Kapitel I: Wasser
Arnelia
öffnete langsam die Augen und blickte unter die einfach gezimmerte
Holzdecke der Hütte. Sie beobachtete ein Rinnsal der langsam, aber
stetig an einem der Holzbalken entlang kroch und zielgenau über ihr
stoppte. Es bildete sich ein Tropfen, der zunehmend wuchs um sich
schlussendlich vom Rinnsal zu lösen. Beim Aufprall auf ihrer Stirn
schloss sie kurz instinktiv die Augen. Sie fühlte wie der Tropfen an
der linken Seite ihrer Stirn entlang floss, um dann an ihrem Ohr
vorbei in ihrem langen roten Haaren zu versiegen. Mit der linken Hand
wischte sie sich die zurückgebliebene Nässe von der Stirn. "Nicht
schon wieder" stöhnend begab sie sich in eine aufrechte
Haltung. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihre Vermutung, es
regnete schon wieder. Seit Tagen war das kleine Fischerdorf von immer
wiederkehrenden Regenströmen heimgesucht worden. Der Boden war vom
Wasser gesättigt, sodass sich in kürzester Zeit kleine Wasserrinnen
auf den Straßen bildeten, die stetig wuchsen. Die Holzhütte die sie
bewohnte lag seitlich an einem abfallenden Weg. Das wiederum lenkte
die kleinen Regenbäche zielstrebig auf die Hütte. Das Wasser kroch
unter der Tür hindurch und verursachte einen feuchten Boden. Es
würde Tage, wenn nicht Wochen dauern das Holz zu trocknen und den
ungewollten neuen Mitbewohner in Form eines muffigen, modrigen
Geruches los zu werden. Ihre wenigen Besitztümer hatte Arnelia auf
dem Tisch und in die Regale gerettet, jedoch reichte dieser Platz
nicht aus und so musste sie ihr Bett mit einigen Rollen Pergament,
einer Hand voll Äpfeln und einem Laib Brot teilen. Damit büßte sie
einiges an Komfort ein, jedoch war sie recht zierlich und kam daher
auch mit weniger Platz aus.
Als
sie erneut aus dem Fenster sah, erblickte sie den kleinen
provisorischen Staudamm, den sie um das Haus notdürftig aus Holz,
Steinen und Erde errichtet hatte. Der ansteigenden Belastung war
dieser jedoch nicht gewachsen und schon nach kürzester Zeit bildeten
sich durchlässige Stellen. Arnelia seufzte: „Wird dieser Regen den
niemals aufhören“. Sie würde den Damm ausbessern müssen. Ihr Hab
und Gut gänzlich den sich stetig wachsenden Bächen aussetzen,
konnte sie sich nicht vorstellen, denn schlechter als eine undichte
Hütte war gar keine Hütte. Schließlich wäre das die Folge sollte
weiteres Wasser in ihr Heim eindringen. Das Holz würde irgendwann
anfangen zu gammeln und es langfristig unbewohnbar machen.
Sie
stand auf, rückte ihr graues Gewand zurecht, Band sich einen
notdürftigen Zopf und begab sich Richtung Tür. Nach zwei Schritten
ertasteten die nackten Füße erste feuchte Stellen auf dem Boden.
„Verflucht“ stöhnte Arnelia. Sie dachte an Ostura, die Stadt in
dessen Schatten sich das Fischerdorf befand. Wie schön wäre es dort
zu leben, in einem stabilen Steinhaus, mit trockenem Boden, einem
dichtem Dach. Einem Dach welches jeglichem Wetter trotzte und einem
prasselnden, wärmenden Feuer im Kamin. Gerade ein Feuer war in
diesem Moment ein verlockender Gedanke, trockene Kleidung, warmes
Essen. Bevor sie sich weiteren quälenden Träumereien widmen konnte,
riss ein Ruf sie aus ihren Gedanken. „Arnelia, komm raus, sofort.“
Sie erkannte die tiefe, kernige Stimme ihres langjährigen Freundes.
Sie öffnete die Tür, welches direkt ein Schwall Wasser den Einlass
ins Innere gewährte.
Ruven
stand breitbeinig auf dem von ihr errichteten Damm und schaute sie
gespielt verärgert an. „Du weißt schon, dass dein Damm nicht ewig
halten wird. Wenn dein Heim dir egal ist, dann überlass es mir.“
Ein
kurzer Moment verstrich, dann begann er zu grinsen und sprang mit
einem Satz vom Damm auf sie zu. „Das du noch nicht weggespült
worden bist, wundert mich“. Arnelia war nicht nach Albereien zu
Mute. „Bist du hier um zu quatschen oder willst du nützlich sein
und helfen.“ entgegnete sie emotionslos. Sie ärgerte sich
innerlich über ihre Reaktion, so war die Unterstützung des blonden
Hünen sicherlich von Vorteil und würde die Erledigungen der
Reparaturen um einiges beschleunigen. Sie hoffte inständig ihn mit
ihrer barschen Antwort verärgert zu haben. Ruven schaute ernst:
„Leider nein, ich muss zum Ufer und neue Stützbalken einpfählen.
