Hey Rainbow und Wanderer,
ja, vielleicht hätte ein bisschen mehr Action sein können. Ich wollte es erst einmal mehr über Spannung laufen lassen, als direkt zu viel Action zu machen. Ihr meint, da fehlt etwas in der Art? Die Sorgen, was seine Ma und Linda wohl denken würden, kommen noch ein bisschen später. Vielleicht sollte ich sie aber tatsächlich etwas früher ansetzen. Hier soll er einfach auch überwältigt sein von all den Neuerungen, dass ihm gar nicht die Zeit bleibt, richtig nachzudenken. Alle anderen Wiederholungsfehler, Tipps und Anregungen nehme ich wie immer auf, mega gut!!!
Vielen Dank!!
Hier geht es weiter. Dieses Kapitel ist lang
Kapitel 7
Mark erwachte so plötzlich, dass er dachte, jemand hätte ihn rüttelnd geweckt. Für einen Moment war ihm, er läge in seinem eigenen, kleinen Zimmer mit dem Holzfensterchen auf der Fussseite seines Bettes. Hier aber waren zwei Fenster: eines war rund und eines war rechteckig. Er sprang mit einem Ruck aus dem Bett auf und starrte durch das runde Fenster hinaus: Es waren eine Rasenfläche und kleine, mit verschiedenen Gemüsesorten bebaute Beete zu sehen. Direkt dahinter schloss sich der Wald an, durch den er selbst schon gewandert war. Das war gestern Nacht. Nachdem Mark auch noch durch das rechteckige Fenster geschaut hatte und einen Hinterhof mit Blick auf die Rückseite der Scheune erhaschen konnte, plumpste er auf den Stuhl, der neben einem kleinen Tisch im Zimmer stand. Es war also kein Traum gewesen. Er war tatsächlich in Weraltéra und das auch noch, wenn er sich richtig an das Gespräch in der vorherigen Nacht erinnerte, als einziger Mensch, den es hier gab. Es war nicht zu fassen. Meister Levin war noch in der Nacht aufgebrochen, um irgendwelche Großmeister zu informieren, dass mit ihm, Mark, der erste Mensch seinen Weg nach Weraltéra gefunden hatte. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken, bei dem Gedanken, dass er vielleicht als Gefahr angesehen werden könnte und nun in ein Gefängnis müsste. Wenn es denn Gefängnisse in Weraltéra gab. Die Nantwins hatten ihn ja auch sehr herzlich aufgenommen, dafür, dass er mitten in der Nacht als Fremder vor ihrer Tür stand. Auch Meister Levin wirkte in weiten Teilen sehr freundlich, auch wenn Mark nie das Gefühl loswerden konnte, von ihm durchleuchtet zu werden. Geistesabwesend wusch sich Mark im kleinen Badezimmer das Gesicht. Als er wieder aufblickte und sein Spiegelbild erblickte, erschrak er ein wenig. Er sah sehr mitgenommen aus: seine dunklen Haare standen am Hinterkopf ab, er hatte finstere Schatten unter seinen Augen und sein Gesicht wirkte merkwürdig verkrampft.
„Der erste Mensch in Weraltéra…“, murmelte er seinem Spiegelbild zu. „Denk daran, sie haben immer mehr Angst vor dir als du vor ihnen!“
Als er sich grade wieder aufs Bett gesetzt hatte, klopfte es an der Tür und er hörte eine hohe, kindliche Stimme.
„Mark, bist du schon wach?“
Das musste Melina sein. Sie klang schon putzmunter und fröhlich.
„Ja“, antwortete Mark etwas zögernd. Er konnte nichts dagegen machen, dass seine Stimme sehr breiig klang.
„Bist du auch schon angezogen?“, gab Melina noch fröhlicher zurück.
Mark blickte an sich herunter. Er hatte sich zum Schlafen nicht mal die geliehenen Klamotten ausgezogen. Er hatte immer noch Arians Hose und das Hemd an. Nur den Umhang hatte er noch fahrig über den Stuhl geschmissen, bevor er sich ins Bett gelegt hatte. Das Hemd sah jetzt furchtbar verknittert aus und Mark schämte sich dessen ein wenig.
„Ja, ich bin auch schon wieder angezogen“, gab Mark zurück. Als ob dieser Satz ein Kommando gewesen wäre, öffnete sich sofort die Tür und Melina kam ins Zimmer herein. Sie hatte ein grünes Kleid an, das ihr bis zu den Knien reichte und hatte ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht. Mark konnte nicht anders, als zurück zu lächeln.
„Mama hat gesagt, ich soll dich zum Frühstück runterholen. Wir sind alle schon auf und warten nur noch auf dich“.
Während sie das sagte, streckte sie ihre Hand zu Mark aus. „Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben“, sagte sie mit dem Brustton der Überzeugung, als Mark ihre Hand in seine nahm.
„Na, wenn du es sagst. Dann verlass ich mich aber auch darauf“, gab Mark glucksend zurück. Das Mädchen war schon wirklich eine Marke. Sie nickte ihm zu und führte ihn die Treppe hinunter zum gedeckten Frühstückstisch. Alle Nantwins waren tatsächlich schon auf. Karl und Arian saßen auf ihren Plätzen, während Lorena noch herumwuselte und noch einen großen, hellen Käse auf den Tisch stellte. Alles sah köstlich aus und Mark merkte jetzt erst, dass er riesigen Hunger hatte. Es gab einen großen Laib hellen Brotes mit dunkler Kruste, Butter, Honig, Würste und drei verschiedene Blöcke Käse. In den Bechern dampfte heißer Tee.
„Guten Morgen, Mark!“, sagte Karl munter. „Ich hoffe, du hast gut schlafen können! Ein bisschen müde siehst du ja schon aus.“
„Wie würde es dir denn gehen, wenn du all das erlebt hättest, was Mark gestern durchgemacht hat?“, warf Lorena streng ein, während sie den hellen Käse nun mit einem Messer in Scheiben schnitt. „Du wärst den ganzen Tag im Bett geblieben, schätze ich“
„Stimmt, das wäre alles zu viel für Papa gewesen“, ergänzte Arian lachend.
„Na na, wo bleibt denn da der Respekt vor dem Alter? Ihr seid mir schon eine nette Bande!“, gab Karl halb wütend, halb amüsiert zurück.
Mark hatte während der ganzen Szene noch gar keine Chance gehabt. „Guten Morgen“ zu sagen. Leicht schüchtern wagte er einen Anlauf.
„Guten Morgen… Ach, so schlecht habe ich gar nicht geschlafen. Allerdings kann ich immer noch nicht ganz glauben, dass ich wirklich hier bin“, sagte er wahrheitsgemäß, während er am Tisch Platz nahm.
Lorena und Karl tauschten einen sorgenvollen Blick und Arian guckte leicht betreten auf seinen Teller. Nach einem kurzen Moment des unangenehmen Schweigens ergriff Karl wieder das Wort.
„Nun, ich denke, wir werden das Beste daraus machen, nicht wahr? Meister Levin hat gesagt, du kannst vorerst bei uns bleiben und wir können dich in der Zeit ein wenig mit allem vertraut machen.“
Während Karl sprach, begannen alle, sich Brot zu nehmen, reichlich mit Butter zu bestreichen und Wurst, Käse oder Honig auf dieselben zu platzieren. Auch Mark langte ordentlich zu.
