Beiträge von 20thcenturyman

    Mir kommt diese Diskussion so vor, als ob zu Guttenbergs Zeiten Leute verkündet hätten, mit der Hilfe von Druckmaschinen hergestellte Werke würden auf dem Büchermarkt nicht zugelassen.

    Doch wie die Drucktechnik damals den technischen Standart gesetzt hat, so geschieht das heute durch die KI. Das ist nicht aufzuhalten.

    So wie die Fähigkeit, schön und lesbar schreiben zu können, an Bedeutung verlor ( außer in den Schulen), so werden Stil, Aufbau und Beschreibungen etwas sein, wozu Autorentalent nicht mehr nötig ist. Es wird wohl nur noch auf die Grundidee der Geschichte und die Charaktere ankommen, ganz egal, ob die nun von einem Menschen oder einer KI stammen.

    Als Jugendlicher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal ernsthaft gefragt würde, ob ich ein Roboter bin. Völlig irre!

    Aber so ist die Zeit. Man kann das anerkennen, oder heucheln. Wer zugibt, mit KI zu schreiben, wird natürlich weniger Anerkennung ernten als ein Unpluggedautor..

    Aber ich würde den Herrn der Ringe auch lesen, wenn eine KI der Verfasser wäre.

    Das Wichtigste ist immer noch das Werk.

    Kräuter und die Mondelfen

    19.Kapitel

    Sellerie Selma und die Rote Witwe

    "Reich mir doch mal den Fliegenpilzsud rüber", forderte ich Soße auf.

    "Brauchst du auch noch etwas Met?", wollte Lehrer wissen. "Und noch etwas von dem Krötenschleim?"

    "Nicht zu fassen, dass es Verrückte gibt, die an den Viechern lecken, um sich an ihrem Sekret zu berauschen", bemerkte Schlichter. "Es gab schon Tote. Dass man dieses Zeug für die Bereitung des Berserkertrankes braucht, hätte ich nie gedacht."

    "Wenn man in Betracht zieht, dass bis auf Sigurd Yggdrasil keiner den Trank lange überlebt hat, ist das keine Überraschung", sagte Lehrer. "Die meisten Zutaten sind eben genauso gefährlich wie das Endprodukt. Bis auf den Met. Und selbst der hat es in sich!"

    Ich nahm das Schälchen mit dem Fliegenpilzsud von Soße entgegen und träufelte etwas davon in das Gebräu, an dem wir seit mehreren Stunden in meinem geheimen Labor arbeiteten.

    " Nein danke", beantwortete ich Lehrers Frage. "Noch mehr Met und Krötenschleim sind nicht nötig. Aber den Kirschsirup könntest du mir holen. Er steht auf dem Regal hinter dir. Ich denke, ein Spritzer reicht. Ich bin wirklich gespannt, wie dieser Stoff der Dame bekommt. Ein normaler Mensch würde nicht den kleinsten Schluck davon überleben."

    "Falls sie dieses Erzeugnis deines Giftmischertalents verträgt, wird sie noch stärker sein, als sie es ohnehin schon ist," warnte Schlichter. "Sind wir so abhängig von ihr, dass wir dieses Risiko eingehen sollten? Wenn die Miliz die Marschkolonne der Schwarzen Witwe angreift und anschließend die Alte Mühle stürmt, haben wir doch auch ohne sie eine echte Chance, die Untoten zu erledigen, bevor sie an unsere Leute herankommen. Wir können nachts sehen und die Wandler an ihrem Geruch erkennen. Es sind nur zwanzig. Mischen wir uns unter die Soldaten, greifen uns die Wiedererweckten, was dank der Berserkerkraft und des geweihten Salzes nicht schwer werden dürfte, und überlassen die feindlichen Kämpfer der regulären Truppe. Mit etwas Glück wird niemand merken, dass wir überhaupt dort waren."

    "Und die Alte Mühle?", fragte Soße. "Wir wissen nicht, was uns dort erwartet."

    "Deshalb sollten wir heute Nacht, nach der Hauseinweihungsfeier, einen Erkundungseinsatz durchführen", schlug Schlichter vor. "Um genau das herauszufinden."

    "Eines müssen wir dabei bedenken", fügte ich hinzu. "Die Gegenseite kennt mittlerweile unsere Möglichkeiten. Wir können nicht erwarten, stets mit den gleichen Tricks durchzukommen. Außerdem wird die Schwarze Witwe vor Ort sein. Unser leichter Sieg im Sommerhaus sollte uns nicht dazu verführen, sie zu unterschätzen."

    Kaum hatte ich meinen kleinen Vortrag beendet, hörten wir Schritte über uns.

    "Kann das die Frau von Meister Drud sein?", flüsterte Soße. "Um mal wieder sauber zu machen?"

    Wer immer da oben umherging, blieb plötzlich stehen. Fast gleichzeitig öffnete sich die Klappe, die den Einstieg in unseren Raum verbarg. Wir zückten unsere Messer und kamen uns sogleich recht dumm vor, denn es war nicht die Schwarze Witwe, die uns einen Besuch abstattete. Eine andere alte Frau quälte sich ächzend und stöhnend die Treppe hinab. Wie immer trug sie ein graues Kleid, passend zu ihrem Haar.

    "Sellerie Selma!", platzte ich heraus. "Schickt Euch die Rote Witwe?"

    Endlich hatte die Frau ihren beschwerlichen Abstieg beendet und wandte sich mir zu. " So nennt ihr sie also. Aber sie hat einen Namen. Er lautet Frau Meg Tyr, falls euch das interessiert. Wollt ihr einer Dame nicht einen Stuhl anbieten?"

    "Tyr?", fragte Lehrer, während er das erbetene Sitzmöbel herbeischaffte. "Ist sie etwa mit der Richterfamilie verwandt?"

    "Nur angeheiratet", beeilte sich Schlichter zu versichern. "Außerdem wurde ihre Ehe nach ihrem angeblichen Tod annulliert. Das war damals möglich, so dass sie wieder ihren alten Mädchennamen zu tragen hat. Meg Bess."

    "Das ist eine Lehrerfamilie", sagte Lehrer. "Damit ist sie mit mir verwandt."

    "In der Stadt ist jeder irgendwie mit jedem verwandt", stellte ich fest. "Doch das sollte jetzt nicht das Thema sein. Frau Selma, welche Botschaft hat Euch Eure, äh, Freundin für uns mitgegeben?"

    "Einen Augenblick mal", mischte sich Soße ein. "Eure Augen! Die sind schwarz und nicht grau!"

    "Also auf meine Augen hat noch niemand geachtet", bemerkte die Angesprochene verblüfft. Auf mich traf das durchaus zu. Allerdings hatte ich bei ihr nicht so häufig eingekauft wie der Gastwirtssohn.

    "Vorige Woche, am dritten Tage, welche Waren habe ich da bei Euch erworben?", fragte er.

    "Wie soll ich das denn heute noch wissen?", wehrte sich die Gemüsehändlerin. "Ich habe viele Kunden".

    "Ihr habt aber auch ein perfektes Gedächtnis. Genau wie ich. Vielmehr, Ihr solltet es haben, falls Ihr die wärt, als die Ihr Euch ausgebt. Aber das seit Ihr nicht. Ihr seit ....."

    An dieser Stelle hätte Trommelwirbel ertönen müssen. Statt dessen rief Schlichter aus: "Die Rote Witwe! Was habt Ihr mit der echten Selma gemacht?"

    Die falsche Marktfrau gab ihre gebückte Haltung auf und straffte sich. Alt wirkte sie jetzt nicht mehr. Und da war auch wieder diese kühle, ironische Stimme, als sie anfing zu sprechen.

    "Also bitte. Was du mir alles zutraust, Richterjunge. Ich ziehe doch nicht wahllos mordend durch die Landschaft!"

    "Da sagt Eure Akte aber etwas anderes", entgegnete Schlichter. "Besonders Euer Tagebuch. Es ist noch alles erhalten."

    "Wirklich?", freute sich die Rote Witwe. "Da bin ich aber erleichtert. Bei der Niederschrift habe ich mir große Mühe gegeben. An jeder Formulierung habe ich gefeilt, manchmal tagelang. Ohne falsche Bescheidenheit meine ich, dass mir da ein kleines literarisches Meisterwerk gelungen ist. Ich würde gerne wieder einmal darin lesen."

    "Es befindet sich im vielfach gesicherten Archiv des Justizpalastes", versuchte Schlichter ihren Hoffnungen einen Riegel vorzuschieben.

    Sie lächelte mitleidig. "Sehr beruhigend. Und zu deiner Information. Frau Selma geht es gut. Im Augenblick gibt es sie sozusagen zwei Mal. Die Augen also, wie? Da werde ich mir etwas einfallen lassen müssen."

    "Eure Darbietung war auch etwas übertrieben", ergänzte Soße. "So gebrechlich ist sie nicht."

    "Danke für diese konstruktive Kritik", antwortete die Rote Witwe. "Doch nun zum eigentlichen Thema. Ihr habt mich gerufen. Wobei braucht ihr meine Hilfe?"

    Das war geschickt formuliert. Sogleich befanden wir uns in der Rolle des Bittstellers, obwohl sie eigentlich etwas von uns wollte, den verstärkten Berserkertrank. Doch davon erwähnte sie nichts. Sie wusste, wie man verhandelte.

    Schlichter nahm die Herausforderung an. "Wir wissen", begann er, "dass die Schwarze Witwe und ihr Anhang das Haus des alten Meisters Thing als Stützpunkt nutzen. Von dort aus wollen sie sich nach dem Tag der Jugend in Richtung der Alten Mühle absetzen. Greift die Miliz sie unterwegs an, unterstützen wir sie verdeckt, mit allem, was uns zur Verfügung steht. Da der Überraschungseffekt auf unserer Seite ist, werden wir zweifellos Erfolg haben. Falls Ihr etwas beizutragen habt, was den Vorgang beschleunigen könnte, dürft Ihr Euch gerne anschließen."

    "Hm,hm", machte die Rote Witwe und nickte. "Ihr habt also einen Plan entwickelt, wie man mit Wiedererweckten fertig wird, die den Berserkertrank zu sich genommen haben, den Meister Thing bereitet hat?"

    "Der Trank ist für die Untoten?", rief Soße überrascht und ruinierte damit Schlichters Taktik des gespielten Desinteresses. "Wir dachten, für die Söldner und die Verbrecher."

    "Oh, die Söldner haben sich verabschiedet. Offenbar wurden ihnen ihre Auftraggeber langsam unheimlich. Bleiben noch die gewöhnlichen Gauner und die Grabwandler. Letztere gewinnen natürlich durch die Einnahme des Trankes genauso an Kraft und Schnelligkeit, wie das bei mir der Fall ist, auch wenn ich nicht so gerne mit ihnen in einen Topf geworfen werden möchte. Ihr werdet es also nicht mehr mit den lahmen Kreaturen zu tun haben, die ihr auf dem Friedhof noch einschüchtern konntet. Sie werden die Milizsoldaten in Stücke reißen. Und euch ebenfalls, selbst wenn es euch gelingen sollte, ein paar von ihnen zu erledigen."

    Damit hätten wir rechnen müssen. Warum sollte das Mittel bei den anderen mehr oder weniger Lebendigen nicht genauso wirken wie bei unserer undurchschaubaren Verbündeten? Mit vier Leuten gegen eine fünfache Übermacht, die sich ebenfalls das Elixier zunutze machte, zudem aber nahezu unverwundbar war, solange ihre Kämpfer nicht ihre Köpfe einbüßten oder in Flammen aufgingen? Unser Selbstbewusstsein löste sich in Luft auf. Mit wenigen Worten hatte uns Frau Meg Bess, wie sie wohl einst geheißen hatte, klar gemacht, dass wir auf Gedeih und Verderb von ihr abhingen. Oder doch nicht? Als mein Blick auf die Schale mit dem verstärkten Berserkertrank mit Kirscharoma fiel, kam mir eine Idee.

    "Verwenden sie den gewöhnlichen Trank?", fragte ich. "Und wenn ja, würden sie auch die wirkungsvollere Variante vertragen, wie Ihr das wohl vermögt?"

    Sie sah mich nachdenklich an. "Wohl eher nicht", vermutete sie. "Das dürfte zu viel für sie sein. Aber welchen Nutzen versprichst du dir von dieser Erkenntnis? Wie willst du ihnen das stärkere Mittel verabreichen?"

    "Pfeile", meldete sich Lehrer zu Wort, dem bisweilen eine bemerkenswert destruktive Phantasie zu Gebote stand. "Wir tauchen Pfeile in das effektivere Zeug, in das wir noch geweihtes Salz mischen. Würde das ausreichen?"

    Die Rote Witwe nickte anerkennend. "Das sind brauchbare Ideen. Seht ihr, wie gut wir uns ergänzen? Reiche mir doch einmal die Schale mit deinem neuen Trank herüber", sprach sie mich an. Diesem Wunsch kam ich nach, aber nicht als der großzügige Helfer, als der ich vor kurzem hätte auftreten können. Auf einmal tat sie mir einen Gefallen, indem sie sich netterweise bereit erklärte, mein Gebräu zu probieren.

    "Seid aber vorsichtig", ermahnte ich sie. "Womöglich ist dieses Elixier auch für Euch zu heftig."

    "Ist der Trank zu stark, bist du zu schwach", lächelte die Witwe und genehmigte sich ein Schlückchen. Ob sich ihre Haut rötete, war unter der grauen Schminke, die ihr das Aussehen der Gemüsefrau verlieh, nicht zu sehen. Ihre Augen nahmen jedenfalls einen intensiven Glanz an. Genießerisch schnalzte sie mit der Zunge.

    "Fast perfekt", urteilte sie. "Wenn mir jemand die Flasche mit dem Kirschsirup reichen könnte? Danke. So, noch ein wenig mehr... " Sie probierte erneut und nickte zufrieden. "Genau das habe ich gemeint, mein kleiner Kräuterdoktor."

    Sie erhob sich. "Soße", kommandierte sie. "Fülle mir den Trank bitte in ein Fläschchen. Kräuter, ich brauche deinen Geruchssinnverstärker, die Augentropfen für die verbesserte Nachtsicht und die Substanz, mit der sich Jäger einreiben, um ihren Körpergeruch zu unterdrücken. Hast du das alles da?"

    "Klar".

    "Gut, alles abfüllen. Lehrer, hilf ihm. Und Kräuter, braue so viel von dem stärkeren Berserkertrank, wie du nur kannst. Pfeile besorge ich. Morgen treffen wir uns am siebzehnten Meilenstein, eine Stunde nach Mitternacht. Dunkle Kleidung, volle Bewaffnung, alle Tränke, Geräuschdämpfung, wie bei einer Kundschaftermission. Zwei von euch nehme ich mit bis in Sichtweite der Alten Mühle, damit ihr seht, was der Feind dort aufgefahren hat. Die beiden anderen bleiben in Reserve. Ihr wählt aus. Und noch etwas".

    Sie griff in eine der Taschen ihres Kleides und holte einen eiförmigen Gegenstand hervor, der aus Metall zu sein schien. EIn Stift ragte aus dem Ding hervor.

    "Ein Feuerei!", rief Lehrer

    "Du weißt, was das ist", fragte Soße erstaunt. "Woher?"

    "Aus einem Buch", lautete die wenig überraschende Antwort. "Es stand in der Kimderbibliothek und trug den Titel "Legendäre Waffen aus alten Zeiten". In solchen Konstruktionen steckt das unlöschbare Feuer. Es brennt sogar auf dem Wasser. Man zieht den Stift und hat dann nur wenige Augenblicke, das Ei von sich zu schleudern, bevor ein alles verschlingender Glutball entsteht."

    "Was bei euch alles in der Kinderbücherei zu finden ist", bemerkte die Rote Witwe missbilligend. "Aber es stimmt alles, was du gesagt hast, abgesehen davon, dass diese Kampfmittel auch heute noch hergestellt werden. In der Alten Kaiserstadt. Es bedarf großer Kraft, um den Stift herauszuziehen. Damit es nicht versehentlich geschieht. Wartet, ich habe noch mehr dabei. Zwei für jeden."

    Sie breitete die Mordinstrumente auf dem Tisch aus und sammelte anschließend die verlangten Elixiere ein. "Dann bis morgen Nacht", verabschiedete sie sich

    "Einen Augenblick noch", bat ich. "Woher wisst Ihr von diesem Keller?"

    "Von früher", entgegnete sie. Mit diesen Worten erklomm sie mit schnellen und sicheren Schritten die Stufen der Leiter und war auch schon verschwunden.

    Wir sahen ihr nach. "Ist euch etwas aufgefallen?", fragte Soße. "Sie hat Schlichter völlig ignoriert. Ihm übertrug sie keine Aufgabe."

    "Weil er unser Anführer ist", vermutete Lehrer. "Das will sie sein."

    "Dann sollte er zu ihren beiden Begleitern gehören, bei der Erkundung der Alten Mühle", schlug ich vor. "Sie soll sehen, dass wir nicht so leicht zu kontrollieren sind."

    "Gut", antwortete Schlichter. "Dann kommst du auch mit. Soße und Lehrer, ihr seid die Einsatzreserve." Vorsichtig nahm er eines der Feuereier in die Hand. "Ich gebe es zu", meinte er. "Sie hat etwas zu bieten. Wir aber auch. Los, machen wir mehr von dem neuen Trank. Das kann sie offenbar nicht."

    "Sie kennt den Keller von früher", sinnierte Lehrer. "Meint sie damit ihre Zeit, vor achtzig Jahren? Wer mag sich hier verborgen haben? Magieanhänger? Oder noch früher, Aufklärer?"

    "Jedenfalls müssen wir in Zukunft vorsichtiger sein", mahnte Schlichter. "Hätten wir den Lügentrank eingenommen, wäre es uns dank des verstärkten Geruchssinns leicht gefallen, die Rote Witwe schon von weitem zu wittern. Sie hätte uns nicht täuschen können. Ich traue ihr nicht. Aber ohne ihre Informationen wären wir in den sicheren Tod marschiert, hätten wir an unserem alten Plan festgehalten."

    "Sie braucht uns, im Moment", schloss Lehrer. "Hoffentlich merken wir rechtzeitig, wenn das nicht mehr der Fall ist."

    18.Kapitel

    Das Geschenk der Mondelfen

    Zu Hause angekommen, ging ich sofort auf mein Zimmer, wo eine Überraschung auf mich wartete. Auf dem Bett lag ein Paket. Daneben eine Karte, auf der in einer winzigen, gestochen scharfen Handschrift zu lesen war:

    "Vertrete unser Haus mit Würde".

    Das war alles. Nicht übertrieben herzlich und keine Freundin überflüssigen Geredes, so war Großmutter Swanhild. Seit dem Tod ihres Ehemannes hatte sie die Familienfestung nicht mehr verlassen. Dort empfing sie mich seit meinem sechsten Lebensjahr ein Mal im Monat, um mir Unterricht in Stadtpolitik, Recht und Geschichte zu erteilen. Mit sehr begrenztem Erfolg. Als Wasa mit minderen Rechten musste ich das Haus durch den Dienstboteneingang betreten. Unter den Augen schlecht gelaunter Dienstmädchen, die mich behandelten wie einen lästigen Hausierer, dem auch der eine oder andere Diebstahl zuzutrauen war.

    Zu dieser Zeit hatte ich nicht verstanden, was das sollte. Schließlich war ich aus der Erbenliste gestrichen worden und würde das Haus Wasa deshalb nie führen können. Manche hatten Sentmentalität als Motiv vermutet, denn immerhin war ich ihr Enkel, vom Blute ihres einzigen Sohnes, des großen Retters an den Mauern. Doch hatte ich Eisblöcke gesehen, die mehr Wärme ausgestrahlt hatten als meine verehrte Großmutter. Schon damals musste sie Pläne mit mir gehabt haben. Denen sicherlich auch der Inhalt des Pakets diente, der aus Kleidungsstücken bestand, wie sich herausstellte. Eine grüne Jacke und eine Hose in derselben Farbe, dazu zwei weiße Hemden, ein grünes Halstuch und weiße Halbschuhe. Unsere Familientracht, die bei offiziellen Anlässen zu tragen war. Bisher hatte das immer Vetter Lars ausbaden müssen, der Ersterbe. Jetzt war ich selber an der Reihe.

    Jemand klopfte an die Tür. "Hereinspaziert", rief ich, woraufhin Tante Meg den Raum betrat und sofort die auf meinem Bett ausgebreiteten Sachen in Augenschein nahm.

