Nelli kam zu sich, als sie einen scharfen Schmerz auf ihrer Wange spürte. Sie blinzelte verwirrt und schaute in das faltenlose Gesicht eines jungen Burschen. Hat der Knilch mich gerade ernsthaft geohrfeigt?
"Ah, Oma ist endlich wach!" Entgeistert plusterte Nelli die Backen auf. Wenn jemand sie Oma nennen durfte, dann war es Trevor. Und der Schnösel da sah aus, als hätte er noch wenig bis keine Haare am Sack.
Neugierig kam der Junge immer näher, begutachtete sie so genau, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Was soll das denn bitte werden? Willst du in meine Falten kriechen?
Sie wich zurück so gut es ging, ohne von dem Stuhl zu fallen, an den man sie gefesselt hatte. Ihr Blick glitt an den modrigen, dunklen Steinwänden entlang und sie rümpfte die Nase. Von Gastfreundlichkeit und guter Innenarchitektur hatte diese komische Familie schon mal keine Ahnung.
Das Schlimme war, dass sie es gewusst hatte. Sie hatte gewusst, dass sie alle in eine Falle laufen und eigentlich hatten ihr die Blicke der anderen gesagt, dass die das genauso wussten. Warum zum Henker waren sie also dennoch in diese Falle getappt? Wie so ein paar Mäuse hatten sie sich einfangen und vergiften lassen. Sie hatte ja die ganze Zeit schon gesagt, dass mit dieser Göre, die sie an Bord gehabt hatten, etwas nicht stimmte. Aber ihre Meinung war ja übergangen worden. Vermutlich bekamen sie jetzt nicht mal die versprochene Belohnung. Den ganzen Proviant umsonst geopfert...
"Ludwig, komm ihr nicht zu nah. Die werden das alte Weib schon nicht grundlos mit sich geschleppt haben", fuhr eine weitere Stimme dazwischen, bevor der Knabe noch näher kommen konnte. Nellis Blick blieb an der Gestalt des Herzogs hängen. Gleich zwei Männer hier. Das ist zu viel der Ehre.
"Aber Vater! Schau sie dir an, welche Gefahr soll denn bitte schon von diesem faltigen Mütterchen ausgehen?", warf der Jüngere -Ludwig anscheinend- überheblich ein.
"Vielleicht haben sie sie unterwegs aufgelesen und Mitleid gehabt. Oder sie ist die...Großmutter oder Ur-Großmutter von einem von ihnen."
Amüsiert hörte Nelli ihnen zu. Der Vater war deutlich klüger als seine Brut, so viel stand fest. Der Junge war viel zu überzeugt von sich und seiner Kraft. Was der Knabe an Muskeln hatte, hatte er wohl an Intelligenz verloren. In seinem Gesicht blitzten die gleichen blauen Augen voller Arroganz, die auch seine Schwester geziert hatten. Hoffentlich kratzte einer der anderen ihr die aus dem Puppengesicht.
Testweise bewegte sie ihre Hände ein bisschen. Faszinierend, sie hielten sie für so ungefährlich, dass sie sich nicht mal die Mühe gemacht hatten, die Fesseln vernünftig fest zu ziehen. Wenn es für Dummheit einen Preis gäbe...
Wieder kam ihr das Bürschchen unangenehm nah, musterte sie mit unverhohlener Neugier.
"Ich wusste gar nicht, dass Falten so tief sein können...Und schau mal, wie ledrig ihre Haut ist! Bestimmt brennt sie gut, wenn wir sie nachher auf den Scheiterhaufen binden!"
Nelli hob eine Augenbraue. Na das wollen wir doch erst mal sehen. Gerade wollte sie etwas erwidern, als sie von einem bläulichen Schimmer hinter dem Herzog abgelenkt wurde. Der Geist, der dort gerade Gestalt annahm, war der Kleidung nach zu urteilen, noch nicht sehr lange tot. Ein Umstand, der Nelli verwirrte, sah sie doch sonst eher die schon sehr lange rastlosen Seelen. Etwas amüsant war, dass der Geist seine Faust hob und versuchte auf den Herzog einzuprügeln.