„Du wirst sehen, dass wir hier auf dem Hof genug zu tun haben. Ich werde nicht den ganzen Tag da sein, da ich selbst arbeiten muss. Aber Lorena wird dir noch einiges erklären und zeigen können und dann kannst du sicher etwas mit Arian unternehmen. Es sind nämlich momentan Ferien und daher kann Arian daheim bleiben. Melina ist noch zu klein und wird noch von uns selbst unterrichtet, bis sie dann nächstes Jahr in die große Ausbildung gehen darf.“
„Wie sieht denn die Schule hier aus?“, fragte Mark. „Und welche Fächer habt ihr?“
„Wir haben zu Beginn Ausbilder, die mit uns alle Fächer machen, die es gibt. Wir sind dann meistens in Gruppen von acht bis vierzehn Schülern. Da erhält man dann das Basiswissen über alle Sinne und wie wir sie kontrollieren können. Wir haben aber auch Fächer, die nicht mit den Sinnen zu tun haben wie Geschichte, Sprache oder auch in einigen Stunden Menschenkunde. Und nach zwei Jahren spezialisieren wir uns dann auf einen, zwei oder manchmal auch mehrere Sinne und nehmen die dann richtig im Detail durch. Dann hat man auch verschiedene Ausbilder, die unterschiedlich spezialisiert sind. Ich bin jetzt im ersten Jahr der Spezialisierung“
Mark fand das alles unheimlich faszinierend, aber er konnte sich noch nicht viel darunter vorstellen.
„Was lernt ihr denn da genau über die Sinne? Ich meine, worauf hast du dich jetzt zum Beispiel spezialisiert?“
Arian grinste etwas verschmitzt, dann antwortete er: „Also, ich habe mich auf Sehen und Fühlen spezialisiert. Vielleicht werde ich auch noch Hören weitermachen.“
„Und was macht ihr da konkret? Also, was kannst du dadurch?“, fragte Mark.
„Nun, es ist alles sehr schwierig, aber ich kann versuchen, dir etwas zu zeigen“, gab Arian zurück. Er sah Mark jetzt mit leicht starrem Blick an und hatte die Stirn in konzentrierte Falten gelegt. Zuerst merkte Mark noch gar nichts, dann hatte er das Gefühl, dass seine Hand, mit der er grade mit einem Löffel sein Brot mit Honig bestreichen wollte, immer schwerer wurde. Es war fast so, als würde etwas Unsichtbares von oben gegen seine Hand drücken und sie mit dem Arm immer weiter nach unten pressen. Mark stemmte sich jetzt dagegen und versuchte, seine Hand und seinen Arm aktiv wieder zurück nach oben zu bewegen. Er drückte gegen den Widerstand an, bis dieser mit einem Mal vollkommen weg war und Mark sich selbst den Honig auf dem Löffel in seiner Hand ins Gesicht schlug.
„Das war unfair!“, sagte Arian mit leicht empörtem Gesicht. „Du darfst da nicht gegen ankämpfen. Das macht das alles viel schwieriger!“
„Tschuldigung“, antwortete Mark vollkommen perplex, während er versuchte, den klebrigen Honig mit einer Serviette aus seinem Gesicht zu wischen.
Die Gesichter aller am Tisch Sitzenden verrieten, dass sie sich mit äußerster Mühe das Lachen verkniffen. Melina biss sich in die Faust, während sie haltlos giggelnd mit dem Kopf unter dem Tisch verschwand.
„Ja, lacht nur“, bemerkte Mark. „Ich sehe bestimmt super aus, oder?“
„Arian ist eben ein echter Profi, wenn es ums Beherrschen geht. Da kann nichts schief gehen!“, brüllte Melina unter dem Tisch und brach nun in haltloses Gelächter aus. Es war so ansteckend, dass auf einmal alle laut loslachten. Selbst Mark konnte es nicht mehr in sich halten und prustete los. Er lachte und lachte, bis ihm die Tränen kamen. Es war so ein wunderschönes Gefühl, dass er kaum mehr aufhören konnte. Immer wenn sich alle ein wenig beruhigten, trafen sich wieder zwei Blicke und es ging von vorne los. Am Ende fiel Arian sogar vom Stuhl und riss dabei zwei Teller mit auf den Boden, die scheppernd zerbrachen.
„Nun ist es aber gut“, sagte Lorena ernst, obwohl sie sich immer noch das Grinsen nicht ganz verkneifen konnte. „Du siehst aus jeden Fall, Mark, dass es selbst als Orém ein wenig länger dauert, bis man sein Fach beherrscht. Es steckt eine Menge Arbeit und Lernerei dahinter. Wenn man es richtig beherrscht, dann sieht es normalerweise so aus.“
Mit einem Mal fingen alle Lebensmittel und das gesamte Geschirr, das auf dem Esstisch stand, zu schweben an. Erst nur wenige Zentimeter, dann immer höher, bis sie einen guten halben Meter über den Köpfen aller schwebten. Dann fiel alles ganz plötzlich wieder runter, bremste aber kurz vor dem Auftreffen auf der Tischplatte sachte ab und senkte sich sanft wie eine Feder auf den angestammten Platz.
„Wow....“ entfuhr es Mark unwillkürlich. „Das ist echt krass!“
„Im Prinzip ist es nicht schwer, wenn man es einmal kann“, antwortete Lorena. „Du kannst alle Gegenstände, ob lebendig oder nicht, im Raum fühlen, wenn du es gelernt hast. Und von dort aus ist es nicht mehr weit und du kannst sie auch beherrschen und sie nach deinen Wünschen einsetzen. Das funktioniert auch mit Lebewesen, ist aber deutlich schwieriger, da diese eben dagegen arbeiten können, wie du es eben getan hast. Da du aber noch keine Erfahrung darin hast, wirst du dich nur körperlich dagegen wehren können, nicht aber mit deinem Geist und deinen Sinnen. Und der Körper ist meist deutlich schwächer als der Geist.“
„Sie könnten also mich oder eben meinen Körper, kontrollieren, wenn sie es wollten?“, fragte Mark.
„Das könnte ich, ja. Aber es ist unter normalen Umständen verboten“, gab Lorena zurück.
Marks Interesse war geweckt. Arians Angriff war leicht abzuwehren gewesen, aber wie würde es sich bei einem erfahrenen Orém anfühlen?
„Könnten Sie es mit einmal zeigen? Ich fände das sehr interessant!“, fragte Mark.
Lorena blickte ihren Mann an, der ihr nach ein paar Sekunden kaum merklich zunickte. Lorena seufzte und blickte Mark an. Ohne, dass sich Lorenas Gesichtsausdruck änderte, passierte etwas mit Marks Körper. Er hatte das Gefühl, dass sich ein schweres Gewicht auf seinen Körper legte und eine Eiseskälte über seine Haut nach innen vordrang. Es tat nicht weh, aber das Gefühl war ein sehr unangenehmes und er merkte, dass er nicht mehr in der Lage war, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Genauso schnell, wie die Kälte in seinen Körper drang, spürte er nun die Wärme wieder zurückkommen, das Gewicht wurde leichter und er konnte sich wieder bewegen.
„Und das ist der Grund, Mark, warum man sich nicht mit Lorena Nantwin anlegen sollte“, sagte Karl mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. „Es geht dir doch gut, oder?“ ergänzte er, als er Marks Gesichtsausdruck sah.
„Was? Ja klar, es geht schon“, gab Mark zurück. Er atmete etwas schwerer als vorher, ganz als ob er grade einen kurzen Sprint hinter sich gebracht hätte. „Ich kannte sowas nur bis heute noch nicht.“
Mark wusste nicht, ob er die Fähigkeiten der Orém cool oder bedrohlich finden sollte. Natürlich war es schon etwas Unglaubliches, Dinge und Geschöpfe zu beherrschen und sie machen zu lassen, was man wollte. Aber er war leider ein Mensch und wohl nicht in der Lage, irgendetwas in dieser Art zu vollbringen. Er war nur ein Mensch und damit deutlich schwächer als alle Orém um ihn herum. Wenn nun ein fremder Orém ihn nicht leiden konnte, würde er nicht den Hauch einer Chance haben. Um das Thema aus seinem Kopf zu kriegen, sprach er wieder Arian an: „Also, du machst deine Ausbildung weiter in Fühlen und .... Sehen war es, oder?“
„Genau!“, gab Arian stolz zurück. „Darin bin ich etwas besser. Soll ich dir eine Kostprobe geben?“
Mark war sich nicht sicher, ob er das wollte. Ihm schwindelte noch leicht von Lorenas Vorführung. Er hoffte, dass nichts Unangenehmes dabei rauskommen würde. Er wollte aber auch nicht als Schwächling rüberkommen, also stimmte er zu.
