Beiträge von McFee

    Hallo Der Wanderer,

    vielen Dank für deine anerkennenden Worte. Ich habe nur in Verse gesetzt, was man in jedem Geschichtsbuch lesen kann. Ich bin ganz in die antike Welt eingetaucht und schrieb die Bilder auf, die ich dabei sah. Es war, als habe mir Erato persönlich die Feder geführt, und eine seltsame Heiterkeit ergriff mich. Ich hoffe, dass man dem Gedicht diese Heiterkeit anmerkt und manch üble Nachricht für einen Moment vergessen lässt.

    Liebe Grüße

    McFee

    "Nehmt die Feder in die Hand und dichtet wie einst Goethe und Schiller."

    Ich habe es versucht . . .


    „Nie werd ich die Nacht vergessen“,

    schwärmte Salomé die Schöne

    wie von schwerem Rausch besessen.

    Von der Burg Posaunentöne.


    Sagte da des Kaisers Enkel

    Gaius, den sie Caesar nennen:

    „War doch alles nur Geplänkel,

    jetzt lern Rom mal richtig kennen!“


    Vor des Caesars goldnem Wagen,

    Viergespann mit feur´gen Rappen,

    Sklaven Palmenwedel tragen.

    Lobgesang betresster Knappen.


    An des Hügels sanften Hängen,

    des Aspicius´ Gebäude.

    Marmorglanz mit Harfenklängen,

    Kraftgesang gelebter Freude.


    Eilt herbei, der reiche Prasser:

    „Ave Caesar, lass dich grüßen!“

    Blanke Glatze, wie ein Fass er:

    „Salomé, zu deinen Füßen!“


    Auf dem Rasen, unter Pinien,

    schwer bewacht von schwarzen Hünen:

    Roter Glanz der Feuerlilien,

    nackter Tanz auf hohen Bühnen.


    Und der Tische Köstlichkeiten!

    Muscheln, Austern, Weinbergschnecken,

    die dem Gaumen Lust bereiten

    und der Schlemmer Gier erwecken.


    Hase, Rebhuhn, wilde Schweine,

    von der Bärenzung´ Oblaten,

    Vögel, Frösche, große, kleine,

    Igelfisch- und Gänsebraten.


    Aus Ägypten süße Weine,

    aus dem Norden Honigtränke.

    Nur das Beste, Edle, Reine.

    Nichts kommt aus der nächsten Schänke.


    Trunken sind die ersten Gäste.

    „Sklave! Federchen des Pfauen!“

    Opfern ungeniert das Beste,

    unter dem Gekreisch der Frauen.


    Pauken dröhnen, Flöten schrillen,

    seht die Schar der Gladiatoren!

    Tod-Verachtung, Siegeswillen,

    jetzt zum Kampfe auserkoren.


    „Zehnkampf gibt´s, des Hausherrn Wille,

    zum Ergötz des jungen Caesar!“

    schreit der Rufer in die Stille.

    Frisch geharkt ist die Arena.


    Wollust hinter Myrtenhecken,

    schriller Schrei für taube Ohren,

    Lex verzehrt die letzten Schnecken.

    Wutgeheul der Gladiatoren.


    Parther, Syrer, auch Germanen,

    dreist erschachert mit Sesterzen

    – Alte, Junge, Veteranen –

    zur Erbauung kalter Herzen.


    Schon sind etliche zuschanden,

    wälzen sich auf blut´gem Boden.

    Nur noch zweie stehn in Banden,

    stolz das kühne Haupt erhoben.


    Beifallssturm und lautes Johlen –

    niemand will des Kampfes Ende.

    Salomé, ganz unverhohlen,

    wirft vors Antlitz ihre Hände.


    „Caesar“, schluchzt sie, „lass es enden!

    Siehst du nicht des Bluts Geträufel?

    Blut´ges Fleisch, zerstoch´ne Lenden!

    Sei ein Mensch, und sei kein Teufel!


    Lass die Zweie doch am Leben,

    Charon hat schon acht bekommen!

    Was soll denn der Kampf noch geben?

    Bin von Grauen ganz benommen.“


    Schon erhebt sich böses Murren.

    Blutleer sind des Caesars Wangen.

    „Ach, Prinzessin, wie sie knurren.

    Volk von Rom! Ich hör´s mit Bangen.


    Soll ich fremde Bäuche füttern?

    Nur mit Härte kann ich siegen.

    Härte wird das Volk erschüttern

    und mir dann zu Füßen liegen.“


    „Drehst den Daumen du nach oben

    schonst du beider Sklaven Leben!

    Mancher Fechter wird dich loben

    dir die Hand zum Treueid geben.


    Tausend ist die Zahl der Fechter,

    die durch Romas Straßen wanken.

    Zeige Großmut, sei Gerechter!

    Einstmals werden sie´s dir danken.“


    „Dir, Geliebte, will ich dienen,

    lege mich zu deinen Füßen.

    Sei´s! Das Leben schenk ich ihnen.

    Soll ihr Lob die Nacht versüßen.


    Hör, Sejanus, Gardewächter!

    Nimm sie auf in meine Truppe,

    Stör dich nicht an Hohngelächter,

    Zierde meiner Fechtergruppe.“


    Salomé, im Griechenflore,

    weit entfernt von Schwert und Lanzen

    doch ganz nah an Gaius Ohre:

    „nur für dich will ich heut tanzen.“

    Grendelbert freute sich sehr über die Hilfe. Man-Úan aber war sehr zornig!

    Ich würde die Erzählung hier auslaufen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kleinen den erzählerischen salto mortale, der jetzt folgt, verstehen. Außerdem ist er mE überflüssig. Das Paradoxon "Guter Bösewicht" wurde doch in kindgerechter Weise mehrfach vorgetragen. "Man-Úan aber war sehr zornig" ist doch schon fast ein guter Schluss.

    Kommt her, ihr lieben Leute, alte und auch junge,

    hab neue, wundersame Mär –

    mein Affe hier gibt euch Gewähr –

    und hört ein seltsam Lied von dieses Sängers Zunge.

    Ein Ritter kühn, der alten Sippe ganzer Stolz,

    verlor einst seine dritten Zähne,

    – ich schäm´ mich fast, dass ich´s erwähne –

    denn das Gebiss, ja das Gebiss – es war aus Holz.

    Aus edlem, festen Span und reichlich dickem Kleister,

    mit Fäden fein zum festen Biss,

    bemalt mit guter Farb´, gewiss,

    er ließ es fertigen bei einem hochberühmten Meister.

    Wie kam´s? Es war des Ritters schnödes Missgeschick

    und nicht des Alters Räuberhände,

    dass seine Zunge Leere fände.

    Und dann – ach, ach! Hier die Ereignisse auf einen Blick:

    Auf einem Ritterfest geschah´s im großen Köln am Rhein:

    Das Ross sprang hoch, jedoch zu kürzlich,

    und machte drum den Ritter stürzlich.

    Der Sand, der Sand war weich, doch nicht der ekle Stein.

    Da lag er nun, der Rittersmann, im Kreise seiner Zähne,

    der Helm zerbeult, der Mund zerbläut,

    im Zwölfuhrmittags Kirchgeläut,

    und helles Blut entquoll wie eines Feuerengels Strähne.

    Ihr sagt: Ein Ritter, dreist und wild in tollen Schlachten,

    der beißt doch nicht, er haut und sticht,

    so hat ein Zahn doch kein Gewicht,

    wer, Teufel, sagt ihr Leut´, würd´ ihn darum verachten?

    Doch ach, ihr Leut, denkt ihr denn gar nicht an die Minne?

    An´s Stelldichein auf grüner Au,

    am Bach mit einer schönen Frau?

    Des Ritters Sinn: Dass er der Liebsten Herz gewinne?

    Nun muss nicht jeder, weder tags noch in der Nacht,

    will er ´ne holde Herrin wählen,

    von heißer Lieb und Treu erzählen,

    Doch lachen sollt´ er können. Herzhaft, mit Bedacht.

    Er tut´s. Doch ach! Sie sieht in seines Mundes Gähne

    und senkt verstört die holden Lider.

    Sie denkt bei sich: Mit dem? Nie wieder!

    Aus ihrem Augenpaar tropft nicht die kleinste Träne.

    Doch unbesiegbar ist des Ritters kühner Stolz,

    wenn auch sein Blut zu Eis geronnen.

    Zu herrlich sind der Minne Wonnen.

    Gebiss, Gebiss, ruft er, und sei es auch aus Holz! –

    Nun hält er´s in der Hand, das seltene Gebilde,

    er legt´ es an, sich zu gewöhnen –

    soll´n ihn die Brüder doch verhöhnen!

    Will reiten schnell zu seiner Braut in spe Mathilde.

    Sein frohes Herz erfasst erneute Liebesglut.

    Herbei ruft er den feschen Knappen:

    Du Striegle mir den schnellsten Rappen!

    Was lange währt, denkt er, wird endlich, endlich gut.

    Geschwind jagt er dahin durch Wald und rote Heide,

    durch Fluss und Tal und schwarzes Moor,

    Schon steht Mathild´ am hohen Tor,

    ihr gold´nes Haar erglänzt wie köstliches Geschmeide.

    Er springt vom Pferd: He Knapp´, versorg´ das edle Ross!,

    die hohe Sinn voll Minnefieber.

    Sie sieht in an – o du mein Lieber!,

    der Blicke Glut: Verwundert sieht´s der Knappen Tross.

    Sie löst vom goldnen Haar das Jungfernkranz-Gewinde.

    Mein Herz, ruft sie, wie froh es ist!

    Ich weiß, in angemess´ner Frist

    bescherst du mir, mein Lieb, das bunte Braut-Gebinde.

    Am Linden-Brunnen lassen sich die beiden nieder.

    Des Lautenschlägers heit´res Spiel

    erspart dem Ritter Worte viel.

    Ein Gaukler eilt herbei, sein Kleid wie Pfau-Gefieder.

    Mathilde sieht´s und klatscht vergnüglich in die Hände.

    Der arme Ritter lacht befreit –

    und sein Gebiss, es fliegt so weit –

    vergaß er doch die allzu zarten Halte-Bände.

    Er ritt dann nach Jerusalem, ins heilige Land,

    wo er mit wenig echten Zähnen

    bei fürchterlichen Sarazenen

    in schwerem Kampfgewühl die ewige Ruhe fand.

    Das Lied ist aus. Spart nicht mit euren milden Gaben.

    Der Sänger schweigt und wirft den Hut,

    und, liebe Leute, füllt ihn gut.

    Der schwere Krug steht schon bereit, der ihn wird laben.

    Der halbierte Ritter

    Eine unglaubliche Geschichte in Versen


    Ein Ritter aus uraltem Stammes-Adel

    (solch einem sucht man wie im Heu die Nadel)

    ein Recke, kühn und fest wie schwere Eiche,

    berühmt für seinen Mut im ganzen Reiche.

    Mit Harnisch, Schienen und des Halses Berge,

    überragt er all´, als wären´s winz´ge Zwerge,

    sein stolzes Ross mit Feuer sprüh´den Nüstern

    stets fest, sollt auch die Nacht den Tag verdüstern –

    ritt einst als Kaisers Knappe gegen Osten

    (wie´s damals üblich war auf eigne Kosten),

    ins ferne Land der wütenden Tataren

    die Christenheit vor Unheil zu bewahren.

    Mit hohem Mut macht er sich auf zum Kampfe.

    Von Weitem schon vernahm er Kriegsgestampfe,

    auch Todesschrei und eh´rner Schwerter Klänge,

    Trompetenschall und wüste Kraftgesänge –

    da traf ein Hieb ihn, teuflisch, ganz von hinten,

    der Schwertstreich eines Ritters voller Finten,

    der teilte ihn, bei allen frommen Seelen!,

    vom Kopf hinab bis zu den Kronjuwelen.

    Man fragt sich nun, trotz allem Kriegsgetöse:

    Wo ist die gute Hälfte, wo die böse?

    Denn jeder Mensch hat gut´ und böse Seiten,

    das kann sogar ein Heil´ger nicht bestreiten.

    Wird nicht die linke Hälft´ schnell zum Verräter,

    wie oft bezeugt in Kämpfen unsrer Väter?

    Kann man in Kampfesnot noch auf sie hoffen?

    So fragt man sich und steht und schweigt betroffen.

    Die rechte Seit´: von Alters her die gute,

    das rechte Herz erfüllt von kühnem Mute.

    Doch Kettenhemd und Harnisch sind zerhauen

    das Pferd halbiert. Worauf kann sie noch bauen,

    wo doch die linke krampft um Schild und Zügel,

    auch sitzt an Pferdes Steige nur ein Bügel.

    Doch Ross und Reiter haben noch zwei Augen,

    mit etwas Umsicht wird´s zum Kampf noch taugen.

    Da fängt die böse Hälfte an zu röhren:

    Du wolltest mich mit deiner Art betören!

    Hab unter dir nun lang genug gelitten,

    die Nase voll von deinen guten Sitten!

    Bin endlich frei mit allen meinen Trieben,

    kann endlich mich und immer mich nur lieben.

    Will jetzt verraten, stechen, um mich hauen!

    Die gute Hälfte hörte es mit Grauen.

    Ein Tosen, rau, wie mächt´ger Löwen Brüllen

    braust an, die beiden Hälften einzuhüllen,

    ein Haufe blutverschmierter Sarazenen

    beginnt, die beiden Hälften zu verhöhnen,

    die Bogen lang, die Spitzen scharf geschliffen.

    Und eh sie die Gefahr noch kaum begriffen:

    ein Krieger, frech, zielt auf die gute Seite –

    doch mangels Körper fliegt der Pfeil ins Weite.

    Der nächste Schuss zielt auf der bösen Stirne,

    doch wo ein Schädel war, ist kaum noch Hirne.

    Auch hier reicht schon ne winzig kleine Wende,

    der Pfeil verfehlt und landet im Gelände.

    Die Krieger sehn´s mit überquelln´dem Staunen,

    die Kehlen voller angsterfülltem Raunen:

    Der Kerl, der Christenhund, er kann wohl zaubern,

    drum lasst uns fliehen, schnell und ohne zaudern.

    Da spricht ein Hüne, hoch wie Tannenspitzen:

    Ihr Memmen all´, nun bleibt gefälligst sitzen!

    Es ist der Christengott, der lehrt sie wehren,

    ich gehe hin und lasse mich bekehren.

    Doch auch die böse Hälfte musste leiden,

    so manche Wunde schlugen ihr die Heiden

    mit Hieb und Stich und mörderischen Streichen.

    Und rundherum vermehrten sich die Leichen.

    Was nützt ein Schwert ohn Schild, wen´s gilt zu streiten?

    Was nützt eine halbes Ross, das nicht zu reiten?

    Was nützt ein Helm, zerbeult von tausend Hieben?

    Da fällt es schwer, das Vaterland zu lieben.

    Die gute Seit sowohl als auch die böse –

    zum Himmel stieg vermehrtes Schlachtgetöse –

    beschlossen nun, sich wieder zu vereinen,

    anstatt geschlag´ne Wunden zu beweinen.

    O heil´ger Gesorg, höre unser Flehen!,

    – die gute Seit´!, – Wir können kaum noch stehen!

    Auch sankt Andreas, Helfer von Burgunden!

    Erbarmt euch schnell und heilet unsre Wunden.

    Und schicke uns – die böse!, – doch den Drachen,

    der niemals schläft, mit Feuer spein´dem Rachen,

    das Heil´ge Vlies, des Gold´nen Schafs Gehäute

    des Jason und der Argonauten Beute,

    das Fell, das Wunder wirkt in allen Teilen,

    das Wunden heilt, die sonst kein Arzt kann heilen! –

    Der Drache schwebt, das gold´ne Fell in Krallen,

    herbei und lässt es auf die Hälften fallen.

    Und Mann und Pferd, sie wachsen jetzt zusammen,

    verwundert sehn´s der Sarazenen Mannen.

    Ein Ende nimmt das Kämpfen und das Rauben,

    zu wunderbar erscheint der Christenglauben.

    Und schon beginnt ein Hasten und ein Laufen,

    in Scharen lassen sich die Heiden taufen.

    Und Frieden ziert Jerusalemens Gassen.

    Der Kaiser staunt und kann es gar nicht fassen.

    Hallo Tarik,

    hallo Der Wanderer,

    dass euch die Geschichte gefallen hat freut mich. Die beiden "Uppser" sind schon korrigiert. Vielen Dank für euer Feedback.

    LG

    Plötzlich waren sie da. Ich versuchte, sie zu zählen – vier, fünf, sechs – weiter kam ich nicht. Anscheinend hatte ich das Zählen verlernt. Jetzt begannen die Wölfe, mich zu umkreisen, langsam, bedächtig, ohne Hast. Das stärkste Tier, wohl der Rudelführer, das Alphatier, mit struppigem Fell, sah mich mit eisgrauen Augen an. Doch sein Blick war nicht etwa grausam oder blutdürstig. Der Blick war eher ernst, kalt, fast gelangweilt. In ihm lagen die haushohe Überlegenheit des Wolfs gegenüber dem unbewaffneten Menschen sowie Millionen Jahre Kampferfahrung.