"Ihr Schweine! Ihr habt mich und meine ganze Familie ausgelöscht!" Fluchte er und schlug immer wieder durch den Körper des Adligen hindurch. Die Alte kniff die Augen zusammen.
"Was hast du da grade gesagt?" Fragte sie und legte den Kopf schief, was den Geist aufschauen und den Jüngling vor ihr die Stirn runzeln ließ.
"Ich sagte, dass du dich hervorragend auf dem Scheiterhaufen machen wirst", wiederholte er, was Nelli genervt seufzen ließ.
"Halt die Klappe, Jungspund, mit dir hat niemand geredet!", fuhr sie ihn an, was ihr nun endgültig die Aufmerksamkeit des Geistes einbrachte.
"Du...Du kannst mich sehen und hören?" Mit einem begeisterten Gesichtsausdruck, den die Hexe so bisher selten bei Verstorbenen gesehen hatte, kam die bläuliche Silhouette näher. Nelli nickte auf seine Frage hin. Logisch, sonst hätte sie ihm ja wohl kaum geantwortet, oder?
"Diese Bastarde hier haben meine ganze Familie auf dem Gewissen. Wir haben sie aufgenommen, als sie vor unserem Tor standen, die Frau schwanger und uns etwas von einem Schiffsunglück erzählt haben. Aber erst wurde mein Sohn plötzlich sehr krank, dann hat meine Frau sich vom Turm gestürzt und zu guter Letzt ist meine süße Tochter ertrunken. Und mich? Mich haben sie vergiftet. Und das alles nur, damit sie unsere Plätze als Herzogsfamilie einnehmen können. Haben alle mit einem gefälschten Stammbaum davon überzeugt, dass er hier..." ,er deutete auf den vermeintlichen Herzog, der jetzt aufgestanden und näher gekommen war, "mein lange verschollener Bruder sei. Ich hatte nie einen Bruder."
Interessiert hörte Nelli zu, das waren ja mal völlig neue Informationen, die aber sehr gut in ihre eigenes Bild dieser merkwürdigen Familie passten.
"Hilf mir, meine Familie zu rächen! Du kannst mich sehen, ich weiß, dass du mehr bist, als man auf den ersten Blick vermutet!" Flehte der verstorbene Herzog sie an und ein leichtes Lächeln legte sie auf die Züge der Alten.
"Mit dem aller größten Vergnügen!"
Der stechende Blick ihrer grauen Augen wandte sich an den Jüngeren der beiden Männer.
"Du ziehst jetzt Mal deine Nase aus meinem Gesicht, du Schnösel. Ich brenne garantiert nicht auf irgendeinem Scheiterhaufen", wie sie ihn zurecht, zog ihre Hände relativ mühelos aus den Fesseln.
"Also wirklich, ihr seid so unfassbar hohl, da ist das Gehirn jeder Taube größer. Nicht mal fesseln könnt ihr richtig. Überlasst ihr das sonst immer euren Angestellten?"
Die Fackeln in dem Raum begannen zu flackern, es wanderten Schatten über den Boden, die zu keinem der anwesenden Körpern zu passen schienen, wurden immer größer, kletterten über die Wände bis zu der Decke. Schließlich war jedes bisschen Licht im Raum verschluckt, es herrschte absolute Finsternis und lediglich die erschrockenen Schreie der beiden Männer waren zu hören. Aus dieser Finsternis starrten ihnen nur ein leuchtendes Augenpaar entgegen.
"Schade, dass ihr diese Lektion zu spät lernt: Unterschätzt niemals einen Gegner, egal wie harmlos er auch aussehen mag."
Ein Kichern erklang, das sich ungefähr so anhörte, als ob man mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel zog.
"Habt ein bisschen Spaß mit ihnen. Sie haben es nicht verdient, das Licht der Sonne wiederzusehen", gab sie den Schatten die Erlaubnis, verschwand in der Dunkelheit nur um sich keinen Augenblick später auf der anderen Seite der Tür, den Staub von der Kleidung zu klopfen. Amateure...
Jetzt musste sie nur die Anderen wiederfinden - möglichst unauffällig. Nelli hatte nicht unbedingt Lust, noch mehr von dieser degenerierten Familie oder ihrer Dienerschaft zu treffen. Also humpelte sie durch den Flur – den Stock hatte man ihr abgenommen, vielleicht aus Angst, dass sie damit jemanden verprügelte. Also ob sie das nötig hätte.