„Es wird auch nicht weh tun, keine Sorge“, sagte Arian, als ob er seine Gedanken gelesen hätte. „Halt einfach mal deine Hände hinter deinen Rücken und streck´ eine bestimmte Anzahl von Fingern aus.“
Mark tat wie ihm geheißen. Er streckte Daumen und Zeigefinger der rechten und der linken Hand aus. Er guckte skeptisch in die Runde, um sicher zu gehen, dass auch niemand anders am Tisch hinter seinen Rücken gucken konnte. Arian lächelte süffisant und blickte auf die Körperhöhe, auf der sich Marks Hände befinden mussten.
Er hatte das Gefühl, einen sanften Hauch auf seiner Haut zu spüren, als ob ein leichter Windzug an seinem Körper vorbeiglitt.
„Zwei links, zwei rechts. Vier also insgesamt“, sagte Arian lächelnd und wirkte dabei nicht mal besonders beeindruckt von sich selbst. Anscheinend war Sehen wirklich sein besseres Fach, dachte Mark.
„Richtig!“, sagte Mark anerkennend. „Und dies Mal war es nicht mal unangenehm. Ich hab nur einen Hauch auf der Haut gespürt.“
„Du konntest etwas spüren?“, rief Karl erstaunt aus. „Du konntest wirklich etwas spüren?“
Mark nickte etwas verwirrt. War das etwas Schlimmes oder Gutes?
„Das ist in der Tat erstaunlich. Aber gut, du warst auch in der Lage ein Fenster zu öffnen und das Licht im dichten Wald zu sehen.“
Den letzten Satz sagte er eher zu sich selbst als zu Mark.
„Trotzdem ist das alles sehr merkwürdig. Wir werden sehen, was Meister Levin uns zu sagen haben wird, wenn er wieder da ist.“
Mark fühlte sich einmal mehr unwohl in seiner Haut. Die Ungewissheit, wie sein weiteres Schicksal aussehen würde, war kein angenehmes Gefühl.
„Bitte, Herr Nantwin“, sagte er. „Wissen Sie, was überhaupt mit mir passieren wird? Werde ich zurück in meine Welt können? Ich meine, es muss doch möglich sein, dass für mich wieder ein Fenster als Weg zurück geöffnet wird, oder?“
Karl wirkte sehr nachdenklich, als er antwortete.
„Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Es ist möglich, dass dir wieder ein Fenster in deine Welt geöffnet wird, aber das ist nicht so leicht wie du es dir vorstellst.“
„Aber wenn selbst ich es geschafft habe“, unterbrach ihn Mark. „Dann kann es doch nicht so schwierig sein, oder?“
„Genau da liegt das Problem“, gab Karl ruhig zurück. „Niemand, den ich kenne, ist in der Lage, ein Fenster zu eurer Welt zu öffnen. Und ich kenne eine Menge weise und erfahrene Orém. Nicht mal Meister Levin wird ohne weiteres dazu in der Lage sein. Und dann kommst du einfach so aus dem Nichts und hast ein Fenster geöffnet. Und das als Mensch. Ich denke, die Großmeister werden dich erst einmal sehen wollen, bevor eine Entscheidung gefällt wird. Sie werden herauskriegen wollen, wie das alles möglich gewesen ist. Das ist zumindest meine Einschätzung.“
Mark hatte den Eindruck, dass sein Frühstück immer mehr wie Pappe schmeckte. Er konnte seinen Bissen kaum runterschlucken, so unwohl fühlte er sich mit der wahrscheinlichen Aussicht, von irgendwelchen alten Orém genau und detailliert durchgecheckt zu werden. Außerdem hatte er das ungute Gefühl, dass ihm immer ein klein wenig verschwiegen wurde. So oder so hatte er aber keine andere Wahl, als sein Schicksal abzuwarten.
„Okay…“, sagte er nach einem langen Schweigen. „Und bis dahin kann ich bei Ihnen bleiben, nicht wahr? Kann ich denn hier irgendwas helfen oder so etwas?“
„Sicher kannst du das“, antwortete Karl. „Lorena wird einiges für dich finden und selbst, wenn es nichts mehr gibt, wirst du bestimmt keine Langeweile haben. Ich muss mich jetzt leider verabschieden, ich habe heute noch einiges zu tun.“ Er nahm noch einen letzten Schluck Tee, küsste seine Kinder und seine Frau und drückte Marks Schulter zum Abschied. Dann ging er hinaus und ritt einige Minuten später am Fenster entlang in den Wald hinein.
Im Laufe des Tages erkundete Mark mit Arian und Melina zusammen den Hof, während Lorena im Haus einige Arbeiten erledigte. Sie wollte partout keine Hilfe annehmen und sah es lieber, wenn die drei Kinder zusammen beschäftigt waren. Später würde es noch genug Arbeit geben, sagte sie. In dem ans Haus angrenzenden Stall war noch ein Pony, das sich grade an frischem Heu gütlich tat und genüsslich kaute. Es war dunkelbraun mit einem weißen Schweif und hieß, wie Melina Mark anvertraute, Anita. Es ließ sich von Melina und Arian bereitwillig streicheln, aber schreckte vor Marks Hand zurück.
„Du riechst nicht wie wir, deswegen muss sich Anita noch an dich gewöhnen“, sagte Arian. „Du brauchst noch etwas Geduld, bis sie sich an dich gewöhnt hat.“
Die fünf braun gescheckten Kühe und die sieben Schweine, mit 3 kleinen Ferkeln, waren da schon etwas zutraulicher. Sie ließen sich alle ohne Probleme von ihm füttern und genossen es regelrecht, von ihm ausgiebig am Kopf und am Rücken gekrault zu werden. Hinter dem großen Stall befand sich noch eine kleine Holzhütte mit einer schmalen Tür, worin sich auch noch einige Hühner tummelten, die gackernd am Boden nach Samen pickten. Arian und Melina zeigten ihm, dass es hinter dem Hof noch einen kleinen Weg gab, der nach einigen hundert Metern zu einer hügeligen Grasfläche führte, die von allen Seiten mit mehr oder weniger dichtem Wald umgeben war, aber auch von einem Bachlauf durchquert wurde. Hierhin führten sie die Kühe und Schweine in der Mittagszeit. Mark wunderte sich kurz, dass es keine Zäune gab, aber Arian versicherte ihm, dass die Tiere hier niemals tief in den Wald gingen, sondern meist auf den offenen Flächen blieben. Nach einem köstlichen Mittagessen, es gab Kartoffelsalat, trieben sich die drei in den Gemüsegärten herum und Mark wollte die Waldwege erkunden, um seine Irrfahrt der letzten Nacht zu rekapitulieren. Der Weg kam Mark viel länger vor als noch in der Nacht zuvor.
Nach einigen Kilometern fing Melina langsam an zu jammern, aber Arian versicherte ihr, dass es nicht mehr lange dauern würde. Und er sollte Recht behalten. Als sie den Rand des Waldes erreicht hatten, konnte Mark den Ochsenkopf wiedererkennen und auch den Bach, der sich zum Fluss entwickelt hatte. Und dort war sogar der Hügel! Der Hügel, auf dem er so plötzlich und unerwartet gelandet war. Ihn jetzt so greifbar wieder vor sich zu haben, auch wenn er noch sehr weit entfernt war, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.
