Wenn es etwas gab, was Nelli wie keine Zweite lesen konnte, dann waren es Gefühle und Bedürfnisse anderer. Meistens waren sie ihr egal, doch mittlerweile hatte sie zu viel Zeit mit den drei jungen Leuten verbracht, als dass das spurlos an ihr vorbeigehen konnte. Auch wenn diese unausgesprochenen Emotionen irgendwie...anstrengend waren, erinnerten sie sie dann doch an die Zeit, in der sie selbst jung gewesen war. Da hatte der Trank vielleicht ja doch etwas los getreten, für das keiner so richtig bereit war. Immer diese jungen Küken... Während sie sich also Sorgen gemacht hatte, was der Trank für Neben- und Nachwirkungen für die beiden Männer haben konnte, hatten sich andere in dem entstandenen Gefühl gesuhlt...Nun ja, jeder auf seine Weise.
Missmutig schaute sie auf die mittlerweile sehr zusammen geschrumpften Vorräte in ihren kleinen Dosen und Fläschchen. Natürlich hatte diese dumme Schnepfe ihre wertvollsten Kräuter für so einen Humbug verschwendet! So hoch konnte die Belohnung gar nicht sein, als dass sie ihre Genugtuung überbieten würde, das freche Luder einfach über Bord zu werfen. Noch dazu das etwas faul an ihr zu sein schien. Aber die anderen hörten ja einfach nicht auf sie, also fügte die Alte sich ihrem Schicksal.
Wenigstens der Kraken, der sie seit neustem begleitete, schien sich mittlerweile zu freuen, sie zu sehen. Die Küchenreste und ähnliches brachte sie ihm jeden Tag nach draußen – sehr zum Missfallen von Edmund. Nach dem tausendsten „Hat man dir nicht beigebracht, keine wilden Tiere anzufüttern?“ hatte Nelli aufgehört dem Händlersohn zu zu hören. Das war sowieso besser für ihren eigenen Verstand. Der Kraken, den sie mittlerweile auf den Namen Nalu getauft hatte(Ihr schallte noch immer Edmunnds „Seit wann gibt man Ungeziefer einen Namen?“ im Kopf), brummte deutlich weniger missmutig, wenn sie sich zu ihm an die Reling gesellte und sich um seine so gut wie verheilte Wunde kümmerte. Und er war ein besserer Zuhörer. Immer öfter überkam sie der Gedanke, dass es vielleicht wirklich besser war, wenn ihre Zeit zu Ende ging. Esther ging Trevor aus dem Weg, Trevor entdeckte Bordelle für sich und Edmund war...nun ja mit sich selbst beschäftigt. Vielleicht hätte sie am letzten Hafen vom Schiff verschwinden sollen, aber irgendwie hatte sie es nicht über sich gebracht. Manchmal waren die drei wie ein Haufen tapsiger Bärenjunge, denen man noch ein bisschen auf die Sprünge helfen musste. Oder ihnen Unfug beibrachte, je nachdem, was gerade mehr Spaß machte.
Es dauerte für ihren Geschmack deutlich zu lange, bis sie das Herzogtum erreichten ,was angeblich das Zuhause ihres unnützen Gastes war. Wie viel besser es ihnen wohl gegangen wäre, wenn sie das Gör nicht noch hätten mit durchfüttern müssen? Alle taten gerade so, als würde der Proviant am Mast wachsen...
Sie fuhren in den Hafen ein und Nelli rümpfte an Deck die Nase. Irgendetwas stimmte da nicht, es roch vermodert, wie Fleisch, was zu lange in der Sonne gelegen hatte. Und aus das war ein Problem: es gab keine Sonne. Kaum hatten sie sich dem Hafen genähert, hatten sich die Wolken verdichtet bis man kein einziges Fleckchen blauen Himmel mehr hatte sehen können. Als sie das angesprochen hatte, hatte Edmund nur amüsiert geschnaubt. Aber natürlich, die vermeintliche Belohnung war in greifbarer Nähe. So langsam war es Nelli auch gleich, so lange sie das Miststück endlich von Bord hatten und sie wusste, dass sie den anderen nie wieder etwas antun konnte.