    "Sehr hübsch", kommentierte sie. "Das wird dir gut stehen".

    Der Meinung war ich zwar nicht, verzichtete aber auf Widerworte. Die halfen mir in dieser Angelegenheit auch nicht weiter.

    "Wie steht es mit der Vorbereitung des großen Festes?", fragte ich. "Habt ihr alles geschafft?"

    "Es hat ein bisschen länger gedauert, weil dein Onkel und Gerd zu einem Einsatz der Miliz gerufen wurden, sehr geheim, natürlich, wie immer. Aber sieh mal, was Bernhard hinterlassen hat. Da, fang!".

    Sie griff in eine der in ihr Kleid eingenähten Taschen und warf mir etwas zu. Als ich erkannte, was ich da mit meiner Hand ergriffen hatte, ließ ich das Ding erschrocken fallen. Eine Spinne, dick und pechschwarz, mit langen, haarigen Beinen. Während ich mich in Panik nach einem Schlaginstrument umsah, mit dem ich dem Vieh zu Leibe rücken konnte, schüttelte Tante Meg nur mit dem Kopf.

    "Sieh sie dir mal genauer an", riet sie. Vorsichtig ging ich in die Knie und betrachtete das Tier eingehend, wenn auch voller Ekel und Widerwillen.

    "Die ist ja gar nicht echt", rief ich schließlich aus. "Woraus ist die?"

    "Na, fass sie mal an!"

    "Stoff", stellte ich fest. "Und Leder. Hervorragend gemacht. Sie wirkt absolut glaubwürdig. Woher hast du die?"

    "Aus Bernhards großem Haus", erwiderte Tante Meg. "Stell dir vor, er hat sie im vorderen Bereich des Dachbodens platziert. Mache hingen an künstlichen Spinnenfäden. Es war wirklich ein scheußlicher Anblick, das muss ich zugeben. Thusnelda traf fast der Schlag. Deine Großeltern und ich haben uns der Sache schließlich angenommen. Ist so etwas zu fassen? Und was sollte das überhaupt?"

    Das hätte ich ihr sagen können. "Die Spinnen sind nicht echt, du Idiot". Als ich seinerzeit auf der Suche nach Onkel Bernies interessanten Altertümern den Dachboden erkunden wollte, hatte ich mich von den gruseligen Krabbeltieren abschrecken lassen. Aus meinem Vorsatz, ausgerüstet mit einem Besen und einer Keule, zum Ort des Schreckens zurückzukehren, war nichts geworden. Stets fiel mir eine Ausrede ein, um einer Konfrontation mit den scheußlichen Wesen aus dem Wege zu gehen. Wenn sich nun eine fallen ließ, direkt in meine Haare! Mein Onkel wusste, dass ich mich vor Spinnen ekelte. Und mit diesem simplen Trick war es ihm gelungen, mich vom Dachboden fernzuhalten, wo er mit Sicherheit seine Fundstücke aus dem Alten Reich versteckt hatte. Zweifellos sollte das meinem Schutz dienen. Alles, was aus diesem fernen Zeitalter überdauert hatte, war gefährlich.

    Das konnte ich Tante Meg natürlich nicht erzählen, weshalb ich ihr eine alternative Theorie präsentierte.

    "Vermutlich brauchte er die Biester für seine Vernunftprüfungen. Als Gruselelement. Solche Sachen hat er ja gerne gemacht."

    "Aber warum in seinem eigenen Haus?", überlegte Tante Meg. Eine Antwort lieferte sie glücklicherweise gleich selbst. "Der Heidelbeerwein. Je mehr er trank, desto seltsamer wurden seine Taten. Lass bloss die Finger von dem Zeug. Du siehst ja, wohin der Mißbrauch von Rauschtränken führen kann."

    "Habt ihr denn auf dem Dachboden etwas Interessantes gefunden?", fragte ich harmlos.

    "Da war gar nichts", stellte sie fest. "Nicht einmal Staub. Er hat gründlich sauber gemacht." Sie wies auf die falsche Spinne. "Behalte sie. Leg sie am besten auf deinen Nichttisch, damit du dich an den Anblick gewöhnst. Ehrlich mal, ein junger Mann darf doch keine Angst vor Spinnen haben. Das ist lächerlich. Sonst bist du doch auch kein Feigling."

    Ihr Blick fiel auf die großen Körbe, in denen ich meine Sellerieeinkäufe nach Hause transportiert hatte "Was soll das denn?"

    "Ein Sonderangebot", behauptete ich. "Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen. Für die Küche des Heilerhauses."

    Tante Meg nickte anerkennend. "Endlich denkst du mal wirtschaftlich und kümmerst dich sogar um gesunde Ernährung. Wer weiß, vielleicht wirst du ja doch noch erwachsen! In einer Stunde gibt es Abendessen. Bringe die Körbe bitte nach unten."

    Nachdem sie gegangen war, setzte ich mich erst einmal hin, wobei ich es vermied, das Spinnenimitat anzusehen. Echt oder falsch, ich hasste dieses Ungeziefer.

    "Die Spinnen sind nicht echt, du Idiot". Agnathas Botschaft bewies zweierlei. Erstens, dass ich wirklich ein Idiot gewesen war. Und zweitens, dass Agnatha nicht nur in meiner Einbildung oder in der Wahnwelt ihrer Mutter existierte. Kein Zweifel mehr. Es gab sie wirklich. Womöglich war sie gerade hier und beobachtete mich.

    "Ich weiß, ich weiß", sprach ich in den leeren Raum hinein. "Bisher habe ich nichts unternommen, um dein Grab zu finden. Aber ich habe ja auch keine Ahnung, wo ich suchen soll. Du willst, dass ich Onkel Bernies Sammlung inspiziere? Weil es dort etwas gibt,das dir helfen könnte? Da hast du Glück. Eine Gelegenheit ergibt sich schon morgen."

    Es erwies sich als durchaus praktisch, dass ich zu Gerds und Thusneldas Hauseinweihungsfeier antreten musste. Auf diese Weise würde ich unauffällig in Onkel Bernies großes Anwesen gelangen. Natürlich auch auf den Dachboden. Aber jetzt wartete erst einmal das Abendessen. Tante Meg bestand darauf, dass ich mich umzog, bevor ich an ihrem Tisch erschien. Als ich meine Jacke auszog, fiel mir etwas auf. In einer der Innentaschen ertastete ich etwas Hartes, Rechteckiges. Es fühlte sich an wie Metall. Was sich als wahr herausstellte. Eine bronzene Tafel. Mit winzigen Symbolen bedeckt. Unter der Überschrift "Lukku". Die Mondelfen hatten mich wirklich besucht! Es war kein Traum gewesen! Dabei hatten wir noch nicht einmal Vollmond!

    Mir war klar, dass ich viel zu wenig über diese Wesen wusste. Sie hatten Agnatha entführt und einem schrecklichen Schicksal überantwortet. Mit der Schwarzen Witwe schienen sie zusammenzuarbeiten, doch ohne sich um deren Befehle zu kümmern. In manchen Nächten stiegen sie zur Erde hinab, um an Stätten des Alten Reiches nach Schriften zu suchen und nach Menschen, die diese lesen konnten. Wenn man den Autoren der Bücher glauben wollte, welche Agnatha auf ihrer Insel gehortet hatte, waren sie im Dunklen Zeitalter gefürchtet worden. Und jetzt suchten sie mich auf und übergaben mir diese Schrifttafel. Was erwarteten sie von mir? Das Anfertigen einer Übersetzung?

    Noch einmal nahm ich das Artefakt in Augenschein. Während meines Erlebnisses, das mir wie ein Traum vorgekommen war, hatte ich "Lukku" in Gedanken in meine Muttersprache übertragen. Vorsichtshalber wiederholte ich das mehrfach durch lautes Aussprechen. Bis es mir klar wurde. "Auserwählt" war falsch. Das genaue Gegenteil traf zu. Nicht auserwählt! Die Verneinung. Wollten mir die Mondelfen auf diese Weise mitteilen, dass sie mich nicht benötigten? Dagegen hatte ich gar nichts einzuwenden, falls sie mich von nun an in Ruhe ließen.

    Bevor ich mich zu früh freute, betrachtete ich noch einmal die Symbole, die unter der Überschrift eingraviert waren. Es handelte sich nicht um Buchstaben, sondern um Abbildungen von Wetterereignissen. Da waren ein Blitz, eine Regenwolke, eine Schneeflocke, eine Windhose und eine Sonnenscheibe. Zu übersetzen gab es nichts. Nur zu betrachten.Behutsam berührte ich das Blitzzeichen. Nichts geschah, ehe mir einfiel, dass man im unheimlichen Alten Reich gerne mit Blut gearbeitet hatte. Also schnitt ich mir ganz leicht in meinen linken Daumen, den ich auf den Blitz drückte.

    Was wieder einmal äußerst leichtfertig war, wie ich sogleich feststellte. Denn etwas begann an der Wunde zu saugen. Erschrocken versuchte ich, mich von der Bronzetafel zu lösen, aber es ging nicht. Sie trank mein Blut. Meine Hand fühlte sich schon ganz taub an. Es gab nur einen Ausweg. Ich musste mir den Daumen abschneiden. Als ich mit der rechten Hand zum Messer griff, um diesen verzweifelten Plan in die Tat umzusetzen, fiel das Ding von mir ab. Gleichzeitig zerriss ein Donnerschlag die abendliche Stille in unserer friedlichen Strasse. Unwillkürlich sah ich aus dem Fenster. Da draussen stand ein Baum lichterloh in Flammen. Aufgeregte Nachbarn rannten aus ihren Häusern. Ein Blitz aus heiterem Himmel! So etwas hatten sie noch nicht erlebt, genauso wenig wie ich.

    Mit dem Unterschied, dass mir die Ursache bekannt war. Die Mondelfen hatten mir ein Geschenk verehrt. Von der Art, wie sie in alten Aufzeichnungen beschrieben worden waren. Mit einer dunklen, gefährlichen Seite. Es verlieh mir Macht. Konnte mich aber auch auffressen. Sehr umsichtig verstaute ich die Tafel in meinem Nachttisch. Was wohl geschähe, wenn ich die Sonnenscheibe für das nächste Experiment auswählen würde?

    17.Kapitel

    Meister Things Trick

    Teil 2

    Möglichst lautlos kehrte ich zu dem Waldweg zurück, um dem Rat des alten Meisters Folge zu leisten, der da lautete:

    "Mach, dass du weg kommst!"

    Vor zwei Büschen blieb ich stehen.

    "Hallo", sprach ich die Gewächse an. "Wo geht es denn hier zum improvisierten Befehlsstand des Kommandanten?"

    Keine Antwort.

    "Kommt schon", ermunterte ich das Grünzeug. "Ich weiß, dass ihr da drinnen seid."

    Aus dem Blätterwerk schälten sich zwei Gestalten, die sich perfekt in die Büsche eingefügt hatten, so dass sie für das menschliche Auge unsichtbar waren. Dank Mutters Lügentrank konnte ich sie aber riechen. Ich hätte die beiden sogar mit ihren Namen ansprechen können, doch das wäre zu auffällig gewesen.

    "Wie machst du das nur?", fragte Vetter Gerd, der dank grüner Farbe im Gesicht und auf den Händen sowie eines mit Blättern lückenlos bedeckten Kampfanzugs selber wirkte wie ein wandelnder Busch. "Wie haben wir uns verraten?"

    "Das liegt an der erstklassigen Kundschafterausbildung in der Jugendmiliz". meinte sein Kamerad Rajk bescheiden. Zufälligerweise war er es, der unsere Übungen in diesem Fach leitete.

    Ich ließ ihm seinen Glauben. Lästige Fragen, die womöglich zur Entdeckung des Geruchsverstärkers hätten führen können, sollten besser gar nicht erst gestellt werden.

    "Na schön, dann gehen wir mal", sagte Vetter Gerd. "Viel wirst du wohl nicht herausgefunden haben. Ich glaube kaum, dass Meister Things Bewacher tatenlos zugesehen hätten, wenn er dir etwas Wichtiges erzählt hätte."

    "Da wartet eine Überraschung auf dich", verkündete ich. "Ich habe viel erfahren. Aber suchen wir erst einmal den Kommandanten auf, damit ich nicht alles zwei Mal berichten muss."

    Der Befehlsstand konnte in der Tat als improvisiert bezeichnet werden. Er bestand aus zwei Hütten, zwischen denen mehrere Tische aufgestellt worden waren. Über einen beugten sich gerade Onkel Gerd und ein anderer hoher Offizier. Sie betrachteten eine Landkarte. Vetter Gerd und Rajk nahmen Haltung an, was in ihrer Verkleidung ein wenig komisch wirkte. Trotzdem tat ich es ihnen gleich. Mein Onkel war ein umgänglicher Mann, aber im Dienst bestand er auf militärischer Disziplin. Als er uns bemerkte, erstattete Vetter Gerd in der vorgeschriebenen Art und Weise Meldung.

    "Kundschafter zurück vom Einsatz. Keine Feindberührung. Keine Verluste. Mission abgeschlossen. Kundschafter Gustav Wasa kann über den Erfolg berichten."

    "Da bin ich ja mal gespannt", bemerkte der Kommandant. Das waren meine beiden Begleiter wohl auch. Immerhin hatten sie beobachtet, wie ich in Hörweite seiner Bewacher mit Meister Thing gesprochen hatte. Was konnte er mir unter diesen Umständen schon verraten haben?

    "Steht bequem und folgt mir in die Hütte", befahl Onkel Gerd. Er und der andere Offizier nahmen dort hinter einem weiteren, unter Karten und allerlei Papieren begrabenen Tisch Platz, und ich nahm wiederum Haltung an.

    "Kundschafter Wasa meldet: "Dem ehrwürdigen Meister Thing ist es gelungen, mir den folgenden Bericht zu übermitteln:

    Etwa vierzig Personen sind in seinem Haus einquariert. Etwa zwanzig beschreibt er als fremdartig, stets in Kutten einher gehend, das Tageslicht scheuend. Geschätzte weitere zehn als professionelle Kämpfer und noch einmal so viele als gewöhnliche Kriminelle. Angeführt werden sie von einer Frau in Witwentracht. Der junge Fredrik lebt. Weil sie mit seiner Ermordung drohen, bereitet der Meister ihnen Traumweiß und den Berserkertrank. In großen Mengen. Meister Lurra, den Direktor des Heimatmuseums, haben sie auch. In sechs Tagen wollen sie das Haus verlassen und zur Alten Mühle aufbrechen. Von dort aus soll der große Schlag erfolgen:"

    Ich verstummte. Meldungen hatten kurz und knapp zu sein und sollten sich auf das Wesentliche beschränken. Kein Geschwätz, keine Ausschmückungen, und erst recht keine Vermutungen.

    "Hat der ehrwürdige Meister dir das einfach so gesagt?", wollte der andere Offizier wissen. Glücklicherweise fiel mir sein Name wieder ein. Hauptmann Errikson. Als ungeschlagener Meister in diesem schönen Sport hatte er uns während unserer Ausbildung Boxunterricht erteilt. Eine Erfahrung, auf die ich ungern zurück blickte

    "Nein, Herr Hauptmann", erwiderte ich. "Das wäre nicht möglich gewesen, weil unsere Gegner jedes Wort vernahmen, das wir laut aussprachen. Meister Thing bediente sich daher unserer Gestensprache. In einer Weise, die von den Wachen nicht bemerkt werden konnte. Wenn ich das einmal vorführen darf?"

    Onkel Gerd nickte auffordernd.

    Ich streckte die linke Hand aus und ließ sie genauso zittern, wie das bei echten Opfern der Schüttellähmung zu sehen war.

    "Wie Ihr Euch erinnert, Kommandant, habe ich der Obfrau des Heilerhauses bei der Betreuung von Patienten geholfen, die an der Zitterkrankheit litten. Daher kenne ich deren Erscheinungsbild. Genau dieses erblickt ihr jetzt. Bei Meister Thing sah das aber anders aus. Und zwar so.

    Ich fügte die Botschaft hinzu, "Verstehst du mich?", und verbarg sie in der natürlich erscheinenden Zitterbewegung.

    "Ich sehe keinen Unterschied", gab Hauptmann Errikson zu.

    "Dann mache ich es etwas deutlicher", kündigte ich an.

    "Warte mal", sagte Onkel Gerd zögernd. "Irre ich mich, oder lese ich da: "Verstehst du mich?"

    Er wandte sich an seinen Sohn und Ausbilder Rajk. Vetter Gerd nickte. "Das sehe ich auch", bestätigte er.

    Hauptmann Errikson seufzte. "Ich immer noch nicht. Etwas klarer, bitte."

    Den Gefallen tat ich ihm, woraufhin sich seine Miene aufhellte. "Verstehst du mich, tatsächlich", rief er aus.

    "Die ganze Botschaft in dieser Deutlichkeit, bitte", ordnete Onkel Gerd an. "So fällt die Entzifferung leicht, wenn man erst einmal weiß, wonach man suchen muss. Zeig es uns noch mal, wie du es in der zweiten Vorführung getan hattest."

    Die Sache schien ihn so zu faszinieren, dass er die militärischen Gepflogenheiten ganz vergaß und mich duzte. "Wiederholen", befahl er. "Noch mal. Und nun zeige uns genau das, was du gesehen hast." Es dauerte eine Weile, bis sich meine Zuschauer an diese Darstellungsweise gewöhnt hatten, aber schließlich waren sie allesamt überzeugt.

    "Der alte Fuchs!", rief er bewundernd aus. "Und die Bewacher haben wirklich keinen Verdacht geschöpft?"

    "Sie lauschten nur, aber ohne in unsere Richtung zu blicken", gab ich zurück. "Mit so etwas haben sie wohl nicht gerechnet."

    "Hätte ich auch nicht", meinte der Hauptmann. "Aber wie konnte dir diese winzige Abweichung in diesem Zittern auffallen?"

    Die Beantwortung dieser Frage übernahm Onkel Gerd. "Ich erinnere mich an eine Unterrichtseinheit, die Meg für ihn ausgearbeitet hatte. Es ging um die Schüttellähmung. Viel Theorie, aber auch Besuche bei den Patienten und lange Berichte, die er über seine Beobachtungen zu schreiben hatte. Die Symptome kannte er also genau."

    "Denkst du, dass das Leiden bei dem Meister echt ist?", wandte er sich an mich.

    "Nein, Kommandant", antwortete ich. "So viel Kontrolle könnte ein wirklich Erkrankter nicht mehr über seine Hand ausüben. Er simuliert, wohl schon eine ganze Weile. Wahrscheinlich hoffte er, dass irgendwann jemand kommen würde, der die Nachricht entschlüsseln würde."

    Na, dann haben wir ja genau den Richtigen geschickt", stellte Onkel Gerd zufrieden fest. "Gute Arbeit, Kundschafter. Wie ging es dann weiter, nach dem Gespräch?"

    "Der ehrwürdige Meister wurde plötzlich sehr müde. Oder er tat nur so. Daraufhin beendeten seine Bewacher den Besuch und forderten mich auf zu gehen. Während des Rückmarsches begab ich mich kurz in die Deckung des Waldes, weil mir die Schwarzgekleidete entgegen kam. Der Meister hatte mich vor ihr gewarnt. Weshalb ich ihr auswich. Einen Moment lang schien es so, als ob sie mich bemerkt hätte. Doch schließlich ging sie weiter. Mehr habe ich nicht zu berichten."

    "Etwas hinzuzufügen?", fragte Onkel Gerd seinen Sohn und dessen Begleiter

    "Nein, Kommandant", erwiderte Vetter Gerd. "Was Kundschafter Wasa wiedergab, entspricht genau unseren Beobachtungen. Nur dass wir lediglich das Zittern wahrnahmen. Von der verborgenen Botschaft bemerkten wir nichts. Ist ja auch nicht unser Fachgebiet."

    Ich räusperte mich.

    "Ja?", fragte Onkel Gerd.

    "Nun, für den Fall, dass ihr vorhabt, die feindliche Kolonne auf dem Marsch zur Alten Mühle anzugreifen oder das Anwesen selbst zu stürmen, dürfte es sicherlich zu heftigen Kämpfen kommen. Vielleicht könnten die Feldschere Hilfe gebrauchen? Bei der Versorgung von Verwundeten?"

    "Da hat ja einer Blut geleckt", lachte Hauptmann Errikson. "In der Miliz erlebt man eben was. Zwei unserer Heiler gehen bald in den Ruhestand. Dich könnten wir gebrauchen. Auch als Kundschafter bist du geeignet. Schon mal über einen Wechsel nachgedacht? Ach nein , lieber nicht. Obfrau Meg würde das gar nicht gut aufnehmen."