    Ich wusste sofort: Dies konnte kein Traum sein, dazu war die Situation zu realistisch. Ich roch sogar diesen Geruch, diesen herben, strengen Raubtiergeruch, wie ich ihn im Zoo vor dem Wolfsgehege gerochen hatte, hörte dieses gefährliche rrrr – rrrr. Wie damals nistete sich auch jetzt wieder Übelkeit in meiner Magengegend ein. Und doch, irgendwie roch es jetzt anders – nicht so tierisch, aber doch über die Maßen abstoßend.

    Seltsamerweise bewegte mich die Frage, wie ich in diese unbekannte Gegend gelangt war, jetzt fast genauso wie die Anwesenheit der Wölfe. Ich konnte mich nicht erinnern, eine Waldwanderung vorgehabt zu haben, noch dazu an einem Wochentag, an einem Arbeitstag ... War nicht heute Montag?

    Die Tiere trabten jetzt schneller, der Kreis wurde enger. Nur nicht die Nerven verlieren, dachte ich, wenn ich jetzt losrenne, fallen sie über mich her. Irgendwo hatte ich gelesen, dass man schreien soll, wenn einem Elefanten zu nahe kommen. Anscheinend mögen Tiere Menschengeschrei nicht. Also schrie ich. Aber ich hörte nichts. Alles blieb stumm. Wenn etwas schrie, dann war es die Stille, die schrie. Also hatte ich auch das Schreien verlernt. Verzweifelt griff ich mir an die Kehle ...

    Der Leitwolf, das riesige Tier, sprang auf mich zu und riss den Rachen auf, Fangzähne blitzten. Ich blickte entsetzt in das furchtbare Raubtiergebiss und roch den stinkenden Atem ...

    Auf einmal waren die Tiere verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Ich war wieder allein. Und das Sonderbare: Ich wunderte sich noch nicht einmal.

    Dafür beunruhigte mich jetzt ein seltsames Geräusch. Es kam von weit her, doch ich vernahm es ganz deutlich. Es klang, als werfe jemand trockene Erbsen auf den Boden. Oder war´s das Geknatter von Gewehren, das Rasseln von Panzerketten? Bestürzt dachte ich: Jetzt ist also auch bei uns Krieg ... Ich wollte aufstehen und wegrennen. Aber auch das ging nicht. Meine Füße steckten in zähem Morast fest. Das Geräusch war jetzt ganz nah ... Eine panische Angst ergriff mich. Ich bekam keine Luft mehr; mir war, als müsse ich ersticken ...

    Ein krachender Donner ließ mich hochfahren. Das knisternde Geräusch war jetzt genau über mir. Ich benötigte eine ganze Weile, um festzustellen, dass ich auf dem Sofa lag, und dass es keine knatternden Gewehre oder rasselnden Panzerketten waren, die da dröhnten, sondern dicke Hagelkörner, die hart auf das Dachfenster trommelten. Doch woher kam dieser Nebel, und dann dieser ekelhafte Gestank? Plötzlich war ich hellwach. Die Erbsensuppe! Ich sprang auf und lief in die Küche. Die Suppe war gerade dabei, sich in eine schwarz-braune Masse zu verwandeln, und schwarzer Qualm schwebte über dem Herd.

    Hallo Mephistoria,

    ich habe mir erlaubt, deinen Text ein wenig zu durchforsten. Hast du niemanden, der deine Texte gegenliest? Die vielen Fehler verderben die Produkte deiner lebhaften Fantasie.

    LG

    McFee



    Hallo Jufington,

    vielen Dank für dein Feedback.

    Ich habe einiges kurz gehalten, die Geschichte sollte nicht zu lang werden. Außerdem ist die "Sitzung" nach dem Fingerbiss zuende, der Knabe gilt danach als hoffnungsloser Fall.

    „Geh jetzt! Wenn du zu spät kommst, sperren sie dir den Freigang!“

    Daraus wird deutlich, dass die Mutter eine Gefängnisstrafe absitzt und ihren Sohn bei der Tante untergebtacht hat.

    Natürlich, Perfomance passt auch inhaltlich nicht. Séance oder spiritistische Sitzung wäre besser.

    1

    Der Junge lag mit offenen Augen im Bett und starrte an die Decke, an der sich die Lichtraute der Hoflampe abzeichnete. Er war ein ernster blasser Knabe mit stillen traurigen Augen und zu klein für sein Alter; er fürchtete sich vor dem großen Bett mit den gedrechselten Beinen und den wirren Schnitzereien, in dem er sich verloren vorkam. Er schloss die Augen und begann zu weinen. Er konnte nicht verstehen, warum ihn die Mutter nicht mehr liebte und zur Tante gebracht hatte. Vor der Tante hatte er noch mehr Angst als vor dem schwarzen Bett; das Bett war unheimlich, aber es tat ihm nichts, doch er wusste, irgendwann würde ihm die Tante etwas antun, denn die Augen der Tante waren böse, hart und abweisend. Der Onkel ... Der hatte große traurige Augen, noch trauriger als seine, aber die Tante ließ ihn nicht zu ihm.

    In die Tränen hinein versuchte er sich zu erinnern. Irgendwann in seinem jungen Leben war etwas geschehen, das er sich nicht erklären konnte. Er erinnerter sich noch, dass die Mutter ihn eines Tages heftig umarmt und dabei entsetzlich geweint hatte. Dann hatte sie ihn zur Tante gebracht. Seitdem war er nicht mehr froh gewesen. Warum nahm sie ihn nicht mehr in den Arm, warum gab sie ihm keinen Gutenacht-Kuss mehr? Was war das für eine große fremde Stadt, in die sie immer fuhr, und in der sie so viel lernen musste? Und warum holte sie ihn nicht wieder nachhause und von der Tante und dem ständig hustenden Onkel weg?

    Doch es fiel im keine Antwort ein.

    Wieder erklang das entsetzlich röchelnde Husten des Onkels, der nebenan im Bett lag, todkrank, wie die Tante sagte. Es hörte sich schrecklich an, besonders, wenn der Onkel geräuschvoll abhustete, bevor er ausspuckte ...

    Das Rechteck in der Tür wurde hell. Er wartete, und ein Zittern erfasste seinen dürren Körper. Würde die Tante jetzt hereinkommen? Der Ausschnitt in der Tür wurde wieder dunkel, und er atmete erleichtert auf.

    Als er genug geweint hatte, begann er zu träumen. Ja, ein Riese sein ... Einer von diesen sagenhaften kirchturmhohen Geschöpfen, von denen ihm die Großmutter früher erzählt hatte, wenn sie an seinem Bettchen saß ... Doch auch die Großmutter besuchte ihn nicht mehr, war sie vielleicht gestorben? Er hatte die Tante gefragt, doch die hatte nur gesagt: „Halt den Mund!“

    Ja, er wollte ein Riese sein, wollte in dieser fantastischen Welt leben, in dieser Riesenwelt, in keiner anderen. „Oh, wäre ich doch auch so groß!“, seufzte er mit seiner kleinen dünnen Stimme, „oder auch nur halb –“ Ein Weile starrt er wieder an die Zimmerdecke mit der Lichterscheinung.

    Wie gerne hätte er solch einen Riesen zum Freund gehabt! Nein, nicht einen dieser wütenden Ungeheuer, die Bäume ausreißen und Menschen und Tiere erschrecken ... Es sollte ein sanfter, freundlicher Riese sein, der sich zu ihm, dem Däumling, wie ihn die Großmutter scherzhaft nannte, herunterbeugt, ihn hoch nimmt und die große weite Welt zeigt ... Ja, Freunde! Freunde besaß er gar keine mehr. Die Tante hatte ihm den Umgang mit anderen Kindern verboten, warum wusste er nicht. Aber so ein Riese ... Ha! Der würde sich von der Tante nicht einschüchtern lassen! Und er würde ihm sicherlich ein Tischlein-Deck-Dich bereiten und nicht immer nur Haferbrei geben wie die Tante, tagaus, tagein, immer nur diesen langweiligen Haferbrei. Vielleicht kannte der Riese ja auch das Geheimnis, wie man sich unsichtbar machen konnte ...

    Diese unheimliche Stelle unten an seinem Rücken schmerzte, und er drehte sich auf die Seite.

    Das Licht hinter der Glasscheibe in der Tür ging an, aber es ging nicht wieder aus. Er hörte die schweren Schritte der Tante die Treppe hoch stapfen, ein Schatten näherte sich der Tür und wurde schnell größer. Die Tür ging auf, die Tante trat ein, machte Licht, und er musste blinzeln. „Aufstehen!“, befahl sie, „es ist so weit!“


    2

    Die Tante hatte einen Schirm aufgespannt, aber nur für sich, er musste im Regen gehen. Als sie an dem Haus, einem schmucklosen Gebäude mit hohen, schmalen Fenstern, ankamen, war er tropfnass. Die Tante schloss die Tür auf, sie traten ein. Sie führte ihn in einen kleinen Raum und befahl: „Ausziehen!“ dann ging sie weg. Es war kalt, und er fror. Als sie wiederkam und sah, dass er immer noch nicht fertig war, riss sie ihm schimpfend die restlichen Kleider vom Leib. Dann ergriff sie fest seine Hand und zerrte ihn mehr als dass sie ihn führte in einen anderen Raum, der war groß und voller schwarz gekleideter Leute. Sie saßen im Halbkreis um eine schräge Kiste herum, über dem ein schwarzes Tuch hing. Auch die Wände des Saales, vor denen dicke hohe brennende Kerzen mit seltsamen Zeichen standen, waren mit schwarzen Tüchern verhüllt. Er musste sich vor die Kiste stellen, mit dem Rücken zu den Leuten, und die Tante befahl: „Rühr dich nicht von der Stelle!“ Dann setzte sie sich vor den Halbkreis.

    Im Raum war es jetzt absolut ruhig; nur ab und zu knisterte eine der Kerzen kurz auf. In dem flackernden Schein, der den großen Raum in eine erhellte Dunkelheit tauchte, erschien der schmale weiße Körper des Knaben wie ein zuckendes Bündel Nichts. Er begann wieder zu zittern, doch nicht nur vor Kälte, sondern vor Scham, denn er fühlte schamlose Blicke auf seinen Rücken gerichtet wie Nadelstiche. Obwohl er es nicht sehen konnte, wusste er genau, wohin die Blicke gingen; sie gingen auf die schmerzende Stelle unten an seinem Rücken, auf dieses kleine, kurze, stielartige Gebilde, das die Tante Teufelsschwanz nannte.

    Auf einmal erklang ein seltsamer, unheimlicher Gesang; es war eigentlich kein richtiges Singen, sondern eher ein monotoner Singsang wie aus unbekannten Höhlenwelten, vorgetragen von hohen Männerstimmen. Zwei der schwarz gekleideten Gestalten traten hervor, fassten ihn an Armen und Beinen und legten ihn mit dem Bauch auf den Katafalk. Der Gesang würde jetzt lauter, die Sänger bewegten sich langsam und mit brennenden Kerzen in der Hand auf ihn zu, schließlich blieben sie vor der Bahre stehen.

    Er blickte an die hohe Wand vor sich, wo schemenhafte Schattengebilde hin und her flatterten. Ein unförmiges zottiges Ungeheuer erschien, mit einem einzigen, brennenden Auge; es wurde größer und größer und nahm bald sie gesamte finstere Wölbung des Raums ein. Er schloss die Augen, doch das Trugbild blieb. Ein Augenblick nüchterner Überlegung sagte ihm, dass es kein wirkliches Ungeheuer sein konnte, denn wirkliche Ungeheuer hausen nicht in Räumen mit brennenden Kerzen, und schon gar nicht in Kirchen, denn eine Kirche war dieses Haus, er erkannte es am Geruch. Doch die unbewusste Spiegelung seiner Angst erwies sich als stärker; die Erscheinung kam auf ihn zu, schon berührte sie seine Schultern, er schrie und wollte sich aufrichten, doch kräftige Hände drückten ihn auf sein Lager zurück.

    Was jetzt geschah, nahm er nur bruchstückhaft und wie aus weiter Ferne wahr. Fremde, kalte Hände betasteten seinen Körper; er ertrug die Qual mit zusammengebissenen Zähnen. Dann drehten sie ihn auf den Rücken; er vernahm Worte, die er nicht verstand; der Gesang setzte wieder ein; er hörte, wie die Tante „Teufel“ schrie und „besessen!“, und dann war auch das Ungeheuer wieder da. Seine weiße behaarte Pranke senkte sich und gab ihm einen Schlag auf den Mund; gleichzeitig erklang über ihm eine laute dunkle Stimme, die Worte in einer unverständlichen Sprache rief. Der Schlag war nicht gerade schmerzhaft gewesen, aber doch deutlich spürbar. Er öffnete die Augen und erblickte über sich zwei winzige, flackernde Kerzenflammen, die sich in der Brille eines Mannes mit bärtigem Gesicht spiegelten. Wieder senkte sich die Pranke – und jetzt sah er, dass es nicht die Pranke des Ungeheuers von der Wand war, sondern eine stark behaarte menschliche Hand – und wieder verspürte er einen leichten Schlag auf die Oberlippe, und die dunkle kratzige Stimme über ihm wurde noch lauter. Als sich die Hand zum dritten Mal zum Schlag näherte, biss er blitzschnell zu.

    3

    „Ich habe den Jungen immer gut behandelt“, sagte die Frau. Ihr rundes, fülliges, glänzendes Gesicht war abweisend, das grau-braune, stark ondulierte Haar wirkte wie einbetoniert, ihr mit Goldfäden durchwirktes, hellbraunes Kleid glitzerte, besonders, wenn sie sich bewegte. Die Frau, die ihr gegenüber saß, war in schlichtem Dunkelgrau gekleidet, von Gestalt her unscheinbar, überschlank, geradezu zierlich. In ihren müden, dunkel umrandeten Augen lag die Erschöpfung vieler durchwachter Nächte und zerschlagener Hoffnungen.

    „Und zu essen bekommt er auch genug.“

    „Dann muss er einen Bandwurm haben“, sagte die zierliche Frau, die Mutter des Jungen. „Für sein Alter ist er zu klein und zu dünn.“

    Die Luft in dem engen Raum roch muffig, stickig, abgestanden, wie überhaupt die ganze Wohnung nicht angenehm roch; es stank nach kaltem Zigarettenrauch und den ölig-fettigen Ausdünstungen der Ölradiatoren.

    „Bandwurm! Unsinn!“ Die Frau mit der Betonfrisur machte eine unbestimmte Handbewegung und blickte ihre Schwester böse an. „Er hat den Satan im Leib, und der isst gerne mit!“

    „Mein Gott, Martha, was redest du da! Den Teufel! Doch nicht in einem kleinen Jungen! Das kann doch nicht dein Ernst sein.“

    „Ich hab ihn gestern während unserer Performance Dr. Immendorf gezeigt“, sagte die Frau, ohne den Einwand ihrer Schwester zu beachten. „Er ist derselben Ansicht, besonders, nachdem der Böse aus dem Mund des Jungen gefahren ist und ihn in den Zeigefinger gebissen hat, als er versuchte, die missgestaltete Oberlippe zu beschwören.“ Da die Schwester mit zusammengekniffenen Lippen schwieg, fuhr sie fort: „In der menschlichen Natur liegt eine starke Neigung, unangenehme Wahrheiten zu ignorieren. Mia“, rief sie beschwörend, „nimm doch endlich Vernunft an! Dein Junge ist besessen! Na gut, man könnte eine Teufelsaustreibung versuchen. Aber ich fürchte, bei ihm bringt das nichts. So, wie er den dunklen Mächten verfallen ist, dürfte auch der geschickteste Exorzist machtlos sein. Da müssen stärkere Mittel her.“

    Die Mutter blickte alarmiert auf. „Stärkere Mittel? Was hast du vor?“

    „Reg dich nicht auf! Zunächst noch gar nichts, ich stelle lediglich fest. Ad eins. Seit er hier ist, geht es Georg zunehmend schlechter. Mittlerweile ist seine Husterei kaum noch zu ertragen, und er kommt kaum noch aus dem Bett. Ad –“

    „Und warum hört er nicht mit dem Rauchen auf? Ich denke – “

    Die Frau sah ihre Schwester amüsiert an. „Ach nee, du denkst! Das überlass mal anderen! Im übrigen: Andere Männer in seinem Alter rauchen auch noch und sind nicht todkrank! Nein, dein Bankert ist´s, er hat Georg verhext! – Halt den Mund, ich bin noch nicht fertig! Ja, wenn es nur das wäre! Dann ist da auch noch dieser Stummelschwanz! Von hinten sieht er wie ein Ferkel auf zwei Beinen aus, dein holder –“

    „Martha, du übertreibst wieder mal maßlos! Das hat doch nichts mit dem Teufel zu tun! Wie oft soll ich das denn noch sagen! Eine seltene Fehlbildung, die immer mal wieder auftritt, und bei Hänschen fällt sie noch nicht einmal besonders auf! Sollte der Stummel größer werden, wird er wegoperiert.“

    „Solange ich hier das Sagen habe, wird nichts wegoperiert! Oder willst du etwa den bösen Mächten das Handwerk verbieten? Das Böse muss in der Welt sein, damit es Gerechtigkeit geben kann. So. Und als wäre ein Teufelsschwanz noch nicht Zeichen genug, hat er auch keinen Amor –“

    „Ach! Und du bist eine von den Gerechten! Da kann ich nur lachen! Du und gerecht! Du Geizknochen hast dich doch früher freiwillig noch nicht einmal von einem schnöden Stück Schokolade getrennt!“

    Die Frau im Glitzerkleid blickte hasserfüllt in das gepuderte, schminkeverschmierte Gesicht der Schwester, und ein leiser Ekel stieg in ihr hoch. „Wie siehst du wieder aus!“, grollte sie, „wie eine von der Straße! Pfui!“ Ihre Augen waren zwei winzige, spitze Dolche, die jetzt gnadenlos zustachen: „Ist dir inzwischen eingefallen, wer Hänschens Vater ist?“

    Die zarte Frau, kreidebleich, mit schwarzen Augenrändern, starrte ihre Schwester ein paar Sekunden lang sprachlos an. Dann sprang sie auf, der Stuhl knallte gegen die Wand. „Martha, ich verbiete dir, so mit mir zu reden!“, schrie sie mit quietschiger Stimme, „wie steht es doch in deinem schlauen Buch? Wer unschuldig ist, der werfe den ersten Stein.“ Doch ihr Aufbegehren brach kraftlos am ironisch-abweisenden Grinsen der Schwester zusammen, auch daran, dass sie die Schwächere war.