Der Regen hat das alles unterspült und es bricht immer mehr vom Ufer
weg.“ Arnelia hatte bereits die ersten Steine angehoben und
versuchte diese unter großen Anstrengungen zurecht zu rücken. Die
anstrengende Arbeit, der andauernde Regen, der Umstand das sie
bereits jetzt wieder komplett durchnässt war und die Abfuhr ihres
Freundes brachten das Fass zum Überlaufen. „Dann verschwinde und
beraube mich nicht weiter meinen Nerven. Bist du gekommen um dich
über mich zu amüsieren“ rief sie ihm impulsiv entgegen. Ruven war
von der Heftigkeit ihrer Reaktion überrascht „Was habe ich getan,
dass du mich so anfährst, nicht nur deine Hütte wird nass, alle
leiden unter dem Regen. Ganz ehrlich ich habe überlegt dir zu helfen
und die Pfähle im Anschluss zu setzen, aber ich werde auf keinen
Fall neben einem kochenden Kessel arbeiten wollen“. Er wandte sich
um, winkte ab und ging den Weg weiter Richtung Ufer. „Ja
verschwinde ruhig, ein ganzer Kerl bist du der ein Mädchen alleine
im Regen schuften lässt“ Sie trat vor Wut gegen einen Stein. Der
explosionsartige Schmerz im Fuß erinnerte sie an den Umstand das sie
barfuß war. „Verdammt, verdammt verdammt“. Es reichte ihr, sie
drehte sich um, trat in die Hütte und schlug die Tür zu.
Durchnässt,
jeglicher Nerven entbehrt ließ sie sich auf das Bett fallen. Die
Mischung aus Wut, Verzweiflung und Resignation ließen ihre Augen
feucht werden. Aus dem Strudel an Emotionen trat ein ihr zu gute
bekanntes Gefühl hervor, welches sie oft so erfolgreich hatte
verdrängen können, doch sich jetzt wie eine Decke über sie legte:
Einsamkeit. Ihre Sicht verschwamm zunehmend bis sich die ersten
Tränen lösten und ihr über die Wangen ins rote Haar rannen.
Erinnerungen an ihre Eltern schossen ihr durch den Kopf.
Allein
Das
Winken des Vaters, als er mit dem Boot zum Fischen aufbrach.
Allein
Das
endlose Warten der Mutter am Steg
Allein
Die
Gewissheit in der Ungewissheit den Vater niemals wiederzusehen
Allein
Die
Mutter die an der Trauer zerbrach
Allein
Die
Beerdigung der Mutter
Allein
Die
Gedanken im Kopf kreisten und hämmerten ihr die Tatsache ein, das
sie alleine war. Sie verlor die Kontrolle und versank in ihrem
Schmerz. Schluchzend zog sie die Beine an sich heran. Nichts ist ihr
geblieben. Einzig die Hütte und das Lesen einfacher Schriften hatten
ihre Eltern ihr vermacht. Sie hatte versucht nach dem Verschwinden
des Vaters auf See ihre Mutter durch das Vorlesen kleiner Geschichten
aufzumuntern. Irgendwann hat sie begonnen selber kleine Notizen zu
erfinden, von Wundern über zurückgekehrter Vermisster oder
verschollen gegoltener Personen. All das war vergebens. Ihre Mutter
gab erst das Sprechen auf, dann blieb sie nur noch im Bett liegen,
bald darauf aß sie nichts mehr. Es kam der Tag, da stellte sie auch
das Atmen ein. Arnelia sah das Leben der Mutter wie Wasser durch ihre
Finger rinnen und es gab nichts was sie tun konnte.
Zwar
hatte sich das Leben für sie bereits schlagartig mit der
Ausbleibenden Rückkehr ihres Vaters verändert, jedoch hatte sie ab
diesem Zeitpunkt die Aufgabe sich um ihre Mutter zu kümmern. Die
blinde Hoffnung, dass es ihrer Mutter wieder besser gehen würde, das
es trotzdem möglich war ihre Mutter wieder Lachen zu sehen, sie zum
Umarmen, ihr sagen zu können wie sehr sie sie liebte, verschaffte
ihr Ablenkung und Antrieb. Sie wurde auch dessen beraubt und es blieb
ihr nichts als endlose Leere, als hätte sie das tiefste und
schwärzeste Meer verschluckt. Tage, Wochen verstrichen in denen
Arnelia stumpf, die Außenwelt wie einen Traum, unwirklich wahrnahm
und irgendwie überlebte.