„Dort oben bin ich runterkommen und auf dem Hügel gelandet“, erklärte er den Geschwistern, während er mit dem Finger darauf zeigte. „Und dann bin ich den Bach entlang und dort drüben“, Er zeigte auf eine bestimmte Stelle des Flusslaufes. „Ja, dort drüben muss der Platz sein, an dem ich Meister Levin entdeckt habe und ihm dann gefolgt bin.“
Es noch mal alles durchzugehen, zeigte Mark nur noch mehr, wie verrückt das alles gewesen war. Da war mal eben so – Plopp - aus dem Himmel gefallen und auf dem Hügel vor dem Ochsenkopf gelandet, dann einem Orém mit Lichtkugel gefolgt und zu guter Letzt mit der Familie Nantwin zu Abend gegessen. Ganz normaler Alltag war das wohl nicht, dachte Mark. Er blickte noch einmal zum Hügel hoch und wollte seinen Blick schon grade abwenden, als etwas Merkwürdiges seine Aufmerksamkeit erregte. Auf dem Hügel bewegte sich irgendetwas. Arian hatte es auch bemerkt, denn mit einem Mal beschattete er seine Augen mit der Hand und blickte konzentriert in die gleiche Richtung.
„Da oben sind vier Leute“, sagte Arian. „Papa hatte schon so etwas angedeutet, dass das bestimmt passieren würde.“
„Was machen die denn da?“, fragte Mark neugierig. Er konnte bei aller Konzentration nur sehen, dass dort oben irgendjemand oder irgendetwas war und sich bewegte. Mehr konnte er nicht erkennen.
„Das müssen Sucher sein. Die kontrollieren die Stelle, an der du runtergekommen bist. Ein Fenster in eure Welt zu öffnen, hinterlässt ziemlich deutliche Spuren, die von einigen Orém zurückverfolgt werden können. Die wurden wahrscheinlich von den Großmeistern geschickt, um deine Geschichte zu überprüfen. Du musst wissen, dass jeder Einsatz von unseren Sinnen gewisse Spuren hinterlässt. Das habe ich in der Ausbildung gelernt. Je stärker der Sinneseinsatz gewesen ist, desto leichter ist er aufzuspüren.“
Arian zögerte einen Augenblick.
„Lange werden die wohl nicht brauchen, bis die merken, dass du die Wahrheit gesagt hast. Und dann werden die wahrscheinlich deinen gesamten Weg zurückverfolgen und immer überprüfen, ob du auch weiterhin deine Sinne in größerem Maße eingesetzt hast.“
Wie zur Bestätigung von Arians Worten war jetzt zu erkennen, dass die Gestalten sich langsam einen Weg den Hügel hinunter bahnten. Und wenn Mark sich nicht täuschte, dann taten sie dies auf genau dem gleichen Weg, den auch er zuvor eingeschlagen hatte. Er konnte sie jetzt immer besser erkennen und mittlerweile auch ausmachen, dass es sich um vier Sucher handelte.
„Wollen wir langsam wieder zurück?“, sagte Mark, bedacht darauf, dass er nicht allzu unruhig klang. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass die Sucher bald zu Ihnen stoßen würden und dann den Menschen fanden, der es gewagt hatte, in ihre Welt einzudringen.
„Ja!“, rief Melina freudig. „Lasst uns wieder zurückgehen, bevor sich Mama Sorgen macht. Ich habe auch schon wieder Hunger.“
Auf dem Rückweg redeten die drei nur noch wenig und Mark war der Appetit auch dann noch vergangen, als sie wieder zum Hof der Nantwins zurückkamen. Irgendwann würden die Sucher sicher auch beim Hof ankommen und ihn dann wahrscheinlich auch sehen wollen. Vielleicht würden sie ihn dann sogar schon mitnehmen. Bei dem Gedanken daran bekam Mark Bauchschmerzen und er spielte nur halbherzig mit, als Arian ihm wieder einige Seh-Tricks zeigen wollte. Er lauschte immer wieder, ob er nicht Stimmen oder Schritte hören konnte, die die Ankunft der Sucher ankündigen würde. Aber der Tag verging und niemand kam mehr am Hof der Nantwins an. Mit Ausnahme von Karl, der bei Sonnenuntergang auf seinem Pferd zurückgeritten kam und Mark, der sich endlich wieder etwas beruhigt hatte, einen gehörigen Schrecken einjagte.
„Papa, wir haben heute Sucher auf dem Hügel vor dem Ochsenkopf gesehen“, sagte Arian, als die gesamte Familie nach dem Abendessen noch im Wohnzimmer auf bequemen Sofas und Sesseln saß. Mark und Arian spielten eine Partie Dame, Lorena stopfte Socken und Karl waren grade die Augen über einem Blatt Pergament zugefallen. Nur Melina lag auf dem Teppich und spielte mit einer graugetigerten Katze, von der Mark mittlerweile wusste, dass sie schlicht „Miez“ hieß.
„Ich weiß“, gab Karl gähnend zurück. „Ich habe sie noch am Waldrand getroffen und mich kurz mit ihnen unterhalten. Permona war mit dabei, die anderen drei kannte ich nicht. Euch haben sie auch gesehen. Besonders gesprächig waren sie allerdings nicht. Ich schätze, sie sollen erst einmal alle Informationen an die Großmeister weiterleiten, bevor jemand anders davon erfährt. Eigentlich wollten sie auch noch hier bei uns vorbeikommen, aber ich habe ihnen gesagt, dass Meister Levin das gesamte Gebiet am Hof schon erkundet hat. Eigentlich müssen sie das auch gewusst haben, ich nehme eher an, dass sie zu gerne mal einen Blick auf dich geworfen hätten“, sagte Karl abschließend mit einem Blick auf Mark.
„Und haben Sie schon herausbekommen, wann ich zu den Großmeistern gehen muss?“, fragte Mark.
„Nein, leider nicht. Aber sehr lange wird es wohl nicht dauern, denke ich“, antwortete Karl.
Mark Magen fühlte sich etwas flau an. „Und wenn ich dann abgeholt werde, muss ich dann alleine mitgehen, oder…“, Mark war es etwas peinlich, aber er musste diese Frage stellen. „Kommen Sie dann mit?“
„Tja“, sagte Karl. „Ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben. Ich möchte dich dort nicht alleine hinschicken, auch wenn du dir wirklich keine Sorgen zu machen brauchst. Etwas Schlimmes wird dir nicht passieren. Aber ich denke, wir wären alle beruhigter, wenn ich mitkommen könnte. Allerdings kann ich nichts garantieren“, mahnte er abschließend.
Die Aussicht, den Weg zu den Großmeistern möglicherweise nicht alleine, sondern mit einem der Nantwins zu bestreiten, ließ Mark etwas zuversichtlicher in die Zukunft blicken. So konnte jemand auf ihn aufpassen und mögliche Fehler seinerseits verhindern. Er war sich mittlerweile sicher, dass keiner der Nantwins ihm etwas Böses wollte und sie sich vielleicht sogar für ihn einsetzen würden, wenn es darauf ankam.
Es dauerte noch 5 Tage, bis es auf einmal unerwartet an der Tür der Nantwins klopfte. Es war früher Nachmittag, draußen regnete es stark und Mark brachte Arian und Melina grade im Wohnzimmer Schnick Schnack Schnuck bei, als Lorena die Tür öffnete und einen Abgesandten der Großmeister vor sich stehen hatte.
„Guten Tag! Frau Nantwin, wie ich annehme? Mein Name ist Meister Arvid“ stellte er sich im leicht herablassenden Ton vor. Er war groß gewachsen, trug einen schwarzen Reiseumhang und hatte kurzes, platinblondes Haar. Seine Augen wirkten sehr blass in ihrem grünen Schimmer und seine Miene war unergründlich.