Angestrengt lauscht sie in die einzelnen Zellen.
"Warte! Lass mich dir helfen!" Sie zuckte zusammen als der Geist des alten Herzogs wieder neben ihr auftauchte.
"Du hast mir Frieden gebracht, jetzt lass mich dir helfen, deine Freunde zu finden." Die Alte nickte, warum sollte sie auch keine Hilfe annehmen, bevor sie hier noch stundenlang sinnlos durch den Kerker wanderte. Begeistert klatschte der Geist in die Hände.
"Komm! Komm mit mir, ich weiß, wo sie zumindest einen von ihnen hin gebracht haben!"
Sie hatte Mühe der schwebenden Gestalt zu folgen, schlurfte ihm nach bis er vor einer Tür anhielt, hinter der lautes Gerede zu hören war. Vor der Tür standen zwei Wochen, aus deren Blickfeld Nelli sich rettete, in dem sie in einer Nische verschwand, in der früher wohl mal eine Deko-Rüstung gestanden hatte. Was aus der wohl geworden war? Vermutlich waren die Typen hier dumm genug, daraus einen Kochtopf zu machen.
"Hab Dank für deine Hilfe. Jetzt kann ich Ruhe finden."
Die Gestalt des Herzogs fing immer mehr an zu wabern und löste sich schließlich vor ihren Augen auf. Sacht neigte sie den Kopf. Das Vergnügen war ganz meinerseits.
Die Alte griff in die schier unendlichen Tiefen ihren Kleides und zog grinsend ein kleines Säckchen hervor. Anscheinend hatte man sie nicht mal richtig durchsucht. Sie konnte es quasi vor sich sehen, wie niemand sich getraut hatte, das alte Weib anzufassen. Das war dann wohl ihr Pech. Kurz schaute sie um die Ecke, die beiden bulligen Typen standen noch immer vor der Tür, wie zwei zu Stein erstarrte Baumstämme. Gut, das nannte man dann wohl Kollateralschaden. Sie hielt das Säckchen an eine der Fackeln, beobachtete wie der Stoff Feuer fing und warf es gegen die Tür, die mit einem lauten WUMS aus den Angeln flog.
Aus dem Staub, den ihre kleine Explosion hervor gerufen hatten, leuchteten ihr ein paar blaue Augen entgegen. Hätte sie sich ja denken können, dass Edmund dahinter steckte. Der wirkte aber fast ein bisschen enttäuscht, als er sie sah.
„Haben Sie den Schlüsseldienst gerufen?“ fragte sie nüchtern, schaute dann an ihm vorbei.
„Was bei allen Göttern ist denn hier los?“ Hinter Edmund kreischten ein paar Frauen etwas von Dämonen und anderem unverständlichen Zeug, hinter der Tür, die sich in die Wand katapultiert hatte, schauten Reste eines Kleides hervor, ein ziemlich großer Mann stand mit einem seligen Lächeln in diesem Chaos und das auf dem Boden...war das wirklich...?
„Du hast ganze Arbeit geleistet, Edmund“, murmelte Nelli und schnupperte.
„Was stinkt hier denn bitte so?“
Der Händlersohn zuckte mit den Schultern.
„Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Das muss die alte Hexe da hinten sein.“ Er deutete auf den Kleiderhaufen am Boden, in dem eine runzelige Gestalt steckte. Also war sie es wirklich.
„Ah, daher kam der Gestank nach Verwesung, den ich schon am Hafen gerochen habe. Und was wollten diese Grazien jetzt von dir?“
Der Ausdruck auf Edmunds Gesicht war ein bisschen weicher geworden fast als...würde er sich freuen sie zu sehen? Nelli war sich zwar ziemlich sicher, dass er sich über Trevor mehr gefreut hätte, aber vermutlich war selbst ihre runzelige Visage besser als die Harpyien, die ihn wohl in ihrem Griff gehabt hatten. Auch irgendwie mal etwas neues.