    „Mia, willst du mir etwa das Wort verbieten?“ Die Frau lachte höhnisch. „Schrei hier nicht herum, sonst wird der Junge noch wach, und setz dich wieder!“

    Die Mutter nahm den Stuhl hoch, setzte sich, weiß im Gesicht, und starrte vor sich hin.

    „Es passt alles zusammen“, fuhr ihre Schwester rohzüngig fort, „der Biss, der Teufelsschwanz, der fehlende Amorbogen. Dein Sohn gehört in das Reich des Bösen, und ich werde für Gerechtigkeit sorgen, denn irgendjemand muss es ja mal tun und die Konsequenzen ergreifen. Du bist zu schwach dazu.“

    „Wieso –“

    „Halt den Mund und hör endlich zu!“ Die Frau schlug mit der flachen Hand dröhnend auf den Tisch, „du weißt anscheinend nicht, was ein fehlender Amorbogen bedeutet. Was glaubst du wohl, warum Hitler diesen lächerlichen Stummelbart trug? Nicht weil er einen hässlichen Mund hatte, wie manche behaupten, sondern weil ihm der Amorbogen fehlte, genau so wie deinem unseligen Sprössling, und das wollte er vor seinen Anhängern verbergen! Solche Leute gelten nämlich seit alters her als lieblose und böse Menschen, und die Geschichte hat gezeigt, dass dieses Urteil kein Vorurteil ist!“ Sie dämpfte ihre Stimme zu einem leisen hohlen Flüstern. „Dein Hänschen ist die Reinkarnation Hitlers, und Hitler war von bösen Mächten besessen! Ich werde dafür sorgen, das er die Welt nicht noch ein zweites mal heimsucht! Denn ich gehöre zu den Sieben Gerechten, von denen das schlaue Buch, wie du es nennst, berichtet.“

    Die schmale Frau bäumte sich auf. „Willst du ihn umbringen?“, schrie sie in höchster Verzweiflung.

    Die Frau sah ihre Schwester kalt an. „Geh jetzt! Wenn du zu spät kommst, sperren sie dir den Freigang!“

    „Kann ich den Jungen ... Ich bin auch ganz leise.“

    „Nichts da! Geh jetzt endlich!“

    Das Gesicht der Schwester wurde kreideweiß. Sie stand auf und verließ grußlos und schwankend das Zimmer.

    4

    Der Junge lag schon eine ganze Weile wach; die lauten Stimmen und ein Hustenanfall des Onkels hatten ihn geweckt. Die Hoffnung, die Mutter, deren Stimme er erkannt hatte, jemals wiederzusehen, hatte er aufgegeben. Er wartete deshalb auch nicht darauf, dass die dunkle Scheibe in der Tür hell würde und die Mutter hereinkäme. Die Scheibe wurde hell – er hörte ihre leisen Schritte im Flur – und wieder dunkel. Mit klopfendem Herzen verfolgte er das Geräusch, bis es sich unhörbar in der Tiefe des Treppenhauses verlor. Dann fiel unten die Haustür zu.

    Enttäuscht schloss er die Augen. Nein, nicht die Mutter hatte ihn enttäuscht – die Riesen waren es! Nicht ein einziger hatte sein Versprechen eingelöst und ihn besucht! Und der Tante gezeigt, wer der Stärkere war! Also fürchteten sich die Riesen genauso vor der Tante wie der Onkel, der auch nur das machte, was die Tante befahl. Wenn auf die Riesen kein Verlass ist, dachte er, dann vielleicht auf Zwerge! Auch die Kurzen besitzen Macht!

    Ein Bild tauchte vor ihm auf, verschwommen wie hinter Nebelbänken ... Ein Riese, so groß und breit wie eine ganze Stadt, gefesselt am Boden, lauter Winzlinge krabbeln auf ihm herum und schießen ihm Pfeile ins Gesicht! Wie hieß er bloß, dieser Riese ... Gulli ... Gulli ... könnte er doch die Großmutter fragen ... ja, Gulliver hieß er, Gulliver!

    Und er beschloss, ein Zwerg zu werden in einer Welt voller Zwerge, und sie zu seinen Freunden zu machen! Er würde sich nicht lumpen lassen und ihnen seinen Haferbrei geben! Schon sah er die Tante gefesselt am Boden liegen, sah, wie sie sich vergeblich drehte und wendete, sich aufbäumte, sah, wie er eine Zwille nahm und ihr eine Erbse ins Auge schoss, und eine seltene Ruhe überkam ihn ...

    5

    Das Licht ging an und nicht wieder aus, die Tür öffnete sich; die Tante, einen groben Kartoffelsack in der Hand, trat auf leisen Sohlen ein. Einen Augenblick blieb sie mit angehaltenem Atem stehen und lauschte; aus dem Bett erklangen regelmäßige Atemzüge. Sie öffnete den Sack und beugte sich über den Jungen; ehe der begriff, was mit ihm geschah, hatte sie ihm den Sack übergestülpt. Der Knabe, jetzt hellwach, begann zu strampeln, doch vergeblich; die Sektenchefin klemmte sich Sack und Knaben einfach unter den Arm und ging damit ins Badezimmer. Dort band sie den Sack, in dem es seltsam ruhig geworden war, mit einer Schnur zu und legte ihn in die Badewanne.

    „Morgen früh wird es sich zeigen“, sagte sie, „wer stärker ist, das Böse oder das Gute, die Mächte der Finsternis oder des Lichts, die Gerechten oder die Ungerechten.“ Sie ließ Wasser einlaufen und prüfte die Temperatur. „Der HERR wird ein sicheres Urteil fällen ... lässt er dich schwimmen, habe ich mich getäuscht, gehst du unter ...“ Der Knabe, aus seiner Schockstarre erwacht, begann fürchterlich zu schreien und zu strampeln, doch die Tante redete unbeirrt weiter. „Keine Angst, ich weiß, du frierst schnell. Deshalb wird dieses Gottesurteil ausnahmsweise mit warmen Wasser durchgeführt. Eine Gerechte will nicht, dass jemand unnötig leidet!“ Sie regulierte den Zustrom so ein, dass die Wanne nicht überlaufen konnte, dann knipste sie das Licht aus, verließ das Badezimmer und schloss die Tür.

    *

    Die Erzählung basiert auf einer Zeitungsnotiz

    Die mutmaßliche Sektenchefin soll den vierjährigen Jungen,

    ihren Neffen ... in einen über seinem Kopf zusammengeschnürten

    Leinensack im Badezimmer ihres Hauses abgelegt

    und ertränkt haben. Die Angeklagte soll den Jungen als 'von

    den Dunklen besessen' angesehen und beschlossen haben,

    ihn zu töten ... Sie habe ihn als 'Schwein und Reinkarnation

    Hitlers' bezeichnet.

    Sonnabend, 6. Juni, abends

    Meine ferne Geliebte,

    das Dunkel lichtet sich, die Nebel lösen sich allmählich auf.

    Dass ich mich erst jetzt melde, hat einen Grund: Wegen einer mehrtägigen Seminarveranstaltung musste ich meine Versuche erst einmal unterbrechen. Allerdings hat mir die Pause gut getan. Mein Kopf ist wieder völlig klar, und nachts schlafe ich wie ein Murmeltier. Jetzt fühle ich mich stark genug, das letzte, entscheidende Experiment durchzuführen. Ich sage mir: Wenn du es beginnen konntest, sei auch fähig, es zu beenden.

    Aber zunächst ist es nicht soweit. Noch fehlt mir die letzte Gewissheit. Doch ich denke, dass es nur eine Frage von kurzer Zeit ist, bis ich das Geheimnis dieser Teufelsuhr vollständig gelüftet habe. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, was die Zeichen bedeuten.

    Vor ein paar Tagen weilte im Institut ein Professor der Tsinghua-Universität in Peking, ein Experte in altchinesischer Schriftkultur. Ich zeigte ihm die Uhr, und er meinte, es seien Zeichen der Nushu-Schrift. Im Alten China, erklärte er, waren Bäuerinnen von höherer Bildung ausgeschlossen. Sie erfanden diese Geheimschrift, die für Männer nicht zu entziffern war. Das Zeichen auf Positionen 6 bedeute Geburt, das auf 12 Tod, das auf Position 3 bedeute Jugend, die 9 Alter. Zu den anderen Zeichen konnte oder wollte er nichts sagen.

    War auch nicht nötig. Ich wusste genug. Zum Abschied riet er mir noch: Seien Sie vorsichtig, junger Freund, das Teil ist brandgefährlich!

    Abends, vor dem Zubettgehen, stellte ich den große Zeiger auf Pos 3, den kleinen auf Pos 11. War gespannt, was nun geschehen würde. Am Morgen erwachte ich mit schwerem Liebeskummer – nein, nein, nicht du, meine Anastasia, warst der Grund meiner Verzweiflung, der Grund war eine erloschene Flamme; ich war damals siebzehn Jahre alt. Dieser Zustand hielt drei Tage an. Mich beschleicht ein unheimlicher Verdacht: Sollten die anderen Zeichen Schicksalszeichen sein? Dann könnte ja – brr, bizarrer Gedanke – dann könnte die Uhr mir möglicherweise auch noch die Zukunft voraussagen! Mich juckt es in den Fingern, die Probe aufs Exempel zu machen. Doch ich lass es lieber. Das Ding hat schon genug Verwirrung gestiftet.

    Wie es der Zufall will hält sich seit drei Tagen ein indischer Guru mit einem unaussprechlichen Namen im Institut auf, der wie ein Bruder des verstorbenen Professors aussieht, oder sein Klon: Silberweißes Haar, wallendes Gewandt, nur trägt er an den Füßen keine Mao-Latschen, sondern schneeweiße Plastik-Klogs. Diesen Guru fragte ich, ob er von einer fernöstlichen Technik wisse, mit der der Mensch aktiv in den Lauf der Zeit eingreifen könne. Er sah mich groß an, und für einen Moment befürchtete ich, der werde mich auslachen, doch das Gegenteil war der Fall. „Mein lieber junger Freund“, sagte er in astreinem Englisch, „warum sollte er denn nicht?“ Er lud mich zu einem Tee in die Cafeteria ein und erzählte mir eine Geschichte.

    Du schaust zur Uhr, mein Herz? Dann mache ich jetzt einen Absatz, und du liest morgen weiter.

    Die Erzählung des Gurus

    Ein Yogi kehrte nach vielen Jahren intensiver Meditation aus seiner Einsiedlerhöhle beim See Gaurikunt nach Hause zurück, um noch einmal seine alten Eltern zu besuchen. Als seine Mutter die Tür öffnete, erblickte er die kostbare Wohnungseinrichtung mit wertvollen Mandalas und kupfernem Töpfen und Kannen, und er kam augenblicklich zu dem Entschluss, seine Seele nicht mit dem Anblick des irdischen Wohlstands zu verunreinigen. Die Mutter wandte kurz den Kopf, um den Vater zu rufen, und als sie den Kopf wieder zurückdrehte, war der Sohn verschwunden. Er konnte in dieser kurzen Zeit unmöglich das Grundstück verlassen und sich weit fortbewegt haben, doch trotz allen Rufens und Suschens – der Sohn war und blieb wie vom Erdboden verschluckt. Auch in der Umgebung wurde er nicht mehr gesehen. Nach fünfzehn Jahren erblickte ihn die nun steinalte Mutter – der Vater war inzwischen gestorben – bei der Gartenpforte, wie er auf das Häuschen starrte und ihr wie geistesabwesend zuwinkte. Er war kaum gealtert! Dieses wurde von der Mutter, ihrer Tochter, und einer Nachbarin, die den Sohn vom Küchenfenster aus beobachtet hatte, bezeugt.

    “Unsere Gelehrten erklären dieses Ereignis dahingehend“, erzählte der Mann, der übrigens ein berühmter Yoga-Meister ist, „dass dem Sohn, der ja augenscheinlich einen sehr hohen Grad der Seelenreinheit erreicht hatte, eine zeitliche Entrückung geglückt war, das heißt, es war ihm gelungen, sich in eine Parallelwelt mit einem anderen Zeitverlauf zu versetzen; um dann nach fünfzehn Erdenjahren wieder in die Realwelt zurückzukehren, ohne den Ort verlassen zu haben.“

    Ich wand ein, das solche Dinge wie Parallelwelt und anderer Zeitverlauf für mich schwer glaubhaft seien. Aus naturwissenschaftlicher Sicht –

    Er lachte laut auf und rief: „Junger Mann! Gerade die Naturwissenschaften bestätigen es ja! Seit Einstein wissen wir doch, dass die Zeit keine absolute Konstante, sondern veränderbar ist! Und zu den Parallelwelten: Rechenmodelle belegen, dass es nicht nur eine, sondern wahrscheinlich hunderte verschiedener Welten gibt! Wenn Sie es genau wissen wollen, dann schau´n Sie ins Internet, da finden Sie alles zu diesem Thema, was Ihr Herz begehrt.“

    Ich muss wohl ziemlich ungläubig geguckt haben, denn der Svani sagte: „Natürlich, mit der Logik des Alltäglichen lässt sich so etwas nicht erklären. Aber was wollen Sie? Wollen Sie sich mit dem äußeren Schein begnügen? Dann bin ich nicht der richtige Gesprächspartner! Das Alltägliche ist nicht das Wirkliche! Das Wirkliche steckt hinter der sichtbaren Welt.“

    Das wisse ich genau so gut wie er, sagte ich einlenkend, mir ginge es auch nicht um Grundsätzliches, sondern um diese zeitliche Entrückung, von der er da gerade erzählt habe. Um ihn aus der Reserve zu locken, sagte ich: „Angeblich soll es so eine Art Chronometer geben, mit der man –“

    Er ließ mich nicht ausreden. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf. „Der Chronomat des Reathmandu!“ rief er, „was wissen Sie darüber?“

    Nicht viel, sagte ich wahrheitsgemäß, nur, dass sich der Chronometer angeblich unter dem Nachlass Holm-Seppensens befunden habe und jetzt aus dem Nachlass verschwunden sei.

    Er setzte sich wieder und blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann sagte er: „Ein Schüler des Meisters Reathmandu ist 1949 noch vor dem Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet nach Amerika geflohen und hat dort ein Buch mit dem Titel 'Die sterbenden Götter' geschrieben. In diesem Buch erwähnt der Verfasser auch ein uhrenähnliches Gerät, das seitdem verschollen ist. Der Verfasser schreibt: Der Meister habe ihm gegenüber behauptet, es sei ihm gelungen, mit Hilfe dieses eigens für ihn, den Meister, angefertigten Gerätes Raum und Zeit zu entkoppeln. Dadurch habe er einige Male einen Blick ins Jenseits werfen können, ohne dass sich seine Seele vom Körper trennen musste. Dann habe er sich nach vollständiger Reinkarnation darangemacht, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Was daran Dichtung, was Wahrheit sei, so der Autor, ließe sich nicht mehr feststellen, denn es gebe keine Belege. Sollte es tatsächlich Aufzeichnungen gegeben haben, dann seien diese Dokumente mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Wirren der chinesischen Kulturrevolution verloren gegangen. Seltsamerweise sei auch der Meister von einer Minute zur anderen spurlos verschwunden; man habe angenommen, er sei gestorben, doch seine Leiche wurde nie gefunden. 1985, als die Chinesen religiöse Rituale wieder zuließen, soll er in einem Kloster in der Nähe von Shirpan wieder aufgetaucht sein und dort bis zu seinem natürlichen Tode gelehrt haben, aber auch das ist nicht sicher belegt.“

    Plötzich sah er mich seinen stechenden Augen eindringlich an.

    „Haben Sie das Zeitgerät?“, fragte er leise.

    Ich schwieg. Für einen Moment war ich versucht, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch er redete schon weiter. „Junger Freund“, sagte er, „bringen Sie es zurück. Es wird Ihnen nichts nützen. Es gibt nur ganz wenige Menschen auf der Welt, bei denen es überhaupt eine Wirkung erzielen kann. Und zwar nur bei denen, deren Gehirn für ihre Strahlungen empfänglich ist. Das sind auf der ganzen Welt höchstens eine Handvoll Auserwählte.“

    So, jetzt weißt du Bescheid, und zwar, dass ich auserwählt bin. Und außerdem hundemüde. Alles weitere wie immer schriftlich.

