starrte vor sich hin.
„Es passt alles zusammen“, fuhr ihre
Schwester rohzüngig fort, „der Biss, der Teufelsschwanz, der
fehlende Amorbogen. Dein Sohn gehört in das Reich des Bösen, und
ich werde für Gerechtigkeit sorgen, denn irgendjemand muss es ja mal
tun und die Konsequenzen ergreifen. Du bist zu schwach dazu.“
„Wieso –“
„Halt den Mund und hör endlich zu!“ Die
Frau schlug mit der flachen Hand dröhnend auf den Tisch, „du weißt
anscheinend nicht, was ein fehlender Amorbogen bedeutet. Was glaubst
du wohl, warum Hitler diesen lächerlichen Stummelbart trug? Nicht
weil er einen hässlichen Mund hatte, wie manche behaupten, sondern
weil ihm der Amorbogen fehlte, genau so wie deinem unseligen
Sprössling, und das wollte er vor seinen Anhängern verbergen!
Solche Leute gelten nämlich seit alters her als lieblose und böse
Menschen, und die Geschichte hat gezeigt, dass dieses Urteil kein
Vorurteil ist!“ Sie dämpfte ihre Stimme zu einem leisen hohlen
Flüstern. „Dein Hänschen ist die Reinkarnation Hitlers, und
Hitler war von bösen Mächten besessen! Ich werde dafür sorgen, das
er die Welt nicht noch ein zweites mal heimsucht! Denn ich gehöre zu
den Sieben Gerechten, von denen das schlaue Buch, wie du es nennst,
berichtet.“
Die schmale Frau bäumte sich auf. „Willst du
ihn umbringen?“, schrie sie in höchster Verzweiflung.
Die
Frau sah ihre Schwester kalt an. „Geh jetzt! Wenn du zu spät
kommst, sperren sie dir den Freigang!“
„Kann ich den Jungen
... Ich bin auch ganz leise.“
„Nichts da! Geh jetzt
endlich!“
Das Gesicht der Schwester wurde kreideweiß. Sie
stand auf und verließ grußlos und schwankend das Zimmer.
4
Der Junge lag schon eine ganze Weile wach; die lauten
Stimmen und ein Hustenanfall des Onkels hatten ihn geweckt. Die
Hoffnung, die Mutter, deren Stimme er erkannt hatte, jemals
wiederzusehen, hatte er aufgegeben. Er wartete deshalb auch nicht
darauf, dass die dunkle Scheibe in der Tür hell würde und die
Mutter hereinkäme. Die Scheibe wurde hell – er hörte ihre leisen
Schritte im Flur – und wieder dunkel. Mit klopfendem Herzen
verfolgte er das Geräusch, bis es sich unhörbar in der Tiefe des
Treppenhauses verlor. Dann fiel unten die Haustür zu.
Enttäuscht schloss er die Augen. Nein, nicht die Mutter hatte ihn
enttäuscht – die Riesen waren es! Nicht ein einziger hatte sein
Versprechen eingelöst und ihn besucht! Und der Tante gezeigt, wer
der Stärkere war! Also fürchteten sich die Riesen genauso vor der
Tante wie der Onkel, der auch nur das machte, was die Tante befahl.
Wenn auf die Riesen kein Verlass ist, dachte er, dann vielleicht auf
Zwerge! Auch die Kurzen besitzen Macht!
Ein Bild tauchte vor
ihm auf, verschwommen wie hinter Nebelbänken ... Ein Riese, so groß
und breit wie eine ganze Stadt, gefesselt am Boden, lauter Winzlinge
krabbeln auf ihm herum und schießen ihm Pfeile ins Gesicht! Wie hieß
er bloß, dieser Riese ... Gulli ... Gulli ... könnte er doch die
Großmutter fragen ... ja, Gulliver hieß er, Gulliver!
Und er
beschloss, ein Zwerg zu werden in einer Welt voller Zwerge, und sie
zu seinen Freunden zu machen! Er würde sich nicht lumpen lassen und
ihnen seinen Haferbrei geben! Schon sah er die Tante gefesselt am
Boden liegen, sah, wie sie sich vergeblich drehte und wendete, sich
aufbäumte, sah, wie er eine Zwille nahm und ihr eine Erbse ins Auge
schoss, und eine seltene Ruhe überkam ihn ...
5
Das Licht ging an und nicht wieder aus, die Tür öffnete sich; die
Tante, einen groben Kartoffelsack in der Hand, trat auf leisen Sohlen
ein. Einen Augenblick blieb sie mit angehaltenem Atem stehen und
lauschte; aus dem Bett erklangen regelmäßige Atemzüge. Sie öffnete
den Sack und beugte sich über den Jungen; ehe der begriff, was mit
ihm geschah, hatte sie ihm den Sack übergestülpt. Der Knabe, jetzt
hellwach, begann zu strampeln, doch vergeblich; die Sektenchefin
klemmte sich Sack und Knaben einfach unter den Arm und ging damit ins
Badezimmer. Dort band sie den Sack, in dem es seltsam ruhig geworden
war, mit einer Schnur zu und legte ihn in die Badewanne.
„Morgen früh wird es sich zeigen“, sagte sie, „wer stärker
ist, das Böse oder das Gute, die Mächte der Finsternis oder des
Lichts, die Gerechten oder die Ungerechten.“ Sie ließ Wasser
einlaufen und prüfte die Temperatur. „Der HERR wird ein sicheres
Urteil fällen ... lässt er dich schwimmen, habe ich mich getäuscht,
gehst du unter ...“ Der Knabe, aus seiner Schockstarre erwacht,
begann fürchterlich zu schreien und zu strampeln, doch die Tante
redete unbeirrt weiter. „Keine Angst, ich weiß, du frierst
schnell. Deshalb wird dieses Gottesurteil ausnahmsweise mit warmen
Wasser durchgeführt. Eine Gerechte will nicht, dass jemand unnötig
leidet!“ Sie regulierte den Zustrom so ein, dass die Wanne nicht
überlaufen konnte, dann knipste sie das Licht aus, verließ das
Badezimmer und schloss die Tür.
*
Die Erzählung
basiert auf einer Zeitungsnotiz
Die mutmaßliche
Sektenchefin soll den vierjährigen Jungen,
ihren Neffen ... in
einen über seinem Kopf zusammengeschnürten
Leinensack im
Badezimmer ihres Hauses abgelegt
und ertränkt haben. Die
Angeklagte soll den Jungen als 'von
den Dunklen besessen'
angesehen und beschlossen haben,
ihn zu töten ... Sie habe ihn
als 'Schwein und Reinkarnation
Hitlers' bezeichnet.