„Einen Verjüngungstrank. Die haben mir Blut dafür abgenommen!“ Seine Stimme klang entrüstet und er wedelte mit dem Arm vor ihrem Gesicht rum. Aber besonders viel konnte man da nicht mehr erkennen. Nymphenheilung.
„Einen Verjüngungstrank? Was war da denn drin?“ Sie runzelte ihre Stirn, schaute neugierig auf das Labor, was sie nun im Hintergrund erkennen konnte.
Edmund tippte sich einen Moment nachdenklich ans Kinn.
„Keine Ahnung, aber es hat nach Johanniskraut, Granatapfel, Baldrian, Titanwurz und Ginkgo gerochen“, zählte er auf und für einen Moment war Nelli sehr stolz auf ihn und was er sich aus ihrem kurzen Unterricht gemerkt hatte, bis sie entgeistert die Backen aufblies.
„Die Schweine haben mein Rezept geklaut!“
„Und noch mein Blut mit rein gemischt!“ fiel der Händlersohn in ihre Entrüstung mit ein.
„Hier, da ist das Zeug übrigens. Mach damit, was du willst.“ Er drückte ihr mit angeekeltem Gesicht die Phiole in die Hand. Hinter ihnen ertönte ein leises Räuspern. Das entstellte Gesicht einer jungen Frau schob sich hinter Edmunds Rücken hervor. Irgendwie machte ihre fehlende Perfektion sie zu der Sympathischsten der ganzen Sippschaft.
„Ich kann euch zeigen, wo der Rest von eurer Mannschaft ist“, erklärte sie leise, die Stimme kaum mehr als ein Rascheln der Blätter. Edmund schien sie zu kennen und ihr irgendwie zu vertrauen und Nelli vertraute Edmund.
„Dann bring uns hin“, stimmte sie zu, „Aber erstmal muss ich etwas ausprobieren.“
Sie ging tiefer in den Raum, vorbei an den keifenden Weibern zu der reglosen Gestalt der anderen Hexe.
„Hallo Sybilla. Wie schön dich wiederzusehen“, begrüßte sie sie mit einem bösartigen Lächeln.
„Lass mal sehen ob deine minderwertigen Braukünste doch irgendwie nützlich waren.“
Sie ging vor ihr in die Hocke und tröpfelte ihr etwas von dem Trank zwischen die geöffneten Lippen. Die Haut im Gesicht der Alten zog sich glatt, als hätte man sie mit einer Wäscheklammer hinter den Ohren zusammengehalten, die Haare wurden voller und alles straffte sich.
„Mhm, unerwartet beeindruckend.“
Sie hörte leises Gemurmel im Hintergrund: „Als ich gesagt habe, du sollst damit machen was du willst, habe ich nicht gemeint, dass du das der alten Schnepfe geben sollst.“
Nelli verdrehte die Augen, musterte das Labor – oder eher was davon noch übrig war. Viele Zutaten waren durch das Gerangel und die Explosion zu Boden gefallen und hatten sich wild vermischt. Damit waren so vollkommen unbrauchbar, ebenso wie die ganzen leeren und zerbrochenen Phiolen. Schade, das wäre ja auch zu einfach gewesen.
Ihr Blick ging wieder zu Sybilla, die aber immer noch zu leben schien. Vielleicht nicht ganz so nutzlos...
Nelli atmete tief durch, schloss kurz die Augen und setzte die Flasche an um einen großen Schluck zu nehmen. Erst geschah nichts, dann begann ihr Inneres sich in ein flammendes Inferno zu verwandeln. Ihre Haut fühlte sich an, als würde sie sich von ihrem Fleisch schälen und ihre Knochen sich wieder in eine aufrechte Position drücken.. Als sie ihre Augen wieder öffnete und auf ihre Hände schaute, waren dort keine dicken Adern, Falten oder Altersflecken mehr zu sehen. Ihre roten Haare hingen wie ein schwerer Vorhang auf ihrem Rücken und Götter, war das schön, wieder aufrecht stehen zu können!
Nellie drehte sich zu Edmund um. Die junge Prinzessin starrte die nun deutlich jüngere Hexe mit offenem Mund an, während Edmund sie nur musterte.
„Du brauchst andere Kleidung“, stellte er trocken fest.