Um
die Ohnmacht der Trauer zu verhindern wurde sie zornig, zornig auf
das Meer welches ihren Vater verschlang, zornig auf die Geschichten
die ihre Mutter nicht trösteten, aber vor allem war sie zornig auf
sich selbst. Sie war es die den Vater hatte an diesem stürmischen
Tag hat aufs Meer fahren lassen, sie war es die es nicht schaffte
ihre Mutter zu trösten. Oft bestrafte sie sich, in dem sie sich
selber mit einem Messer in den Oberschenkel schnitt. Sich darauf zu
konzentrieren wie das Messer über die Haut glitt, die Spitze sich
langsam in die Haut arbeitete und zu beobachten wie das Blut aus dem
Körper floh, sich wie ein roter Garn an ihrem Bein abseilte und der
einsetzende körperliche Schmerz beruhigte sie. Der Zorn wurde ein
tröstender Begleiter und schützte sie all zu oft vor der mahlenden
Trauer der sie zu zerreiben drohte. Monate vergingen, bis sie
allmählich verstand und akzeptieren konnte. Sie hatte gelernt, dass
sie eine Mauer bauen musste, einen Damm der ihr Inneres beschützt.
Es half ihr oft, nicht in der schmerzlichen Erinnerung an die
Vergangenheit zu ertrinken. Diese Art der Akzeptanz hatte ihren
Preis, denn nicht nur schlimme Erinnerungen wurden ausgeschlossen,
auch die schönen, in denen sie sich geborgen und geliebt gefühlt
hatte. All diese Erinnerungen warteten wie ein unheilvolles dunkles
Meer vor einem Deich, lauerte auf eine Gelegenheit in das Innere
vorzudringen. Manchmal bildeten sich kleine Risse und es überkam
Arnelia.
So
wie in diesem Moment in dem sie es wieder bemerkte. Wie ein
morgendlicher Nebeldunst nahm die Einsamkeit die Trauer bei der Hand
und verblasste, aber nur um der aufkommenden Wut Platz zu machen, die
ihr wie ein alter Freund tröstend die Hand auf die Schulter legte.
Arnelia griff nach einem Apfel der auf dem Bett lag und schleuderte
diesen an die hölzerne Vertäfelung an der Wand. Platzend fiel
dieser zu Boden. Schwer atmend stand sie auf, schloss ihre Augen und
versuchte die Kontrolle über die Wut zu erhalten. Einen Moment lang
stand sie einfach still da, dann allmählich spürte sie wie sich
erst ihre geballten Fäuste entspannten und nach und nach der Rest
ihres Körpers. Die kochende Wut hatte sich beruhigt und sich langsam
wie die Ebbe zurückgezogen. Ihr schneller Atem beruhigte sich, sie
öffnete die Augen und kehrte im hier und jetzt zurück.
Sie
hob den Apfel auf, biss hinein und sortierte ihre Gedanken. Kauend
wandte sie sich an das Fenster und beobachtete den Regen, der in der
Zwischenzeit an Kraft eingebüßt hatte. Wollte sie noch den Damm
reparieren, so sollte sie es jetzt tun. Der emotionale Zwischenfall
hatte ihr Zeit geraubt die sie eigentlich nicht hatte. In einem
Anflug von Trotz nahm sie einen weiteren Bissen, legte den Apfel
beiseite und öffnete die Tür erneut, um sich den Ausbesserungen
ihres Wasserschutzes zu widmen. „Ich brauche niemanden, ich habe es
bis hier her geschafft und schaffe es auch weiter“. Ihr Kopf
streckte sich gen Himmel: „Da muss du schon mehr schicken um mich
aufzuhalten“. Die störrische Art gefiel ihr, es verlieh ihr
Energie und ließ sie schmunzeln. Mit neu gefundener Kraft schob sie
ein paar Steine zurecht, legte Hölzer wieder an passende Stellen und
verdichtete kleinere Löcher mit Erde.
Zufrieden
mit sich lehnte sie sich erschöpft an die Hütte unter einem Dachvorsprung.
„Das dürfte fürs erste Halten“. Nach dem kurzen Verweilen,
wusch sie sich Hände und das Gesicht an einem Wasserkübel. Die Kühle des Wassers
erfrischte sie und reinigtesie vom Dreck und ließ die letzten Fetzen übler Gedanken verschwinden. Aus dem Regal griff sie eine lederne Umhängetasche, packte das
Pergament, sowie eine einfache Schreibfeder ein, schlüpfte geübt in
ihre einfachen Bundschuhe und sprang mit einem Satz über den Damm
auf den Weg. Schlendernd zog sie Richtung Stadttor und versuchte
dabei größeren Wasseransammlungen aus dem Weg zu gehen.