ESCAPE! (Kurzgeschichte)
Nach zwei Drogenentzugskuren hätte Steve eigentlich vorsichtiger sein müssen. Dealern konnte man nicht trauen. Immer behaupteten sie, die neuesten bunten Pillen in ihrem Sortiment seien völlig harmlos und machten überhaupt nicht abhängig.
Deshalb war Steve auch sehr skeptisch gewesen, als man ihm dieses Zeug angeboten hatte, dass sich ESCAPE! nannte. Du nimmst nur eine Pille, hatte der Verkäufer versprochen, und findest dich in einer absolut realistischen Phantasiewelt wieder. Besser als die teuerste virtuelle Realität, die man für Geld kaufen kann. Die tollsten luziden Träume sind nichts dagegen. Matrix ist nichts dagegen!
"Und woher kommen die Bilder, die ich dann sehen werde?", hatte Steve gefragt.
"Aus deinem Unterbewusstsein!"
Angesichts der unzähligen Horrorfilme, die sich Steve gegönnt hatte, klang das nicht gerade ermutigend.
"Keine Angst", hatte ihn der Dealer beruhigt. "Es gibt ein Safe Word. Es heißt auch ESCAPE! Rufe es laut, und schon bist du wieder in Kansas! Wenn du weißt, was ich meine. Hier, der erste Trip ist umsonst. Probier doch einfach mal!"
Der alte Trick. Lange war Steve um die Tablette herumgeschlichen wie die Katze um den heißen Brei. Was konnte schlimmstenfalls schon passieren, fragte er sich. Eine weitere Therapie? So übel war das gar nicht. Seine Eltern waren reich. In den noblen Behandlungszentren ging es zu wie in einem Luxushotel, nur mit Entgiftungskur und Psychogelaber.Schließlich schlossen Abenteuerlust und Selbsterhaltungstrieb einen Kompromiß. Er schluckte eine halbe Pille.
Und stand im Wald. Direkt vor einem Baum. Da Steve den größten Teil seines Lebens vor dem Computer verbracht hatte, kannte er sich mit der Natur nicht so gut aus. Von Bäumen wusste er nur, dass es welche mit Laub und andere mit Nadeln gab. Ach ja, und Birken waren weiß. Und Trauerweiden sahen tatsächlich so aus, als ob sie eine Behandlung gegen Depressionen nötig hätten. Sein Baum hatte Blätter. Laubbaum. Er berührte die Rinde. Fühlte sich echt an, so weit er das beurteilen konnte. Jedenfalls nicht künstlich, wie Plastik etwa.
Die Sonne schien. Er blickte nach oben und musste geblendet die Augen schließen. Ihm wurde warm. Ernsthaft, der Dealer hatte nicht zu viel versprochen. Was für ein Trip. Wenn man bedachte, dass er immer noch träumend auf seinem Sofa lag!
Eines fiel ihm allerdings auf. In diesem Wald gab es nur Bäume, aber kein Unterholz, keine Sträuche, nicht einmal Pilze. War das normal? Existierten solche Wälder auch in Wirklichkeit? Oder lag es daran, dass er nur eine halbe Pille genommen hatte?".
Perfekte Illusionen wie diese, so hatte er gelesen, kamen eigentlich nur in Nahtoderlebnissen vor. Er erschrak. Nein, das konnte nicht sein. Welcher Dealer brachte schon seine zukünftigen Kunden um? Nach der Überreichung einer Probedosis? Außerdem, von einem Tunnel und dem berühmten Licht war nichts zu sehen.
In diesem Augenblick setzte Vogelgezwitscher ein. Von Weitem hörte man das Hämmern eines Spechtes. Etwas später sogar das Schmettern irgendwelcher Blasinstrumente. Trompeten? Fanfaren? Das war nicht seine Musik, aber er beschloss nachzusehen. Während er sich auf die Geräuschquelle zu bewegte.wurde er zum ersten Mal auf seine Aufmachung aufmerksam. Ganz in Grün, von den braunen Stiefeln abgesehen. Ein Robin Hood für Arme. Dunkel erinnerte er sich daran, dass er diese Figur als kleiner Junge gut gefunden hatte. Bevor er cool wurde. Sein Unterbewusstsein bediente sich also aus seiner Kindheit. Das konnte ja heiter werden.