    "Das ist noch zurückhaltend ausgedrückt", kommentierte mein Onkel. "Aber ich verstehe den Jungen durchaus. Etwas lässt sich da schon machen. Kein Kampfeinsatz,natürlich. Aber Dienst in einem Sanitätsstützpunkt, hinter der Gefechtszone, das regle ich für ihn."

    Er erhob sich. "Fähnrich Ulquist, Fähnrich Larisch, das Einsatzkommando wieder in den normalen Dienst zurückführen, abrüsten und ausführliche Tagesberichte abfassen. Die will ich morgen auf meinem Schreibtisch sehen. Kundschafter Wasa, Euer Dienst ist für heute beendet. Einsatzbericht erstellen und morgen früh abliefern. Wegtreten."

    Wieder standen wir stramm, um anschließend den Befehlsstand zu verlassen. Während sich Rajk entfernte, um den Milizsoldaten mitzteilen, dass der Sturm auf das Haus des alten Meisters heute doch nicht erfolgen würde, nahm mich Vetter Gerd beiseite.

    "Du denkst doch nicht ernsthaft daran, zur Miliz zu wechseln?", fragte er.

    "Natürlich nicht", beruhigte ich ihn. "Es ist immer noch mein Traum, ein Heilmittel gegen die Geschwürkrankheit zu finden. Wie du weißt, haben Meg und Mia das gefährliche Alter erreicht. Das macht mir Sorgen."

    Uns allen", stellte Gerd fest. " Und ich bin sicher, Mutter und du, ihr werdet Erfolg haben. So ein kleiner Einsatz bei der Miliz nebenbei kann da sogar nützlich sein. Dann kommst du vielleicht auf andere Gedanken. Doch falls du von Freiheit und Abenteuer träumst, stell dir den Dienst nicht zu romantisch vor. Dein Einsatzbericht hat morgen pünktlich zur siebten Stunde vorzuliegen. Mindestens zehn Seiten, vorschriftsmäßig gegliedert. Was gar nichts ist, verglichen mit dem Papierkram, der mich erwartet. Als kleinen Fähnrich! Vater ertrinkt förmlich in Verwaltungszeug. Keine Heldentat ohne anschließende einsame Stunden im Büro, lautet unser Motto. Mach dich lieber gleich an die Arbeit. Verspätungen werden ganz ungnädig aufgenommen."

    Es war rührend, welche Mühe sich der gute Vetter gab, um mich von einem gefährlichen Lebensstil fernzuhalten. Dabei war er es, der bislang ein relativ geruhsames Dasein genossen hatte, verglichen mit mir. Seine größte Sorge war das Einfangen randalierender, besoffener Schweine gewesen, während ich mich mit lebenden Leichen und Berufsmördern herumschlagen durfte. In fünf Tagen jedoch würden wir uns den gleichen Gefahren aussetzen, wenn die Miliz gegen die Truppen der Schwarzen Witwe vorging, ohne auch nur zu ahnen, worauf sie sich einließ. Gegen Untote hatten die Männer noch nie gekämpft. Meine Freunde und ich würden sie verdeckt unterstützen müssen, wozu wir die Hilfe der Roten Witwe benötigten. Nachdem ich mich von Gerd verabschiedet hatte, lenkte ich meine Schritte zum Marktplatz, wo ich an Sellerie Selmas Stand alles erwarb, was sie an diesem Gemüse anzubieten hatte. Das war das Signal. Wenn die rot Gekleidete mit uns Kontakt aufnahm, sollte ich allerdings ihren verstärkten Berserkertrank fertig gestellt haben. Ein arbeitsreicher Abend erwartete mich, gefolgt von einem Tag, der ebenso wenig Ruhe und Entspannung verhieß.

    Diese beiden Begriffe schienen sich aus meinem Wortschatz verabschieden zu wollen.

    17.Kapitel

    Meister Things Trick

    Teil 1

    Wenige Stunden später stand ich vor dem Haus des alten Trankmeisters Thing. Als einzigem Bürger war ihm erlaubt worden, sich in dem Wäldchen niederzulassen, das auch das Heilerhaus und das Narrendorf beherbergte. Niemand neidete ihm dieses Privileg, denn immerhin war er der Erfinder der meisten unserer Heilmittel, unterstützt von wechselnden Schülern, die er allesamt überlebt hatte. Bei dem Gebäude handelte es sich um ein klassisches Bauernhaus, lang gestreckt und mit einem Dach aus Stroh. Viel zu groß für einen einzelnen Mann und seine wenigen Diener, wäre da nicht seine umfangreiche Sammlung aller nur denkbaren Elixiere, Tränke und Salben gewesen. Jede Substanz, die zur Bereitung einer Medizin geeignet war, konnte man hier finden. Wer Traumweiß herstellen wollte, war an diesem Ort genau richtig. Ich klopfte an die Tür und richtete mich auf eine längere Wartezeit ein. Dabei hätte es mich nicht gewundert,wenn die Bewacher des Meisters gar nicht reagiert hätten, in der Hoffnung, dass ich dann unverrichteter Dinge wieder abziehen würde. Mit einem Angriff rechnete ich nicht. Tagsüber würden sie das wohl kaum wagen. Sicherheitshalber hatte mich die Miliz aber mit einem Arsenal verborgener Waffen und einem Brustpanzer ausgestattet. Zusätzlich verfügte ich auch noch über die Kraft des Berserkertrankes. Das stimmte mich einigermaßen zuversichtlich.Doch der Vormittag hatte es bewiesen. Böse Überaschungen waren immer möglich.

    Die Tür öffnete sich. Der Mann, der sich vor mir aufbaute, hätte Kleiners Vetter jederzeit einen ausgeglichenen Kampf liefern können. Ich musste zu ihm aufsehen. Ob der Berserkertrank ausreichte, um mit diesem Riesen fertig zu werden? Vielleicht ging das ja auch mit meinem neu erworbenen Adelsrang.

    "Wenn ich mich vorstellen darf", begann ich und ärgerte mich gleichzeitig über mein von mangelndem Standesstolz geprägtes Auftreten, "Mein Name ist Gustav aus dem Hause Wasa. Und ich bin hier, um dem ehrwürdigen Meister dieses Mikroskop zurückzubringen, das ich in meinen Händen halte." Bevor ich energisch hinzufügen konnte, dass dies selbstverständlich persönlich und augenblicklich zu erfolgen hätte, nickte mein Gegenüber auch schon.

    "Selbstverständlich, hoher Herr", lautete die verblüffend höfliche Antwort. "Um diese Zeit nimmt der Hausherr immer seinen Nachmittagskräutertee ein. Im Garten. Wenn Ihr Euch schon einmal dorthin begeben wollt?"

    Es folgte eine kurze Verbeugung, und die Tür wurde wieder geschlossen, auf zivilisierte Art und Weise, und nicht etwa rüde zugeknallt. Was man als bemerkenswerten Taktikwechsel bezeichnen konnte. Also würde ich tatsächlich die Gelegenheit erhalten, mich mit dem Meister zu unterhalten. Natürlich unter den wachsamen Augen seiner Bewacher. Dass Meister Thing unter diesen Umständen imstande sein würde, mir brauchbare Informationen zukommen zu lassen, wagte ich zu bezweifeln. Immerhin weilte er noch unter den Lebenden. Was ich als gute Nachricht verbuchte.

    Während ich mich auf den Weg zum Garten machte, dachte ich noch einmal über Agnathas seltsame Botschaft nach. " Die Spinnen sind nicht echt, du Idiot!" Die Ausdrucksweise passte zu der Adelstochter. Es leuchtete auch ein, dass sie zu ihrer Mutter mit einer deutlichen Ansage durchgedrungen war, obwohl das bei mir in siebzehn Jahren nicht funktioniert hatte. Die Bindung zwischen einer Mutter und ihrem Kind ging eben tiefer als alles andere. Und dass Agnatha diese Möglichkeit nicht früher genutzt hatte, ließ sich ebenfalls leicht erklären. Die Hohe Dame war nicht nur eine Kindermörderin, sondern eine Bedrohung für ihre Tochter, von deren Schicksal sie zumindest etwas zu ahnen schien. Daher nur eine kurze Mitteilung. Eine,mit der ihre Mutter nichts anfangen konnte. Ich allerdings auch nicht. "Die Spinnen sind nicht echt, du Idiot?"

    Unter den Apfelbäumen, die Meister Things kleines Erholungsparadies zierten, hatte sein neues Personal mittlerweile einen kleinen Holztisch und mehrere Stühle platziert. Für Kräutertee und Kuchen war auch gesorgt worden. Unauffällig setzte ich meinen verstärkten Geruchssinn ein, um mich davon zu überzeugen, dass ich diesmal nicht vergiftet werden sollte. Einmal am Tag reichte mir völlig. Kaum hatte ich mich hingesetzt, erschien schließlich der alte Meister. Ein winziges Männchen, das auf einem Sessel thronte, der von zwei kräftigen Männern getragen wurde. Der lange, weiße Bart und die ebenfalls schlohweisse Haarmähne kündeten von einem hohen Alter, während das Gesicht auf seltsame Weise jugendlich wirkte. Und ein wenig fremdartig. Manche Leute meinten, die hohen Wangenknochen und die schmalen Augen rührten von einem Unfall her, den der Trankmeister in seiner Jugend erlitten hätte. Andere vermuteten, er stamme von Leuten ab, welche vor langer Zeit aus fernen Landen in die Bergstadt gekommen wären. Geklärt werden konnte das nicht mehr, da es für die frühen Tage Things keine Zeugen mehr gab. Selbst die wenigen anderen Hundertjährigen in der Bergstadt waren damals noch Kleinkinder gewesen.

    Respektvoll erhob ich mich. Der Heiler winkte lässig ab. "Setz dich doch wieder", forderte er mich auf. "Und nimm dir ein Stück Kuchen." Seine Stimme klang wie die eines wesentlich jüngeren Mannes.

    Ich überreichte ihm das Instrument. Seine erstaunlichen Fähigkeiten sah man dem Mikroskop nicht an. Es handelte sich um ein kurzes, hölzernes Brett, an dem zwei Halterungen befestigt waren, wovon eine eine gläseren Kugel fixierte. Eine sogenannte Linse. Wer hindurch blickte, erlebte ein kleines Wunder. Alles erschien hundertfach vergrößert. Ameisen und Heuschrecken wirkten wie Ungeheuer aus den wildesten Märchen. Ein nettes Spielzeug, aber ohne wirklichen praktischen Nutzen.

    "Nun", wollte der Meister wissen. "Was sagt die das Gerät über Winifreds Theorie?" Damit spielte er auf Meister Winifred an, den ewigen Rebellen in der Wissenschaftlergemeinde, der für seine kühnen Hypothesen berüchtigt war. Seiner Auffassung nach waren zum Beispiel die Sterne nichts anderes als Sonnen, nur viel weiter entfernt von der Erde als unser Zentralgestirn. Daher wirkten sie eben kleiner. Planeten könnten diese Himmelskörper auch haben, auf denen unbekannte Menschenvölker womöglich Sonnenbäder genoassen. Das Schulamt erhob gegen solche Thesen keine Einwände, denn von Göttern oder Geistern war nicht die Rede. Von den übrigen Forschern hatte der Mann aber nur Kopfschütteln geerntet. Genauso wie für seine Überzeugung, winzig kleine, nur durch ein Mikroskop sichtbare Wesen würden Krankheiten verursachen. Wie sollte das denn möglich sein!

    "Bei der Betrachtung entzündeter Wunden könnte man auf so einen Gedanken kommen", beantwortete ich die Frage. "Da sind viele dieser Tierchen zu sehen. Aber über einem toten Reh kreisen auch die Geier. So ähnlich dürfte es sich hier verhalten. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so etwas Kleines einem Menschen gefährlich werden kann. Gegen einen Waldelefanten komme ich ja auch nicht an." Meister Thing nickte nachdenklich. Dabei fiel mir auf, dass seine linke Hand leicht zitterte. Er bemerkte meinen Blick.

    "Ja, es hat mich erwischt", sagte er. "Die Zitterkrankheit. Und laufen kann ich auch nicht mehr. Ich sage dir, werde bloß nicht alt. Das ist nichts für Weichlinge!"

    "Verstehst du mich?" Die Frage erschien plötzlich in meinem Geist, ohne dass jemand etwas laut gesagt hätte. Auch nicht die beiden Männer, die sich in Hörweite aufhielten und Gartenarbeiten verrichteten, welche offenbar dringend erledigt werden mussten. Ich schwieg verblüfft. "Verstehst du mich?", vernahm ich wieder.

    Meister Thing redete weiter. "Und wenn die winzigen Tierchen giftig wären?", fragte er. "Du weißt, dass schon ein Tropfen des Giftes der grünen Baumschlange für einen Menschen tödlich ist?"

    "Aber diese Wesen sind so klein, dass Tausende in einen Wassertropfen passen", gab ich zu bedenken. "Hinzu kommt, dass bei manchen Leiden die Wesen nicht zu sehen sind. Bei Eurer Zitterkrankheit zum Beispiel." Ich wies auf seine zitternde linke Hand. Und dabei fiel mir etwas auf. In den Zuckungen entdeckte ich einen Rhythmus, den es nicht hätte geben dürfen. Nicht bei echten Erkrankungen dieser Art, die den Patienten jegliche Kontrolle über ihre Bewegungen raubten. Doch hier sah ich sich wiederholende Muster. Botschaften. Der alte Fuchs versteckte Signale aus der Gestensprache der Miliz in seinem Zittern, das er offenbar nur vortäuschte.

    "Verstehst du mich?, las ich und sagte laut: "Ich verstehe Eure Argumentation, was Winifreds Theorie betrifft. Trotzdem kann ich mich mit dieser Sichtweite nicht so richtig anfreunden."

    "Während wir die Streitfrage weiterhin diskutierten, Kuchen aßen und Tee tranken, übermittelte mit Meister Thing unbemerkt nach und nach die Informationen, auf die es mir ankam. "Vierzig Mann. Zwanzig unheimlich, tragen ständig Kutten. Vertragen kein Tageslicht. Zehn ernstzunehmende Kämpfer. Zehn kleine Gauner. Musste ihnen Traumweiß brauen. Habe es so gestaltet, dass es bei Hitze die Wirkung verlor. Haben es später bemerkt. Muss neues bereiten. Ohne Tricks. Sonst töten sie Fredrik. Auch viel Berserkertrank. Meister Lurra haben sie auch. In sechs Tagen wollen sie sich heimlich absetzen. Zur Alten Mühle. Dann kommt der große Schlag. Das Sagen hat eine Schwarzgekleidete. Witwentracht. Sehr gefährlich. Gerade nicht da. Mach, dass du wegkommst."

    Der Alte gähnte ausgiebig, was seine falschen Betreuer sofort zum Anlaß nahmen, unser kleines Gespräch zu beenden.

    "Seht Ihr nicht, wie müde der alte Herr ist?", herrschte mich der Hüne an, der mich an der Eingangstür so freundlich empfangen hatte. "Ihr habt ihn erschöpft". Passend zu diesem Vorwurf begann Meister Thing auch noch, lautstark zu schnarchen.

    "Tja, dann gehe ich mal wieder", sagte ich kleinlaut. "Ihr scheint ja gut für ihn zu sorgen." Die beiden Ganoven nickten grimmig. Vorsichtig erhob ich mich, deutete eine sehr schwache Verbeugung an und versuchte, möglichst entspannt zu wirken, als ob ich nicht fürchtete, mich im nächsten Augenblick mit einem Messer im Rücken wieder zu finden. Dazu kam es glücklicherweise nicht. Unser Täuschungsmanöver hatte funktioniert. Also verließ ich gemessenen Schrittes den Garten und schlenderte davon, den Waldweg nutzend, der von dem Haus des Heilers weg führte und an dessen Ende mich die Späher der Miliz erwarten würden. Vermutlich hatten sie mich die ganze Zeit im Blick gehabt. Ich freute mich schon darauf, Onkel Gerd zu berichten, was ich alles herausgefunden hatte. Wobei ich die Sache mit dem Traumweiß für mich behalten würde. Meister Thing musste gewusst haben, dass uns das Gift in die heiße Suppe gemischt werden sollte. Also hatte er es so verändert, dass bei Erwärmung schwächer wurde. Äußerst raffiniert. Nur so war es zu erklären, dass wir nicht in Trugbildern versanken, die uns wehrlos gemacht hätten. Gut für uns, unerfreulich für das Schulamt. Die Traumweißgeschichte fiel in sich zusammen. Wer konnte wissen, wie sie darauf reagieren würden? Diese Art von Ärger konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen.

    Ein eigenartiger Geruch wehte mir plötzlich entgegen. Nach Schwefel, geschmolzenem Blei und Aas. Da die Quelle des Gestanks rasch näher kam, verließ ich den Waldweg und versteckte mich zwischen den Bäumen. Lange musste ich nicht warten, bis eine kleine, in schwarze Witwentracht gehüllte Gestalt erschien. Obwohl sie nicht sehr schnell einher ging, dauerte es nur wenige Momente, bis sie sich auf einer Höhe mit mir befand. Wie bei dem Gärtner und mutmaßlichen Frauenmörder Waldemar schien sich der Weg vor ihr zusammen zu ziehen, um dann hinter ihr wieder zu seiner ursprünglichen Länge zu finden.

    Sie blieb stehen, gab ein schnüffelndes Geräusch von sich und blickte dann in meine Richtung. Sehr langsam zog ich mein Messer und rieb es mit dem geweihten Salz ein, das Lehrer mir mitgegeben hatte. Die Frau ging auf mein Versteck zu. Kurz bevor sie mich erreicht hatte, vernahm ich ein Rascheln. Sie offenbar auch. Mit einer blitzschnellen Bewegung griff sie in ein Gebüsch und förderte einen Feldhasen zu Tage, dem sie zuerst das Genick brach, worauf sie das arme Tier anschließend unter ihren Witwenschleier schob. Sie schien ihre Beute in einem Stück zu verschlingen, denn ich hörte kein Zersplittern von Knochen, nur ein leises Würgen. Noch einmal blickte sie in meine Richtung, ehe sie sich dann doch abwandte und ihren Marsch zu Things Haus fortsetzte. Mein Herz raste. Endlich strömte wieder Luft in meine Lungen. Ob ich diesmal genauso leicht mit ihr fertig geworden wäre wie Soße im Geisterhaus? Das war fraglich. Sie war stärker geworden. Gefährlicher. Und vor allem gruseliger.

    Rebel Moon 2 habe ich mir auch angetan. Aus seinen Fehlern in Teil 1 hat Zack Schneider nur gelernt, dass es noch schlimmer geht.

    Die erste Hälfte ist Langeweile pur. In aller Breite wird gezeigt, wie ein Weizenfeld abgeerntet wird. Zum Teil in Slow Motion. Unter hymnischer Musik. Dazu kommen ein paar Rückblenden, jede Menge Gelaber, und endlich eine Art Selbsterfahrungsgruppe, in der alle von ihren Gefühlen erzählen.

    Kurz bevor die Langeweile mich ins Traumland befördern konnte, kam dann der Wake-Up-Call.

    In Gestalt des brutalsten Sci-Fi-Kriegsfilms, den ich je gesehen habe. Star Ship Troopers ist nichts dagegen, wobei dieser Film wenigstens etwas satirische Distanz bot. Davon war bei Rebel Moon 2 nichts zu bemerken. Statt dessen die reinste Kriegsbesoffenheit. Heroisches Sterben, gnadenloses Abschlachten der gesichtslosen Feinde.

    Die Story blieb dämlich. Ein galaktisches Imperium schickt ein Kriegsschiff los, um einem Dorf mit vielleicht zweihundert Einwohnern die Ernte zu stehlen. Das erinnert an Leute, die Hunderte Kilometer fahren, weil dort das Bier um 3 Cent billiger ist. Dieses Imperium muss man nicht bekämpfen. Es dürfte von selbst pleite gehen.

    Kräuter und die Mondelfen

    16.Kapitel

    Kein Mutterherz

    Teil 4

    "Wann bist du geboren?", fragte die Hohe Dame.

    " Im Jahre 63 der Aufklärung, achter Monat, zwölfter Tag", antwortete ich. Im Dunklen Zeitalter hatten die Monate farbenfrohe Namen tragen dürfen. Erntemond. Schneemond. Damit hatten die Aufklärer Schluss gemacht, weil der neue Geist der Nüchternheit auch im Kalender sichtbar werden sollte.