„Ich bin hier“, fuhr er im gleichen Tonfall fort, ohne auf eine Antwort zu warten. „Um den Menschen im Auftrag der Großmeister abzuholen und ihn nach Lysá zu bringen. Er soll sich reisebereit machen“
„Ich, also“, antwortete Lorena etwas unsicher. „Eigentlich hatten wir mit Meister Levin gerechnet. Außerdem wollte mein Mann Mark auf seinem Weg begleiten. Sie werden noch bis zum Abend warten müssen.“
„Meister Levin war verhindert und daher wurde ich für diesen Auftrag auserwählt. Und die Großmeister wollen, dass wir uns jetzt, nicht heute Abend, auf den Weg machen“, gab Meister Arvid trocken zurück. „Ist das der Mensch?“, ergänzte er, als Mark mit Arian und Melina hinter Lorena auftauchte. Sie hatten das gesamte Gespräch mitbekommen und Mark hatte bemerkt, dass Meister Arvid trotz seiner offen dargestellten Langeweile und seiner herablassenden Art einen neugierigen Unterton in seiner Stimme nicht verbergen konnte, als er Mark zum ersten Mal zu Gesicht bekam.
„Das ist er“, antwortete Lorena und legte einen Arm um Marks Schulter, worüber er aus irgendeinem Grund sehr dankbar war. Er fühlte sich äußerst unwohl in der Gegenwart von Meister Arvid. „Und mein Mann und ich können nicht akzeptieren, dass er ohne einen von uns abreist. Ich werde meine Kinder jetzt nicht alleine lassen können, daher werden Sie wohl warten müssen, bis mein Mann wieder da ist.“
„Frau Nantwin“, antwortete Meister Arvid ungeduldig. „Ihre Fürsorge ist bewundernswert, trotzdem ändert es nichts an der Tatsache, dass ich einem klaren Befehl Folge leisten muss. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es sicher nicht mein Wunsch war, die Mission auferlegt zu bekommen, den Menschen nach Lysá zu bringen“, bei diesen Worten blickte er Mark zum ersten Mal in die Augen, dem der Anblick der blassen Augen einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Trotzdem hielt er stand und Meister Arvid war derjenige, der als erster die Augen abwand und fortfuhr.
„Wenn Sie sich also nicht vor den Großmeistern verantworten wollen, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn sie den Menschen nun reisefertig machen könnten. Ich habe ein Pferd für Ihn bereitstehen. In fünfzehn Minuten werden wir aufbrechen.“
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu den zwei Pferden, die am Waldrand Schutz vor dem Regen gesucht hatten. Lorena schloss die Tür und ging murmelnd in der Küche umher, während Melina stumm einige Tränen die Wangen herunterliefen. Arian schien das Schauspiel seiner Mutter schon zu kennen, denn er gab Mark ein Zeichen, dass er leise sein und abwarten sollte. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Lorena ihre Sprache wiedergefunden. Sie wirkte immer noch besorgt.
„Ich kann euren Vater nicht fühlen. Er muss tatsächlich noch weit weg sein, wahrscheinlich bekommt er grade Nachrichten von den dunklen Begleitern. Mark, es tut mir leid, aber ich sehe keinen Ausweg. Du wirst mit Meister Arvid mitgehen müssen. Ich kann nicht verstehen, warum sie nicht Meister Levin geschickt haben“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Mark. „Aber wir können es nicht ändern. Ich werde Karl sofort hinterherschicken, wenn er wieder in meiner Reichweite ist, das verspreche ich dir. Es tut mir furchtbar leid, dich alleine auf den Weg zu schicken. Ich packe dir schnell ein paar Sachen von Arian zusammen und werde dir etwas zu Essen und zu Trinken mit auf den Weg geben.“ Mit diesen Worten machte sie sich sofort auf den Weg in eine Kammer und kam mit einem Reisebeutel zurück, den sie sofort mit Lebensmitteln und zwei ledernen Wasserflaschen füllte.
Mark und Arian halfen mit, einige Klamotten zusammen zu suchen und sie in den Beutel zu stopfen. Als sie mit allem fertig waren, standen sie für einen Augenblick wortlos in der Küche. Mark hatte den Reisebeutel schon über seine Schulter geworfen, als Melina sich haltlos schluchzend um seine Hüfte schlang.
„Du musst wieder zurückkommen! Versprichst du mir das?“
„Ich werde zurückkommen, ich verspreche es dir“, gab Mark zurück und umarmte sie. Er musste nun auch gegen das Brennen in seinen Augen ankämpfen. Er hatte sich bei den Nantwins sehr wohl gefühlt, fast als wäre er ein Mitglied ihrer Familie. Und es war ein sehr schönes Gefühl gewesen, bei jemandem zu sein, der ihn so offenkundig mochte und schätzte. Arian kam auf ihm zu und klopfte ihm flüchtig auf den Rücken, aber auch seine Stimme klang etwas brüchig als er „Mach´s gut!“, sagte. Lorena umarmte ihn als letztes und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann sagte sie abschließend „Wir werden uns wiedersehen, Mark. Keine Sorge!“
Mark drehte sich um, setzte sich die Kapuze seines Reisemantels, der eigentlich Arian gehörte, auf und ging durch die Tür hinaus auf Meister Arvid zu.
„Rührend“, sagte dieser trocken. „Wären Sie dann so weit? Sitzen Sie bitte auf.“
Mark war in seinem Leben noch nie auf einem Pferd geritten. Arian hatte ihm zwar in den letzten Tagen gezeigt, wie man auf dem Pony Anita ritt, aber zum einen war er auf dem kleinen Pony noch sehr wackelig gewesen und zum anderen war dies ein riesiges, ausgewachsenen Pferd. Er wollte aber sich auch nicht die Blöße geben, das vor Meister Arvid zuzugeben. Sein Pferd schien seine Angst und Unsicherheit zu spüren und wurde unruhig, als Mark zwei Versuche brauchte, seinen Fuß in den Steigbügel zu stecken. Meister Arvid schien ein Lächeln zu unterdrücken, als er zusah, wie Mark sich ungelenk auf den Sattel setzte und nun unsicher die Zügel in die Hand nahm.
„Wären wir dann soweit?“, fragte Meister Arvid spöttisch. Mark nickte. Er warf noch einen letzten Blick zurück auf den Hof der Nantwins. Lorena, Arian und Melina standen vor der Tür und winkten ihm zum Abschied zu, als sein Pferd im Trott hinter Meister Arvid auf den Waldweg abbog. Als er sich das nächste Mal umsah, war vom Hof schon nichts mehr zu erkennen, da der durch den Regen entstandene Dunst einen undurchdringlichen Schleier bildete.