Schließlich erreichte er eine breite, gepflasterte Strasse. Lange musste er nicht warten, bis zwei Reiter angaloppiert kamen. Auf schneeweissen Pferden. Angezogen waren sie in einer Weise, dass man sie aus jedem Disneyfilm als zu kitschig verbannt hätte. Rote, mit Stickereien verzierte Waffenröcke, weiße Hosen, silberne Umhänge, die im Wind flatterten. Steve wunderte sich darüber, dass ihnen ihre breitkrempigen, ebenfalls roten Hüte nicht von den Köpfen flogen. Jeder hielt in einer Hand eine silberne Trompete - oder etwas Ähnliches. Beherzt bliesen sie erneut in ihre Instrumente und ritten davon. Kurz darauf rauschte eine silberne Kutsche an Steve vorbei, gefolgt von weiteren vier Reitern.
"Es wird Zeit, dass ich ESCAPE! rufe, dachte sich Steve. Bevor noch mehr Zeug aus Kindertagen auftauchte. Aber bei ihm zu Hause waberten die Novembernebel, und hier war es schön warm. Warum nicht ein wenig spazieren gehen. Vielleicht fand sich ja doch etwas Interessantes an. Dracula vielleicht, oder der Exorzist.
Und tatsächlich, nach einigen Kilometern entdeckte er am Strassenrand eine kleine, schwarze Pyramide. Auf der eine in tadellosem Latein verfasste Botschaft zu lesen war.
"Nimm Esmeraldas Gabe an. Es soll dein Schaden nicht sein"
Aus Gründen, die weder seine Lehrer noch er selbst verstanden, war Steve gut in Latein, obwohl er nie etwas für die Schule tat. Vor dem Monument befand sich ein Beutel voller Goldmünzen. Was wohl geschähe, wenn er sich dieses kleine Vermögen greifen würde? Esmaralda, war das nicht die Kinder fressende Hexe aus Bloody Lunch 7? Nicht schlecht. Das war schon eher seine Kragenweite. Trotzdem beschloss er, noch etwas weiter zu gehen. Auf Esmeralda konnte er immer noch zurückgreifen, falls diese Illusion nichts Besseres zu bieten hatte.
Doch das hatte sie in der Tat, woran Steve nicht zweifelte, als er den Wolf sah, der plötzlich mitten auf der Strasse stand. Neben Horrorvideos und Computerspielen mochte Steve auch Tierdokus. Es war klar, dass man aus Filmen nicht auf die wahre Größe dieser Räuber schließen konnte. Trotzdem staunte er über die Ausmaße des Tiers. Aus gelben Augen sah es ihn an. Gelangweilt? Hungrig? Schwer zu sagen. Steve war zwar nie besonders stark gewesen, aber dafür schnell. Aus den Augenwinkeln erblickte er eine weitere Pyramide, vor der ein Schwert lag. Mit einem Satz erreichte er das steinerne Gebilde, schnappte sich die Waffe und hielt sie dem Wolf entgegen.
"Ganz falsch", bemerkte jemand. Steve sah sich um. Da war niemand. "Du machst ihn nur aggressiv", dozierte die Stimme. "Nimm das Schwert herunter. Laufe auf keinen Fall weg, gehe aber auch nicht auf den Wolf zu. Wedle mit den Armen, spring herum und rufe laut. So beeindruckst du ihn am ehesten."
Steve erinnerte sich an ein TicToc-Video, in dem ein Experte sich ganz ähnlich geäußert hatte. Also folgte er dem Rat. Der Wolf sah sich die Vorstellung eine Weile an, ehe er sich in aller Gemütlichkeit davon machte.
"Siehst du", sagte der Unsichtbare selbstgefällig.
"Wer bist du eigentlich?", wollte Steve wissen.
"Ein Geist", lautete die Antwort. "Wenn du in dieser Welt stirbst, kannst du ins Leben zurückkehren, sobald jemand deine Totengabe annimmt. Ja genau, das Schwert vor meinem Grabmal. Jetzt sind wir verbunden. Ich berate dich, und du hilfst mir bei meiner Wiedergeburt. Sei froh, dass du Esmeraldas Angebot nicht angenommen hast."