    "Was war die größte Peinlichkeit in deinem Leben?"

    Beinahe hätte ich laut gelacht. Wenn Schlichter und Lehrer das hätten miterleben dürfen!

    "Während einer Geburtstagsfeier probierte ich von der Bowle und musste mich übergeben. Ein Teppich wurde ruiniert. Ich habe mich nicht zu meiner Schuld bekannt und in Kauf genommen, dass ein Hund bestraft wurde."

    "Ein Hund wurde bestraft?" Die Hohe Dame, Mörderin von sechs kleinen Mädchen, war ernsthaft entrüstet. "Das musst du unbedingt in Ordnung bringen. Eine formelle Entschuldigung wäre ja wohl das Mindeste! Und was bedauerst du am meisten?"

    "Dass ich damals den Bürgermeister seinen Weg habe gehen lassen", erwiderte ich wahrheitsgemäß. "Ich meine, Erik Gurlasson. Wir nannten ihn so, weil er oftmals sagte: "Wenn ich Bürgermeister wäre!". Ich hätte ihn notfalls mit Gewalt hinter mir her schleifen sollen. Dann würde er jetzt noch leben."

    "Ja, ich hörte davon", sagte Agnathas Mutter. "Eine Tragödie. Aber es war seine Entscheidung. Hör auf, dir deswegen Vorwürfe zu machen. Die Ausbildung in der Jugendmiliz ist nun einmal hart und sollte es auch sein."

    "Er war ja auch kein Hund", hätte ich am liebsten bemerkt, ließ es aber lieber bleiben.

    "Kommen wir zu etwas ganz anderem" fuhr sie fort. "In welchem Verhältnis stehst du zu meiner Tochter?"

    Bisher war ich mit der Wahrheit durchgekommen. Von nun an stand hemmungsloses Lügen auf dem Aufgabenzettel.

    "In gar keinem", erklärte ich mit Unschuldsmiene.

    "Sie hat nie zu dir gesprochen? Auch nicht im Sommerhaus meiner Famlie? Es besteht keine Verbindung? In Träumen vielleicht? Auch Tagträumen? Oder verspürst du manchmal ein Gefühl der Nähe?"

    Ein erfahrener Verhörspezialist hätte ihr sagen können, dass es keine gute Idee war, mehrere Fragen auf einmal zu stellen, wenn man den Betreffenden nicht verwirren wollte. Wie auch immer sie an den Wahrheitstrank gelangt war, von der korrekten Anwendung verstand sie nichts. Das wertete ich als Vorteil und antwortete schlicht: "Nein".

    Sie schwieg, offenkundig überrascht. Da sie voll und ganz auf die Wirksamkeit des Elixiers vertraute, hakte sie nicht nach, sondern ging zu einem neuen Thema über.

    "Das Bildnis Agnathas im Sommerhaus. Hast du es gesehen?". Ich bejahte. "Und ist dir etwas daran aufgefallen? Eine besondere Ausstrahlung? Als ob sie dich aus dem Gemälde heraus ansähe?"

    "Nein", sagte ich entschieden. Die Hohe Dame schien wohl etwas zu ahnen. Vielleicht wusste sie sogar, dass Agnatha als eine Art Geist noch existierte und mit mir in Kontakt stand. Wie eine besorgte Mutter klang sie nicht. Eher wie eine Jägerin, die Witterung aufgenommen hatte. Diese Frau war äußerst gefährlich, nicht nur für mich, sondern noch mehr für ihre eigene Tochter.

    "Weißt du, ob das Bild den Brand überstanden hat? Und wo es jetzt aufbewahrt wird?"

    Auch in dieser Hinsicht musste ich sie enttäuschen. Doch ihr Wissensdurst war immer noch nicht gestillt.

    "Glaubst du, was Meister Nossfu damals über mich gesagt hat? Dass ich die Vollmondmorde begangen hätte?"

    Jetzt wurde es brenzlig. "Nein", antwortete ich, obwohl ich es besser wusste. Was ich ihr nicht unbedingt auf die Nase binden wollte.

    "Und warum nicht?"

    "Das hättet Ihr unmöglich schaffen können. Als Frau, und dann auch noch aus den höchsten Kreisen. Sieben Mädchen zu entführen und in Euren Sommersitz zu verschleppen, ohne von jemandem gesehen zu werden. Außerdem wurde die Leiche des siebten Kindes im Haus des Mörders gefunden."

    Diese Aussage entlockte ihr ein schadenfrohes Lächeln. "Ja, das siebte Mädchen", sagte sie. "Dieser Sittenstrolch aus dem Roten Viertel wollte, dass sein Verbrechen als Teil einer Serie angesehen und mir zugeschrieben werden sollte, sobald man mich gefasst hätte. Aber es kam umgekehrt. Meine Taten sind jetzt seine. Ist das nicht zum Lachen?"

    "Nein", kommentierte ich. Einen Augenblick lang wirkte die Hohe Dame verblüfft, bis ihr klar wurde, dass rhetorische Fragen genauso den Antwortreflex auslösten.

    "Glaubst du mir?", fragte sie. "Oder denkst du, ich bilde mir das alles nur ein? Immerhin sitze ich im Narrenhaus?"

    Es war mir nicht ganz klar, was sie hören wollte. Daher musste ich ein Risiko eingehen. "Letzteres", sagte ich. "Das bildet Ihr Euch nur ein."

    "Was sagst du dazu?", wollte sie wissen. Sie griff nach ihrer Halskette, die zum Teil von ihrem Kleid verdeckt wurde, und förderte das Schmuckstück zu Tage. An den Perlen waren Haarsträhnen befestigt. Alle blond. Sechs an der Zahl.

    "Das sind meine Mädchen", sagte sie liebevoll. "Ich trage sie immer bei mir. Astrid,Hella,Britt,Svenja,Lisa und Mia. Ich hätte noch eine siebte benötigt, aber die Miliz stürmte mein Haus, bevor ich sie mir holen konnte. Hinweise auf die toten Kinder fanden sie nicht. Aber die okkulten Bücher und den Blutstein. Magieverwirrtheit, lautete daher die Diagnose. Gib es zu, das ist nun aber wirklich lustig. Du glaubst mir immer noch nicht? Warum nicht?"

    "Ich sehe kein Motiv", erwiderte ich. "Warum hättet Ihr so etwas tun sollen? Ihr kommt mir nicht verrückt vor." In der Tat wirkte sie völlig vernünftig. Nicht wie eine Irre, die kichernd kleine Kinder zu einem Opferstein schleifte, um deren Blut zu vergießen. Es musste ihr gelungen sein, die Leichen der Mordopfer sowie alle Spuren restlos zu beseitigen. In diesem Punkt hatte der neue Lehrer gelogen. Die Miliz hatte sie nicht auf frischer Tat ertappt und anschließend ihre Untaten vertuscht. Plausibler erschien mir die Theorie, dass ihre Bücherkäufe Aufmerksamkeit erregt hatten. Das war die Schwachstelle in ihrem Plan gewesen. Die Wachsamkeit der Behörden in dieser Hinsicht hatte sie unterschätzt. Und so wurde eine sechsfache Mörderin als Magiegestörte einer Therapie teilhaftig, dank Meister Fruud sogar im Besitz ihrer Lektüre und des Blutsteins.

    "Meine Beweggründe willst du erfahren", stellte sie fest. "Was waren deine Motive, als du bei der Tötung des kleinen Ole Wingard geholfen hast?"

    "Die Geschwürkrankheit", antwortete ich. " Er hat schrecklich gelitten. Die Schmerzen waren unerträglich. Es gab keine Hoffnung."

    "Eine entsetzliche Erkrankung, fürwahr", gab mir die Hohe Dame recht. "Es trifft nur Kinder zwischen fünf und acht Jahren. In dieser gefährlichen Zeit achten Eltern auf die kleinsten Anzeichen. Obwohl es ihnen nichts nützt. Doch wenn sich die Geschwüre erst einmal bilden, vermag die Heilkunst nichts mehr dagegen auszurichten. Die Kleinen werden auf das Gräßlichste entstellt. Die Gewächse saugen sie aus und bereiten ihnen furchtbare Qualen. Oftmals bleibt den Heilern nichts anderes übrig, als die Agonie der armen Kinder sanft mit Mohnsaft zu beenden. Ich mache deiner Tante Meg und dir keinen Vorwurf. Es war das Barmherzigste, was ihr tun konntet. Und natürlich kein Mord."

    Mir war schleierhaft, woher die Frau dies alles wusste. Aber leider hatte sie recht. Das einzig Gute an dem Leiden war der Umstand, dass es selten auftrat. Im Heilerhaus lebten nie mehr als dreißig betroffene Kinder, die nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus den ländlichen Gebieten kamen. Man hatte ihnen eine eigene Abteilung eingerichtet, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. Und wo sich die Heiler und die Schwestern alle Mühe gaben, für ihre jungen Patienten so etwas wie einen Anschein von Normalität zu erzeugen. In den frühen Stadien der Erkrankung war das noch möglich. Später nicht mehr. Ich erinnerte mich an Ole. Über zwei Jahre lang hatte er sein Schicksal tapfer ertragen. Bis er über und über mit Geschwüren bedeckt war und die Schmerzmittel nicht mehr wirkten. Mit der Zustimmung seiner Eltern und meiner Hilfe hatte ihm Tante Meg eine tödliche Dosis eines Schlaftrankes verabreicht. Mir hatte sie gesagt, dass ein Heiler über die innere Stärke verfügen müsste, um auch eine solche Aufgabe bewältigen zu können. Ich hatte mich zusammengerissen. Trotzdem packte mich immer noch das kalte Grauen, wenn ich an diesen Tag zurück dachte. Es war das Schrecklichste, was ich je erlebt hatte.

    "Du fragst dich, warum ich dich auf diese Sache anspreche", vermutete Agnathas Mutter und fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten. "Deine Nichten sind sechs Jahre alt. Lebt ihr nicht in der Furcht, dass es sie treffen könnte? Und was wäre, wenn sich das Leiden ausweitete? Wenn mehr Kinder befallen würden? Hat deine Mutter nicht an einem Gegenmittel gearbeitet? Hätte sie Erfolg gehabt, wäre ihr nur ein längeres Leben beschieden gewesen?"

    Ein echtes Opfer des Wahrheitstranks wäre angesichts dieses Feuerwerks an Fragen äußerst irritiert gewesen. Ich beschloss, lediglich die letzte Frage zu beantworten.

    "Sie hat Notizen hinterlassen", berichtete ich. "Aus denen ich aber nicht schlau werde. Und ja, sicherlich hätte sie schließlich einen Heiltrank entwickelt".

    Die Frau erhob sich. "Dann komm mal mit", forderte sie mich auf und ging zu dem Artefakt aus dem Alten Reich. "Ich höre, dass du mit der Alten Sprache gut zurecht kommst. Sieh dir die Schriftzeichen an. Versuche, sie zu übersetzen."

    "Dazu muss ich laut vorlesen, was dort geschrieben steht", stellte ich klar ich und stellte mich neben sie. "Rott Dekkan", deklamierte ich. "Siffr nag." Nachdem ich die Worte mehrfach ausgesprochen hatte, war mir die Bedeutung klar. "Leben Sieben. Nacht Tod."

    "Ganz genau", erklärte die Hohe Dame. "So lautet auch meine Lösung. Man benötigt ein umfangreiches Hintergrundwissen über das Alte Reich, um den Sinn dieser Aussage entschlüsseln zu können. Der Opferstein nimmt und gibt Leben. Wer ihm sieben Leben darbringt, dem schenkt er Unsterblichkeit. Den Sieg über den Tod."

    Jetzt konnte ich mich doch nicht mehr beherrschen. "Ihr tötet Kinder, um unsterblich zu werden?", fragte ich entsetzt.

    "Was wäre gewesen, wenn deine Mutter unsterblich gewesen wäre?", fragte sie zurück. "Wenn ihr alle Zeit der Welt zur Verfügung gestanden hätte? Wären nicht schon längst alle Krankheiten besiegt? Wären sie das?"

    "Schon", sagte ich. "Aber........"

    "Was, aber?"unterbrach sie mich. "Eines Morgens fallen dir am Hals deiner Nichte Mia die charakteristischen Knötchen auf. Du weißt, was darauf folgt. Langes Leiden und elendes Sterben. Du könntest sie retten. Du könntest alle Kinder retten. Das Talent deiner Mutter hast du geerbt. Schließlich würde dir der Triumph über die Krankheit gelingen. Und bis dahin würde ich den Kleinen helfen. Denn das Blut einer Unsterblichen vermag zu heilen. Nur noch ein Opfer, und es ist vollbracht. Niemand müsste mehr um seine Kinder Angst haben. Ich werde für sie da sein. Ein Leben für Hunderte, ja Tausende, auf lange Sicht. Sollte man nicht darüber nachdenken?"

    Ja, sollte man das? Fragen dieser Art waren im Vernunftunterricht diskutiert worden. Was würdet ihr tun, so lautete die uns gestellte Aufgabe, wenn allen Bürgern der Bergstadt, vierzigtausend Menschen, der Tod drohte, und nur ihr könntet sie retten. Indem ihr ein kleines Kind umbringt. Nur eines. Wäre eine solche Tat moralisch vertretbar, im Licht der Vernunft?

    Fast alle Schüler hatten damals versucht, sich herauszureden. Das Beispiel sei unrealistisch. So etwas würde nie geschehen. Sicherlich gäbe es noch andere Auswege, die man nur finden müsse. Lediglich Schlichter hatte klipp und klar seine Ablehnung verkündet. Ein solches Vorgehen sei eindeutig als Mord zu werten und damit gegen das Gesetz. Und dem Gesetz müsse unter allen Umständen Folge geleistet werden. Gerechtigkeit solle herrschen, und wenn die Welt unterginge. Dafür bekam er nur die drittbeste Note. Etwas besser schnitten Lehrer und Soße ab. Sie hielten es für vertretbar, ein Leben zu nehmen, um tausende zu retten, fügten aber hinzu, daß sie mit der Schuld, die sie mit einer solchen Tat auf sich laden würden, niemals fertig werden würden. Zweitbeste Note. Mein pragmatischer Ansatz fand den größten Anklang. Wie, so hatte ich argumentiert, sollten das Kind und ich denn in einer ausgestorbenen Stadt überleben? Wir würden ohnehin zugrunde gehen. Das Kind wäre in jedem Fall tot. Dann doch lieber vierzigtausend Menschenleben retten. Diese Ansicht brachte mir die Bestnote ein.

    Doch würde ich das wirklich fertigbringen? Nach dem Mord an einem Kind unbeeindruckt weiter leben, denn ich hätte ja immerhin Tausende vor dem sicheren Tod bewahrt. Und wenn ich mir nun Mia und Meg in dem stets abgedunkelten Schlafsaal vorstellte,in weiten Gewändern, mit Masken vor dem Gesicht, damit die Geschwüre verdeckt waren, den nahen Tod vor Augen? Wozu wäre ich nicht fähig, um ihnen das zu ersparen? Diese Überlegungen hatten mich so beschäftigt, dass ich ganz vergessen hatte, die Frage der Hohen Dame zu beantworten. Unter dem Einfluß des Wahrheitstranks war das ein Ding der Unmöglichkeit. Aber sie schien nichts bemerkt zu haben.

    Sie lächelte. "Schön, dass du über meine Worte nachdenkst", sagte sie. "Mehr verlange ich im Augenblick gar nicht."

    "Wirst du mich verraten?", wechselte sie das Thema.

    "Nein", antwortete ich wahrheitsgemäß.

    "Und warum nicht?"

    "Weil mir niemand glauben würde. Und weil eine solche Anschuldigung die Spannungen zwischen unseren Häusern noch verstärken würde. Ein Bürgerkrieg liegt in der Luft. Ich möchte nicht derjenige sein, der ihn auslöst."

    "Sehr vernünftig", bemerkte sie. "Ich verfüge über eine beachtliche Sammlung von Schriften aus dem Alten Reich. Die Übersetzungsarbeit gestaltet sich recht mühsam. Hättest du Interesse daran, mich zu unterstützen? Wir könnten die Texte zusammen studieren."

    Ich dachte an die Schwarze Witwe, die mich ebenfalls als Übersetzer gewinnen wollte. Vielleicht war auch sie hinter dem ewigen Leben her. "Das würde mich sehr interessieren", entgegnete ich. Zweifellos beabsichtigte meine Gastgeberin, mich bei dieser Gelegenheit auszuspionieren. Dieser Spieß ließ sich aber auch umdrehen.

    "Dann werde ich einmal mit Meister Fruud Besuchstermine absprechen", kündigte sie an. "Wir sehen uns bald wieder".

    "Möchtet Ihr noch etwas Tee, junger Herr?", machte sich die Dienerin bemerkbar.

    "Äh, nein danke", lehnte ich höflich ab.

    "Die gute Wilma", lachte die Hohe Dame. "Immer einen Scherz auf den Lippen".

    Ich verbeugte mich und steuerte auf den Ausgang zu.

    "Ach, das habe ich ganz vergessen", rief sie aus. "Agnathas Botschaft".

    Überrascht drehte ich mich um.

    "Sie lautet: Die Spinnen sind nicht echt, du Idiot! Kannst du damit etwas anfangen?"

    Sie musterte mich prüfend.

    Vollkommen ehrlich entgegnete ich: " Nein. Was soll das heißen?"

    Sie winkte ab. "Bis später dann."

    Noch einmal verbeugte ich mich und war froh, als ich die Tür hinter mir schließen konnte. Endlich wieder an der frischen Luft!

    Kräuter und die Mondelfen

    16.Kapitel

    Kein Mutterherz

    Teil 3

    "Aber Meisterin Ulquist hat dich besucht, und er hier tut es auch," wandte Geister-Gertie ein. "Sie sind mutig genug dafür".

    "Weil sie als Stützen unserer Vernunftordnung gelten und aller magischen Verirrungen gänzlich unverdächtig", erläuterte Meister Drud. "Sie können sich das leisten. Gustav hat die scheinbar übernatürlichen Phänomene im Sommerhaus der Sverrig auf brillante Weise wissenschaftlich erklärt. Die ganze Stadt glaubt ihm. So konnte ein Wiederaufleben gefährlicher, abergläubischer Wahnvorstellungen verhindert werden."

    Die ganze Runde kicherte.

    "Und glaubst du auch selbst an diese Geschichte mit dem Traumweiß", fragte Sven, der ehemalige Lehrer.

    Ich entschied mich für eine vorsichtige Antwort.

    "Für meine Traumweiß-Hypothese gilt, wie für alle anderen Theorien, der Grundsatz, dass sie so lange als wahr gelten, bis sie gegebenenfalls falsifiziert werden können. Nichts ist endgültig in der Wissenschaft, wie Albert der Weise einst sagte."

    "Ganz genau", ergänzte der jüngere Sven. "Dann ist natürlich auch davon auszugehen, dass Echsenmenschen, Mondelfen und Todesfeen existieren, solange niemand das Gegenteil beweist."

    Das hielt ich für eine kühne Behauptung. Wie sollte man den Nachweis führen können, dass etwas nicht existierte? Offenbar hatte die Studiengruppe der Magieverwirrten die wissenschaftliche Methode nicht so richtig verstanden. Was allerdings nichts daran änderte, dass sie bei den Mondelfen richtig lagen.

    "Was ist das für ein Flackern in deinen Augen?", wollte Geister-Gertie wissen.

    "Ein Experiment", erwiderte ich. "Ein neuer Trank". Bevor sie das Thema weiter verfolgen konnte, nahm ich zu einem Ablenkungsmanöver Zuflucht. "Welche Therapie wird eigentlich bei Euch angewandt?", fragte ich meinen alten Lehrer. "Mir wurde erklärt, dass Meister Fruud Wahnvorstellungen nicht unterdrücken oder beseitigen, sondern in das Leben der Patienten nutzbringend einbringen möchte. Was heisst das bei euch? Beschafft er euch noch mehr Zauberbücher?"

    Das brachte den Mann zum Lachen. "Sein Konzept besteht darin", erklärte er, "mir nicht nur meine beschlagnahmten Werke zurück zu geben, sondern auch weitere aufzutreiben. Darunter auch welche, die mir völlig unbekannt waren. Er glaubt, dass die Lektüre all dieser Werke mich schließlich von deren Unsinnigkeit überzeugen würde. So dass ich als Experte für den Magie-Irrgauben wieder als Vernunftlehrer arbeiten könnte."