    Dein . . .

    *

    Sonntag, 22. Juni, morgens um acht

    Heureka! Ich hab´s geschafft! Mitten in der Nacht wachte ich auf und fühlte mich wie neugeboren! Schnell vor den Spiegel – und was sah ich da? Das verschlafene Gesicht eines Teenagers! Fast hätte mich der Schlag gerührt. Nein, nicht wegen der Jugend, sondern wegen der heiligen Einfalt, die mir da entgegen grinste. Puh! Und dann diese Pickel auf der Stirn! Sah ich damals wirklich so aus? Na, dann danke ich vielmals. Oder arbeitet die Uhr doch nicht korrekt? Wie dem auch sei, heute morgen hatte ich glücklicherweise wieder mein altes, liebes, faltiges, trübes, kuscheliges – gut, ich hör´ schon auf – mein junges altes Schelmengesicht. Wieder juckt´s mich, irgendeinen Schabernack zu veranstalten, zum Beispiel ins Institut zu gehen. Es wäre ein Hauptspaß!

    Guten Morgen, mein Schatz! Hast du gut geschlafen? Ich hab´s!

    Wie gut, dass jeden Tag ein Bus nach Minsk abfährt. Dann bekommst du diese Nachricht noch heute Abend! Und wenn der Fahrer nochmal Geld von dir haben will, tritt ihm in den Allerwertesten! Er hat von mir schon reichlich abgesahnt!

    Küsschen und tschüs!

    *

    Freitag, 7. Juli, kurz vorm Zubettgehen

    Liebe Anastasia,

    du wunderst dich sicherlich, warum ich mich erst jetzt melde, wo ich doch vorher einen Brief nach dem anderen auf die Reise schickte. Es liegt an der Arbeit – nein, ich will ehrlich sein, es liegt nicht nur an der Arbeitsbelastung. Der Hauptgrund ist der: Es waren die vielen nächtlichen Experimente, die mich bis an der Rand der totalen Erschöpfung gebracht haben.

    Nun denn: Die Funktion der beiden Zeiger ist mir jetzt klar. Hat mich ´ne Menge Schlaf gekostet, aber was tut man nicht alles für eine verlockende Idee. Also: Der große Zeiger bestimmt das ungefähre Jahr der Zeitversetzung, der kleine deren Dauer. Ein Beispiel: Stelle ich den Großen auf 10, sehe ich am anderen Morgen wie ein achtzigjähriger Greis aus; stelle ich ihn auf Position 4 Uhr, wie letzten Sonnabend, erwache ich als Teenager. Position 6 beim kleinen Zeiger bedeutet: Ich bin für ein halbes Jahr zeitversetzt, bei 12 ein ganzes und so weiter uns so fort. Drücke ich beide Rädchen gleichzeitig, katapultiert mich das Ding wieder in mein ursprüngliches Lebensalter zurück.

    Ja, der Professor hat Recht. Das Ding ist nicht nur brand-, es ist lebensgefährlich. Und ja und wieder ja: Nur um Haaresbreite bin ich einer Katastrophe entgangen. Stell dir vor, mein Herzenstäubchen, dein Juri hätte damals, als er das Ding noch nicht kannte und damit blind herumexperimentierte, den großen Zeiger, ahnungslos wie er war – na sagen wir – auf halb 12 gestellt. Möglicherweise wäre es dann wegen Überschreitung meiner natürlichen Lebenszeit mit mir aus gewesen und ich wäre, tja, irgendwo im Nirwana gelandet oder ich wäre wie eine Seifenblase zerplatzt. Für ein Rädchendrücken wäre es ja dann zu spät gewesen. Brrr – mir wird fast schlecht, wenn ich daran denke. Oder aber der Zeiger wäre auf Position Geburt gelandet? Ich, wieder im Bauch meiner Mutter – –

    Was sagst du, zu viel wenn und wäre?

    Also dann ohne. Die ewige Jugend und die Unsterblichkeit interessieren mich im Moment nicht sonderlich. Als ich meine verpickelte Stirn sah, kamen mir alle meine Jugendsünden und -nöte wieder hoch. Es war manchmal zum Haareausraufen. Die Leiden des jungen Juri. Soll sich das nun alles wiederholen? Bitte nicht! Ich bin froh, dass ich mittlerweile aus dem Gröbsten heraus bin. Und nachdem ich eine Weile über die Unsterblichkeit nachdachte, sagte ich mir: Musst du jetzt nicht unbedingt haben. Denn mir fiel siedend heiß ein, was soll mir Unsterblichkeit, wenn ich – wenn ich mein – mir stockt der Atem – wenn ich mein Täubchen nicht mitnehmen kann? Gut – ich will ehrliche sein. Vielleicht denke ich in zehn, zwanzig Jahren anders. Aber jetzt besteht in Sachen Unsterblichkeit noch kein Handlungsbedarf.

    Wozu hat sich mein süßer Juri denn nun durchgerungen?, höre ich dich fragen.

    Gut. Dein süßer Juri sagt´s dir. Ich werde, trotz drohender Pickel und anderem jugendlichen Ungemach, das kühne Experiment wagen und mich in meine Kindheit zurückversetzen. Etwa in ein Alter von sechs, sieben Jahren. Das ist weit genug weg von meiner Geburt, wo – na sagen wir, wo etwas nicht wieder Gutzumachendes passieren könnte. Wenn –

    Du schlägst die Hände über dem Kopf zusammen: Muss das denn unbedingt sein?

    Ja, mein Täubchen, es muss sein. Ich möchte meine Mutter wiedersehen. Sie starb, da war ich acht. Damals, als sie ihre guten Augen für immer schloss, brach der Boden unter mir weg. Es war wie der Sturz in einen ungeheuren Abgrund. Mein Vater war mir keine Stütze. Der war selbst ein gebrochener Mann. Noch Jahre später erschien sie mir im Traum. Deutlich sah ich, wie sie die gebratene Ente und den Rotkohl auf den Tisch stellt und mir eine saftige Keule auf den Teller legt. Dann wieder sitzt sie an meinem Bett und erzählt mir eine Gutenachtgeschichte. Jetzt beugt sie sich über mich und gibt mir einen Kuss. Ich höre ihre etwas raue Stimme: Schlaf gut, mein Engel – genug davon. Du verstehst, was ich meine.

    Seit einigen Jahren jedoch werden diese kostbaren Träume immer blasser, und ich vermisse sie sehr. Zwischenzeitlich habe ich versucht, sie wieder aufleben zu lassen, indem ich Fotos meiner Mutter betrachtete. Doch es hat nicht viel gebracht. Fotos zeigen doch nur den Bruchteil einer Sekunde aus dem Leben eines Menschen. Nein, das ist mir zu wenig. Ich möchte sie noch einmal ganz für mich haben, wieder mit ihr an einem Tisch sitzen, ihre Stimme hören, ihre Hand auf meinem Kopf spüren ... Es würde herrlich sein! Für eine halbe Stunde nur, mehr nicht!

    Keine Angst, meine Liebe, ich werde kein Risiko eingehen. Ich werde den kleinen Zeiger – der die Zeitdauer der Entrückung regelt – so einstellen, dass ich mich höchstens eine halbe Stunde bei ihr aufhalte. Versprochen!

    Also, drück mir die Daumen!

    Wenn ich wieder zurück bin, melde ich mich sofort!

    Bis dahin dein Immer und Ewig . . .

    3

    Der Amtskönig legte den Brief beiseite und blickte eine ganze Weile nachdenklich auf seine Kaffeetasse. „Hmm . . . da war doch was“, brummte er, „da war doch was . . .“ Er steckte einen Finger in die Nase und drehte ihn mehrmals kräftig hin und her. Schließlich griff er zum Hörer, wählte und brüllte: „Frau Müller, ´ne Schalte zur Spusi, aber dall – wie, Sie heißen Meier? Ach . . . Frau Müller hat sich krank gemeldet? Wieso das denn?“ Es knackte ein paarmal, dann brüllte er: „Weichbrodt, nun hören Sie mal gut zu. Ihre Truppe hat doch vor ein paar Wochen die Wohnung dieses verschwundenen Russen untersucht– wie? Weißru – Unterbrechen Sie mich gefälligst nicht! – und auf einem Kopfkissen eingetrocknete Urinflecken gefunden. Wer sowas macht? Ich ahne es, aber ich verrat´s nicht. Haben Sie das Kissen auch auf Haare untersucht? Nein? Herr, dann aber dalli! Und zwar akribisch, rat ich Ihnen, akribischst!“

    Die erneute Untersuchung des Kopfkissens ergab folgendes: Man fand dort Haare, ihrer Färbung und Beschaffenheit nach offensichtlich von verschiedenen Personen, unter anderem von einem Säugling. Eine Genanalyse ergab jedoch, dass die Haare alle von ein und demselben Menschen stammten, jedoch aus verschiedenen Lebensaltern.

    ENDE

    Donnerstag, 26. April, abends

    Meine schöne

    gar 1000mal Geliebte,

    ich drehe langsam durch! Wenn ich nicht wüsste, dass du mich noch liebtest, auch wenn ich im Irrenhaus säße, würde ich verzweifeln. Die Kette unerklärlicher Vorkommnisse reißt nicht ab. Dabei ist jedes für sich nicht der Rede wert, doch alle zusammen bringen mich allmählich an den Rand des Wahnsinns. Das fängt damit an, dass dieser unheimliche Dieb wieder zugeschlagen hat. Als ich heute morgen die halbvolle Rotweinflasche von gestern Abend zurückstellen wollte, war sie leer. Du kennst mich und weißt, dass ich nie mehr als ein, zwei Gläser trinke. Also dürfte sie noch nicht leer gewesen sein. Frage: Wer hat die Flasche ausgetrunken?

    Dann: Anscheinend kann ich nicht mehr richtig sehen und hören. Gegenüber steht schon seit Monaten ein eingerüsteter Rohbau ohne Fenster und Türen, bei dem es nicht voran geht. Als ich vor drei Tagen aus dem Badezimmerfenster schaue, ist das Haus fertig und bewohnt. Ich habe die Rollos heruntergezogen, denn ich könnte es nicht ertragen, wenn da jetzt wieder der Rohbau stände, womit ich allerdings stark rechne.

    Heute in den Morgennachrichten kam die Meldung von dem Giftanschlag auf den russischen Dissidenten, diesen Scripal. War das nicht schon vor einem halben Jahr? Kann es sein, dass ich mich da verhört habe, oder ist da schon wieder etwas passiert mit jemandem, der so ähnlich heißt? Ich werd´ mich mal umhorchen.

    Seit gestern ist übrigens auch mein Fahrrad verschwunden, obwohl ich es mit einem massiven Bügelschloss gesichert habe. Ich hoffe inständig, dass es sich um einen ganz normalen Diebstahl handelt und nicht schon wieder eine dieser seltsamen Narreteien.

    Ein Termin beim Neurologen ist übrigens leider erst nächste Woche frei. Ich denke, bis dahin halt ich noch durch, bevor mich der Wahnsinn ergreift.

    So, das wär´s erst mal für heute. Du sagst, es reicht auch? Recht hast du, mein Schnuckelchen, wie meistens.

    Übrigens – die so genannte Uhr habe ich aus meinem Schlafzimmer verbannt. Sie liegt jetzt auf meinem Schreibtisch, und der Drache auf der Schatulle grinst mich höhnisch an. Allerdings sind die glühenden Kohlen des Totenkopfs seit einiger Zeit erloschen.

    Also dann bis zum nächsten Brief.

    Dein . . .

    *

    Sonnabend, 29. April, 10 Uhr abends

    Liebe Anastasia,

    ja, schon wieder ein Brief von mir. Weine nicht – lache nur – wenn du ihn nicht lesen willst, wirf ihn einfach weg, oder tu so, als hättest du deine Brille verlegt. Wie? Du trägst gar keine? Jedoch, es wäre ein Fehler, diesen Brief nicht zu lesen, meine Teuerste, denn in diesem Briefchen stehen neue, seltsame Nachrichten.

    Also, ich beginne:

    Gestern, vor dem Einschlafen, nahm ich mir noch mal die Uhr vor und drehte ein wenig die Zeiger hin und her. Darüber fielen mir die Augen zu, und als ich mich am anderen Morgen am Kinn kratzen wollte, griff ich in struppiges Gewühl. Entsetzt ging ich ins Badezimmer und blickte in den Spiegel. Herrje, was erblickte ich da wohl, mein kleines süßes Täubschen? Richtig! Ich blickte in ein affenmäßig zugewachsenes Gesicht. – Nun gut, höre ich dich murmeln, so etwas Ähnliches hatten wir doch schon mal. Richtig wie immer, wenn du etwas murmelst. Aber damals war die Mähne erheblich zahmer, und es zeigten sich auch keine grauen Haarsträhnen an Stellen, an denen vorher noch keine waren. Ich sah aus wie einer dieser indischen Gurus, die sich ein Leben lang nicht die Haare schneiden. Und als ich zur Zahnbürste greifen wollte, stieß ich den Zahnbecher zu Boden. Meine Fingernägel waren so lang wie die gewisser Damen der höchsten Preisklasse – Nein, nein, was du nun wieder denkst!

    Dann also weiter.

    Ich setzte mich an den Küchentisch und starrte vor mich hin. Jedes Mal, wenn ich mich bewegte, schlug mir ein Teufelchen mit einem Hammer auf die Schädeldecke. In einem Anfall grausamer Selbsbesichtigung stellte ich mich vor den großen Spiegel im Flur. Ich sah aus wie Don Qichote nach der Schlacht mit den Windmühlenflügeln: Wie ein klappriger, abgezehrter Greis.

    Dieses war der erste Streich, und der zweite folgt sogleich.

    Liebe Anastasia, du weißt, dass ich nie einem kleinen Scherz abgeneigt bin. Es liegt mir einfach im Blut. Und dieser Zustand, in dem ich mich befand, war geradezu eine Steilvorlage für ein kleines Verwirrspiel. Diese absurde Situation schrie nach Komödie. Also entschloss ich mich, in diesem struppig-zugewachsenen Zustand zum Bäcker zu gehen. Um meinem Outfit noch den letzten Schliff zu geben, holte ich meine alten Arbeitsklamotten und die Treter mit den Farbklecksen aus dem Keller und zog sie an.

    Die Reaktionen der Leute auf der Straße fielen jedoch nicht so aus, wie ich erwartet hatte. Zwar fixierten mich einige beim Näherkommen, wandten dann aber schnell den Blick ab, wie das so üblich ist. Ich schien ihnen völlig gleichgültig zu sein. Es erfolgten keine Missfallensbekundungen, weder mit Worten noch mit Taten. Offensichtlich ist ihnen ein deutscher Landstreicher lieber als ein syrischer Professor.

    Im Bäckerladen war nur eine Kundin, eine ältere Dame, die in einer Fensternische am Stehtisch ihren Morgenkaffee schlürfte. Als sie mich erblickte, stellt sie ihre Tasse ab und starrte mich an. Aus einer Tür trat jetzt die Verkäuferin, eine ältere füllige Dame mit rosiger Haut, die ich hier noch nie gesehen hatte. Trotzdem, irgendwie kam sie mir bekannt vor. Bisher hatte meistens die Tochter des Bäckerehepaars bedient, eine dralle junge Frau mit roten Wange und runden Augen.

    Mein Anblick schien die Dame hinter der Verkaufstheke nicht zu stören, sie blieb bemerkenswert cool. Allerdings – ihr gequältes Verkäuferinnenlächeln verfiel zusehends. –

    Was meinst du, mein Herzliebchen? Ich soll endlich zur Sache kommen? Aber sicher doch! Ich komme! Ich eile! Ich überschlage mich vor –

    Bis jetzt hatte ich die Hände in den Taschen vergraben. Wie sagt man bei uns? Mit den Händen in den Taschen kannst du keinen Fisch aus dem Teich ziehen. Und eine Münze erst recht nicht. Ich versuchte, ein Euro-Stück zu greifen, was bei diesen langen Fingernägeln, die einer dieser hochpreisigen – ha! Beinahe hätte ich mich verraten! – was bei diesen langen Fingernägeln natürlich nicht so einfach war. Als ich das Geldstück endlich auf die Theke legte, brach die Verkäuferin in ein schrilles Gelächter aus, das sie jedoch ganz plötzlich abbrach, sich die Hand vor den Mund hielt und sich der Kasse zuwandte.

    Und jetzt erkannte ich sie. Ich sah diesen großen, hässlichen Leberfleck mit den Haarborsten in ihrem Nacken. Damals hatte sie mir deswegen immer leidgetan. Und auch das Gelächter kam mir bekannt vor. En peu de mots: Es war die Tochter des Hauses, nur um Jahre gealtert. Wir beide, sie und ich, waren um Jahre gealtert. Punkt.