"Deine Stimme kommt mir doch bekannt vor", überlegte Steve.
"Das will ich doch hoffen. Schließlich war ich dein Suchttherapeut."
"Doktor Celsus? Wie kommen Sie denn hierher? Haben Sie etwa auch die Droge genommen?
"Natürlich. Ich kann doch nur vor solchen Substanzen warnen, nachdem ich sie selber ausprobiert habe! Das nennt man den Erwerb von Sachkenntnis!"
"Einen Augenblick mal", widersprach Steve. " Es ist unmöglich, dass sich zwei Leute einen Traum teilen. Sie entstammen meinem Unterbewusstsein. Eine Erinnerung!"
"Wen du meinst", erwiderte die Stimme gleichmütig.
"Wir sollten uns jetzt aber beeilen. Bald wird es dunkel. Bis dahin müssen wir es bis zur Stadt geschafft haben."
"Warum?"
"Wegen der Phantome. Eine Mischung aus Geistern und Vampiren. Glaube mir, denen willst du nicht begegnen!"
Einen Augenblick lang überlegte Steve, ob er jetzt nicht doch das Safe Word rufen sollte. Langsam wurde er müde. Anders als in seinem Zimmer war hier nirgendwo ein bequemes Sofa zu sehen. Andererseits, diese Stadt konnte er sich ja noch anschauen.
Die Straße führte ihn einen Hügel hinauf. Als er die Anhöhe erklommen hatte, bot sich ihm ein bemerkenswerter Anblick. Strahlend weiße, filigrane Türme und weiße Kuppelbauten, die eine hohe, ebenfalls weiße Mauer überragten."
"Die Stadt des Lichts", schwärmte der tote Drogentherapeut. "Ist sie nicht wunderschön?"
Steve musste seinem Unterbewusstsein rechtgeben.
"Aber was sollen all die Zelte vor der Mauer?", fragte er. "Das ist ja schon eine ganze Siedlung."
"Leute, die in die Stadt wollen", gab der Geist zurück. "Wer ein Jahr und einen Tag durchhält, darf eintreten."
"Und was erwartet die Menschen da"?
"Das weiß keiner . Es ist nie jemand zurück gekommen".
"Hotel California", kam es Steve in den Sinn. " You can check out any time you like, but you can never leave".
"Das ist verrückt", rief Steve. "Wer lässt sich auf so etwas ein?"
"Weiter jetzt", mahnte die Stimme. "Es dämmert schon. Siehst du die kleinen, blau gekleideten Gestalten da unten, die herumwieseln? Das sind Zauberzwerge. Nur sie sind imstande, magische Kreise zu erschaffen, die allein Schutz vor den Phantomen bieten."
"Na schön", dachte Steve. "Das nehme ich noch mit, aber dann steige ich aus!".
Als sie die Zeltstadt erreicht hatten, sprach er den erstbesten Klischeegnom an, von dessen Gesicht man nur die blauen Augen sehen konnte. Den Rest verbargen ein gewaltiger weißer Bart und ebenso ausgeprägte Augenbrauen.
"Entschuldigt, mein Herr", begann er. "Ist vielleicht noch Platz für mich in einem Eurer Zauberkreise?"
"Schutzkreise", wurde er verbessert. "Und leider nein. Du kommst zu spät. Aber womöglich nimmt dich jemand in seinem Kreis auf?"
"Hallo", rief jemand. Ein junger Mann, den man sofort als Prinzendarsteller in der nächsten Dornröschenverfilmung hätte verpflichten können, winkte Steve zu sich heran. In seiner Robin Hood-Kluft kam sich Steve neben diesem Paradiesvogel vor wie eine graue, oder besser grüne Maus vor. Allein die Frisur! Wie ging das ohne Haarspray? Und wie konnte man in Schnabelschuhen mit Glöckchen an den Spitzen laufen, ohne ständig hinzufallen?
"Nur hereinspaziert", forderte ihn sein Gastgeber auf. "Zu zweit lässt sich die Nacht besser durchstehen. Neu hier?"
Steve nickte. "Dann erkläre ich dir kurz die Regeln. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang dürfen wir den Kreis nicht verlassen. Es sei denn, die Phantome erwischen jemanden. Sie nehmen sich immer nur ein Opfer. Geschieht das früh genug, können wir in warmen Betten in den Zelten schlafen."