    "Und, funktioniert es?", erkundigte ich mich und erntete allgemeine Heiterkeit.

    "Wenn ich geahnt hätte, dass es sich hier so gut studieren lässt, hätte ich mich schon viel früher einweisen lassen", antwortete der Meister. "Übrigens winkt dir Kurt gerade zu. Offenbar hat Meister Fruud jetzt Zeit für dich."

    Ich drehte mich um. Tatsächlich stand Kleiners großer Vetter vor einer der Hütten, in der wohl der Seelenkundige residierte. Es wurde Zeit, dem Herrn meine Aufwartung zu machen. Vorher war es aber angebracht, mich von seinen Schützlingen zu verabschieden, die in aller Ruhe, unter den Augen der Obrigkeit, an einem Gegenentwurf zur herrschenden Vernunftordnung arbeiteten. Womöglich würde an diesem Ort einst eine Revolution beginnen. Direkt aus dem Narrenhaus.

    "Bestelle meiner Frau und meinen Söhnen bitte schöne Grüße", trug mir Drud auf. "Und sag ihnen, dass es mir wirklich gut geht."

    Das war nicht übertrieben. Ich fragte mich, wie Meister Fruud wohl irrsinnige Mörder behandelte. Stellte er ihnen Opfer zum Abmurksen zur Verfügung? Vielleicht Sellbstmörder, die ja auch als geistig Erkrankte galten und im Narrenhaus landeten, sofern ihre Versuche fehlschlugen. Immer noch wurden sie allerdings im Erfolgsfalle in ungeweihter Erde verscharrt. Als Mordopfer bliebe ihnen dieses Schicksal erspart. Eine Gewinner-Gewinner-Situation sozusagen, für beide Beteiligte.

    Als ich das Häuschen betrat, kam mir mein Gedankenspiel gar nicht mehr so lustig vor. Eher realistisch. Wie im Heilerhaus prangten Gemälde an den Wänden, offenbar geschaffen von den Insassen. Manche wirkten einfach nur verwirrend. Man konnte sie nicht betrachten, ohne dass sich Schwindelgefühle einstellten. Andere boten hervorragendes Material für Alpträume. Wer in dieser Hinsicht an Phantasiemangel litt, dem wurden hier äußerst eindrucksvolle Schreckensbilder geboten. Aus Wahn wurde Kunst. Ob das wirklich hilfreich war?

    Meister Fruud bedeutete mir mit einer knappen Geste, Platz zu nehmen, während er mit einem Federkiel emsig etwas in ein Journal schrieb. Womöglich Rezepte für Schönheitspflege. So einen aufgedonnerten Mann hatte ich noch nie erblickt. Sein schwarzes Haar glänzte, als ob er es mit irgendeinem Zeug eingerieben hätte. Sonnenblumenöl vielleicht, oder Butter. Dem Geruch nach zu urteilen, war beides zum Einsatz gelangt, vermischt mit Substanzen, die ich nicht bestimmen konnte. Statt eines ordentlichen Bartes begnügte er sich mit einer strichdünnen Haarlinie über seiner Oberlippe. Dazu passten schwere Ringe an jedem Finger. Kein Wunder, dass ihn Tante Meg nicht für voll nahm.

    Schließlich blickte er auf und geruhte, mich zur Kenntnis zu nehmen.

    "Der junge Gustav Wasa", stellte er fest. "Du bist wahrhaftig ein aufstrebendes Talent in deinem Fach. Deine Hautsalbe wirkt hervorragend. Ich verwende sie selbst, wie nicht wenige Männer. Doch ich stehe dazu. Bei meiner Frau zeigt sich ein sehr ordentlicher Verjüngungseffekt, den sie viel nötiger hatte als ich. Wenn der Mann besser altert als die Gattin, trägt das nicht gerade zur Harmonie bei. Ich habe dir zu danken."

    Ich starrte ihn verdattert an. "Gern geschehen", antwortete ich unbeholfen.

    Er winkte ab. "Verstehe mich nicht falsch", fuhr er fort. "Zweifellos ist das Bereiten neuer Heilmittel nicht unkompliziert, doch etwas sehr Schlichtes im Vergleich dazu, was ich hier mache. Ich rühre nicht einfach ein paar Substanzen zusammen. Mein Arbeitsfeld sind die Tiefen des menschlichen Geistes. Traum und Wahn, Schöpferkraft, Liebe und Hass, Furcht und Hoffnung. Das Rätsel des Bewusstseins. Es bedarf langjähriger Studien und großer Hingabe, um seelische Leiden verstehen und heilen zu können. Dir ist klar, dass du damit überforderst wärst."

    Diese gönnerhafte Herablassung hätte mich normalerweise zu einer passenden Erwiderung veranlasst. Doch da ich mich im Narrenhaus befand, war normales Verhalten wohl nicht angebracht.

    "Wie kann ich dann zu Diensten sein, so ganz ohne Fachkenntnisse?", erkundigte ich mich. Die kleine Spitze, die in dieser Frage versteckt war, bemerkte der Seelenkundige gar nicht.

    "Bei der Behandlung der Hohen Dame der Sverrig ist mir ein Durchbruch gelungen", verkündete er selbstherrlich. "Jahrelang sprach sie mit niemandem, außer zu ihrer eingebildeten Tochter, die natürlich längst tot ist. Ich habe diese Illusion nicht bekämpft, wie man das in früheren, unwissenden Zeiten getan hätte. Vielmehr wandte ich eine neue Methode an. Indem ich dafür sorgte, dass ihr Nachrichten aus der Aussenwelt zu Ohren kamen. Ganz nebenbei. Unauffällig. Sie sickerten in ihren Wahn ein und reicherten ihn mit realen Elementen nach und nach an. Bis sie schließlich doch Interesse an der wirklichen Welt entwickelte. Deine Abenteuer im Sommerhaus ihrer Familie beeindruckten sie wohl. Was sich darin äußert, dass sie sich nun einbildet, Agnatha hätte eine Nachricht für dich."

    "Und wie soll ich jetzt vorgehen?", wollte ich wissen.

    Der Mann lächelte. "Das sollst du eben nicht. Vorgehen. Verlass dich auf dein Gefühl. Folge deinem Instinkt. Hör zu und sprich aus, was dir in diesem Augenblick als richtig erscheint. Erzwinge nichts. Darum geht es in der Seelenkunst. Vergiss nicht, dass du es mit einem verwirrten Geist zu tun hast. Nicht mit einem gebrochenen Knochen. Nun geh. Knud wird dich zur Hohen Dame führen. Und erweise ihr natürlich den ihrer Stellung angemessenen Respekt. Es mag hilfreich sein, dass du jetzt ebenso dem Adel angehörst.Das wird sie für dich einnehmen."

    "Soll ich Euch hinterher berichten?", fragte ich.

    Lässig winkte er ab. "Es kommt nicht darauf an, was sie zu dir sagt. Sondern darauf, ob sie sich nach dem Gespräch öffnet und letztendlich mit mir spricht. Nur so kann ihr qualifizierte Hilfe zuteil werden."

    Mit diesen Worten entließ er mich Unqualifizierten. Schade, dass Tante Meg nicht da war. Wäre er mit ihr so umgesprungen, hätte sie ihn in seine Einzelteile zerlegt. Aber leider war ich immer noch ein Schüler, und er der Meister. Darauf kam es in der Heilergilde an. Mein neuer Adelsrang beeindruckte in dieser Gemeinschaft niemanden.

    Vor der Tür wartete Knud. Wir marschierten durch das Märchendorf, grüßten respektvoll den selbst ernannten Kaiser und erreichten endlich die Hütte, in der Agnathas Mutter ihr Dasein fristete. Ohne dass wir hätten anklopfen müssen, öffnete sich die Tür. Eine rundliche Frau verbeugte sich vor mir und ließ mich ein.

    "Setzt Euch doch", bat sie. "Ich unterrichte die Herrin von Eurer Ankunft."

    "Während ich wartete, sah ich mich in dem kleinen Empfangsraum um. Die Einrichtung hätte man stilvoll und dennoch gemütlich nennen können, wäre da nicht ein Gegenstand gewesen, der ungute Erinnerungen weckte. Ein Opferstein aus dem Alten Reich. Womöglich derselbe, den ich im Geisterhaus erblickt hatte. Vorsichtig beugte ich mich über dieses Relikt aus einer fernen Vergangenheit und betrachtete die eingravierten Schriftzeichen. Sie stimmten nicht mit denen überein, die ich damals, zur Zufriedenheit der Schwarzen Witwe, übersetzt hatte. Also ein weiteres, gut erhaltenes Exemplar. Hatte der neue Lehrer nicht behauptet, dass die Hohe Dame ein solches besessen hatte? Um es für ihr magischen Experimente zu nutzen? Ich konzentrierte mich auf den von dem Stein ausgehenden Geruch.

    Blutdunst stieg mir in die Nase. kein Tierblut. Menschenblut.Von sechs jungen Mädchen. Mutters Lügentrank war wirkungsvoll genug, um mir dessen sicher zu sein. Erschrocken wich ich zurück. Das musste der Opferstein sein, den die Hohe Dame seinerzeit mit dem Blut der Kinder benetzt hatte, um Agnatha aus dem Reich der Toten zurück zu holen. Sie war also wirklich eine wahnsinnige Mörderin. Und der Seelenheiler überließ ihr das Ding auch noch! Zu Therapiezwecken!

    "Die Hohe Dame ist nun für Euch bereit", riß mich die Stimme der Dienerin aus meinen Gedanken. Sie war dabei, den Tisch zu decken. Eine Teekanne, zwei Tassen und eine Schale mit Keksen. Kaum hatte sie ihre Arbeit beendet, betrat ihre Herrin das Zimmer. Agnatha sah sie ähnlich genug, um als ihre Zwillingsschwester durchzugehen, wäre sie im richtigen Alter gewesen. Meine höfliche Verbeugung erwiderte sie, aber etwas weniger tief. Zwar entstammten wir beide gleichrangigen Familien, doch war ich nur ein Zweiterbe und sie immer noch das weibliche Oberhaupt ihrer Sippe. Daran änderte auch ihr Geisteszustand nichts. Den man ihr nicht ansah. Sie wirkte völlig normal.

    Auf ihre einladende Geste hin ließ ich mich auf einem der bequemen Sessel nieder. Sie nahm nach mir Platz.

    "Gustav Wasa", sagte sie. "Ich erinnere mich an ein Familienfest in eurem Stammsitz. Du warst auch dort, ganz unten am Tisch. Deinem damaligen Rang entsprechend. Ich gratuliere zu deiner Erhöhung. Wer weiß, vielleicht wirst du eines Tages sogar an der Spitze deines Hauses stehen."

    Das bezweifelte ich zwar, weil mein Vetter Lars erst einundzwanzig Jahre alt war und sich bester Gesundheit erfreute, doch hielt ich es für klüger, meiner Gastgeberin nicht zu widersprechen. Leute in ihrer Verfassung behandelte man besser behutsam. Sehr behutsam.

    "Ein Tässchen Tee?", fragte sie und goss mir auch schon ein. Obwohl ich keinen Durst verspürte, trank ich ein wenig davon, um nicht undankbar zu wirken.

    Zu spät bemerkte ich, was ich da zu mir nahm. Der von dem Opferstein ausgehende Blutgeruch hatte mich abgelenkt, so dass es mir erst jetzt auffiel. Sie hatte mir den Wahrheitstrank eingeflösst! Dessen Ausdünstung war unverkennbar. Sofort stellten sich die ersten körperlichen Auswirkungen ein. Auf meiner Stirn bildete sich ein dünner Schweissfilm. Meine Augen tränten.

    "Das ist der Wahrheitstrank!", rief ich aus. "Warum tut Ihr das? Wie seit Ihr überhaupt an das Rezept gelangt?"

    Sie lächelte mitleidig. "Du wirst es sein, die meine Fragen beantworten wird, nicht umgekehrt. Denn du stehst unter dem Einfluss des Elixiers. Widerstand ist zwecklos."

    In dieser Hinsicht lag die Frau allerdings falsch, dank Mutters Lügentrank. Mein Problem bestand nicht darin, unangenehme Wahrheiten eingestehen zu müssen. Ganz im Gegenteil ging es darum, so gut zu lügen, wie noch nie zuvor in meinem Leben, damit sie mir abnahm, dass das Elixier tatsächlich wirkte. Zeit zum Nachdenken stand mir dabei nicht zur Verfügung. Denn wer das Zeug einmal geschluckt hatte, den zwang es, unverzüglich zu antworten.

    "Wie heisst du?", lautete ihre erste Frage. Mit so etwas begannen die Verhörbeamten immer, um sich dann langsam zu steigern, bis es wirklich interessant wurde.

    "Kräuter", sagte ich, wie mit dem Bogen geschossen, woraufhin ich mich sogleich korrigierte. "Gustav Wasa, meine ich."

    "Ach ja", sagte sie nachdenklich. "Dieser alberne Brauch der jungen Männer aus den niedrigen Ständen, sich mit ihren Spitznamen stärker zu identifizieren als mit ihren richtigen Namen. Das solltest du nun wahrhaftig hinter dir lassen, Gustav. Du bist jetzt ein Wasa!"

    Beinahe glaubte ich, Tante Meg zu hören.

    Kräuter und die Mondelfen

    16.Kapitel

    Kein Mutterherz

    Teil 2

    Dass es den Söldnern des Schlangenclans noch einmal gelingen könnte, mich zu überraschen, hatte ich eigentlich nicht erwartet. Was sollte da noch kommen, nach dem scheinbar harmlosen Bauernpaar und dem Kutscher, der so unauffällig aufgetreten war, dass ich ihn niemals wahrgenommen hätte, wenn er nicht auf sich aufmerksam gemacht hätte. Doch ich lag falsch. Vor mir lag ein junges Mädchen. Das runde Kindergesicht und die zu Zöpfen geflochtenen, rotblonden Haare legten nahe, dass sie höchstens vierzehn Jahre zählen konnte, eher weniger. Zu diesem ersten Eindruck wollte der Kampfanzug, in dem sie steckte, allerdings nicht so recht passen. Dazu kam noch ein großzügig ausgestatteter Waffengürtel. Vielleicht war sie ja wirklich so jung, wie sie aussah, aber sicherlich nicht weniger gefährlich als ihre Kameraden. Sonst hätte man sie kaum auf mich angesetzt.

    Ihr Blick jedenfalls war der einer Erwachsenen. Mit mildem Interesse sah sie mich an, als ob sie gar nichts zu befürchten hätte. Ich erinnerte mich an meinen Streit mit Schlichter. Damals hatte ich darauf bestanden, die beiden Verbrecher zu töten, weil sie eine Bedrohung für unsere Familien darstellten. Anders konnte ich es bei diesem Mädchen auch nicht halten. Sicherlich hatte man ihr den gleichen Auftrag erteilt. Nur dass mir diesmal keine Rote Witwe zur Seite stand, um die Drecksarbeit zu übernehmen. Mord an einer Wehrlosen. Mein Leben wurde dem meines Vaters immer ähnlicher. Würde die Stadt mir eines Tages auch eine goldene Statue widmen? Und mich in den Schulbüchern als Helden verherrlichen? Dort würde wohl nichts darüber zu lesen sein, was ich gleich tun würde. Hätte ich die junge Frau nur tödlich getroffen. Dann wäre es eine saubere Kriegshandlung gewesen.

    "Ich hätte da ein Angebot für dich", sagte die Fremde plötzlich.

    "Was für eines?", fragte ich misstrauisch.

    "Du hast mir etwas zu bieten und ich dir. Mein Leben gegen Informationen. Du kannst mich töten. Das bringt dir nur einen kleinen Vorteil. Ein Feind weniger. Doch weiß ich Vieles, das dich interessieren würde. Du tappst im Dunkeln und kannst immer nur auf die unmittelbare Bedrohung reagieren, mit der du es gerade zu tun hast. Woran es dir mangelt, ist Hintergrundwissen."

    "Wie stellst du dir diesen Handel vor?", wollte ich wissen.

    "Ich gehe in Vorleistung", antwortete sie. "Höre einfach zu, und dann entscheide, was meine Ware wert ist."

    "Dann erzähl mal", forderte ich sie auf. Wobei mir klar war, dass es mir um so schwerer fallen würde, sie zu töten, je länger diese Unterhaltung andauerte. Mit jedem Wort sah ich sie mehr als Mensch und weniger als gesichtslosen Feind. Darauf baute sie wohl. Ich musste aufpassen, dass sie mich nicht mit ihrer wohlklingenden Stimme einlullte, ohne irgendetwas preiszugeben, was mir nützen konnte.

    Doch es kam anders. "Vor einem Monat", begann sie, "kam ein neuer Auftrag herein. Vier Kampfeinheiten zu je drei Mann wurden angeheuert, um in der Bergstadt etwas zu erledigen. Der Kunde erwartete uns in der Alten Mühle, wo ihr des Öfteren eure komischen Vernunftprüfungen abhaltet. Dort ist sein Hauptquartier. Über hundert Leute hingen da herum. Komische Gestalten. Gingen tagsüber nie ins Freie. Trugen weite Umhänge und Kapuzen. Bewegten sich langsam. Sehr gruselig. Ihr Sprecher war ein großer, schmaler Kerl mit blondem Haar. Wir erhielten den Befehl, in die Stadt einzusickern und Quartier in einem abgelegenen Haus zu nehmen. In dem euer alter Trankmeister lebt. Sie zwingen ihn, für sie zu arbeiten. Das Sagen hat dort eine Frau in schwarzer Witwentracht. Unter ihrem Befehl stehen etwa zwei Dutzend der Verhüllten und vielleicht zehn kleine Gauner aus den Grenzlanden. Wir waren nur als Eingreifreserve gedacht. Falls es dem Kunden nicht gelingen sollte, dich mit eigenen Kräften zu entführen und deine Freunde unschädlich zu machen, sollten wir zum Zuge kommen. Ein ausgesprochen blödes Konzept! Amateure, die unsere Arbeit machen wollten! Wir hätten dich schnell und sauber erwischt. Aber sie mussten ja diese Aktion im Geisterhaus inszenieren. Auf dem Friedhof haben sie es noch einmal verpfuscht, und erst dann riefen sie uns. Idioten! Die dämlichsten Auftraggeber, die wir jemals hatten!"

    Das Mädchen redete sich in Rage. Offenbar ärgerte sie sich mehr über ihre Geschäftspartner als über ihre augenblickliche Lage.

    "Widerspricht es nicht deinem Berufsethos, einem Feind Geheimnisse zu verraten, nur um dein Leben zu retten?", fragte ich.

    Darüber musste sie lachen. "Berufsethos", rief sie aus. "Habe ich durchaus. Arbeit gegen Bezahlung. Doch konnten wir unsere Leistung nicht erbringen, weil wir in die Irre geführt wurden. Zwei unserer besten Leute wurden sinnlos in den Tod geschickt, weil der Kunde uns vorenthalten hat, mit wem wir es zu tun hatten. Und jetzt noch einmal zwei Kameraden. Sie sind doch tot, oder?"

    Ich nickte. "Was soll das bedeuten? Mit wem wir es zu tun hatten?"

    "Deine Augen flackern", entgegnete sie. "Vermutlich hast du dir irgendwelche Tränke gebraut, die dir Kraft und schärfere Sinne verleihen. Du bist genauso gefährlich wie deine Mutter! Hätten wir das gewusst, hätten wir den Auftrag abgelehnt. Oder wesentlich mehr Geld verlangt."

    "Meine Mutter war eine Heilerin!", rief ich empört.

    "Im Krieg hat sie geholfen, den Trank für eure Berserker zu brauen", widersprach die Söldnerin. "Und Gifte für eure Waffen. In den Flusslanden nennen wir sie den Weißen Tod. Weil sie gerne Weiß trug. Und weil sie viele von uns auf dem Gewissen hat."

    Was sie sagte, hörte ich zwar nicht gern, aber Mut musste ich ihr zugestehen. Meine Mutter zu beleidigen, während ihr Leben in meiner Hand lag! Doch war mir auch klar, dass man in den Flusslanden den Krieg ganz anders sah als wir. Unsere Helden waren ihre Schurken und umgekehrt. Das war nur natürlich.

    "Was kannst du mir über die Verteidigung der Alten Mühle und des Hauses des alten Meisters Thing sagen?", fragte ich sie.