    Wenn das so weitergeht, schließt du demnächst einen vierundneunzigjährigen Greis in deine betörenden Arme. – Wie, höre ich recht? Das würde dir nichts ausmachen, weil ich es ja wäre? Danke für das Kompliment! Aber, Himmel, noch ist es nicht so weit! Mittlerweile seh´ ich wieder halbwegs normal aus. Aber was heißt schon normal. Kann jemand, der in seine Anastasia verliebt ist so wie ich, noch normal sein – vor Glück natürlich, du Dummchen!

    P.S. Um Mitternacht

    Auch wenn ich dich nicht sehe – ich seh´s dir trotzdem an. Du glaubst mir die Geschichte nicht. Du nimmst sie mir einfach nicht ab. Du denkst, jetzt ist mein Juri verrückt geworden. Du wirst lachen – das selbe denke ich auch: Dass ich verrückt bin. Aber nicht im üblichen Sinne, sondern in dem, dass mich etwas in der Zeit verrückt und dann wieder in die Realität zurück befördert. Und ich weiß auch schon, wer oder was für diesen teuflischen Spuk verantwortlich ist. Dieses verflixte Ding, diese unheimliche Uhr natürlich, oder was es auch immer ist. Ich weiß jetzt nämlich, dass diese bizarren Erscheinungen nur dann stattfinden, wenn ich dieses Ding bei mir trage, wie beim Gang zum Bäcker, oder wenn es offen neben mir liegt, zum Beispiel auf dem Nachttisch, oder auf dem Schreibtisch. Sowie ich es weiter weglege oder in das Kästchen lege, hört der Spuk auf. Und der Spuk, da bin ich mir fast sicher, hat etwas mit der Zeigerstellung zu tun.

    Nur das Wie, das weiß ich noch nicht. Aber ich werde es herausfinden. Wer nicht spielt, kann nicht gewinnen.

    *

    Dienstag, der 5. Mai, 11Uhr dreißig

    Hallo, du meine Herzenskönigin, und sei mir gegrüßt!

    Komme soeben vom Neurologen. Ha! Nun hab´ ich´s schwarz auf weiß: Ohne Befund, der Hund. Allerdings – eine regio . . . regio . . . nein, nicht Interrego . . . warte, ich hab´s mir aufgeschrieben – eine regio corticis praefrontalis – sag´s auf deutsch, Schatz – gerne! Eine Stelle hinter meiner Stenkerdirne . . . äh, Denkerstirne weist eine abnorm erhöhte Stoffwechsel-Aktivität auf. Weißt du, was mich dieser-Professor fragte? Er fragte mich, dieser – er fragte mich, ob ich häufig meditiere oder einer religiösen Sekte angehöre! Bizarr, was? Ich und Sekte! Was meinst du, mein aller, aller, allerliebster Wonneproppen? Ich soll nicht so albern sein? Aye aye, Madam, dann eben nicht. Schmoll.

    Mit dem verdammten Ding– ich nenn´s jetzt wieder Uhr, denn man spricht ja auch von Wasseruhr, und irgendetwas wird das Ding ja messen, auch wenn es nicht die Zeit sein sollte – bin ich noch nicht weitergekommen.

    Das wär´es dann für´s heute.

    Schon schlafen alle Leute.

    Nur der Mann im Monde wacht,

    hat sich mit seiner Frau verkracht.

    Bis zum nächsten Brief alles Gute!

    *

    Sonnabend, den 18. Mai, kurz vor Mitternacht

    Liebe Anastasia,

    keine Angst, ich bin nicht mehr albern. Ich bin jetzt ernst. Nicht todernst – einfach nur ernst.

    Und das hat seinen guten Grund.

    Die Beschäftigung mit dem Ding entwickelt sich allmählich zu einer sehr ernsthaften Angelegenheit. Ich will nicht übertrieben euphorisch sein, aber es besteht die Möglichkeit, dass ich mit seiner Hilfe unsterblich werden könnte oder zumindest ewiger Jugend teilhaftig, was ja bekanntlich auf´s Gleiche herauskommt! Wenn da nur nicht diese rasenden Kopfschmerzen wären!

    Aber nun immer hübsch der Reihe nach.

    Ich schrieb dir doch, dass der Neurologe mich fragte, ob ich meditiere oder einer religiösen Sekte angehöre. Nun las ich letzte Woche zufällig einen Artikel in einer medizinischen Fachzeitschrift von tibetanischen Mönchen, deren Hirnaktivität man beim Meditieren gemessen hat. Dabei stellte sich heraus, dass immer dann, wenn sie angaben, mit der Gottheit in Kontakt getreten zu sein, eine bestimmte Stelle im präfrontalen Cortex – du erinnerst dich – besonders aktiv war. Die Mönche sprachen von einer Art Glühen, das sie in ihrer Stirn empfunden hätten, einige klagten über Kopfschmerzen. Klarer Fall von Autosuggestion, denke ich. Welcher Gott lässt sich denn von einer handvoll tibetanischer Mönche aus seiner ewigen Ruhe bringen. Konnte mich mit bestem Willen nicht erinnern, in der letzten Zeit jemals mit einer Gottheit in Kontakt getreten zu sein, und klappte das Journal wieder zu.

    Zwei Tage später lud mich ein alter Studienfreund zu einer kleinen Abendgesellschaft ein. Er hatte seinen Dr. jur. gemacht und wollte dieses Ereignis in kleinem Kreise feiern. Dabei unterließ er es nicht, mir seine Wohnung zu zeigen. Du weißt, ich hasse diese Wohnungsbesichtigungen. Nicht die Wände schmücken das Haus, sondern die Piroggen. Besonders die Schlafzimmer fremder Leute sind mir ein Gräuel, auch wenn sie frisch gelüftet sind und die Betten noch so akkurat hergerichtet. Ich hab´ immer Angst, unter einem Bett doch noch einen vergessenen Liebhaber zu entdecken. Kurz und gut: Wir kamen in die Küche. Mir fiel der Herd mit einer dieser modernen Induktionskochplatten auf.

    Um mir die Wirkungsweise zu demonstriere, stellte die Frau den Herd an. In diesem Moment sank ich ohnmächtig zu Boden. Eine Ambulanz brachte mich ins Krankenhaus.

    Ja, so sieht es mit deinem armen Juri aus, mein Schatz. Er verliert das Bewusstsein, wenn ein Küchenherd angestellt wird. Bizarr, nicht? Aber ein Gutes hatte der Zwischenfall doch. Als ich wieder klar denken konnte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Die Narretei muss etwas mit Induktion zu tun haben! Woher die Energie kommt, ist mir jetzt auch klar: Sie kann nur aus der Uhr des Sinologen stammen, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.

    Ich denke da an eine unbekannte Strahlenart, möglicherweise sogar aus einem anderen Universum. Wer sagt uns denn, dass unser Weltall das einzig existierende ist? Ich stelle mir vor, dass die geheimnisvolle Uhr diese unbekannte Strahlung aufnimmt, verstärkt und an mein Gehirn überträgt. Das wäre dann auch eine Erklärung dafür, warum es auch ohne Eisenkugel geht. Denn wenn es sich zuweilen auch anfühlt, als hätt´ ich eine im Kopf – eine wirkliche liegt ja nicht drin. Ich nahm das unheimliche Ding aus seinem metallenem Gefängnis und starrte es an. Verrat´ mir dein Geheimnis, murmelte ich, sag mir, wozu du fähig bist! Kann ich mit deiner Hilfe unsterblich werden?

    Die beiden Diamanten funkelten mich an, mit einer bestürzenden, magischen Intensität. Es war unheimlich! Und schon meldeten sich wieder die verdammten Kopfschmerzen.

    Doch jetzt will ich es genau wissen und nicht eher ruhen, bis mir das Ding sein Geheimnis verraten hat.

    Bis dahin usw. usf.

    F.f

    1

    Als der in Fachkreisen bekannte Sprachforscher und Weltreisende Augustus von Holm-Seppensen mit annähernd sechsundneunzig Jahren starb, hinterließ er eine Vielzahl seltsamer Gegenstände und Artefakte, deren Bedeutung zum Teil bis heute noch nicht geklärt ist. Holm-Seppensen war eine eigenartige, ja, man kann schon fast sagen bizarre Erscheinung gewesen. Hoch aufgeschossen, dürr, stets im weißen Gewand und mit wallendem Silberhaar, hatte man an seinen Füßen nie anderes Schuhwerk als Mao-Latschen gesehen.

    Mit der Sichtung seines umfangreichen Nachlasses wurden zwei Doktoranden des Instituts für fernöstliche Kulturen an der Universität zu B. beauftragt. Der eine, Juri Grabow, ein deutschstämmiger Weißrusse, erschien eines Morgens nicht zur Arbeit. Als nach einer Woche immer noch keine Krankmeldung vorlag und Anrufe seitens der Institutsleitung bei ihm zuhause ohne Erfolg blieben, und da man wusste, dass er allein lebte, meldete man ihn nach vierzehn Tagen als vermisst. Da ein Gewaltverbrechen nicht auszuschließen war, untersuchte die Kriminalpolizei seine Wohnung nach entsprechenden Hinweisen.

    Auf dem Nachttisch neben Grabow s Bett lag ein Gegenstand, der entfernt an eine silberne Taschenuhr erinnerte und aus dem Nachlass des verstorbenen Professors stammte. Anscheinend hatte Grabow den Gegenstand mit nach Hause genommen, um sich nach Feierabend damit zu beschäftigen.

    Im Übrigen sah die Wohnung nicht danach aus, als sei ihr Bewohner zu einer längeren Reise aufgebrochen, eher, als habe er sie Hals über Kopf verlassen. Auf dem Küchentisch standen noch die Reste einer Mahlzeit, und in der Garderobe hing seine Jacke mit Personalausweis, Führerschein und anderen wichtigen Dokumenten.

    Nun verschwinden in Deutschland jedes Jahr mehrere Tausend Menschen aller Altersstufen, und viele tauchen tatsächlich nie wieder auf. In solchen Fällen wird der Vermisste nach einiger Zeit amtlicherseits für tot erklärt und, wenn keine Verwandten aufzufinden sind, fällt sein Nachlass an den Staat.

    Insofern war Juri Grabows Verschwinden nicht weiter aufregend; der Fall wurde dem Internationalen Suchdienst übergeben, die Wohnung versiegelt.

    Sechs Wochen später erhielt der Leiter der Kriminaldirektion 1, Holger Abendschweisz, einen Anruf aus Minsk, Weißrussland. Eine weibliche Stimme behauptete, sie heiße Anastasia Golubew und sei die Verlobte des Juri Grabow. Sie habe erfahren, dass die Kriminaldirektion 1 mit dem Verschwinden Grabows befasst sei und teilte dem Kriminaldirektor in perfektem Deutsch mit, die Suche nach ihrem Verlobten werde ergebnislos bleiben. Man werde weder ihn noch seine Leiche finden. Er sei auch keinem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, sondern er habe sich zurück an den Ursprung seiner Existenz begeben.

    Abendschweisz grunzte ungehalten. „Ursprung seiner Existenz? Wo soll der denn liegen?“ Das sei nicht so einfach zu erklären, antwortete sie, und via Handy schon gar nicht. Sie werde ihm Grabows Briefe schicken, daraus gehe alles hervor.

    „Briefe? Gibt´s denn bei euch kein Telefon oder dergleichen?“, ätzte der Kriminaldirektor weiter.

    Auch das gehe aus seinen Briefen hervor, sagte Frau Golubew in bewundernswürdiger Gelassenheit. Im übrigen sei Grabow ein leidenschaftlicher Briefschreiber gewesen; der elektronischen Nachrichtenübermittlung habe er gründlich misstraut.

    2

    Die Briefe des Juri Grabow

    Mittwoch, den 3. März 20.. , abends

    Meine liebes Täubchen*,

    ich weiß nicht, was neuerdings mit meinem Kopf los ist. Jedesmal, wenn ich mich in der Nähe eines eingeschalteten Handys oder dergleichen aufhalte, bekomme ich nach einiger Zeit Kopfschmerzen. Sie sind nicht besonders stark, die Schmerzen, damit könnte ich leben. Viel unangenehmer ist eine eigenartige Benommenheit, die sich dann einstellt. Und ich habe Wortfindungsprobleme. Noch heute morgen sorgte ich ungewollt für Heiterkeit, als ich statt 'angenommen' Agamemnon sagte. Wahrscheinlich sind es Strahlungen, die von diesen verflxten Geräten ausgehen.

    Hoffentlich geht es bald wieder weg. So war´s doch früher nicht. Damit mein Kopf klar bleibt, fasse ich dieses Teufelszeug nur noch an, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt. Und so kommt es, meine Liebe, dass ich dir meine Erlebnisse schreibe, anstatt sie in die Muschel zu flüstern oder in einen Laptop zu hämmern. Es geht ja täglich ein Bus nach Minsk ab, der die Post mitnimmt.

    Also, mein Täubchen, worum geht es nun?

    Auf dem Weg vom Institut nach Hause erlebte ich vorhin etwas sehr Merkwürdiges. Ich musste vor einer roten Ampel halten, und da sah ich ihn ganz deutlich auf der anderen Straßenseite – du errätst es nicht: Stand da doch mein Bruder! Ja! Ich habe Viktor wiedergesehen! Du staunst! Und was glaubst du wohl, wie i c h erst gestaunt habe! Er saß auf seinem neuen Motorrad und unterhielt sich mit einer mir unbekannten Frau. Es war die gleiche Maschine, die ihn in den Tod gerissen hat, eine Harley Davidson, sein 'heißer Ofen'. Der Eindruck war so real, dass es mir für einen Moment die Sprache verschlug.

    Eine unglaubliche Personenähnlichkeit – hätte so etwas nie für möglich gehalten! Natürlich glaube ich nicht, dass der Mann wirklich Viktor war. Ich bin Realist genug. Aber beeindruckend war es doch, und ich bin immer noch ergriffen. Sollte ich dieser Erscheinung noch einmal begegnen, werde ich sie mir genauer ansehen. Würde nur zu gerne wissen, ob der Mann von Nahem auch noch wie Viktor aussieht.

    Ach ja, eines noch. Ich war bei nasskaltem und windigem Wetter losgefahren, und zweimal wehte mir der Zylinder vom Kopf. Jedoch – als ich den Doppelgänger sah, brach plötzlich die Sonne durch, und ein warmer Wind kam auf. Seltsam, sehr seltsam, dieser plötzliche Wetterumschwung. Aber wahrscheinlich hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.

    Wie? Der Zylinder? Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Ich war bei einer Burschenschaft eingeladen, und da war Zylinder- und Frackzwang angesagt. Natürlich waren die Sachen geliehen! Wo denkst du hin!

    Das ist es, was ich dir berichten wollte.

    So, nun zu dir, Anastasia, mein Täubchen.

    _________________

    *Golubew=Taube

    *

    Montag, den 10. März, 20..

    Liebe Anastasia,

    hei, schon wieder ist etwas sehr Seltsames passiert, das mir den Schlaf einer halben Nacht gekostet hat. Weil ich weiß, dass du eine geduldige Leserin meiner Briefe bist, wage ich es überhaupt, dir davon zu berichten. Einerseits ist es absolut banal, doch andrerseits – nun höre.

    Vorgestern waren meine Kaffeevorräte aufgebraucht. Der Kaufmann um die Ecke warb mit Sonderangeboten, also erstand ich mutig gleich drei Packungen und stellte sie in den Hochschrank, wo der Kaffee immer steht. Das war vorgestern. Gestern morgen nun griff ich in den Schrank und traute meinen Augn nicht – da waren zwei Packungen verschwunden, und die dritte nur noch halb voll. Du lachst! Das Drama ist noch nicht zuende, mein Engel. Heute morgen waren die beiden Packungen wieder da. Verdammt nochmal, ich weiß genau, dass ich sie nicht angerührt habe, und ich kann mich nicht erinnern, irgendwelche Gäste mit Kaffee versorgt zu haben. Und sollte doch ein Unbekannter ohne Spuren zu hinterlassen im Schrank gewühlt haben – wer stiehlt denn zwei Pfund Kaffee und lässt das Silber auf dem Küchentisch liegen!

    Kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühle? Erst sehe ich meinen verstorbenen Bruder auf der Straße, und jetzt das! Bin ich noch richtig im Kopf? Ich überlege schon, ob ich mich nicht krank melde und mal wieder richtig ausschlafe. Was sage ich? Ausschlafen? Ha! Davon wird erst einmal nicht die Rede sein! Du kannst dir natürlich vorstellen, dass mir die absonderlichsten Gedanken durch den Kopf gehen! Außerdem liegt mir das Krankfeiern ohne wirklich krank zu sein nicht, und die Arbeit, die ich gerade mache, ist auch viel zu interessant.

    Wenn du erlaubst, berichte ich kurz.

    Gegenwärtig befasse ich mich mit dem Nachlass eines Professors, der lange in China gelebt hat. Der Nachlass enthält eine Unzahl seltsamer Sachen, von denen niemand weiß, ob sie von wissenschaftlicher Bedeutung sind oder nur ulkige Kuriosa. Ein Kollege und ich nun sollen die Spreu vom Weizen trennen, wie man so sagt. Da ist zum Beispiel ein eigenartiges silbernes Ding, das entfernt an eine Taschenuhr erinnert. Entfernt, sag´ ich, ein richtiger Chronometer kann es eigentlich nicht sein, denn für eine Taschenuhr ist es ungewöhnlich groß, liegt da etwa zwischen Großvaters goldener Uhr und einer dieser zierlichen Untertassen aus eurem Teeporzellan. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht für die Hosentasche eines normale Menschen bestimmt, sondern für weiß Gott wen. Sie tickt nicht, noch höre ich andere Laute, und zum Aufziehen finde ich auch nichts.