"Was für Opfer?", fragte Steve.
"Meistens Wanderer, die es nicht mehr rechtzeitig hierher schaffen. So wie du einer warst. Hast wirklich Glück gehabt. Übrigens, ich bin Oleander!"
"Und ich Steve", gab Steve zurück.
"Komischer Name", bemerkte Oleander. "Kommst wohl von weit her. Sieh, da zeigen sie sich schon."
Steve blickte zum Himmel auf. Es war so dunkel geworden, dass man kaum etwas sehen konnte. Bis auf schwarze Kapuzenmäntel, die sich, wie es schien, von den Winden tragen ließen. Als ob sie tanzen würden. Dann stießen sie herab. Wie Raubvögel.
"Tut mir leid", sagte Oleander. "Aber du weißt schon, ich liebe mein warmes Bett."
Mit diesen Worten schubste er Steve aus dem Kreis. Jetzt war es wirklich Zeit.
ESCAPE!, rief Steve. Und landete nicht auf seiner Couch. Auch nicht in Kansas. Sondern auf dem Erdboden. Bevor ihn die Phantome erwischen konnten, zückte er sein Schwert und stach damit auf einen der Mäntel ein. Das Wesen ging in Flammen auf.
"Nicht schlecht,mein Schwert, was?", meldete sich der Drogentherapeut zu Wort.
"Warum funktioniert das Safe Word nicht?", beschwerte sich Steve.
"Manchmal wirkt es mit Verzögerung," erläuterte der Geist. "Jetzt aber zurück in den Kreis!".
Während das brennende Phantom sich mit einem unmenschlichen Kreischen in den Himmel hinauf schraubte, rappelte sich Steve auf und rannte zurück in den geschützten Bereich.
"Was ist das für ein Schwert?", fuhr ihn Oleander an und versuchte, ihm die Waffe abzunehmen. Steve stieß ihn zurück, aus dem Kreis heraus,direkt in die Arme der Angreifer. Sie ergriffen ihn und zerrten ihn mit sich in die Nacht."
"Das wars", rief eine Frauenstimme. "Abendbrotzeit!" Die Leute verließen ihre Kreise und strebten den Zelten zu, ganz entspannt, lachend und schwatzend. So schien es hier immer zuzugehen.
"Was für eine Welt", stöhnte Steve.
"Ist deine denn besser?", fragte ihn einer der blauen Zauberzwerge. "Ein interessantes Schwert, das du da hast. Eine Totengabe? Darüber müssen wir uns gelegentlich unterhalten. Da drüben teilen sie ein richtig gutes Gulasch aus. Komm doch mit!"
Der Geist meldete sich wieder. "Das junge Mädchen dort", flüsterte er. "Die Dunkelhaarige, die Wasser trägt. Siehst du sie?"
Natürlich sah Steve die junge Frau. Sie erinnerte an Isabell Adjani, nur mit noch größeren Augen."
"Rinalda", schwärmte der Drogentherapeut. "Meine große Liebe."
Die Umrisse des Mädchens verschwammen. Die Welt löste sich auf. Endlich wirkte das Safe Word.
"Nein", rief der Geist. "Nicht ausgerechnet jetzt."
Steve fand sich auf seinem Sofa wieder. Im Radio dudelte Hotel California. Das Telefon klingelte. Festnetz. Seine Eltern waren recht altmodisch.
Steve hob den Hörer ab.
"Ich bin es", meldete sich eine allzu bekannte Stimme. "Dr. Celsius. Wir müssen sofort zurück. Endlich habe ich sie wiedergefunden, meine geliebte Rinalda!"
"Jetzt hören Sie mal zu", fauchte Steve. "Ich weiß nicht, wie Sie in meine Vision gekommen sind. Aber Eines sage ich Ihnen. Wenn Sie mich noch einmal belästigen, werde ich Ihre Vorgesetzten über Ihre seltsamen Praktiken informieren. Dann war es das mit Ihrer Therapeutenkarriere!"
Er legte auf. Niemals wieder würde er dieses Zeug anfassen.
Das Telefon klingelte.
Die Eagles beendeten ihren Song.
You can check out anytime you want. But you can never leave.