    "Ihr wollt stürmen?", fragte sie amüsiert zurück. "Die Gebäude sind mit Todesfallen gesichert. Genaueres verrieten sie uns nicht. Aber etwas habe ich aufgeschnappt. Sie sprachen von Weißem Feuer. Welches sie suchen oder fürchten."

    "Das waren wirklich wertvolle Hinweise gewesen. Bei dem großen, schlanken Mann, der in der Alten Mühle das Kommando innehatte, handelte es sich sicherlich um den neuen Lehrer. Alles, was das Mädchen preisgegeben hatte, machte Sinn. Auch wenn sie mir wohl Einiges verschwieg. Jetzt hätte ich den Wahrheitstrank gut gebrauchen können. Wie sollte ich mit ihr verfahren? Ich entschloss mich zu einem Kompromiss. Mit einem Ruck zog ich das Messer aus ihrer Wunde und schleuderte es gegen eine Tanne, wo es stecken blieb.

    "Die Klinge hätte noch mindestens zwei Tage lang lähmendes Gift abgegeben", klärte ich sie auf. "Du wärst völlig wehrlos gegen Raubtiere gewesen. Nun hast du die Chance, dich noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder bewegen zu können. Vielleicht überlebst du den heutigen Tag. Ich denke, das ist eine faire Bezahlung."

    "Durchaus akzeptabel", gab sie zurück. "Ich lege sogar noch etwas drauf. Die haben Angst vor einer Frau in Rot. und glauben, dass du mit ihr im Bund bist. Falls das stimmt, bist du in größeren Schwierigkeiten, als du dir vorstellen kannst."

    "Vielleicht suchst du dir einen neuen Beruf", riet ich ihr. Begleitet von leisem Gelächter, zog ich mich langsam, nach allen Seiten sichernd, aus dem Wald zurück. An der Strasse angekommen, brauchte ich nicht lange auf die nächste Kutsche zu warten, die mich zum Heilerhaus mitnahm. Diesmal nahm ich auf dem Kutschbock Platz.

    Die Anreise zum Narrenhaus hatte ich für den harmloseren Teil des Tage gehalten. Diese krasse Fehleinschätzung ließ ich mir eine Lehre sein. In dieser Stadt war nichts mehr ungefährlich. Womöglich nicht einmal das anstehende Gespräch mit Agnathas übergeschnappter Mutter. Als wir das Heilerhaus erreicht hatten, musste ich eine Weile nach dem schmalen Weg suchen, der von dort aus durch dichtes Gestrüpp zur Heimstadt der Geisteskranken führte. Wer diesen Pfad nicht kannte, hätte ihn nie entdeckt. In der Verborgenheit sollten die Verrückten ihre Ruhe haben, weit weg von den so genannten Normalen. Das galt als förderlich für die Heilung. Genau wie Tante Meg, sah auch ich diesen Ansatz kritisch. Wie sollten die Patienten jemals aus ihren Wahnwelten den Weg zurück in die Wirklichkeit finden, wenn man sie völlig isolierte? Zumal die Bezeichnung "Narrenhaus" als ausgesprochen irreführend bezeichnet werden musste. Vor mir, auf einer Lichtung gelegen, erstreckte sich eine Siedlung, die den Eindruck erweckte, aus einem Märchenbuch ausgeschnitten und anschließend irgendwie zu voller Stofflichkeit aufgeblasen worden zu sein. Bunt bemalte, runde Hütten mit Strohdächern verteilten sich über die Landschaft. Es hätte mich nicht gewundert, wenn dort Elfen und Zwerge residiert hätten. Vielleicht sogar Einhörner.

    Nicht anders als in der Säuferstation im Heilerhaus herrschte auch hier reger Betrieb. Leute gingen umher oder saßen an runden Tischen, auf denen Speisen und Getränke zum Zugreifen einluden. Ein wahres Volksfest. Unter Meister Fruuds Leitung schien es sehr ungezwungen zuzugehen. Mir fiel eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt auf, die einen großen Korb in ihren Händen trug. Jetzt kam es darauf an. Wer würde es zuerst sagen? Kleiner war schneller als ich.

    Blitzartig drehte er sich um und sagte: "Haben sie dich also endlich eingeliefert!". "

    "Aber dich vor mir", konterte ich. "Was ist in dem Korb?"

    "Vetter Knuds Mittagessen", lautete die Antwort. "Heute ist wieder einmal Gesundheitstag. Du weißt schon. Kein Fleisch, nichts Süßes, nur Grünzeug. Davon kann doch kein Mensch satt werden!"

    Ich nickte verständnisvoll. "Ja, Tante Meg. Sie meint es gut, auch wenn sie hin und wieder übers Ziel hinaus schießt. Immerhin lässt sie zu, dass sich ihre Untergebenen am Gesundheitstag selber verpflegen dürfen, wenn sie das wollen. Aber sag mal. geht es hier immer so zu? Können sich alle Insassen frei bewegen?"

    "Nicht alle", erläuterte Kleiner. "Die wirklich Gefährlichen befinden sich unter Verschluss, nach einigen unschönen Vorfällen. Ansonsten setzt der Meister auf die Therapie der Freiheit, wie er das nennt. Siehst du die Frau, die sich so lebhaft unterhält und dabei Notizen anfertigt?"

    "Sie redet mit der Luft", stellte ich fest.

    "Mit ihrem unsichtbarem Freund", korrigierte er mich. "Meister Fruud ermuntert sie dazu. Anschließend liest er ihre Aufzeichnungen und erteilt ihr Ratschläge, was sie im nächsten Gespräch sagen soll. So hofft er, ihren Wahn in vernünftige Bahnen zu lenken, anstatt ihn zu unterdrücken."

    "Oder schau dir den da an". Er wies auf einen älteren Mann, der gemessen einher schritt. "Hält sich sich für einen Herrscher des Alten Kaiserreiches. Der Meister hat ihm jede Menge Bücher zu dem Thema gegeben. So soll er zum Experten werden und irgendwann als Geschichtslehrer arbeiten. Den Irrsinn nutzbar machen. Mit ihm leben. Das ist der Gedanke dahinter. Rede den Herrn übrigens unbedingt mit Majestät an. Gehört zur Therapie."

    Während ich über diese fragwürdige Heilmethode nachdachte, bemerkte ich, wie mir jemand auf die Schulter tippte. Vetter Knud war einen Kopf größer als Kleiner und wesentlich breiter. Vor dem Bären, der mich seinerzeit durch den Wald gejagt hatte, hätte er nicht davonlaufen müssen. Der Kampf wäre durchaus ausgeglichen gewesen.

    "Der Meister hat gleich Zeit für dich", versprach der Riese. "Setze dich doch so lange zu deinem alten Lehrer und seiner Studiengruppe. Aber sei vorsichtig. Du hörst ihm zu, alles klingt recht vernünftig, und plötzlich bist du kurz davor, Magie und böse Geister für völlig plausibel zu halten."

    Tatsächlich, an einem der Tische saß Meister Drud und winkte mir zu. Vier Männer und eine Frau leisteten ihm Gesellschaft. Bücherstapel legten nahe, dass sie zu seiner so genannten Studiengruppe gehörten. Womit sie sich wohl beschäftigten? Welche Heilmethode hatte sich der Seelenheiler für diese Patienten ausgedacht? Ließ er sie Zaubersprüche lernen? Das konnte doch nicht im Sinne des Schulamtes sein. Nachdem sich Vetter Knud seinen Essenskorb geschnappt hatte, verabschiedete ich mich von Kleiner und schlenderte zu dem Mann herüber, der einst mein Vernunftlehrer gewesen war und nun im Narrenhaus ein offenbar gar nicht so unangenehmes Leben führte.

    Wie es die Höflichkeit gebot, verbeugte ich mich, als ich ihn erreicht hatte. Ganz leicht. Auch wenn ich nun dem Adel angehörte, war er immerhin mein Schulmeister gewesen. Er winkte ab und sagte:

    " Nicht doch. Ich bin nicht mehr im Dienst. Setz dich lieber und iss ein Stück Kuchen." "Darf ich vorstellen?", fragte er und wies auf seine Begleiter. "Das ist Sven. Er war auch mal Lehrer. Seit elf Jahren hier. Daneben Gerrick, 5 Jahre, nochmal Sven, fünfzehn Jahre, Olaf, zwei Jahre, und natürlich Gertrud. Noch ziemlich neu hier."

    "Die Männer kannte ich nicht, aber an die Frau mit dem pechschwarzen, ungewöhnlich kurz geschnittenen Haar erinnerte ich mich gut. An unserer Schule war sie eine Legende. Eines Tages erschien sie im Unterricht und verspritzte geweihtes Wasser, um einen akuten Dämonenangriff abzuwehren. So schnell war noch niemand im Narrenhaus gelandet. Seitdem kannte man sie als "Geister-Gertie". Finster starrte sie vor sich hin und beachtete mich gar nicht. Vor dem ehemaligen Lehrer Sven lag ein Buch, dessen Titel da lautete: " Die Mondelfen und ihre Liebestränke". "Die Mondelfen wollen, dass wir uns in sie verlieben?", fragte ich entgeistert?

    "Natürlich nicht", knurrte mein Nebenmann ungehalten. "Lernt ihr denn gar nichts mehr in der Schule? Die Liebestränke tauschen sie natürlich gegen Gefälligkeiten ein. Was äußerst gefährlich ist, denn sie hegen immer Hintergedanken. Lass dich auf so etwas bloß nicht ein!" Mit seinem struppigen, langen Graubart und dem wirren Haar, das die gleiche Farbe aufwies, hätte er einen Liebestrank dringend nötig gehabt, falls er eine Frau für sich begeistern wollte. "Noch schlimmer sind die Echsenmenschen", meldete sich der andere Sven zu Wort, ein noch junger Mann. Da er schon seit fünfzehn Jahren an diesem Ort lebte, mussten sie ihn als Schüler erwischt haben, wie Gertie. " Sie haben magische Masken. Mit denen sie sich als Menschen tarnen. Sogar als wunderschöne Frauen, denen kein Mann widerstehen kann. Am nächsten Morgen wachst du dann neben einer Schlange auf. Stell dir das mal vor! Zum Glück lernen wir hier die richtigen Abwehrzauber!"

    Zu meiner Erleichterung übernahm Meister Druuf nach diesen Auftritten die Gesprächsführung. Im Gegensatz zu seinen Gefolgsleuten wirkte er völlig vernünftig. Er war genauso groß wie Kleiners Vetter Knud, aber spindeldürr. Als Schönheit konnte man ihn nicht bezeichnen. Seine Ohren hätten einem Waldelefanten zur Ehre gereicht. Dazu passte eine Nase, die einem Rüssel in nichts nachstand. Als Entschädigung für diese kleinen, ästhetischen Einschränkungen hatte ihm die Natur eine schöne, sonore Stimme verliehen. Es war ihm nie schwer gefallen, eine Schulklasse in seinen Bann zu ziehen.

    "Wie ich hörte, bist du jetzt ein echter Wasa", bemerkte er. "Wirst du denn weiterhin meine Frau besuchen?"

    "Natürlich", antwortete ich. "Ich fühle mich nicht anders als früher".

    "Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich deiner Tante Meg und dir bin," fuhr Meister Druud fort. "Meine Familie wurde geächtet, als ich hierher gebracht wurde. Ihr wart die Einzigen, die zu uns gehalten haben. Und weißt du was? Seit deiner Erhöhung sprechen die Nachbarn plötzlich wieder mit meiner Frau. Ganz zufällig kommt es zu Begegnungen auf der Strasse oder auf dem Markt, und immer wollen die Leute wissen, wann du wohl das nächste Mal zu Besuch erscheinen würdest. Ein Hochgeborener beehrt unsere Siedlung. Sie sind allesamt ganz aus dem Häuschen."

    "Legt Eure Gattin denn wirklich Wert auf die Gesellschaft dieser Menschen?", fragte ich. "Sie und Eure Kinder hatten nichts mit dem zu tun, was Euch vorgeworfen wurde. Eure Nachbarn hätten Eurer Familie beistehen müssen. Statt dessen haben sie sie behandelt wie Abschaum. Mit denen würde ich kein Wort mehr reden!"

    Nach diesen Worten schien mich Geister-Gertie zum ersten Mal zu bemerken.

    "Da hat er recht", sagte sie zu Meister Druud.

    "Ach, diese Jugend", seufzte dieser. "So rigoros, so unversöhnlich. Meine Nachbarn sind keine schlechten Menschen. Sie ziehen ihre Kinder groß, halten sich an die Gesetze und helfen einander, wenn einer von ihnen in Not gerät. Aber sie sind nicht besonders mutig. Feige, wenn ihr so wollt. Wenn das Schulamt hinter jemandem her ist, geht die Angst um. Alle weichen zurück, weil sie nicht hier landen wollen."

    Es handelt sich zwar um keinen Film, sondern um eine Serie, die aber so aufwendig produziert ist, dass man von einer Reihe von Filmen reden könnte. Daher passt das vielleicht hierher.

    Ich meine the Three Body Problem auf Netflix.

    Die originellste Invasionsgeschichte, die ich je gesehen habe. Nicht, wie üblich, die USA senden die Botschaft ins All, durch die die Aliens auf uns aufmerksam werden, sondern die Chinesen. Während der Kulturrevolution! Ich denke eher, dass Mao damals andere Sorgen hatte, aber bitte. Wenigstens mal was Neues.

    Der fremde Planet befindet sich in einem System aus drei Sonnen. Das sorgt für Instabilität. Immer wieder brechen die Zivilisationen dieser Wesen zusammen. Sie beschliessen, die Erde für sich zu erobern, verfügen aber nicht über eine phantastische Star Trek Supertechnik. Mehr als ein Prozent der Lichtgeschwindigkeit schaffen sie nicht, so dass die Reise 400 Jahre dauert.

    In diesem Zeitraum, so ihre Befürchtung, könnte die Menschheit so große Fortschritte machen, dass sie in der Lage sein könnte, die Invasion abzuwehren.

    Also schicken sie zwei KI vor, die sie auf Protonengröße geschrumpft haben, weshalb sie auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden können und die Erde bereits erreicht haben.

    Ihr Plan: Die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Menschheit zu stören und möglichst zu verhindern. Dafür schrecken sie vor nichts zurück. Sie kündigen ihr Kommen auch an und machen klar, wofür sie uns halten. Für Ungeziefer, das weg muss.

    So interessant dieses Konzept auch ist, die Handlung präsentiert sich als äußerst verwickelt. Da muss man sich schon konzentrieren.

    Entschädigt wird man dafür durch grandiose visuelle Effekte.

    Die Diversität der Besetzung stört nicht, weil sie natürlich ist. Die Aliens wollen die ganze Erde. Allen Völkern geht es an den Kragen. Da macht das Sinn.

    Überraschend gut ist auch die alte Dune-Miniserie, die ich mir gerade nach längerer Zeit noch einmal ansehe. Wirkt behäbig verglichen mit den Filmen, was aber besser zu den Büchern passt. Äußerst sehenswerte Effekte. Insbesondere die Navigatoren der Gilde sind sehr schön gestaltet. Erstklassige Schauspieler. Für eine Fernsehproduktion wirklich beachtlich.

    Kräuter und die Mondelfen

    16.Kapitel

    Kein Mutterherz

    Teil 1


    Da Meister Fruud offenbar einen entspannten Lebensstil ohne feste Termine pflegte, nahm ich mir die Zeit, noch ein wenig über den Großen Platz zu schlendern, bevor ich den Seelenheiler aufsuchte. Dabei bot sich die Möglichkeit, Sellerie Selmas Gemüsestand genauer zu inspizieren. Immerhin war die alte Dame von der Roten Witwe als Kontaktperson benannt worden. Sollte ich in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, musste ich nur das gesamte Sellerieangebot aufkaufen, und schon würde mir unsere neue Verbündete zur Hilfe eilen. Dafür bestand zum Glück noch keine Notwendigkeit. Zumal ich Sellerie ganz und gar nicht leiden konnte.

    "Sellerie?", fragte die Kauffrau.

    "Nein danke", antwortete ich. "Heute nicht". Aber was sind das für rote Dinger da?" Ich wies auf die seltsamen, runden Gemüsefrüchte, die ich bisher nut auf Agnathas Trauminsel erblickt hatte. Es schien sie also auch in der wirklichen Welt zu geben. Aber wieso tauchten sie ausgerechnet jetzt auf dem Markt auf?

    "Ganz neu im Sortiment", erläuterte Selma stolz. "Aus irgendwelchen fremden Ländern. Man nennt sie Tomaten. Ich habe da seit kurzem eine neue Handelspartnerin an der Hand, die kann alles beschaffen!"

    Wer das wen an der Hand hatte, würde noch zu klären sein. Offenbar war die Rote Witwe dabei, sich ein Agentennetz aufzubauen. Getarnt als Geschäftsfrau. Womöglich wusste sie auch von Agnatha. Ausgerechnet mit deren Lieblingsgemüse stieg sie in den Handel ein. An dem Tag, an dem ich Agnathas Mutter im Narrenhaus einen Besuch abstatten wollte, weil diese behauptete, von ihrer Tochter eine Nachricht empfangen zu haben. Reichlich Stoff zum Nachdenken. Was ich auf später verschob. Wenn ich hoffentlich mehr wissen würde.

    "Ich nehme ein Pfund davon", sagte ich. "Mit einer Prise Salz schmecken sie am besten", erwiderte Sellerie Selma. Sicherlich wusste sie nicht, mit wem sie sich da eingelassen hatte. Für die Rote Witwe war sie nicht mehr als ein Werkzeug. Genau wie ich, wie ich mir eingestehen musste.

    Ein Pfiff ertönte. Ich blickte in die entsprechende Richtung, wo eine Kutsche wartete. Das Gefährt trug die Farben des Hauses Wasa, Grün und Weiß. Nur deshalb durfte es auf dem Platz stehen. Ein weiteres Privileg der Gründerfamilien. Der Kutscher winkte mich zu sich heran.

    "Junger Herr", sagte er in einem Ton, den er vielleicht für respektvoll hielt, während ich eher eine gewisse Gleichgültigkeit herauszuhören meinte. "Ich wurde Euch zugeteilt und stehe zur Verfügung."

    "Als was?", wollte ich wissen.

    Der Mann sah mich mit seinen farblosen Augen an. Alles an ihm war farblos. Nicht nur die Augen, sondern auch die Haare und die Haut. Selbst seine grün-weiße Uniform wirkte verwaschen. Es war unmöglich, sein Alter zu schätzen.

    "Als Kutscher", antwortete er. "Eure Geehrte Großmutter vertritt die Auffassung, dass Ihr nicht mehr wie ein Gemeiner zu Fuß laufen könnt."

    "Und wenn ich das alles nicht will?", fragte ich.

    "Ihr seid der Zweiterbe des Hauses", beharrte er. "Eine eigene Kutsche gehört zu Eurem Rang."

    "Und wenn ich Euch befehle, wieder zu verschwinden?"

    "Das dürfte nur der Ersterbe."

    "Und warum ich nicht?"

    "Darum heißt es ja Zweiterbe!"

    "Ihr werdet mir also stets mit Eurem Gespann folgen, wo immer ich auch bin?"

    "Nur wenn Ihr zu Fuß gehen wollt. Woran ich Euch nicht hindern kann. Aber Ihr könnt in diesem Fall jederzeit in die Kutsche wechseln."

    Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ein Schatten in Gestalt einer bunten Kutsche. Genauso gut hätte man mir eine Glocke um den Hals hängen können. Was Großmutter Swanhild mit dieser Maßnahme bezweckte, war mir ein Rätsel.

    "Na schön", sagte ich. "Wenn Ihr schon mal da seid, könnt Ihr mich auch zum Heilerhaus bringen."

    Als ich mich auf den Kutschbock schwingen wollte, winkte der Mann entschieden ab.

    "Ein Wasa setzt sich nicht neben einen gemeinen Kutscher", belehrte er mich. "Ihr müsst schon drinnen Platz nehmen, junger Herr."

    Seufzend leistete ich der Anordnung Folge und kletterte in die Kabine, wo ich einen Eindruck davon gewann, wie es sich als Angehöriger einer edlen Familie lebte. Gar nicht so übel. Die Sitze erwiesen sich als äußerst bequem. Als sich das Gefährt in Bewegung setzte, stellte ich fest, dass es sogar gefedert war. Ich würde die Fahrt also ohne Rückenbeschwerden überstehen. Als wesentlich unangenehmer konnte sich aber mein bevorstehendes Treffen mit den Leuten gestalten, die mutmasslich Meister Thing gefangen hielten und ihn zwangen, Traumweiß zu brauen.