Meister Arvid war kein besonders gesprächiger Wegbegleiter und Marks Stimmung war sowieso auf einem solchen Tiefpunkt, dass ihm nicht nach Reden zumute war. Vereinzelt fielen ihm riesige Regentropfen auf den Kopf und erzeugten dumpfe Töne unter seiner Kapuze. Nach zehn Minuten auf dem Waldweg bog Meister Arvid mit seinem Pferd auf einmal auf einen schmalen und kaum erkennbaren Pfad ab und Marks Pferd folgte den beiden, ohne dass es dafür einen Befehl benötigt hätte. Der Weg wand sich zwischen hochgewachsenen Adlerfarnen hindurch, die an Marks Beinen raschelten und durch seine Berührung einen Schwall Tropfen auf einmal herabfallen ließen. Nach weiteren zwanzig Minuten lichteten sich die Baumreihen langsam und sie konnten auf eine weite, leicht herabgesenkte Ebene blicken. In der Ferne konnte Mark einen umzäunten Hof erkennen, aus dessen Fenstern warmes Licht nach außen drang. Der Weg, auf dem sie sich befanden, führte an diesem Hof entlang und in Mark keimte die Hoffnung, dass sie dort vielleicht eine kurze Rast einlegen könnten, um sich einen Moment am Feuer zu trocknen und vielleicht einen kleinen Happen zu essen. Meister Arvid schien seine Gedanken gelesen zu haben
„Wir haben noch einige Stunden zu Pferde vor uns, bevor wir eine Rast einlegen werden. Wir sollten das Tempo erhöhen, damit wir bis dahin eine gute Strecke schaffen. Es geht jetzt ab in den Galopp!“ Die letzten Worte waren mehr an sein Pferd gerichtet, als an Mark selbst, denn kaum waren die Worte ausgesprochen, da wurde es auch schon schneller. Meister Arvid war schon mit seinem Hengst vorne weggesprengt. Mark konnte sich kaum halten und es war auch nicht hilfreich, dass der Weg immer wieder äußerst scharfe Kurven aufwies. Er hielt sich so gut wie möglich mit den Beinen am Sattel fest und hielt die Zügel angespannt in den Händen, so wie es ihm Arian auf Anita gezeigt hatte. Trotzdem waren sie viel zu schnell. Mark hatte den Eindruck, dass es Meister Arvid geradezu darauf anlegte, dass Mark die Kontrolle verlor oder dass er jammern würde, er könne sich nicht mehr halten. Aber die Genugtuung wollte er ihm nicht geben und so kämpfte er weiter, um auf seinem Pferd zu bleiben, ohne auf die Schmerzen zu achten, die sein Körper ihm jetzt schon signalisierte. Seine Beine und Arme waren vor Anspannung schon ganz taub und sein Rücken tat enorm weh, von seinem Hintern ganz zu schweigen. Sie ritten an dem Hof vorbei, den Weg immer weiter entlang, über einen kleinen Fluss und dann über eine Kette von Hügeln. Der Regen hatte sich noch weiter verstärkt und am dunklen Himmel zeichneten sich in der Ferne schon einige Blitze ab. Nach gefühlten Stunden erreichten sie endlich eine kleine, verlassene Hütte am Rand eines großen Fischteichs, der von vielen, schmalen Birken umsäumt war. Drinnen brachte Meister Arvid binnen Sekunden im Kamin ein prasselndes Feuer in Gang. Mark hätte sich dafür interessiert, wie er das so schnell geschafft hatte, wenn er sich nicht so hundeelend gefühlt hätte. Erschöpft setzte er sich auf einen Holzstuhl, den er dicht an das Feuer gerückt hatte, packte zwei Äpfel und ein Brot mit Käse aus und kaute müde. Meister Arvid hatte über dem Feuer in einem Kessel einen Tee heiß gemacht, schenkte sich den dampfenden Inhalt in einen Becher und schlürfte genüsslich. Mark bot er nichts an.
Nach etwa dreißig Minuten war Mark auf seinem Stuhl fast eingeschlafen, als Meister Arvid den Aufbruch ankündigte. Das Gewitter war noch schlimmer geworden und Mark fühlte sich in seinem Sattel jetzt noch elender als vor der Pause. Alle Knochen taten ihm weh und auch wenn er es nie zugegeben hätte, auch das Wetter machte ihm gehörig Angst. Seine Klamotten waren mittlerweile komplett durchnässt und klebten an seinem Körper. Meister Arvid schien von alldem keine Notiz zu nehmen und ritt in schnellem Tempo unbeeindruckt weiter. Mittlerweile musste es auf die Abendstunden zugehen und Mark fielen vor Erschöpfung und Müdigkeit langsam die Augen zu. Sie hatten ihre Geschwindigkeit etwas reduziert, wodurch die Reise wieder etwas angenehmer wurde. Ohne jede Vorwarnung schlug mit einem Mal in geringer Entfernung von Mark ein Blitz mit einem ungeheuer lauten Krachen ein. Sein Pferd bäumte sich vor Schreck auf und warf seinen überraschten Reiter in den Matsch. Von dem plötzlichen Sturz überrascht, landete Mark schmerzhaft auf seinem Rücken, während das Gaul weiter panisch durchging und wild um sich trat. Mark hatte sich grade wieder halb aufgerichtet, als es in völliger Raserei auf ihn zu rannte und ihn in den nächsten Sekunden zertrampeln würde. Mark war wie erstarrt. Alles lief wie in Zeitlupe ab. Er fühlte einen Druck auf seinen gesamten Körper und eine Kälte, die von außen durch seine Haut in sein Innerstes vorzudringen schien. Sein Arme und Beine, ja sein gesamter Körper, gehorchten ihm nicht mehr, sondern bewegten sich wie von allein. Gesteuert wie eine Marionette sprang sein Körper zur Seite und rollte sich hinter einen großen Felsen, genau in dem Moment, in dem sein Pferd ihn erwischt hätte. Der Druck ließ nach, die Wärme kehrte zurück und Mark war erneut Herr über seinen eigenen Körper. Als er sich zitternd im strömenden Regen umsah, erblickte er Meister Arvid auf seinem Pferd, seine Miene unter der Kapuze verriet höchste Konzentration und Anstrengung. Keuchend stieg er ab und Mark hatte das Gefühl, trotz der Kälte und des Regens, Schweißperlen auf seiner Stirn zu erkennen.
„Verdammter Narr!“, fauchte ihn Meister Arvid an. „Könnt ihr Menschen nicht einmal ein Gewitter überstehen, ohne euch tottrampeln zu lassen?“ Er atmete immer noch so schwer, als hätte er grade einen äußerst langen Sprint hinter sich.
„Ich… ich konnte nichts dafür, das Pferd…“ stammelte Mark.
„Es ist dir durchgegangen!“, unterbrach ihn Meister Arvid zornig. „Fang es jetzt gefälligst wieder ein. Das ist das Mindeste, das du tun kannst.“
Mark drehte sich um. Das war so etwas von unfair. Was konnte er denn dafür, dass der Blitz neben ihm eingeschlagen war und sich sein Pferd daraufhin so erschreckt hatte? Das war schließlich auch das erste Mal, dass er überhaupt auf einem solchen Tier geritten war und dafür hatte er sich schon wirklich gut gemacht. Zitternd vor unterdrückter Wut machte er sich auf den Weg, das ausgebüxte Pferd zu suchen. Es war zu dunkel und verregnet, als dass er weit hätte blicken können, aber er wollte es möglichst schnell finden, um sich vor Meister Arvid nicht wieder die Blöße zu geben. Er konzentrierte sich und blickte sich langsam drehend in jede Richtung, während er angestrengt dachte „Ich muss das Pferd finden, ich muss das Pferd finden, ich muss das…“
Da! Er konnte etwas erkennen! In der Dunkelheit hob sich ein grauer Umriss in passender Form vom Rest der Schwärze ab. Es war einige hundert Meter entfernt und trotzdem wurde es in Marks Augen immer deutlicher. Gezielt hielt er darauf zu. Irritiert merkte er, wie seine Füße ihn leicht bergauf trugen, bis er eine kleine Anhöhe erreicht hatte, die sich nun wieder senkte. Weiter unten angekommen stand sein Pferd neben einer Trauerweide und graste. Er hatte es durch den kleinen Hügel hindurch gesehen…
Mark führte es wieder zurück und stellte mit leichter Zufriedenheit fest, dass Meister Arvid ein Anflug von Erstaunen in seinem Blick nicht verbergen konnte. Er hatte sicher nicht damit gerechnet, dass Mark sein Pferd so schnell in der Dunkelheit wiederfinden würde. Ein Augenzwinkern später war seine Miene unergründlich und er hatte erneut seinen herablassenden Ton, als er sprach.