    Nun weiter. Wenn ich auf den oberen Bügelknopf drücke, springt der Deckel auf und ich sehe zwei Zeiger, einen großen und einen kleinen. Das Zifferblatt enthält keine Zahlen, sondern seltsame Hieroglyphen, die an chinesische Schriftzeichen erinnern. Auf der Position 12 befindet sich ein totenkopfähnliches Gebilde, in dessen Augenhöhlen zwei winzige Diamanten blitzen. Diese Diamanten üben eine eigenartige Wirkung auf mich aus. Wenn ich sie länger anschaue, wird mir schwindlig. Das Zifferblatt ist nicht in zwölf, sondern in vierundzwanzig Abschnitte eingeteilt. An der Uhr befinden sich rechts und links Rädchen, mit denen ich die beiden Zeiger verstellen kann. Deckel und Rückseite sind nach fernöstlicher Art mit allerlei Getier verziert.

    Ich frage dich, meine Liebe, ist dies überhaupt ein Zeitmesser? Gut, die Zeiger deuten darauf hin. Und wenn ja, welche Zeit misst dieses Gerät? Die MEZ bestimmt nicht! Kannst du mir vielleicht weiterhelfen? Du hast doch in deiner Verwandtschaft einen Popen, der sich angeblich in magischen Dingen auskennt.– Du meinst, vielleicht ist es ja eine von diesen Uhren, die durch Bewegung in Gang gehalten werden? Wohl kaum, das Teil stammt aus einer Zeit, in der solche technischen Kunststücke noch nicht auf dem Markt waren. Und die Zeiger bewegen sich anscheinend auch nicht. Ich habe das Ding mit nach Hause genommen, um es genauer zu untersuchen. Es liegt jetzt auf meinem Nachttisch und blinzelt mir zu, haha!

    Wie geht es deiner Mutter? Ist ihr offenes Bein . . .

    *

    Sonnabend, den 27. März, vormittags

    Meine liebe Anastasia,

    eben, beim Frühstück, überlegte ich, wie lange ich es ohne dich noch aushalte. Du fehlst mir doch sehr, allein schon, um dich wieder mal richtig knuddeln zu können. Und auch sonst –

    Im letzten Brief schrieb ich dir doch, dass mir dieses komische Ding aus dem Nachlass des verstorbenen Professors zublinzele. Das sollte ein Witz sein, war´s aber wohl nicht. Zwar blinzelt es mir nicht zu, aber das Teil schlägt mich immer mehr in seinen Bann.

    Mittlerweile bilde ich mir ein, dass ich das alles nur geträumt habe. Denn als ich nachts gegen zwei Uhr in den Spiegel schaute, wurde es schon hell! Das kann doch gar nicht sein! Anfang März!

    Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Ich wache nachts manchmal mit heftigen Kopfschmerzen auf und kann dann stundenlang nicht mehr einschlafen. Jetzt dröhnt mir schon der Kopf, wenn ich den Mikrowellenherd anstelle. Wenn es so bleibt, hole ich mir einen Termin beim Neurologen. Noch gehe ich davon aus, dass es nichts Ernstes ist, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wie es so richtig heißt.

    Übrigens, ich habe ganz vergessen, Jewgenij zum bestandenen Examen zu beglückwünschen. Hol es bitte für mich nach.

    Sonntag, halb elf am Vormittag

    Heute Nacht habe ich eine seltsame Entdeckung gemacht. Gegen zwei Uhr morgens wachte ich mit Herzrasen und Kopfschmerzen auf. Ich ging in die Küche, wo jetzt die Tabletten liegen. Ich öffnete das Fenster. Von draußen wehte der Bronzeschlag der Marktkirche herein: Bong – – Bong – – Bong – – Bong . . . zwölfmal. Wieso zwölfmal?, denk ich, Mitternacht ist doch schon längst vorbei! Die Küchenuhr wies auf halb vier. Verdammt nochmal, rief ich, spielen denn jetzt alle Uhren verrückt? Kaum hatte ich mich an den Küchentisch gesetzt, das Glas mit den sprudelnden Tabletten vor mir, da waren Herzrasen und Kopfschmerzen auf einmal wie weggeblasen. Ich ließ das Glas stehen und ging wieder zu Bett. Dabei fiel mein Blick auf dieses verflixte Uhrenungeheuer unter der Nachttischlampe. Die beiden Diamanten in dem Totenkopf funkelten auf eine unheimliche Weise. Mir schien es, als komme das Gefunkel nicht vom Lampenlicht, sondern von innen heraus. Ich knipste die Lampe aus – das Funkeln erlosch nicht. Es waren jetzt zwei winzige Augen, die mich unverwandt anstarrten. In diesem Moment empfand ich einen Druck auf dem Kopf, und mein Herz fing an, wie wild zu schlagen. Wütend ergriff ich das Teufelsding und vergrub es in der untersten Schublade meines Schreibtischs. Auf einmal war der Spuk verschwunden, Kopf und Herz befreit. Mein Wecker stand auf halb acht.

    Da mache sich nun einer einen Reim drauf! Ich kann den Spuk noch nicht einmal für absurd erklären, denn das Absurde ist ja bekanntlich nur eine ungewohnte Form des Alltäglichen. Und dies ist nun alles andere als alltäglich. Das ist auch mit ein Grund, warum ich mit dir nicht chatte. Wenn der KGB mithört, stecken sie mich beim nächsten Heimatbesuch gleich ins Irrenhaus. Um es kurz zu machen: Die ganze Narretei hat etwas mit dieser Uhr zu tun. In diesem seltsamen Gerät steckt ein Geheimnis. Ich spüre es deutlich – und ich habe mir vorgenommen, dieses Geheimnis zu lüften, koste es, was es wolle. Wer nichts wagt, trinkt keinen Champagner*! Vielleicht erlange ich ja dadurch sogar noch zu wissenschaftlichem Ruhm.

    Wenn ich neue Erkenntnisse habe, schreib´ ich sie dir.

    Bis dahin Gruß und Kuss, dein Furzius!

    PS. Vielleicht hat euer Pope ja eine Idee.

    __________

    *Im Original weißrussisch, wie auch alle weiteren kursiven Textstellen

    *

    Abendschweisz ließ den Briefbogen sinken. Was ist das für ein krauses Zeug, dachte er. Pah! Das Geheimnis der silbernen Taschenuhr. Wenn ich das meinem kleinen Enkel erzähle, lacht der mich aus. In welchem Jahrhundert lebt dieser Grabow eigentlich? Er blickte auf den Poststempel des Couverts. 13. 3. 2020. Ta, ta, ta, na gibt’s denn sowas? Hab diesen Russen noch nie so richtig getraut. Einige leben wohl immer noch im 19. Jahrhundert. Passt auch gut zu ihrem Großmachtgehabe.

    Er goss sich Kaffee nach und trank einen Schluck. Brrr . . . „Frau Müller!“, brüllte er, „wie oft muss ich noch sagen, dass ich keinen Zucker im Kaffee will! Also angetanzt und neuen gebrüht! Aber hopp, hopp!“

    „Kaffe wird nicht jebrüht, sondern jekocht!“, kam es wütend zurück. „Und Sie würde ich weder jebrüht noch jekocht in eine Tasse jießen.“

    Wie kommt es nur, dachte Abendschweisz, dass ich mich mit den Angestellten so schwer tue.

    Er seufzte und nahm sich den nächsten Brief vor.

    Forts. folgt

    Griaß God, jung Frau, i bin do Mc Fee und frei mi riesig di kennenzulerna. I hob dei text glesn und einigs ozumerkn.

    Zunächst: Du beherrschst die Rechtschreib- und Kommaregeln, dein Stil ist halbwegs flüssig, der Ansatz macht Lust auf mehr. Jedoch:

    Ein Seufzen entrann ihrem Mund

    Find ich zu schwülstig. Warum nicht einfach: sie seufzte

    Allesamt trugen sie einen Bauch.

    Trugen? Warum nicht: ein paar dichbäuchige Kerle ... Passt auch mehr ins Lokalkolorit.

    Ein paar Männer saßen rechts an einem runden Tisch versammelt und hoben die Köpfe

    Mein Vorschlag: ... saßen um einen runden Tisch und hoben ... Merke: gut schreiben heißt alles Unnötige weglassen.

    "I bin die Rosi. Des gfreit mi wirklich riesig, di kennazulernen! Hast guard hergfundn?"

    Ich verstehe nicht, warum sie das nicht verstanden haben soll. Dies ist kein Bairisch, sondern das, was sich ein Niedersachse darunter vorstellt. Willst du halbwegs echt "baiern", ruf im Internet einen Übersetzer Deutsch/Bairisch auf.

    ein großes Glas Bier hingestellt. Also definiere Glas,

    Ein Maß.

    „Grüß Gott, junge Frau, i bin da Franz. Entschuldigens, dass mei Frau so neugierig is, aber so is sie halt.“

    Griaß God, jung Frau. I bin do Franz. Entschuidigns, dass mei Frau so neigierig is, aba so is sie hoid.“

    An diesen Dialekt würde

    Wenn sie das laut sagt, ist sie unter Baiern unten durch.

    Unmut darin erkennen zu können.

    Sprachliches Hinkebein. Warum nich einfach ... zu erkennen? Das Unsichere steckt ja schon in "glaubte".

    „Etz iss, sonst is d Suppn kalt. Und danach zeig i dir dei Zimmer.“

    Hä? Spricht sie nun Hochdeutsch oder bairisch?

    Ich hoffe, diese Bemerkungen helfen dir weiter.

    LG

    McFee

    Ich war so in den Anblick versunken, dass Gerlinds Worte wohl mein Ohr, aber nicht mein Herz erreichten. Drum brauchte es einen zweiten Anlauf, um mich hellhörig zu machen.

    „Was sagst du?“

    Ich sah in die Richtung, die Gerlings ausgestreckter Arm wies.

    Verblüfft blickte ich ein zweites, ein drittes Mal hin. Es ließ sich nicht wegleugnen: Tatsächlich! Das waren die Türme des Doms zu Ulm! Und dort, die hohe Burg: Burg Wolkenfels, meine Vaterburg! Ich erkannte sie deutlich an dem krummen Turmhelm! Und das Gebirge: Die Alpen! Und der Fluss: Der Rhein!

    „Und ich dachte, es wäre das Paradies!“, rief ich enttäuscht aus.

    „Es ist es, nur Ihr habt es bisher nicht erkannt!“, sagte Pygmalion, der unbemerkt heran gekommen war.

    Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es war eine Vision gewesen, genährt durch die Schönheit des Anblicks. Auch jetzt noch, im nüchternem Blick, war das Land vor mir herrlich anzusehen. Nun ja, es roch nicht mehr nach Bderylliumharz und Zitronenblüten, sondern nach Köhlerbrand und dampfenden Misthaufen, die fremdländischen Kreaturen erwiesen sich als Herden von Schafen, Ziegen und Kühen, und die Dorfmusik war frommes Glockengeläut. Aber der Anblick war noch so schön, dass mein Herz vor Freude hüpfte.

    „Ihr sollt die Prüfungen nicht umsonst gemacht haben“, sagte der Zwerg, „bitte nehmt dies hier.“

    Er drückte mir einen herzförmigen schimmernden Stein in die Hand, nicht den vom Sarkophag, einen anderen.

    „Was soll ich damit?“, fragte ich.

    „Schaut hinein, dann erfahrt Ihr es.“

    Ich schaute hinein und erblickte – Gerlinds Konterfei.

    „Was siehst du?“, fragte Gerlind, neugierig geworden.

    „Dich!“

    „Wie mich? Zeig her!“

    Ich gab ihr den Stein. „Na, was siehst du?“

    „Dich!“

    „Unsinn.“

    „Doch! Ich seh dich ganz deutlich. Du hast einen Ring in der Hand.“

    „Das ist doch nicht –“ Ich blickte mich nach dem Zwerg um, doch der war verschwunden. Überhaupt hatte sich alles um uns herum verändert; statt in der Steinnische mit dem Mausoleum unter uns standen wir auf einer grünen Wiese, vor uns Burg Wolkenfels. Ein Karren rasselte heran, voll beladen mit silbernen Kannen, goldenen Armreifen, bronzenen Waffen, kostbaren Tuchballen und allem erdenklichen Zierrat. Mein Vater saß auf dem Kutschbock und trieb die Pferde an. Jetzt hielt er auf die Zugbrücke zu.

    „Ha!“, rief ich, „anscheinend ist meinem Vater ein auskömmlicher Handel gelungen!“

    „O Mundburt, Mundburt, du mein tapfere Held!“, rief Gerlind aus und fiel mir um den Hals, „dann können wir ja endlich heiraten!“

    „Ja, mein, Schatz, so sieht es aus! Die Herrin kann mich mal!“

    Wir herzten und küssten uns, dass zwei Schnabeltiere, die ja bekanntlich den lieben langen Tag nichts anderes tun, vor Neid erblasst wären, hätten sie uns dabei beobachtet.

    ***

    Und wenn sie nicht gestorben sind,

    dann tun sie es noch heute.

    ___________

    * Paradiesflüsse, nach Gen 2, 10 – 14.

    ENDE


    Puuuh, wurde auch langsam Zeit! (Radamanthys.)

    „Halt, Herr Ritter! Wieso Ende? Ihr schuldet uns noch ein Kapitel!“

    „Wie meint Ihr das, Jungfer Pustel?“

    „Ihr habt ein Kapitel übersprungen und wolltet es später nachholen!“

    „Ach so, jetzt erinnere ich mich … Na dann … Aber für ein ganzes Kapitel reicht´s nicht mehr. Wie wär´s mit einer Ballade?“

    „Auch gut!“

    „Dann hört also:


    Die Ballade vom Ritter mit dem Holzgebiss

    Ein Ritter, jung und kühn, der alten Sippe ganzer Stolz,

    verlor bei Nacht einst seine dritten Zähne,

    – ich schäm´ mich fast, dass ich´s erwähne –

    denn das Gebiss, ja das Gebiss – es war aus Holz.

    Aus edlem, festen Span und reichlich dickem Kleister,

    mit Fäden fein zum Halten gar beim Biss,

    und schön bemalt mit guter Farb´, gewiss,

    er ließ es fertigen bei einem hochberühmten Meister.

    Wie kam´s? Es war des Ritters schnödes Missgeschick

    und nicht des Alters räuberische Hände,

    dass seine Zunge keine Barriere fände.

    Und dann – ach, ach! Hier die Ereignisse auf einen Blick.

    Auf einem Ritterfest geschah´s im großen Köln am Rhein:

    Das Ross sprang hoch, jedoch recht kürzlich,

    und machte drum den Ritter stürzlich.

    Der Sand, der Sand war weich, doch nicht der ekle Stein.

    Da lag er nun, der Rittersmann, im Kreise seiner Zähne,

    der Helm zerbeult, der Mund zerbläut,

    im Zwölfuhrmittags Kirchgeläut,

    und helles Blut entquoll wie eines Feuerengels Strähne.

    Ihr sagt: Ein Ritter, dreist und wild in tollen Schlachten,

    der beißt doch nicht, er haut und sticht,

    so hat ein Zahn doch kein Gewicht,

    wer, Teufel, sagt ihr Leut´, würd´ ihn darum verachten?

    Doch ach, ihr Leute, denkt ihr gar nicht an die Minne?

    An´s Stelldichein auf grüner Au,

    am Waldesrand mit einer schönen Frau?

    Des Ritters Sinn: Dass er der Allerliebsten Herz gewinne?

    Nun muss nicht jeder Ritter, weder tags noch in der Nacht,

    will er ´ne strenge Herrin sich erwählen,

    von heißer Lieb und ew´ger Treu erzählen,

    Doch eines sollt´ er können: Lachen. Darauf sei er stets bedacht.

    Er tut es wohl. Doch ach! Sie sieht in seines Mundes Gähne

    und senkt verstört die holden Lider.

    Sie denkt bei sich: Mit dem? Nie wieder!

    Aus ihrem Augenpaar tropft nicht die kleinste Träne.

    Doch unzerbrechlich ist des edlen Ritters kühner Stolz,

    wenn auch sein Blut zu Eis geronnen.

    Zu herrlich sind der Minne hohe Wonnen.

    Ein Gebiss muss her, ruft er, und sei es auch aus Holz! –

    Nun hält er´s in der Hand, das selten kostbare Gebilde,

    er legt´ es an, den Gaumen zu gewöhnen –

    soll´n ihn die Brüder doch verhöhnen!

    Will reiten schnell zu seiner Braut in spe Mathilde.

    Sein frohes Herz erfasst erneut erhöhte Liebesglut.

    Er ruft zu sich den feschen Knappen:

    He! Striegle mir den feurigsten Rappen!

    Was lange währt, denkt er, wird endlich, endlich gut.

    Geschwind jagt er dahin durch Wald und rote Heide,

    durch Fluss und Tal und schwarzes Moor,

    Schon steht Mathild´ am hohen Tor,

    ihr gold´nes Haar erglänzt wie köstliches Geschmeide.