Das triumphierende Lächeln auf den Lippen des blonden Gifts gefiel ihr gar nicht, als sie am Hafen angelegt hatten. Sie schien um ein paar Zentimeter gewachsen zu sein und tänzelte zwischen Edmund und Trevor über den Steg an Land, während Esther und sie selbst hinterher liefen. Nalu hatte ein trauriges Geräusch von sich gegeben und war ins Wasser zurück gesunken, lediglich ein paar Blasen an der Oberfläche zeugten von seiner Anwesenheit. Nelli schaute seufzend zu ihm zurück. Ich versteh dich so gut, Kleiner... Ich wäre auch lieber unter Wasser... Das unverschämte Weibsbild führte sie durch die Straßen zu einem Schloss, dessen dunkle Türme in die Wolken ragten. Hinter den Fenstern schimmerten ab und zu Kerzen, das große, gusseiserne Tor war verschlossen. Die Alte zog die Augenbrauen hoch. Wie laut sollte das denn noch „Falle“ schreien? Aber auf eine weitere Diskussion mit Edmund, der sie wieder als „altes, feiges Hühnchen“ bezeichnen würde, hatte sie nicht so wirklich Lust. Also blieb ihr nichts weiter als zu warten.
Dieser Alptraum in Frauenkleidern drängte sich an den beiden Männern vorbei, rief zu den Türmen hinauf woraufhin sich die schweren Tür mit einem lauten Knarren, das Nelli durch Mark und Bein ging, zur Seite schwangen. Es erklangen die schweren, metallisch klirrenden Schritte von mehreren Menschen in Rüstungen und tatsächlich, als der Spalt zwischen den beiden Türhälften größer wurde, konnte Nelli ungefähr ein Dutzend schwer gerüsteter und bewaffneter Soldaten heraus, in ihrer Mitte ein Paar, bestehend aus einem breit gebauten, gutaussehenden Mann, mit dunklen Haare, in denen eine einzelne, graue Strähne hervorstach und einer schlanken, hochgewachsenen Frau, deren Taille Nelli locker mit ihren Händen hatte umfassen können. Optisch schien sie viel jünger zu sein, als ihr Mann, doch der Ausdruck in ihren Augen sagte der Hexe, dass diese Frau mehr Sonnenaufgänge gesehen hatte, als sie zugeben wollte. Ein Geruch kitzelte in ihrer Nase und ließ sie niesen. Da war er wieder, der Gestank nach verwesenden Fleisch, so beißend, dass sie sich fast Trevors Puff-Parfüm zurück wünschte.
„Cecilia, mein Schatz! Es tut so gut, dich wieder zu sehen!“ flötete die Frau, die bei genauerem Hinsehen tatsächlich wie eine ältere Version der Giftschlange wirkte. Na großartig, es gibt also wirklich zwei davon... Die blonde Natter strahlte ihr falscheste Lächeln und lief auf ihre Eltern zu, umarmte sie und nach vielen Küsschen links und Küsschen rechts stellte sie Edmund und Trevor als ihre großen Retter vor. Esther wurde immerhin als „magiebegabte Adlige“ vorgestellt während sie für die alte Hexe keine Worte zu finden schien. Sei froh, Mädchen. Hättest mich auch richtig kennenlernen können.
Plötzlich ertönte lautes Gekreische hinter den Anderen und ließ Nelli zusammenzucken. Die beiden jungen Frauen, die angerannt kamen fielen der Ratte um den Hals.
„Schwester, du bist endlich wieder da!“ quietschten sie in einer Frequenz, die bei Nelli Gänsehaut erzeugte. Noch mehr Ungeziefer...Ui toll
Zugegeben waren die beiden hübsch und der junge Mann, der Ihnen auf dem Fuße folgte, war auch durchaus ansehnlich. Dennoch störte sie etwas an dieser Familienidylle, auch wenn sie nicht so richtig greifen konnte, was es war.
„Wir danken Euch von ganzem Herzen, dass ihr unseren Saphir wieder zurück gebracht habt!“ wandte sich der Herzog nun schwülstig an sie.
„Kommt rein, bitte, lasst uns Euch dafür danken, ich bin sicher, Ihr seid müde von all den Anstrengungen.“