„Wir werden bald bei einer Hütte sein, in der wir übernachten werden. Es wäre schön, wenn du in der Zeit nicht mehr von deinem Ross fallen würdest.“
Mark kümmerte sich nicht um die verbale Spitze, nickte bloß und schwang sich mit einem Ruck in den Sattel. Zehn Minuten später konnte er in der Ferne durch den Regenschleier ein Licht erkennen, dass aus den Fenstern eines großen Holzhauses schien. Sie stellten ihre Rösser sicher im angrenzenden Stall unter und betraten die warme Hütte. Direkt am Eingang war ein Wohnbereich mit einer Schenke und einem prasselndem Kaminfeuer in einer Ecke. Meister Arvid klopfte auf die Theke und hinter dem Tresen erschien ein rundlicher Mann mit freundlichem Gesicht und leicht geröteter Nase, der sie trotz der späten Stunde herzlich begrüßte.
„Willkommen, meine Gäste“, sagte er herzlich und erkannte dann erst, wen er vor sich hatte. „Meister Arvid! Es freut mich, euch wohlbehalten wieder zu sehen. Es ist schon lange her! Ihr reist mit einem jungen Meister? Nun, ihr seid ja pitschnass, wie mir scheint.“ Diese Aussage konnte nur auf Mark bezogen sein, der so aussah, als wäre er mit seinen Klamotten ein paar Runden schwimmen gegangen. Meister Arvid dagegen sah so aus, als hätte ihn nicht ein Tropfen berührt. Nach der freundlichen Begrüßung des Gastwirts waren seine Augen an denen Marks hängen geblieben, aber bevor er noch etwas sagen konnte, hatte ihm Meister Arvid das Wort abgeschnitten.
„Wir brauchen zwei Zimmer für die Nacht. Dazu eine kleine Mahlzeit. Rasch, wenn es geht.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, zog er Mark von der Theke und vom Gastwirt weg, hinein in eine dunklere Ecke des Gastraumes und bewegte ihn mit sanfter Gewalt auf einen Stuhl und setzte sich selbst auf einen neben ihm.
„Niemand weiß, dass du ein Mensch bist“, flüsterte er ihm leise zu. „Und in diesem Augenblick braucht es auch noch keiner zu wissen. Halte dich also immer etwas abseits, wenn wir anderen Orém begegnen. Verstanden?“
Mark nickte. Er verstand zwar nicht, warum dies unbedingt sein musste, aber momentan wollte er eigentlich nichts anderes, als aus seinen triefnassen Sachen raus und in ein warmes Bett. Und gegen eine warme Mahlzeit würde er auch nichts einwenden. Während der Wirt, der sich mittlerweile auch als Temian vorgestellt hatte, Ihnen Ihre Zimmer zeigte, war Meister Arvid nach Marks Eindruck immer sehr darauf bedacht, genau zwischen Mark und Temian zu stehen, so dass dieser keinen guten Blick auf ihn hatte. In Marks kleinem Zimmer prasselte ein Kaminfeuer und auf einem winzigen Tisch standen warmer Apfelkompott, gebratenes Fleisch und ein kaltes Getränk, das nach Pfirsichen schmeckte. Mark aß wie ein Verhungernder, nachdem er sich aus seinen nassen Sachen gepellt und eine Decke übergeworfen hatte. Danach fiel er erschöpft in sein Bett. Seine Beine und Arme schmerzten unangenehm und er konnte vor Müdigkeit kaum einen klaren Gedanken fassen. Hoffentlich war der Weg nach Lysá nicht mehr allzu weit, denn lange würde er eine solche Tortur sicher nicht durchstehen. Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, was ihn bald erwarten würde, wenn er den Großmeistern vorgeführt wird. In seinem Kopf entstand das Bild von einem alten, dunklen Gerichtssaal, die Zuschauerreihen gefüllt mit grimmig blickenden Orém. Er wurde vor das Richterpult geführt, das so hoch war, dass er überhaupt nicht erkennen konnte, wer dahinter saß. Auf einmal stand er am Rande eines reißenden Flusses. Stromschnellen glitten an Felsen vorbei und rissen schäumend Äste und Blätter mit in die Tiefe. Er lief grade auf einen großen Felsen, der von dem reißenden Wasser umspült wurde, als er auf der anderen Seite jemanden sehen konnte. Es war sein Vater. Er ging am Ufer entlang und wirkte traurig oder besorgt. Dann auf einmal sah er Mark und seine Gesichtszüge hellten sich sofort auf, während er zügig näher an das Ufer ging. Freudig rief er ihm etwas zu, aber Mark konnte über das Tosen und Rauschen des Flusses nichts verstehen. Auf einmal wirkte sein Vater panisch, er lief auf seiner Uferseite auf und ab und rief ihm wild gestikulierend etwas zu, aber der Fluss verschluckte seine Worte und zerriss sie zu Fetzen. Mark wollte zu seinem Vater hinüber, aber er konnte beim besten Willen keinen Weg finden, den er sicher über die Stromschnellen nehmen konnte. Sein Vater wurde immer aufgeregter und deutete mit dem Finger auf etwas, dass sich hinter Mark befinden musste. Er drehte sich um und sah seine Mutter.
„Mama“, schrie er gegen das Tosen des Flusses an. „Wir müssen da irgendwie rüber! Papa ist auf der anderen Seite. Irgendetwas ist nicht in Ordnung!“
Sie guckte ihn mit großen Augen an „Du musst deine Kräfte benutzen, Mark. Nur so kannst du zu ihm gelangen.“ Sie sprach ganz leise und doch hörte Mark jedes Wort, als hätte sie es ihm ins Ohr geflüstert.
Mark war sich sicher, dass er über den Fluss schweben könnte, wenn er sich nur konzentrieren würde. Er würde schweben, so wie es damals auch Meister Levin gemacht haben musste. Auf der anderen Seite schrie sein Vater immer lauter, doch keines der Worte wollte vollständig zu ihm vordringen. Noch bevor Mark seine Augen geschlossen hatte, um sich für das Schweben richtig zu konzentrieren, sah er, wie sein Vater einen verzweifelten Sprung in den Fluss machte. Er kämpfte mit den tosenden Wogen, um zu Mark zu gelangen, aber er war chancenlos. Panik überfiel Mark. Sein Vater würde sterben, wenn er nicht schnell etwas tat und ihn rettete. Der Fluss zerrte ihn immer wieder gnadenlos unter die Wasseroberfläche und weiter stromabwärts. Mark hörte sich selbst schreien, als er auch in den Fluss sprang und sofort von den Wassermassen hin- und hergerissen wurde. Sein Schrei wurde erstickt und das letzte, was er sah, war seine Mutter, die mit enttäuschtem Blick am Ufer stand. Sie machte nicht die geringsten Anstalten, ihm zu helfen, nein, sie zeigte generell kaum eine Regung. Sie blickte ihn nur vom Felsen herab an und sah ihm zu, wie er dem Ertrinken immer näher kam. Er spürte, dass er nicht mehr lange die Luft würde anhalten können, der Drang zu atmen wurde immer größer. Grade als es nicht mehr aushielt und er spürte, wie das Wasser im letzten verzweifelten Akt durch seine Luftröhre in seinen Lungen gesogen wurde, wurde er plötzlich am Arm aus dem Wasser gerissen. Er schnappte prustend und keuchend nach Luft.
Es war Meister Arvid, der ihn am Arm festhielt. Mark starrte ihn entsetzt an und nur langsam wurde ihm bewusst, dass er sich in seinem Bett in dem kleinen Zimmer im Gasthaus befand. Kein Fluss rauschte und weder sein Vater noch seine Mutter waren da. Er atmete schwer, war nassgeschwitzt und hatte sich so in seine Bettwäsche eingerollt, dass er sich kaum bewegen konnte. Seine Lunge, in die er grade vermeintlich das Wasser eingeatmet hatte, schmerzte bedenklich und er musste erst einige tiefe Atemzüge machen, um das sichere Gefühl zu haben, dass die frische Luft in jede Ecke seiner Lunge vordringen konnte. Meister Arvid beäugte ihn dabei berechnend. Nach einem kurzen Moment sagte er dann kühl: „Es wird Zeit, dass du dich fertig machst, wir brechen sofort nach dem Frühstück auf. Komm in den Gastraum unten, wenn du dich angezogen hast.“
Nach diesen Worten ging er langsam hinaus und schloss die Tür wieder hinter sich.