    Er springt vom Pferd: He Knapp´, versorg´ das edle Ross!,

    die Wangen rot, der Sinn voll Heiterkeit.

    Sie neigt das Haupt, das Tor steht weit –

    der Blicke Glut: Verwundert sieht´s der jungen Knappen Tross.

    Am Linden-Brunnen lassen sich die Liebesleute nieder.

    Des Lautenschlägers heit´res Spiel:

    erspart dem Ritter Worte viel.

    Ein Gaukler eilt herbei, sein Kleid so bunt wie Pfau-Gefieder.

    Mathilde sieht ihn gern und klatscht vergnüglich in die Hände.

    Der Ritter lacht befreit –

    und sein Gebiss fliegt weit –

    vergaß er doch die zarten Halte-Bände.

    Ritt nach Jerusalem, hinein ins heilige Land,

    wo er mit wenig echten Zähnen

    unter wütenden Sarazenen

    im Kampf die ewige Ruhe fand.

    + + +

    Mundburt findet den wundertätigen Kristall und ist enttäuscht

    „Ehrlich gesagt“, meinte Gerling auf dem Weg zum Steig, „den Teufel hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Nicht so vornehm, nicht so hell, und vor allem nicht so geschwätzig. Weißt du, Mundburt, was mich an dieser Hölle am meisten stören würde, vorausgesetzt, ich käme hinein?“

    „Na?“

    „Diese ewige Reimerei! Das ist ja unerträglich! Kann der Mann überhaupt noch normal reden?“

    „Wie soll ich das wissen? Warum hast du ihn denn nicht gefragt? Ich denke, das Reimen hat er sich angewöhnt, weil es hier unten eine besondere Art der Tortur ist. Diese Griechen haben doch ständig ellenlange Gedichte verfasst. Denk nur an diesen Homer! Jetzt müssen sie sich das Zeug zur Strafe ununterbrochen anhören und möglicherweise sogar auswendig lernen. Könnte mir vorstellen, dass dergleichen auf die Dauer ziemlich nervt. Anderseits, wenn ich´s recht bedenke, immer noch angenehmer als das, was in unserer Hölle dem armen Sünder so alles blüht. Da ist Gedichte auswendig lernen vielleicht die angenehmere Art der Strafe.“

    „Da magst du Recht haben ... Ich denke gerade an ein Altarbild in unserer Burgkapelle. Puh ... Einfach grauslich! Wie da gestochen, gedehnt, gesengt, gedreht, gewürgt, gezwickt und gezwackt wird ...“

    Unter dergleichen angenehmen Geplauder erreichten wir bald den Steig. Dieser nun erwies sich alles andere als leicht gangbar. Je höher wir kamen, desto enger und steiler wurde er. Auf den letzten Stufen mussten wir uns regelrecht hochwinden. Fast sah es so aus, als habe ein teuflischer Steinhauer alles darauf angelegt, den Steig unüberwindlich zu machen. Schließlich erreichten wir ein Felsentor mit ausgehauenen Säulen, vor dem zwei steinerne Löwen Wache hielten. Und wer stand da und grinste uns entgegen? Richtig, der Edle von Mausloch.

    „Pygmalion, wie kommt Ihr denn hierher?“, riefen Gerlind und ich wie aus einem Munde.

    „Na wie wohl? Das Kän´guruh tat einen kräftigen Hüpfer, und schon waren wir hier. Ich wusste vor vornherein, dass ich Euch hier finden würde.“

    „Ach nee! Dass ich bei den Prüfungen versagen könnte, damit rechnetet Ihr also nicht. Wusstet Ihr überhaupt davon?“

    „Von den Prüfungen? Natürlich. Jeder, der zum Grab des Königs will, muss sich ihnen unterziehen. Und als ich hörte, wie Ihr die erste Aufgabe löstet, war ich überzeugt: Die schaffen das!“

    „Soso, Ihr habt uns belauscht!“

    „Nein, war nicht nötig. Der Tunnel ist so angelegt, dass man auch ein geflüstertes Wort noch meilenweit weg verstehen kann.“

    „Wo finde ich nun den Kristall?“

    „Kommt!“

    Doch ehe wir uns in Bewegung setzen konnten, sagte Gerlind, die schon seit einiger Zeit mit zusammengekniffenen Beinen dastand: „Hmm ... äh ... wo kann man denn hier mal?“

    „Weiter oben ist eine Nische“, sagte der Kleine, „geht ruhig, wir schauen und schon mal das Mausoleum an.“

    Der Innenraum war mit eigenartigen Wandmalereien geschmückt, nur bevölkerten die Wände weder Menschen noch vielfältiges Getier, Korn und Vorräte, wie es bei den alten Ägyptiern üblich war, sondern wunderliche Gestalten mit unförmigen Leibern und dürren Gliedern, die einäugig über die Wände huschten. Indem ich näher herantrat erkannte ich: Es waren alles Flöhe in den seltsamsten Verrenkungen und Verrichtungen, die näher zu beschreiben mir der Anstand verbietet. In der Mitte des Raumes stand ein schwarzer Steinkasten, der Sarkophag°. Und dann sah ich ihn, den wundertätigen Kristall – und war sofort enttäuscht. Das war kein gänzend-glitzerndes Edelstein-Wunder, wie es mir vor Augen geschwebt hatte, das war ein einfacher Feldspat, blass und grob, der aus dem Deckel der steinernen Truhe wuchs.

    Von wegen anachitischer Diamant! Da war der Magister wohl einem Gerücht aufgesessen.

    Auf einmal ein Schrei: „Mundburt, oh Mundburt ... komm, schnell ... schnell ... es ist unglaublich!“

    „Ein Hinterhalt!“, rief ich und eilte den Hang hoch. Ich fand Gerlind, wie sie an eine Steinbrüstung gelehnt ins Weite starrte, über sich den blanken Himmel.

    „Beim heiligen Nepomuk!“, rief ich, „was ist denn los! Hörte sich an, als wärst du unter die Räuber gefallen!“

    „Komm und schau dir das mal an!“

    Ich trat zu ihr und blickte auf eine Wiese, die über und über mit leuchtendem Affodill* bewachsen war. Und dahinter –

    __________

    ° Wörtlich: Fleischfresser. * Asphodelus, die „Blume der Götter“.

    Der letzte Haufen

    Prolog

    Ihr Lieben, ihr seid bess´re Wesen,

    denn ihr versteht nicht nur zu lesen –

    wobei die Stunden schnell enteilen,

    dieweil im Wald die Keiler keilen,

    im tiefen Sumpf die Frösche quaken

    und mancher Saufaus kotzt aufs Laken –

    sogar auch Ihr, mein feur´ger Kava-liere,

    sonst Prosa-Ritter nicht, doch hier, ha!, sehre:

    mit frischem Mut und frohem Geiste

    verstund Ihr doch das Allermeiste,

    sowie die Jungfer dort, die kleine Dirne

    mit feinen Kinkeln auf der Stirne,

    die schon beim stummen Frühgebete

    den Wunsch verspürt, das Mann sie heira-tete –

    so sag ich, was ihr einmal angefangen,

    das bringt ihr auch zu End´ ganz ohne Bangen.

    Ihr alle seid doch hoch zu loben:

    mein Lob soll ewig euch umtoben!

    Ihr habt gehalten fest zur Stange,

    und war die Zeit auch manchmal lange.

    So lest denn noch den letzten Haufen,

    ohn´ euch die Haare auszuraufen.

    O selig sind doch die zu preisen,

    die sich am End´ als treu erweisen!


    Mundburt blickt in das Land seiner Ahnen und erkennt es nicht

    Stellt euch ein unermessliches Land vor, meine Lieben, in dem die überraschendste Abwechselung von Bergen, Hügeln, Tälern, Wäldern und Wiesen das Auge erquickt; einen herrlichen Lustgarten unter der Herrschaft eines ewigen Frühlings mit den angenehmsten Temperaturen; in dem, wohin man auch blickt, die quellende Fülle blühender Landschaften leuchtet; alles ausgebaut und künstlich bewässert; überall sattes Grün und der verführerische Duft blühender Obstbäume, auch erfüllt von Kutteln, Feigen, persischen, chinesischem und syrischem Flieder, Zitronen, Matronen, Patronen, Granaten und den vielfältigsten bunten Blumen, alles ohne Pflege und frei vom Zwang des Gärtners gewachsen wie bei uns die Eichen; stellt euch weiter ein Land vor mit Hainen, in denen Myrte und Jasmin, Amors und Cytheräens Lieblingsblumen nicht in Töpfen oder Hecken, sondern auf Bäumen wachsen, voll erblüht wie der Busen der Schaumgeborenen Aphrodite.

    Und diese herrlichen Wälder sind erfüllt vom aromatischem Geruch des Bderylliumharzes und dem lieblichen Gesang unzähliger Arten von Vögeln, Pöbeln und Blödeln; belebt von tausend bunten Papa- und Mamageien sowie deren Kindern, Neffen und Nichten, die alle aufzuzählen zu weit führen würde; von Finken, Stinken und Hinken, deren bunt-schillerndes Gefieder Juno mit Neid erfüllt; durchzogen von gewaltigen Herden wilder Tiere wie Antilopen, Antipoden, Lopopoden, Popopoden, Kletter-, Klammer-, Maulaffen und weiß Gott was noch alles für fremdländische Kreaturen; dann überall Bäche und Quellen vom reinsten Blau mit Auen voll von Orchideen, Hyazinthen, Orchizynthen, Lilideen, Zynthileen, Liliorchen und anderem exotischem Gewächs, zwischen dem der Reisige auf weichem Boden dahinschreitet wie Olympias selige Genien.

    Und kaum senkt er den Fuß, da berührt die Sandale die herrlichsten Edelsteine; Onyx, Jaspis, Karneol, Karneval und andere Kostbarkeiten liegen zu Hauf, dass man sie nur greifen muss; dann grüner Malachit, schwarzer Obsidian, Bern-, Nieren- und Gallenstein von der Farbe des Mondes; ferner Achat, Arschtat, Lapislazuli...

    In dunstiger Ferne, dem Horizont zu, schimmert das silberne Band eines heiteren Flusses; vielleicht ist´s der Pischon, vielleicht ist´s der Gihon*, wer weiß; bunte Segel flattern lustig im Wind, und fröhliche Schiffer werfen drallen Dirnen verliebte Blicke zu. Töne einer wohlklingenden Musik wehen herbei; irgendwo wird unter Trommelgedröhn, Zinken- und Schalmeienklängen ein Maibaum errichtet oder ein Dorffest gefeiert. Darüber, in luftiger Höhe, schwebte eine Burg mit spitzen Türmen und festen Mauern.Und ganz hinten, hoch über weißem Gewölk, erheben sich die Schneegipfel eines himmelhohen Gebirges, von Sols köstlicher Gabe verwöhnt.

    Ende folgt

    Mundburt erzählt eine seltsame Geschichte.

    Ihr lieben Pfennigfuchser und Hühnerdiebe! Während sich die beiden zanken, und Hypnos* schon das Seter* braut (der Zank zwischen den beiden kann nämlich noch dauern!), möchte ich euch, mit eurer Erlaubnis und zu eurer Erquickung, eine absonderliche, abwegige, unglaubliche, köstliche, knallige, knollige, knullige – kurz, eine Geschichte vortragen, die mir meine Muhme Schnurli-Purli aus dem reichen Schatz ihrer Schnurren schenkte. Mein Schreiber sie aufgeschrieben – – ha! Wo ist sie bloß – – Teufel auch, heute Morgen war der Zettel doch noch da – – hei, da ist er ja! Also hört

    die Geschichte vom indischen Säulenheiligen:

    In

    Indien

    ein heil´ger

    Mann,

    „du sollst nicht töten!“

    war sein Spruch der ersten

    Wahl, er aß kein Fleisch, nur

    dann und wann ´ne Handvoll

    Reis, dazu vom klaren Wasser einen Strahl.

    Zerquetscht auch nie ´ne Laus, war Freund von

    Maus und

    Ratt, ging

    auch nie

    aus dem

    Haus. Er

    meint, bei

    jedem sei-

    ner Schritt´

    trät´ er ´nen

    Käfer platt.

    Bei einem

    Freund: Ein

    Wunderglas,

    er sah´s und

    gönnte sich

    den Spaß

    zu blicken

    in ein gläsern

    klares Reich:

    Ein Tropfen

    Wasser aus

    dem Teich.

    Er schaut

    hindurch

    und schaut

    entsetzt!

    Das zuckt

    und dreht

    und trollt

    und fetzt!

    Das aller-

    tollste Tier-

    gewimmel!

    Der Heilige,

    bedrückt,

    hat er doch,

    o Himmel!

    ohne was

    zu ahnen

    beim Trank

    getötet,

    schon seit

    vielen Jahren!

    Von da an

    wollt´ er auch

    nicht trinken,

    nur noch

    in echte Reu´

    versinken.

    Er trieb den

    Glauben

    auf die Spitz´:

    Auf himmel-

    hoher Säule

    nahm er Sitz,

    zu büßen sei-

    ne Sünden.

    Da saß er

    nun, tagein,

    tagaus, bei

    Sturmwind

    Regen, Son-

    nenschein und wollt

    Erlösung finden. War bald

    so leicht, so leicht wie dürres Laub oder

    wie ein winzig´s Häufchen Staub. Da kam ´ne

    steife Brise und wehte ihn auf eine Himmelswiese.

    ________________

    *Gott des Schlafs, ** altes Schlafmittel.

    Mundburt verhaut nutzlos seinen letzten Schwerthieb.

    „ – – Ich komme mit!“

    „Du bleibst unten!“

    „Ich komme mit!“

    „Du bleibst – – –“

    „Herrgottnochmal, Mundburt! Manchmal könnt ich dich dem Teufel in den Hintern schieben, aber du bist und bleibst doch mein äh ... Bruder! Denk doch mal ein klein wenig nach! Nehmen wir einmal an, du schaffst es nicht, was soll ich dann mit einer Versteinerung im Bett … ähem – – ich komme mit, basta!“

    Also begannen wir den Aufstieg, allerdings an einer anderen Stelle, damit uns der Stein beim herabfallen nicht noch unversehens erschlug. Da wir unbeschwert waren, erreichten wir bald den Gipfel, und jetzt zeigte sich, warum der arme Sisyphus wie Vater immer wieder von vorne anfangen musste: Der Gipfel war so spitz, dass sich darauf keine Haselnuss halten konnte. Kein Wunder, dass der große Stein immer wieder herunterfiel.

    Oh, dieser verfluchte Höllenfürst, dachte ich, dieser hinterlistige Teufel! Den gewaltigen Brocken hätten wir für alle Zeiten festhalten müssen, denn was heißt im Orcus schon 'eine Weile'! Wusste in diesem Moment aber auch, wie ich diesen sauberen Herrn eins auswischen konnte.

    Ich blickte nach unten. Sisyphus näherte sich keuchend, mit gespanntem Rücken und kräftigen Stößen den Stein hochschiebend.

    „Wo ist eigentlich dein Schwert?“, fragte Gerlind auf einmal.

    „Wo es immer ist. Hier an meiner Seite.“

    „Wenn es so gewaltig ist, wie du immer behauptest, dann wüsste ich, was ich an deiner Stelle täte.“

    „Du rennst offene Türen ein, mein Häschen! Genau das habe ich vor! Nur bedenke, es wäre mein letzter Hieb!“

    „Na und? Hab keine Lust, dem Kerl den Stein zu halten! Außerdem riecht er mit zu sehr nach Schweiß. Und nenn mich nicht noch einmal Häschen!“

    „Gerne, wenn du mich nie wieder Affenarsch nennst!“

    Sisyphus schickte sich an, den Stein auf den Gipfel zu wuchten.

    „Wartet!“, rief ich ihm zu, „das machen wir anders!“ Zog mein Schwert und hieb den Gipfel dreißig Ellen unterhalb der Spitze ab. Der stürzte krachend in die Tiefe, gleichzeitig strich mir ein heißer Wind übers Gesicht: Schlagto hatte sich in Luft aufgelöst.

    Und wieder kam es anders, als ich gedacht hatte. Statt mir zu danken und Gerlind die Hand zu küssen stieß Sisyphus wüste Flüche aus. „Beim hinkenden Hephaistos!“, schrie er, „was sollte das denn? Wollt Ihr mich ins Unglück stürzen?“ Ließ den Stein fallen und lief hinterher.

    Ich war sprachlos, und auch Gerlind fehlten zum ersten mal seit langem die Worte.

    „He, kommt wieder herunter, ihr beiden!“, rief Rhadamanthys. Als wir unten waren, sagte er: „Da habt Ihr wohl etwas missverstanden, lieber Herr! Ihr solltet nicht den Gipfel abschlagen, sondern dafür sorgen, dass der Fels eine Weile oben bleibt.“

    „Ja wie denn?“, warf ich ärgerlich ein, „der Gipfel ist nadelspitz, und der Stein elefantenschwer!“

    Rhadamanthys machte eine abwehrende Handbewegung. „Ach was!“, rief er,

    „der Stein ist innen hohl

    und wiegt nicht mehr als ein Kopf von Kohl!

    Ein kräftiger Knabe könnt´ ihn tragen.