    Ein wenig Vorsicht war da angebracht. Aus meinen Manteltaschen kramte ich eines der Fläschchen heraus, die mir Lehrer mitgegeben hatte. Mutters Lügentrank, der einen verstärkten Geruchssinn verlieh, war mit Bedacht einzunehmen. Man bekam sofort Hunger, wenn sich etwas Essbares in der Nähe befand, und konnte nur hoffen, dass sich nicht irgendwo ein Hund erleichtert hatte. Dann fand das Verzehrte ganz schnell wieder seinen Weg nach draußen. Ich nahm einen Schluck, und der Duft der roten Gemüsefrüchte raubte mir den Atem. Wirklich sehr lecker. Wie sich diese Tomaten wohl in einer Suppe machen würden? Wenn Soße sie erst einmal in die Finger bekam, würde er sofort die tollsten Rezepte herbeizaubern.

    Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, biss ich in ein Exemplar und freute mich an dem Geschmack, bis mir ein ganz anderer Geruch in die Nase stieg.

    Kalter Stahl und unterschiedliche Schlangengifte. Einige kannte ich schon von unserer Begegnung mit den Berufsmördern in der Nähe des Friedhofes. Da war aber noch eine andere Substanz. Einige Augenblicke benötigte ich, bevor ich sie einordnen konnte. Es handelte sich um das Gift der weißen Wasserschlange. Das Tier kam in den kalten Bergseen in den höheren Lagen vor. Ihr Biss war für kleine Tiere tödlich. Bei Menschen reichte es nur für Lähmungserscheinungen, was jedoch auch für ein verfrühtes Ableben sorgen konnte, wenn man es nach dem Biß nicht sehr schnell an das Ufer schaffte. Dann ertrank man.

    Der Geruch kam vom Kutschbock her. Offenbar war der so harmlos und unauffällig wirkende, angebliche Diener des Hauses Wasa mit vergifteten Waffen ausgestattet. Mit denen er mich in einen Zustand hilfloser Starre zu versetzen vermochte. Um mich dann zu verschleppen. Eines musste ich der Schwarzen Witwe lassen. Sie ließ sich etwas einfallen. Eine Kutsche meiner Familie zu stehlen, mit dieser in aller Öffentlichkeit in der Stadt herumzufahren und mich dann auch noch dazu zu bringen, freiwillig einzusteigen, das hatte Klasse. Vermutlich würde ihr Handlanger in einen der Waldwege einbiegen, die von der Strasse zum Heilerhaus wegführten. An einem stillen Plätzchen wartete dann die Überraschung auf mich. dachte er zumindest.

    Glücklicherweise war ich mit allen Elixieren ausgestattet, die meinen Entführer ein wenig aus dem Konzept bringen würden. Zuerst die Augentropfen, gefolgt von dem Berserkertrank und dem Gegenmittel. Der Geruch der Landschaft, durch die wir fuhren, veränderte sich. Die Kutsche befand sich jetzt mitten im Wald. Bald würde der falsche Wasa-Diener anhalten und mich aus der Kabine heraus holen. Deshalb musste ich sofort handeln. Leise öffnete ich die Tür und zog mich mit der Kraft meiner durch den Berserkertrank gestärkten Arme hoch auf das Kutschendach. Der Fahrer schien nichts bemerkt zu haben. Schon wollte ich zu einem gewaltigen Sprung ansetzen, als ich im letzten Moment aus den Augenwinkeln etwas wahrnahm. Etwas silbern Glänzendes. Einen Wurfstern. Nur weil der Trank mir eine erhöhte Reaktionsschnelligkeit verlieh, wurde ich nicht getroffen. Aber eines war klar. Der Mann war mir weit überlegen. Ohne auch nur in meine Richtung zu sehen, und ohne dass ich bei ihm eine Bewegung bemerkt hätte, hätte er mich beinahe erledigt. Der Berserkertrank garantierte keinen Sieg. Kraft und Schnelligkeit triumphierten nicht zwangsläufig über eine erstklassige Ausbildung und langjährige Kampferfahrung.

    Tapfer wäre es gewesen, den Berufsmörder frontal anzugreifen. Ich entschied mich für die klügere Alternative und sprang vom Kutschdach herunter, um, Haken schlagend, im Wald zu verschwinden. An den Wurfsternen, denen ich stets mit knapper Not ausweichen konnte, merkte ich, dass ich verfolgt wurde. In der Milizausbildung hatten sie uns beigebracht, wie man sich im Wald möglichst lautlos bewegte. Diese Kunst beherrschte mein Gegner aber auch. Da der Wind ungünstig stand, war es mir zudem nicht möglich, seinen Geruch aufzunehmen. Meinen einzigen Anhaltspunkt sah ich in der vermuteten Flugbahn der Wurfgeschosse. Als mich wieder eines knapp verfehlte und sich in eine Birke bohrte, ging ich das Risiko ein. Ich drehte mich um und warf einen meiner Schleudersteine exakt in die Richtung, aus der der Wurfstern gekommen war. Anschließend rannte ich sofort weiter, in das dichteste Unterholz, das ich finden konnte. So würde er mich zwar besser hören können. Ich ihn aber auch. Genauso wie ich kämpfte er sich durch die Sträucher und die dicht beieinander stehenden Bäume, doch schien er langsamer geworden zu sein.

    Der Abstand vergrößerte sich. Behutsam verringerte ich mein Tempo und begann, ihn zu umgehen, um in seinen Rücken zu gelangen. So konnte ich auch endlich seinen Geruch wahrnehmen. Da war Blut. Ich musste ihn getroffen haben. Nachdem er sich über längere Zeit nicht bewegt hatte, wagte ich es, mich ihm zu nähern. Regungslos lag er auf dem Waldboden. Wo sich sein rechtes Auge befunden hatte, klaffte ein tiefes Loch. So sah es also aus. wenn man von einem Stein getroffen wurde, der mit voller Berserkerkraft geschleudert worden war. Seine Verletzung erlaubte es dem Mann nicht, aufzustehen und mich zu bekämpfen. Dennoch hütete ich mich, in seine Reichweite vorzudringen. Er stellte sich tot. Um mich zu sich zu locken. Dehalb wartete ich ab, bis sich sein Geruch veränderte. Während er starb, witterte ich zwei weitere Personen, die sich vorsichtig auf mich zu bewegten. Auch sie rochen nach Stahl und Schlangengiften. Ohne das geringste Geräusch zu verursachen, schlichen sie sich an. Was ihnen aber nichts nützte.

    Je näher sie kamen, desto genauer konnte ich ihren Standort bestimmen. Dank Mutters Lügentrank war es mir sogar möglich, festzustellen, ob sie sich gerade in der Deckung eines Baumes befanden oder frei standen. Und meine Reichweite war größer als ihre, wegen des Berserkerelixiers. Also nutzte ich die erste Gelegenheit, um einen von ihnen mit einem der Wurfmesser zu erwischen, die ich dem toten Kutscher abgenommen hatte. Es dauerte nur Augenblicke, bis ich den Geruch von Blut wahrnahm. Und von Tod. Der andere Angreifer schien etwas bemerkt zu haben. Er hielt inne und rührte sich nicht. Schließlich rückte er doch vor. Mein zweites Messer traf auch ihn. Er blutete, war aber noch am Leben. Dafür aber vermutlich gelähmt, denn an der Waffe hatte das Gift der weißen Wasserschlange gehaftet. Jetzt war ich es, der sich mit größter Vorsicht an den Feind heranpirschte. Bis ich eine am Boden liegende Gestalt erblickte. Ein Messer steckte in ihrem linken Bein. Ob das Lähmungsmittel seine Wirkung tat oder der Fremde nur schauspielerte, würde ich bald erfahren.

    Wenn mich einer Weißbrot nennen sollte, stört mich das nicht weiter. Weil ich nicht überempfindlich bin, und das ist das Hauptproblem.

    Überempfindlichkeit.

    Das gab es schon einmal im Zeitalter der Duelle. In den "Drei Musketieren" fängt sich D`Artagnan in wenigen Minuten drei lebensgefährliche Duelle ein, wegen Nichtigkeiten.

    Und so war das auch in dieser Zeit. Ein falsches Wort, ein als Mißachtung verstandener Blick, ein versehentliches Anrempeln, und schon war die Ehre verletzt, und man stand mit Pistole oder Säbel auf der Waldwiese.

    Das hat viele Leute das Leben gekostet. Puschkin zum Beispiel. Oder Ferdinand Lasalle.

    Was wir jetzt haben, ist weniger gefährlich, kann aber in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen Existenzen vernichten. Weniger auf dem Bau, aber an manchen Universitäten schon.

    Die Überempfindlichen sind das Problem beziehungsweise die, die überempfindlich tun.

    Interessant ist auch die Frage, wer diese Sprachge- und -verbote eigentlich festlegt.

    Kürzlich habe ich mir einmal die komplette "I have a dream"-Rede Dr.Martin Luther Kings angehört, von der man sonst nur kurze Ausschnitte präsentiert bekommt.

    In dieser Ansprache verwandte er ständig das Wort "negroe" als Selbstbezeichnung. Es heißt ja auch nichts anderes als "schwarz".

    Für ihn war das okay. Und er war immerhin der Sprecher und Initiator der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.

    Wer sind die Leute, die es besser wissen wollen als er? Nach heutigen Maßstäben könnte man ihm "rassistischen Sprachgebrauch" vorwerfen. Wird seine Rede bald zensiert?

    Kräuter und die Mondelfen

    15.Kapitel

    Soßes neueste Theorie

    Teil 2

    Draußen, auf dem Weg zu Soße, meinte Lehrer: " Hildegard scheint ja etwas für dich übrig zu haben." So zweifelhaft die Methoden des Familienrates auch sein mochten, in diesem Fall eigneten sie sich hervorragend dafür, ein aufkeimendes Eifersuchtsdrama schon im Keim zu ersticken.

    "Was immer du für das Mädchen zu empfinden glaubst", antwortete ich, "wenn du am Tag der Jugend deiner wahren Gefährtin gegenüber stehst, wird dir schnell klar werden, dass sie die Richtige für dich ist. Vielleicht wird es ja tatsächlich Hildegard sein. Und wenn nicht, dann wäre sie nur ein Irrtum gewesen."

    Lehrer nickte. "Da hast du wohl recht", sagte er. "Bei meinen Eltern war es genauso. Ihre früheren Schwärmereien vergaßen sie sehr schnell, als sie einander zugesprochen wurden. Der Familienrat weiß eben, wer zu wem passt." So dachten fast alle Bürger der Bergstadt. Dass es kaum zerrüttete Ehen gab, mochte an dieser Überzeugung liegen. Die Paare gaben sich Mühe, miteinander zurecht zu kommen, weil sie an die Unfehlbarkeit des Rates glaubten. Und der Tag der Jugend sorgte für ausreichend Spannung und Aufregung, so dass sie für den Rest ihres Lebens gern auf die Höhen und Tiefen wilder Liebesaffären verzichten konnten.

    "Gib ihm die Elixiere", wandte sich Schlichter an Lehrer. "Ach ja", antwortete dieser. Aus seinen Manteltaschen kramte er einige Fläschchen hervor, die er mir unauffällig reichte.

    "Wir waren in deinem Arbeitsraum. Mein Geruchssinn ist noch gut genug, um die Tränke bestimmen zu können. Augentropfen, Berserkertrank und das Gegenmittel. Und natürlich der Lügentrank. Für die Nasen. Ohne den wären wir auf die falschen Landleute hereingefallen!"

    "Lügentrank?", wunderte ich mich.

    "Ist doch griffiger als Anti-Wahrheitsserum, findest du nicht?"

    "Ein bißchen mehr Konzentration jetzt", mahnte Schlichter. "Wir müssen die Alte Heeresstrasse überleben. Zur Hauptverkehrszeit!"

    Auf dieser Strasse war immer Hauptverkehrszeit. Da die Stadt es bisher nicht geschafft hatte, sie zu verbreitern, kamen die Pferdegespanne, die in entgegengesetzte Richtungen unterwegs waren, nur mit Mühe und Not aneinander vorbei. Unfälle gehörten zum normalen Verkehrsgeschehen. An Fußgänger hatte natürlich niemand gedacht. Wir bewegten uns vorsichtig am äußersten Rand der Fahrbahn entlang, immer auf der Hut vor durchgehenden Pferden oder schlecht befestigten Waren, die herunterfallen konnten. Besonders lebensgefährlich waren die Eisen-und Kupferbarren aus unseren Erzminen.

    "Was wir da sehen, gibt es offiziell gar nicht", bemerkte Lehrer. "Unsere Handelsgüter, die für die Flusslande gedacht sind, und deren Produkte für die Märkte der Stadt. Massenhaft. Dabei sind die gegenseitigen Embargos noch in Kraft. Theoretisch befinden wir uns immer noch im Kriegszustand."

    "Mir hat ein alter Fuhrmann erzählt", ergänzte ich, "dass das Eisen, das wir den Flusslanden verkaufen, von denen zu Stahl verarbeitet und an die Alte Kaiserstadt weiter gereicht wird, wo die besten Waffenschmieden zu finden sind. Dort werden erstklassige Qualitätsschwerter daraus gemacht, die dann wieder an die Flußlande veräußert werden, von wo aus sie auch bei uns landen. Auf meine Frage hin, ob das nicht verrückt wäre, meinte er nur, dass sich im Prinzip ja nichts ändere. Beide Seiten stünden sich immer noch mit gleich guten Waffen gegenüber. Und der Handel blüht!"

    "Wie geht das rechtlich eigentlich", wollte Lehrer von Schlichter wissen.

    "Ausnahmegenehmigungen", lautete die Antwort. "Jede Menge davon. Aus Gründen des Staatswohls. Haben die Gilden durchgesetzt. Frag nicht weiter. Sehen wir besser zu, dass wir in einem Stück über die Strasse kommen."

    Das war gar nicht so einfach. Man musste einen Zeitpunkt abpassen, an dem die Wagenkolonnen innehielten, und hoffen. dass sie sich nicht wieder in Bewegung setzten, bevor die andere Seite erreicht war. Von Rücksicht hielten die Kutscher nicht viel. An diesem Tag gelang es ihnen aber nicht zu vollenden, woran die lebenden Leichen und der Blut saugende Mond gescheitert waren. Unversehrt gelangten wir an unseren Zielort, den Großen Platz, der sich im Zentrum der Stadt befand. Da Markttag war, wimmelte es von Verkaufsständen, die vor Waren überquollen. Ich entdeckte Seidenstoffe aus fernen Ländern, die neueste Mode aus den Flusslanden und sogar Melonen aus irgendwelchen südlichen Gefilden. Unglaublich, was alles dem Staatswohl diente.

    Um den Großen Platz herum standen imposante, öffentliche Bauten. Neben dem Rathaus ragte die Halle des Volkes empor, wo der Tag der Jugend stattfinden würde. Gekrönt von einer eindrucksvollen Kuppel, bot das Gebäude Platz für über zweitausend Leute. Der Justizpalast wirkte daneben bescheiden, genauso wie das Museum, die Bücherei, die Zentrale der Miliz und die Sitze der Gilden. Damit die Ratsherren und Richter nicht verhungern und verdursten mussten, hatten sich in den Lücken zwischen den Staatsbauten Gastwirtschaften angesiedelt. Eine davon führte den schönen Namen "Die größten Portionen". Konkurrenten hatten die Herausforderung angenommen und vergeblich versucht, ihren Gästen noch üppigere Mahlzeiten auf die Teller zu schaufeln. Es war ihnen nicht gelungen. Niemand schaffte die Portionen im "Die größten Portionen". Wer wirklich alles aufessen wollte, was ihm da serviert wurde, dessen Diagnose konnte auch ohne sorgfältige Heileruntersuchung problemlos gestellt werden. Lebensbedrohliche Fettsucht. Zum Glück ließen sich die meisten Leute die Reste einpacken. So kamen sie zu beachtlichen Essensvorräten.

    Soßes Familie betrieb das Wirtshaus schon seit über dreihundert Jahren. Als einziger Sohn würde er das Unternehmen einmal erben. In seinem jetzigen Zustand war er für eine solche Aufgabe aber eher ungeeignet. Also traten wir ein. Wie immer war die Gaststube voll besetzt. Soßes Mutter, eine große, blonde Frau, die es, ihrer Umgebung zum Trotz, irgendwie geschafft hatte, schlank zu bleiben, kam auf mich zu.

    "Den Ahnen sei Dank", begrüßte sie mich. "Auf dich hat er bisher immer gehört. Doch diesmal ist es besonders schlimm. Geht am besten sofort hoch zu ihm. Aber erschreckt nicht, wenn ihr ihn seht." Das klang bedenklich. Nachdem wir die Treppen erklommen hatten, standen wir vor dem Eingang zu Soßes Zimmer, das direkt unter dem Dach lag. Ich klopfte und öffnete die Tür, als er uns herein bat. Ein Blick genügte, und es war völlig klar, dass Frau Grimold nicht übertrieben hatte. Der Boden war lückenlos mit voll gekritzelten Papieren bedeckt.

    "Stiefel aus", rief er. "Bringt mir bloß nichts durcheinander". Vorsichtig wateten wir durch die Flut von Zetteln, bis wir zu unserem am Boden kauernden Freund vorgedrungen waren.

    "Einen Augenblick", bat er, während er mit manischem Eifer einen weiteren Papierbogen beschriftete. Schließlich hielt er inne, blickte zu mir auf und sagte: " Du hattest recht und gleichzeitig doch nicht recht, Kräuter! Anders, als du gesagt hast, werde ich übrig bleiben. Mit Sicherheit! Aber daran ist gar nichts auszusetzen. Du findest es gut, und ich jetzt auch. Wir werden in Freiheit leben! Wie dein Onkel Bernhard. In seinem Haus ist genug Platz für uns beide. Keine Ehefrau wird herum nörgeln, wenn wir im Roten Viertel mit den Tanzmädchen einen drauf machen. Ich verstehe gar nicht mehr, warum mir das übrig Bleiben Sorgen bereitet hat!"

    Seine Augen glänzten fiebrig. Zwar war ich kein Seelenheiler wie Meister Fruud. Doch dass dieser Mann kurz vor einem Zusammenbruch stand, konnte ein Blinder auch ohne Krückstock sehen.

    "Wie bist du zu der Erkenntnis gelangt, dass es dich treffen wird?", fragte ich ihn.

    Soße wies auf einen Zettel. "Ich bin wissenschaftlich vorgegangen", verkündete er stolz. "Eine Analyse der vergangenen fünfzig Jahre hat ergeben, dass der Familienrat durchaus nicht willkürlich vorgeht. Oh nein! Ganz klar sind Muster zu erkennen. Warte!" Er fischte ein Blatt Papier aus dem Chaos, oder besser, dem scheinbaren Durcheinander. "Hier haben wir den Fall Skalde Nis. Wie ich der einzige Sohn einer Familie aus der Ernährergilde. Weil er übrig blieb, endete eine lange Sippentradition. Die Gatten seiner Schwestern kämpften um das Erbe. Der Betrieb zerfiel. Das nahm der Familienrat in Kauf. Vor acht Jahren war das. Und hier." Mit traumwandlerischer Sicherheit förderte er einen weiteren Zettel zu Tage. "Ein vergleichbares Beispiel. Fünfzehn Jahre her. Alle sieben bis neun Jahre bleibt einer übrig, der mir ähnelt. Kein Zweifel möglich. Jetzt bin ich an der Reihe."

    Seine Entdeckerfreude wirkte irgendwie unecht. Ich musste mir etwas einfallen lassen. "Wie steht es mit den Gründerfamilien?", fragte ich. "Wie oft bleiben da welche übrig? Vielleicht weißt du es noch nicht. Großmutter Swanhild hat mich legalisiert. Ich bin jetzt ein echter Wasa. Habe ich trotzdem eine Chance davonzukommen? Gab es einmal einen Fall, wo einer aus der Aristokratie übrig blieb?"

    "Den gab es in der Tat", erläuterte Soße fachmännisch. "Vor fünfzehn Jahren. Arne Borg. Weil es ihn erwischte, scheiterte ein wichtiges Heiratsprojekt. Das führte zu einer Fehde mit dreißig Toten."

    "Was machst du?", signalisierte Schlichter lautlos. " Du sollst ihm helfen, nicht dir!"

    "Abwarten", gab ich zurück. Tatsächlich war mir eine Idee gekommen.

    "Und wie oft passiert so etwas?", wollte ich wissen.