Mark war noch ganz zittrig, als er sich seine Klamotten wieder anzog. Sie waren alle wieder trocken, obwohl er sie in der Nacht nicht mal vor das Feuer gehängt hatte. Auf dem Weg nach unten hörte er, dass im Gastraum wohl einiges Gemurmel herrschte. Es waren wohl doch mehr Gäste anwesend als er gestern gedacht hatte. Aber sie waren ja auch wirklich sehr spät angekommen, da waren sicher schon alle auf ihren Zimmern. Auf der Treppe kam ihm Meister Arvid entgegen. Er wirkte aus irgendeinem Grund noch gereizter, als er ohnehin schon immer war.
„Ich habe uns etwas eingepackt, wir werden auf dem Weg frühstücken“, sagte er kurz angebunden. „Komm jetzt mit, wir gehen sofort.“
Er packte Mark am Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt nach unten. Dort erwartete ihn eine Überraschung. Es waren nicht einfach ein paar Gäste im Raum, die sich unterhaltend frühstückten. Der Raum war geradezu brechend voll. Von überall her blickten ihn aus ihren Gesichtern grün schimmernde Augen an, die meisten neugierig, viele freundlich und manche erstaunt oder berechnend. Mark verstand nicht sofort, weswegen dieser Auflauf stattfand und blickte irritiert umher. Dort waren Männer, Frauen und sogar Kinder. Die Stille war greifbar und erst da realisierte Mark, dass all diese Orém nur gekommen waren, um ihn zu sehen. Mark, den Menschen. Mit einem Mal fühlte er sich äußerst unwohl und bedrückt und ließ sich nun bereitwillig von Meister Arvid durch die Menge ziehen, während einige Gäste nun anfingen zu tuscheln. Zügig und wortlos sattelten sie ihre Pferde und ritten los, Meister Arvid voran. Einige Orém waren tatsächlich mit hinausgekommen und hatten ganz offen gegafft.
Das Wetter war an diesem Tag deutlich schöner. Zwar war es noch sehr bedeckt, aber ab und zu fand die Sonne kleine Lücken in der Wolkendecke. Sie machten zwischendurch eine kurze Pause an einem kleinen Wäldchen, um zu frühstücken, ritten dann aber ohne irgendein Wort zu sagen immer weiter. Vorbei an einem langgezogenen Hügel, an kleinen Bächen und Wiesen, dann wieder kurze Abschnitte durch Wälder und Lichtungen, bis sie nach einigen Stunden in einem weiten Tal vor einem einzelnen, hoch in den Himmel ragenden Berg standen. Am Fuße des Berges befand sich ein langgezogener See mit kristallklarem Wasser, auf dessen Oberfläche sich die Umgebung spiegelte. Am Rand dieses Sees konnte Mark eine kleine Stadt erkennen. Sie verlief vom Ufer aus hin bis zu dem Berg und zog sich an diesem sogar ein Stück hoch. An höchster Stelle der Stadt stand ein Schloss, das in einer solchen Weise matt schimmerte, dass Mark für einen Augenblick glaubte, die Mauern seien aus Mondlicht gebaut. Es hatte drei Türme, die alle zur Seeseite zeigten und die sie umgebenden Gebäude aus Stein weit überragten. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Mark, dass es keinen Landweg zu dieser Stadt gab. Man konnte sie nur erreichen, wenn man den See überquerte. Hierfür war eine riesige Brücke konstruiert worden, die sicherlich hundert Meter lang und zehn Meter breit sein musste. Trotz des trüben Wetters sah alles wunderschön aus. Mark schloss seinen Mund wieder, von dem er gar nicht bemerkt hatte, dass er offen gestanden hatte.
„Wir sind da“, sagte Meister Arvid. „Das hier ist Lysá. Die Stadt unserer Großmeister und Hort des Wissens Weraltéras. Setz deine Kapuze wieder auf. Die Nachricht deiner Ankunft wird hoffentlich noch nicht bis zu allen vorgedrungen sein und ich will mit dir möglichst unbemerkt zur Feste. Die Großmeister erwarten dich.“
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie den Anfang der Brücke endlich erreichten. Eine Wache stand müde an einem großen Pfeiler aus Stein und nickte allen zu, die nach Lysá ritten oder gingen. Meister Arvid hatte Mark eingebläut, dass er stur nach unten blicken sollte, aber er konnte nicht anders, als ab und zu einen Blick zu riskieren. Für einen Augenblick trafen sich die Blicke von ihm und der Wache und er fürchtete schon, sie würde sich ihm in den Weg stellen, aber dann schaute er doch woanders hin und nickte jemand anders zu. In der Stadt angekommen sah er schöne Häuser, die zwar manchmal schief, aber trotzdem stabil wirkten. Sie waren meist aus dunklem Holz gefertigt und viele Pflanzen, Büsche und Sträucher säumten die kiesigen Wege. Blumen mit den schönsten Blüten, die Mark je gesehen hatte, drehten ihre Köpfe im Wind und schienen dabei immer ein wenig ihre Farben zu verändern, während sie sich bogen. Der Weg veränderte sich nun, aus den kleinen Gassen wurden breitere Wege und Straßen, die nun aus hellen Steinen gefertigt waren. Es ging leicht bergauf, als sie ein großes Tor erreichten, durch das sie von einem untersetzten Mann in weinrotem Umhang durchgewunken wurden. Mark bemerkte, dass sie nicht auf das Haupttor der Burg zuhielten, sondern einen kleinen Bogen machten, um dann durch einen gepflegten Garten hindurchzureiten, der sich neben der Burg entlang zog. Das Ziel war ein unauffälliger, von Kletterpflanzen umrankter Seiteneingang mit einer schmalen, leicht gewundenen Treppe. Im Gegensatz zum vorderen Burghof war hier überhaupt kein Treiben ausmachen, keine Menschenseele war zu sehen. Keine Orémseele, korrigierte sich Mark im Geiste, Menschen waren hier ja sowieso keine. Sie saßen ab und sobald sie sich der Tür näherten, sprang diese wie von Geisterhand auf. Meister Arvid führte Mark durch einige schlecht beleuchtete Flure, über grade und gewundene Treppen, an Gemälden von Landschaften und ehrwürdig aussehenden Orém vorbei, bis Mark komplett die Orientierung verloren hatte. Alleine würde er aus diesem Labyrinth nicht so schnell wieder rausfinden, dachte er bei sich, als Meister Arvid abrupt stehen blieb.
„Wir sind da“, sagte Meister Arvid und deutete auf eine schwere, mit Eisen beschlagene Holztür. „Wenn du hineingegangen bist, ist mein Auftrag erfüllt“.
„Sie kommen nicht mit?“, fragte Mark erstaunt. Meister Arvid war ihm nicht grade besonders lieb geworden, aber doch ein wenig vertraut. Das erneute Allein-gelassen-werden behagte ihm nicht besonders.
„Nein, ich habe keine Befugnis dazu. Ich habe außerdem nur den Auftrag, dafür zu sorgen, dass du durch die Tür gehst. Von mir selbst war keine Rede. Die bisherige Reise hat mir auch gereicht, ich habe nun wieder deutlich wichtigere Dinge zu tun. Geh nun, du wirst erwartet“
Unsicher und mit einem flauen Gefühl in der Magengegend öffnete Mark die Tür, er riskierte einen letzten Blick zu Meister Arvid, der aber starr nach vorne blickte und kein Zeichen der Anteilnahme zeigte. Dann ging er hindurch und schloss die Tür mit einem schnellen Ruck wieder hinter sich.