    Bestand doch gar kein Grund zum Klagen!

    Zu dritt hättet Ihr ihn ohne Probleme ein Weile auf der Bergspitze halten können, und ich hätte eine Weile Ruhe gehabt.“ Er sah mich auf seine Weise ernst, aber nicht unfreundlich an. „Und im übrigen, haltet Ihr mich für so teuflisch, dass ich Euch eine unlösbare Aufgabe stellen könnte?“

    „Wie, was?“, rief Gerlind, „der Stein ist innen hohl? Das ganze Getue und Gestöhn nur vorgetäuscht? Ja um Himmels Willen, warum denn?“

    „Die Welt will es so. Die Menschen lieben Sisyphus, so wie er sich gibt, schwitzend und keuchend, weil sie sich so in ihm wiedererkennen. Sie wären sicherlich maßlos enttäuscht, wenn sie wüssten, was mit dem Stein ist.“ Rhadamanthys runzelte die Stirn. „Ja glaubt Ihr den, mein Fräulein Knappe, die Götter ließen Sisyphus seit zweitausend Jahren einen so großen und schweren Stein schleppen? Kein Titan, auch der stärkste nicht, wäre dazu in der Lage. Die Götter sind manchmal ungerecht, aber sie sind nicht grausam.“ Nun sah er mich an. „Wie habt Ihr das geschafft, dem Berg die Spitze abzuschlagen?“

    Ich sagte ihm, was ihr, meine Lieben, schon wisst.

    Der Herr der Unterwelt zog die Unterlippe ein. „Hmmm ... damit konnte ich natürlich nicht rechnen. Sei´s drum, die Prüfung gilt als bestanden. Ihr habt Seelenstärke gezeigt, indem Ihr trotz des bösen Omens den Aufstieg wagtet.“

    Im Hintergrund war Sisyphus gerade dabei, den Steinbrocken wieder hoch zu schieben, nun auch noch mit der Bergspitze auf den Schultern.

    „Eine Frage hätte ich noch, Euer Ehren, bitte. Sisyphus sagte, die abgehauene Bergspitze mache ihn unglücklich. Was meint er damit?“

    „Sein Glück besteht darin, immer wieder einen neuen Versuch wagen zu können. Würde der Stein oben liegen bleiben, wäre er seines Lebensinhalts beraubt, und er würde sich zu Tode langweilen.“

    „Ihr haltet Sisyphus für glücklich?“

    „Ja.“

    Ha, dachte ich, genau wie Vater! Jeden Morgen, wenn er die Rute und die Fibel an sich nahm, leuchteten seine Augen vor Freude, obwohl er wusste, dass es mit seinen Rotznasen wieder mal eine Sisyphusarbeit werden würde.

    „Na schön“, meinte Gerlind, „dann ist das ja geklärt. Und wo ist nun, bitteschön, das Grab dieses Königs mit dem wundertätigen Kristall?“

    „Dazu müsst Ihr wieder zurück auf die Oberwelt. Seht ihr den Steig dort in der Felswand? Er führt direkt zu der Grabkammer des Königs der Almaten. Ich darf mich jetzt verabschieden. Hat mich sehr gefreut! Wünsche Euch Glück und Gesundheit.“ Er trat zweimal kräftig auf, eine Erdspalte öffnete sich, in der er, uns zuwinkend, langsam versank. Dabei sprach er:

    „Denkt an mich, wenn ihr oben!

    Müsst Rhadamanthys gar nicht loben,

    nennt mich einen rechten Mann,

    der einen Scherz ver-tra-gen –“

    Der Rest war nicht mehr zu verstehen.

    ___________

    ° Alles Titanen, die zu ewigen Qualen im Tartaros verurteilt waren.* Süddt. = Berghang.

    F. f

    In der Advokatenhölle

    Bald näherten wir uns einem langgestreckten Höhenzug, der von der Abendsonne glühend überschlagen war. Ein dünnes Gehölz mit seltsam geformten Bäumen kroch über die Hügel wie eine Schar hochbeiniger Ameisen mit dicken Köpfen. Die Bäume sahen etwa so aus:


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    Über den Hügeln lag ein hoch getürmter Wolkenberg, der mich entfernt an eine prall gefüllte Geldkatze erinnerte. Gelbe Sandschwaden brodelten darin wie Nebel in der Waschküche.

    „Euer Ehren“, fragte Gerlind aufs Höchste beunruhigt, „bahnt sie da der nächste Sandsturm an? Vom letzten rieselt mir immer noch Sand aus den Ohren.“

    „Mitnichten“, antwortete der Fürst, „da seid nur beruhigt. Was da brodelt ist kein Wüstensand, sondern Löschsand.“

    „Löschsand? Brennt es denn hier häufig?“

    „Na klar!“, rief ich, „schließlich sind wir in der Hölle!“

    „Hier brennt´s nicht öfter als anderswo“, widersprach der Fürst, „den Löschsand braucht man in den Kanzleien.“

    „In welchen Kanzleien? Das solltet Ihr uns näher erklären“, sagte Gerlind gegen die Wolke blinzelnd.

    Indem wir uns dem Bergzug näherten, setzten mich die Bäume des Wäldchens immer mehr in Erstaunen. Das war kein normales Gehölz, wie ich es aus unserem guten Schwabenlande gewohnt war: Ein fester Stamm mit knorrigen Ästen und einer runden grünen Krone, gewaltig raumgreifend; oder spitz hochragender Tann, der die Wolken kitzelte. Diese Bäume hier waren so schwarz wie die Heiden, die zwischen den Stämmen herumhuschten, sich immer wieder bückten wie pickende Hühner und etwas in große Körbe warfen. Auch sah ich weder Laub noch Blüte, sondern starre siegelähnliche Gebilde, die mir irgendwie bekannt vorkamen, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo mir dergleichen abstruses Kraut schon einmal vorgekommen war. Doch im Näherkommen erkannte ich –

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    „Paragrafenbäume“, sagte der Fürst, „was Ihr da seht sind Paragrafenbäume. Die Leute da sind Advokaten. Sie sammeln heruntergefallene Paragrafen ein und bringen sie in ihre Kanzleien.“

    „Körbeweise?“, fragte ich verdutzt.

    „Ha!“, rief Gerlind, „hab ich mir doch gleich gedacht! Wo Hundewelpen blonden Rittern die Köpfe verdrehen und Räuber mit dem Hintern reden wachsen die Paragrafen natürlich auf den Bäumen! Jetzt müsst Ihr nur noch erklären, wieso es in den Kanzleien brennt!“

    „Das habe ich nicht gesagt“, sagte Rhadamanthys ernst wie ein Grabredner, „den Löschsand braucht man in den Kanzleien zum Ablöschen der Tinte.“

    „Und dazu braucht´s ein ganzes Gebirge aus Sand?“, warf ich ein.

    „Es gibt hier Tinte im Überfluss, Schwarzwasser genannt. Ganze Bäche sind voll davon. Und weil die Tinte nichts kostet, wird auf den Kanzleien viel geschrieben. Minister, Justiziare, Fiskal-, Filial-, Ferkel-, Geheime-, Gemeine-, Wirkliche und Unwirkliche Räte, Finanz-, Staats- und andere Beamte, Syndikusse, Kebekusse, Notare, Notabene, Notophagen, Koprophagen … äh … kurz, alle betreiben sie irgend eine Kanzlei oder Schreibstube, und die Tinte fließt in weiten Strömen. Die Advokaten sind dazu verdammt, alles zu tun, damit die Prozesse und der Tintenbedarf nicht versiegen. Gerät ein Prozess aus Versehen bis hart an ein Urteil, werden hurtig neue Paragrafen eingesammelt, und schon beginnt der Prozess von neuem. Mittlerweile gibt es so viele Paragrafen, Unterparagrafen, Floskeln, Kautelen, Finten, Fisteln, Schlüsse, Trugschüsse, dass mancher Kasus schon so lange geführt wird, dass niemand wer weiß, worum es überhaupt geht.“

    „Kann denn solch einen Rechtsstreit überhaupt noch jemand bezahlen?“, wollte ich wissen. „Ich erinnere mich, dass mein Vater schon für den Streit um einen halben Humpen obergäriges –“

    „Wir sind hier in der Unterwelt, lieber Herr“, sagte der Fürst, „und nicht in der Hölle, wo die geldgierigen Sünder mit glühenden Goldstücken gequält werden. Diese Advokaten müssen die Prozesse gegenseitig führen als Strafe dafür, dass sie in ihrem Leben die Strafsachen immer wieder verschlepppt haben.“, erklärte Rhadamanthys ohne mit der Wimper zu zucken. „Es sind Scheinprozesse, die nie ein Ende nehmen. Es fallen ja immer neue Paragrafen von den Bäumen.“ Er wies mit ausgestrecktem Arm auf zwei Gestalten, die ich zunächst für Krähen hielt. „Die beiden Advokaten dort prozessieren schon seit über tausend Jahren, und noch ist kein Ende abzusehen.“

    „Bei allen Heiligen!“, rief Gerlind mit spaßhaftem Schalk , „wird denn bei diesen Heiden überhaupt noch Recht gesprochen?“

    Jetzt geschah etwas Unerwartetes: Rhadamanthys lachte. „Euer Wohlgeboren! Ihr könnt eher ein gefettetes Schwein am Schwanz halten als einen Advokaten am Recht!“

    Unter dergleichen angenehmen Geplauder setzten wir unseren Weg fort ...


    Mundburt soll dafür sorgen, dass ein Stein nicht rollt

    … und traten auf einen weiten Platz, der rundherum von schroffen Felswänden umgeben war. In der Mitte ragte ein kegelförmiger Hügel auf, auf dessen Spitze jemand herumkrabbelte.

    „Der Grabhügel!“, rief ich. „Na endlich! Wurde aber auch langsam Zeit!“

    „Nein“, sagte Rhadamanthys, „es ist nicht der Grabhügel! Wir sind hier in der Unterwelt, vergesst das nicht“

    Neben dem Berg gewahrte ich ein Dutzend oder mehr schwarze Steinfiguren, die aus der Ferne wie Felsen aussahen. Doch indem wir näher kamen, erkannte ich Gesichter und Konturen von Gliedern und Kleidungsstücken. Die Monoliten wirkten ziemlich klobig, waren aber nicht höher als ein normaler Mann.

    Ehe ich fragen konnte, sagte Rhadamanthys: „Diese Figuren sind alles Leute, die bei dieser Prüfung versagt haben. Zeus hat sie zur Strafe in Steine verwandelt.“

    Der Fürst breitete die Arme aus und deklamierte:

    „Nur die waren erkoren,

    die den Mut nicht verloren

    und mit wölfischem Herzen

    nicht achtend der Schmerzen

    den Aufstieg doch wagten

    und nicht mitten verzagten.“

    „Hoho!“, rief ich, „damit rückt Ihr erst jetzt heraus? Ihr seid ein Satansbraten!“

    Rhadamanthys blieb abrupt stehen. „Herr!“, rief er, „ich bitte mir Respekt aus! Ihr vergesst anscheinend, zu wem Ihr redet. Ich bin nicht irgendwer!“

    Inzwischen waren wir am Fuß des Hügels angekommen, der zu einem himmelhohen Berg angewachsen war. Ein Rumpeln ließ mich nach oben blicken. Ein dunkler Schatten stürzte herab. Ohne zu überlegen warf ich mich auf Gerlind und riss sie beiseite. In diesem Moment krachte neben uns ein ungeheurer Felsblock auf den Boden.

    „Was soll das, Herr!“, rief ich aufgebracht, „wollt Ihr uns töten? Alles nur Trug und Hinterlist? Dieser Stein hätte und erschlagen können! Kann man sogar in der Hölle niemandem mehr trauen?“

    „O nein, o nein, keineswegs wollte ich Euch töten...“ Das Gesicht des Fürsten zeigte echte Betroffenheit. „Es ist nicht meine Schuld! Der da ist Schuld!“ Er wies auf einen fast nackten Mann, der gerade am Fuße des Berges erschien. Sein muskulöser, sonnenverbrannter Körper glänzte vor Schweiß, und seine Augen, von der Qual andauernd nutzloser Mühe schwarz umrandet, lagen tief in den Höhlen.

    Ich erkannte ihn sofort: Es was Sisyphus.

    Natürlich hatte ich ihn noch nie gesehen. Wie denn auch. Schließlich lebten wir beide in zwei verschiedenen Welten. Trotzdem wusste ich sofort, dass es nur er sein konnte, obwohl er ganz anders aussah, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Vater hatte oft von ihm gesprochen, wenn er versuchte, seinen Söhnen, die einen ganzen Saal füllten, höfisches Benehmen beizubringen. „Oh ihr rotznasigen Lümmel!“, rief er das eine über das anders Mal, „das ist die reinste Sisyphusarbeit mit euch! Habt schon wieder vergessen, was ich gestern in eure Hohlköpfe hineingedroschen habe! Gut denn! Fangen wir wieder von vorne an!“ Nahm dann die Rute und begann mit der Wiederholung.

    „Tut mir Leid, Leute“, sagte Sisyphus, vor Ermattung schwach, „konnte den blöden Stein nicht mehr halten. Vielleicht geht ihr etwas zur Seite, damit es nicht wieder passiert!“

    Und wieder setzte Sisyphus an; mit Händen und Füßen stemmend und sich in Schmerzen windend versuchte er, den Felsblock, den ungeheuren, hochzurollen. In unendlicher Mühsal stieß er den Stein Schritt für Schritt hinauf auf den Hang. Doch als er ihn oben hatte, verließen ihn die Kräfte: Von neuem rollte der Block polternd den Abhang hinunter, uns fast vor die Füße. Er aber kam hinterher, stumm vor Verzweiflung und mit hohlen Wangen; stieß ihn wieder zurück, sich anspannend dass die Muskeln hervorquollen wie feiste Ratten, der Schweiß rann in hellen Strömen ihm vom Kinn auf die Füße, und sein Ächzen und Stöhnen erfülle den Äther.

    „Nun denn“, sagte ich zu Rhadamanthys, „dann lasst mal die Katze aus dem Sack! Worin besteht denn diese letzte Prüfung? Soll ich Sisyphus beim Steinhochrollen helfen?“

    „Die letzte Prüfung betrifft Eure Seelenstärke. Da hinauf müsst Ihr, zur Spitze des Hügels und dafür sorgen, dass der Fels eine Weile oben bleiben kann.“

    „Mit dem Stein?“

    „Natürlich nicht!

    Der Fürst der Unterwelt blickte angewidert zur Seite. „Ich kann dieses Ächzen und Stöhnen nicht mehr hören! Endlich muss mal Schluss sein! Wenigstens für eine Weile. Die Furien reichen mir schon.

    Arke, Oknos, Sisyphos,

    Tityos, Ixion, Tantalos,

    und der Danaiden° Schar

    samt der Hydra Teufelshaar:

    wen´ger schädlich für´s Gedärm

    als der Furien Höllenlärm.“

    Ich blickte Gerlind an, Gerlind blickte mich an, doch wir sagten kein Wort.

    Der Berg sah nicht allzu schwierig aus, nicht besonders steil, ohne scharfe Grate, Schroffen und Klüften. Mit etwas Geschick und Anstrengung müsste der Aufstieg glücken.

    Nur was dann? Und, warum war es bisher noch niemandem gelungen, den Felsbrocken oben zu halten?

    „Wenn ich merke, dass ich es nicht schaffe, und ich kehre um?“, fragte ich.

    „Dann werdet Ihr zu Stein. Wie die anderen auch.“

    Hmmm ... das sah nicht gut aus. Zwar glaubte ich nicht an diesen Heidengott Zeus, diesen Frauenverführer und Jungfernschänder, sondern an unseren HERRn Jesus Christus, und der, da war ich mir sicher, würde sich letztlich als der Stärkere erweisen, wie er sich bisher allen Göttern der Heiden überlegen gezeigt hatte. Was predigte der Monsignore doch immer? „Wer an mich glaubt (an den HERRn, nicht an den Monsignore) – der hat das ewige Leben!“ Und ich glaubte fest an IHN (nicht an den Monsignore, aber an den HERRn).

    Allerdings, diese Steinfiguren dort ... Sollte dieser göttliche Frauenheld doch Macht über die Lebenden besitzen?

    Ich war hin- und hergerissen. Doch jetzt, so kurz vorm Ziel, kneifen? Hörte wieder Vaters Worte: „Wer zu viel nachdenkt, den bestraft das Leben!“ Jetzt aufgeben? Nie und nimmer! Sah mich mit dem Kristall in der stolzen Hand vor die Herrin treten, sah, wie sie mich dankbar anlächelt und mir ihre Hand zum Kuss –

    Gab mir einen Ruck, rief frohgemut: „Ich tu´s! Ich tu´s!“ und setzte einen Fuß an die Leite*, „ich wage den Aufstieg!“

    „Ach nee!“, rief Gerlind, „und was mach ich dieweil?“

    „Da wartest, bis ich zurück bin! Vielleicht weiß der Herr des Tartaros ja eine kleine nette Geschichte!“

    „Soweit kommt´s noch! Ich komme mit!“

    „Du bleibst unten!“

    „Ich komme mit!“

    „Du würdest nur stören!“

    „Ich komme mit!“

    „Du bleibst –“

    F.f