    "Etwa alle fünfzehn bis zwanzig Jahre. Du könntest Glück haben."

    "Wie steht es mit den Landmädchen?", fragte ich weiter. "Alle zwei Jahre wird eines in die städtische Auswahl einbezogen, würde ich schätzen."

    "Das kommt etwa hin", meinte Soße.

    "Aber jetzt sind gleich vier von ihnen in der Stadt", informierte ich ihn. "Ich weiß das von Onkel Gerd. Drei Bauernfamilien wurden im Gästehaus der Ratsherren untergebracht. Mit vier Töchtern, alle siebzehn Jahre alt. Ein Zwillingspaar dabei. Ist so etwas sehr ungewöhnlich?

    "Sehr ungewöhnlich?", wiederholte Soße. "Das wäre eine Anomalie. Kam noch nie vor. Von welchen Familien reden wir?"

    "Die Frederiksens sind die mit den Zwillingen", erinnerte ich mich. "Die Namen der anderen weiß ich nicht mehr. Onkel Gerd vermutet, daß der Familienrat unser Verhältnis zum Landvolk kitten will. Nach den Unruhen im Sommer. Könnte es sein, dass sie eine von ihnen mit mir verheiraten wollen? Eine Verbindung mit den Gründern müsste eine große Ehre für sie sein."

    Das brachte Soße zum Lachen. "Eine große Ehre", prustete er. "Du hast keine Ahnung. Die Bauern können uns Städter nicht leiden. Aber euch Adlige hassen sie! Nichts für ungut. Aber wenn eines ihrer Mädchen einem Wasa zugesprochen würde, gäbe es wahrscheinlich einen Bürgerkrieg."

    "Dann bist du wieder in der Gefahrenzone", stellte ich fest. "In der Ernährergilde gibt es sechs einflussreiche Sippen. Sicher wird man die Bauerntöchter an sie anbinden wollen. Und deine Familie ist eine davon."

    "Wir haben enge Handelsbeziehungen zu den Olsens", erinnerte sich Soße. "Ist eine Olsen dabei?"

    "Kann ich dir nicht sagen", bedauerte ich.

    Soße seufzte und warf einen wehmütigen Blick auf seine Zettelsammlung. "Eine Anomalie". Das ändert alles. Ich muss unbedingt herausbekommen, wer die anderen Landmädchen sind. Tut mir Leid, Jungs, ich sehe mich gezwungen, euch hinauszuwerfen." Er wandte sich an mich. "Was glaubst du, wem sie dich zusprechen werden? Das übrig Bleiben kannst du dir wohl abschminken, genau wie ich."

    "Tante Meg vermutet, dass es Hildegard Sverrig sein wird."

    "Die Krankenschwester?". Ich nickte bekümmert.

    "Könnte sein", kommentierte der Gastwirtssohn. Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. "Mach dir nichts draus. Ich bin auch nicht besser dran. Die Bauerntöchter sollen Haare auf den Zähnen haben!"

    "Dann gehen wir mal wieder" mischte sich Schlichter ein. "Du willst hier sicher noch ein wenig aufräumen."

    Wir verabschiedeten uns. Als wir draußen vor der Tür standen, sah mich Lehrer vorwurfsvoll an. "Du hast ihn nach Strich und Faden manipuliert", meinte er. "Bei dir bin ich in Zukunft sehr vorsichtig!"

    "Es war nur zu seinem Besten", verteidigte ich mich.

    "Und was jetzt?", fragte Schlichter. "Willst du wirklich der Roten Witwe diesen verstärkten Berserkertrank brauen?"

    "Es wird mir nichts anderes übrig bleiben", antwortete ich. "Ohne sie überstehen wir den nächsten Angriff nicht. Ich muss heute noch zu Meister Things Haus, um dort die Lage auszukundschaften. Im Auftrag der Miliz. Wahrscheinlich werden sie bald stürmen. Wenn sich die Schwarze Witwe und ihre Untoten dort wirklich verbergen, laufen unsere Soldaten ins offene Messer. Sie haben keine Ahnung, was sie dort erwartet. Wir brauchen die Rote Witwe."

    "Na schön", sagte Lehrer. "Sieh zu, dass du dabei nicht draufgehst. Warte." Er suchte in seinen Manteltaschen und übergab mir schließlich einen kleinen Lederbeutel. "Geweihtes Salz", sagte er. "Für wirklich alle Fälle!"

    Danke für die Einschätzungen.

    Das mit den Absätzen muss ich in der Tat noch besser hinkriegen, für die Lesbarkeit.

    Für Kräuters Verblüffung über das versalzene Wasser gibt es eine Erklärung.

    Zum einen fand zwanzig Jahre vor der Handlung ein großer Krieg mit den Nachbarn statt.

    Die Grenzen sind geschlossen, niemand kann mehr verreisen. Das wird noch thematisiert.

    Kräuter war also nie woanders als in seiner Bergstadt.

    Außerdem interessiert er sich nur für seine Lieblingsfächer und stellt in den anderen die Ohren auf Durchzug. So wie ich im Mathe-Unterricht.

    Sein Erdkundelehrer wäre wohl nicht von dem Salzwasser überrascht gewesen. Kräuter schon.

    Ich versuche, auf umfangreiche Expositionen zu verzichten, und Erklärungen zwanglos in die Handlung zu integrieren. Aber vielleicht sollte ich noch den einen oder anderen erklärenden Satz einfügen.

    Ob die Suppen gekocht sind, darüber hatte ich mir gar keine Gedanken gemacht. Muss ich wohl noch klarstellen.

    In der Öffentlichkeit ist der König der König und nicht der liebe Papa. In einer ernst zu nehmenden Monarchie sollte daher auch der Kronprinz die formelle Anrede nutzen, gerade wenn Soldaten in der Nähe sind.

    Kleiner Tipp: Ich habe gerade die Miniserie "Prinzessin Fantaghiro" entdeckt, mit Mario Adorf als König. Sehr nett.

    Kräuter und die Mondelfen

    15.Kapitel

    Soßes neueste Theorie

    Teil 1.

    In der folgenden Nacht träumte ich von Mondelfen. Sternenlicht tanzte in der Dunkelheit meines Zimmers und verdichtete sich zu einem leuchtenden Nebel, aus dem sie heraus traten, drei an der Zahl. Weiße, gelbe und rote Augen. Wehendes, weißes Haar. Es gelang mir, mich aufzurichten, wenn auch viel zu langsam, um einen Angriff abwehren zu können. Eine ging auf mich zu. In ihrer rechten Hand trug sie etwas, das sie mir entgegen hielt. Eine Bronzetafel. Versehen mit winzigen Schriftzeichen. "Luku", las ich, ohne das Wort laut auszusprechen. Ich dachte es nur, und dennoch verstand ich seine Bedeutung. "Auserwählt". Die Frauen lächelten.

    Das hatte mir gerade noch gefehlt! Ein Alptraum! Seit meiner Kindheit hatte ich keine mehr gehabt. Schließlich war die Wirklichkeit ja auch hart genug. So realistisch hatte sich das Geschehen angefühlt, dass ich nach dem Erwachen unwillkürlich nach dem Geschenk der Mondelfen Ausschau hielt. Natürlich vergeblich. Mein Blick fiel auf das Bücherregal, auf dem sich wenige Schulbücher und wesentlich mehr jener Abenteuergeschichten stapelten, die Tante Meg für verachtenswerten Schund hielt. Ich hatte es der vereinten Rückendeckung Onkel Gerds und Vetter Gerds und Großvater mütterlicherseits Bernhards zu verdanken, dass ich sie überhaupt lesen durfte, vorausgesetzt, meine Schulnoten blieben im akzeptablen Bereich. In diesen Erzählungen gab es immer einen Helden, der sich im Laufe der Handlung, zu seiner Überraschung, als der große Auserwählte wiederfand. Nur er vermochte die Welt vor den Machenschaften schwarzer Magier, dunkler Herrscher und sonstiger Finsterlinge zu retten. Ich hatte mich immer gefragt, was die Bösewichte eigentlich wollten. Grundlos die Steuern erhöhen? Systematisch alle kleinen, niedlichen Tiere ausrotten? Das wurde nie beantwortet, weil die Autoren den strengen Vorschriften des Schulamtes folgen mussten. Niemals durften die Schurken gewinnen. Immer triumphierte am Ende das Gute, ganz wie im richtigen Leben.

    Auserwählt zu sein, das hatte ich immer für eine großartige Sache gehalten. Spannend und voller Bedeutung. In Wirklichkeit lief das Ganze eher auf eine Menge Ärger hinaus. Die Schwarze Witwe hielt mich für etwas Besonderes, weshalb sie mich als Einzigen am Leben lassen wollte. Ihre rot gekleidete Rivalin sah in mir den perfekten Handlanger. Selbst in meinen Träumen machten sich die Mondelfen die Mühe, mir einen Besuch abzustatten. Die meisten Menschen fanden es gut, wenn man ihnen die Möglichkeit bot, aus der Masse herauszuragen. Darauf hätte ich liebend gern verzichtet. Zumal das Schulamt leider nicht in der Lage war, auch mir ein glückliches Ende zu garantieren.

    Es klopfte. Bevor ich "herein" rufen konnte, öffnete sich die Tür, und zwei kleine Mädchen traten ein, die nicht nur identisch aussahen, sondern auch gleich gekleidet waren. Tante Megs Versuche, sie zu mehr Eigenständigkeit zu ermuntern, waren krachend gescheitert. Die Schwestern wollten nichts anderes sein als Ebenbilder. Klassische, eineiige Zwillinge. Das fanden sie lustig.

    "Wir haben fast Mittag, und der Herr liegt immer noch im Bett", schalt mich Meg. Ihre Mutter hatte es als erste Frau in der Bergstadt fertig gebracht, eine Tochter nach sich zu benennen. Bei Männern galt das als normal. Ich hieß genauso wie mein Vater, mein Großvater und alle männlichen Vorfahren bis zurück zum ersten Gustav.

    "Ich muss mich erholen", verteidigte ich mich.

    "Die Jungs von heute taugen wirklich nichts mehr", sagte Meg zu ihrer Schwester Mia. "Alles Waschlappen".

    "Was wollt ihr eigentlich von mir?", fragte ich.

    "Mutter möchte wissen", entgegnete Mia, "ob du geruhst, noch zum Mittagessen zu erscheinen, oder ob du lieber den ganzen, lieben langen Tag verschlafen willst. Außerdem sind noch zwei deiner Freunde da." "Der Griesgram und die Schleiereule", ergänzte Meg. "Es scheint wohl irgendwelche Schwierigkeiten zu geben"

    Sie meinten wohl Schlichter und Lehrer. Wir konnten froh sein, dass die Zwillinge nicht für die Verteilung von Spitznamen zuständig waren. Eigentlich hatten wir gestern beschlossen, den heutigen Tag der Erholung zu widmen. Der Berserkertrank forderte seinen Tribut. Ich hatte es gerade noch nach Hause geschafft, bevor ich in einen tiefen Schlaf gesunken war. Den anderen war es sicherlich genauso ergangen. Wenn sie mich trotzdem aufsuchten, musste etwas Wichtiges geschehen sein.

    "Sagt Tante Meg, dass ich gleich da bin", bat ich.

    "Aber vergiss nicht schon wieder, dich zu waschen", riefen die Mädchen im Chor. Das Kissen, das ich nach ihnen warf, verfehlte sein Ziel. Die beiden waren einfach zu schnell. Mühsam quälte ich mich aus meinem Bett und versetzte mich in einen der Öffentlichkeit gerade noch zumutbaren Zustand, sogar unter Zuhilfenahme von Wasser und Seife. Dann begab ich mich nach unten, in die Küche, wo sich fast die ganze Familie versammelt und mit dem Mahl begonnen hatte. Um den Tisch herum saßen Tante Meg, Onkel Gerd, meine Großmutter mütterlicherseits, Elsa, sowie ihr Ehemann, Großvater Bernhard, die Kinder, Schlichter und Lehrer und, zu meiner Überraschung, Schwester Hildegard. Lehrer schaute krampfhaft an ihr vorbei. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.

    "Mahlzeit allerseits", sagte ich. "Wir essen heute aber früh zu Mittag."

    "Wir müssen gleich los", antwortete Onkel Gerd. "Gerd und Thusnelda brauchen Hilfe bei der Einweihungsfeier. Die ist schon in zwei Tagen." "Aha", bemerkte ich und nahm mir etwas von dem Sauerbraten, den Klößen und natürlich dem gemischten Salat. Tante Meg hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass die Durchsetzung der fleischlosen Ernährung in dieser Familie nicht so leicht zu erreichen war. Immerhin wagte es aber keiner mehr, das Grünzeug zu verschmähen, das in mehr als ausreichender Menge gereicht wurde. Es sei denn, der Betreffende wollte sich unbedingt einen stundenlangen Vortrag über gesundes Essen anhören.

    "Aha" reicht nicht", erklärte Tante Meg. "Du wirst natürlich dabei sein. Und zwar als Ehrengast."

    "Wer?" "Ich?" Als Ehrengast hatte mich noch niemand haben wollen. Großvater Bernhard meldete sich zu Wort. Mit seinem schmalen Gesicht und dem langen, weißen Bart sah er aus wie ein Gelehrter. Sein Berufsleben hatte er aber als Jagdhüter verbracht. Die Bergwälder kannte er wie seine Westentasche. "Du vergisst", erläuterte er, "dass du neuerdings ein echter Wasa bist. Die Hengis sind völlig aus dem Häuschen. Jetzt haben sie einen Verwandten aus der mächtigsten Gründerfamilie. Was für ein Aufstieg. Das wird ein Riesenfest!"

    "Lächerlich", kommentierte Hildegard. "Oben auf dem Burgberg betrachten wir diese Sippe als anmaßende Neureiche! Bierbrauer! Vulgärer geht es ja wohl nicht!" Tante Meg und Großmutter Elsa nickten beifällig. Von den Männern kam keine Zustimmung. An Bier und Met fanden sie nichts auszusetzen.

    "Was muss ich als Ehrengast denn tun?", fragte ich in die Runde.

    Dafür fühlte sich Hildegard zuständig. "Nimm die Grüße der Leute entgegen, sei freundlich, aber nicht kumpelhaft. Das mögen sie nicht. Sie wollen zu uns aufsehen. Die Magie des Adels, verstehst du. Eigentlich eine Illusion. Aber notwendiges Theater. So gewinnt auch ihr Leben an Bedeutung, glauben sie zumindest." Für eine Rebellin, die im Streit mit ihrer hochwohlgeborenen Sippe stand, hatte sich diese Krankenschwester ein bemerkenswertes Maß an Aristokratenstolz bewahrt.

    "Und lass dir ja nicht einfallen, dich drücken zu wollen," warnte Tante Meg. "Jetzt, wo sich Gerds Ehe mit Thusnelda langsam zum Besseren entwickelt, wäre das wenig wünschenswert.

    "Sie kann ja jetzt endlich standesgemäß wohnen", signalisierte Großmutter Elsa. Sie war taubstumm und bediente sich daher der Zeichensprache, die von der Miliz entwickelt worden war. "Standesgemäß", wiederholte Tante Meg. "Unser kleines, schäbiges Häuschen war der Dame ja nicht gut genug. Ich habe keinen Platz! Immer macht jemand Lärm! Wie soll man unter diesen Umständen stilvoll Gäste empfangen? Zu Hause war ich anderes gewohnt. Und so weiter, und so weiter" Sie wandte sich an mich."Allen Unsinn, den du je angestellt hast und noch anstellen wirst, verzeihe ich dir dafür, dass du für Gerd dieses Opfer gebracht hast. In Bernhards großem Haus, das er dir hinterließ, ist sie fast gücklich. Sogar einigermaßen verträglich."

    "Und dieser dumme Junge hat Gustavs Angebot zuerst abgelehnt", meinte Großmutter Elsa.

    "Aus dämlichen, männlichen Stolz", schimpfte Tante Meg. "Dem habe ich vielleicht den Kopf gewaschen!".

    "Mir reicht Onkel Bernies kleineres Haus völlig", bemerkte ich.

    "Und wenn uns das Schicksal nicht mit einer weiteren, aufgeblasenen Zicke straft", ergänzte Tante Meg, "werden deine Zugesprochene und du dort zufrieden leben können. Es ist fast genauso geräumig wie unseres."

    "Was ist denn bei euch los?", fragte sie Schlichter und Lehrer. "Ihr spracht von einem Notfall?"

    "Es geht um So, äh, Gernot", entgegnete Schlichter. "Der Koller."

    "Ach du lieber Himmel", sagte Onkel Gerd. "Ist es schlimmer geworden?"

    "Das kann man wohl sagen", bekräftigte Lehrer. "Kräut, äh, Gustav war bisher der Einzige, der ihn beruhigen konnte. Mit seiner Entspanntheit. Ihm ist es wirklich egal, ob er übrig bleibt. Er wünscht es sich sogar."

    "Der Koller", seufzte Großvater Bernhard. "Erinnerst du dich noch an Sven Rekjas, Elsa? Er war der beste Soldat unseres Jahrgangs. Gutaussehend, beliebt, wohlhabend. Keiner hätte gedacht, dass ausgerechnet er übrig bleiben würde."

    "Und das geschah", vermutete ich. Er schüttelte den Kopf. "Er hat sich umgebracht. Weil er den Druck und die Ungewissheit nicht länger aushielt."

    "In meinem Jahrgang nahmen sich sogar zwei Leute das Leben", erinnerte sich Onkel Gerd. "Ein junges Mädchen und ein junger Mann."

    "Was der Familienrat da macht, finde ich sinnlos grausam, stellte Hildegard fest. "Warum werden die Überzähligen nicht einfach auf das nächste Jahr übertragen?"

    So redeten viele. Eigentlich fast alle, die ich kannte. Doch niemand tat etwas. Nichts änderte sich. So etwas wie eine heilige Scheu, die gar nicht in unsere aufgeklärtes Zeitalter passte, hielt die Leute davon ab, den Familienrat ernsthaft in Frage zu stellen. Das Gremium war uralt. Niemand wusste, wer dazu gehörte, von den Wenigen abgesehen, die sich am Tag der Jugend sehen ließen. Wie wurden neue Mitglieder ausgewählt? Wo trafen sie sich? Wo bewahrten sie ihre Akten auf? Warum bestand die Einrichtung nur aus Frauen, in einer Stadt, in der fast alle wichtigen Ämter in den Händen von Männern lagen? Das wusste keiner. Wer Rätsel mochte, der war in unserer Stadt genau richtig.

    "Beeilen wir uns mit dem Essen", drängte Tante Meg. "Wir müssen los. Nehmt euch doch noch etws von dem Rosenkohl, Jungs!" Nachdem wir das Mahl beendet hatten, ging ich nach oben in mein Zimmer, um meinen Mantel zu holen. Es klopfte. Tante Meg stand vor der Tür. "Ich hoffe, du kannst deinem Freund helfen", sagte sie. "Wenn das erledigt ist, geh bitte zum Haus der guten Gedanken. Meister Fruud erwartet dich. Eine genaue Uhrzeit hat er nicht genannt." Der mißbilligende Unterton war nicht zu überhören. "Klar", erwiderte ich.

    Wenige Minuten später ertöte ein weiteres Klopfen. Diesmal wollte Onkel Gerd etwas von mir. "Du bist doch heute im Narrenhaus", formulierte er ohne Rücksicht auf die von Tante Meg bevorzugte Ausdrucksweise. Sie war ja auch nicht in der Nähe. "Sobald dein Auftrag dort ausgeführt ist, wird dich einer meiner Leute ansprechen und dir Meister Things Mikroskop übergeben. Und dich mit allen notwendigen Waffen ausrüsten. Heute ist der Tag! Dein Erkundungseinsatz steht an."

    "Na endlich", erwiderte ich, Abenteuerlust heuchelnd. "Wird aber auch Zeit." Onkel Gerd nickte zufrieden. "Bis dann."

    Dieser der Ruhe gewidmete Tag hielt leider nicht, was er versprochen hatte. Erststand die Hilfsaktion bei einem am Rande der Hysterie wandelnden Soße an, der wieder einmal überzeugt war, dass er am Tag der Jugend übrig bleiben würde, dann eine Begegnung mit Agnathas wahnsinniger Mutter und schließlich, zum krönenden Abschluss, ein Stelldichein mit einer Mörderbande, die hoffentlich nicht wusste, dass ich an der Beseitigung zweier ihrer Spitzenkräfte beteiligt gewesen war.