„Welche von allen Fähigkeiten ist dir denn die liebste?“, setzte Gembries nach einem kurzen Moment das Gespräch fort. „Was willst du mal werden? Wo würdest du dich gerne in, sagen wir mal zehn Jahren, sehen? Darüber solltest du dir Gedanken machen. Wer kein Ziel hat, kommt nirgends an.“
Wieder blieb es still.
„Ich weiß es nicht, Gembries. Über so etwas habe ich mir bisher ja auch noch keine Gedanken machen müssen. Aber in zehn Jahren würde ich mich gerne in einem Haus sehen mit einer lieben Frau und vielen Kindern. Ich glaube, es wäre mir egal, was ich arbeiten müsste, um meine Familie zu ernähren, Hauptsache, ich weiß, wo ich hin gehöre. Wie war das denn bei dir?“
Gembries holte tief Luft.
„Mir war immer klar, dass ich mit Metall arbeiten wollte. Das hat mich immer schon fasziniert. Mein Traum war es, Schmied zu werden. Ich hatte sogar einen Meister gefunden, der mich ausbilden wollte. Leider verstarb er in meinem vierten Lehrjahr, sieben hätte ich gebraucht, um von der Zunft als Geselle anerkannt zu werden. Damit starb auch mein Traum vom Schmied.“
„Oh., das tut mir leid“, sagte Alastair.
„Ja, das war Pech. Aber so geht das halt manchmal im Leben. Also beschloss ich, meine bis dahin erworbenen Fähigkeiten als Kesselflicker an den Mann zu bringen. Da arbeitet man auch mit Metall, unterliegt keiner Zunft und kann als freier Mann durch die Lande ziehen. Aber um gute Arbeit abliefern zu können, braucht ein Kesselflicker eine Menge Werkzeug und einen stabilen Wagen, der das alles transportiert und in dem er auch leben kann, wenn er unterwegs ist. Und ein großer Wagen wiederum braucht kräftige Zugtiere. Ich hatte kein Geld, um mir auch nur eines davon zu leisten. Ich hatte gar nichts. Nach dem Tod meines Meisters stand ich genauso auf der Straße wie du jetzt.“
„Und was hast du dann gemacht?“
„Ich hab mich als Söldner verdingt und das Geld gespart, bis ich genug hatte, mir das alles zu kaufen. Das hat zehn Jahre gedauert.“ Gembries seufzte über seine Erinnerungen. „Ohne mein festes Ziel vor Augen hätte ich diese Zeit nicht überstanden.“
Alastair ließ die Worte auf sich wirken.
„Hm, das einzige, dass mich bis jetzt richtig fasziniert hat, sind Vögel“, gestand er kleinlaut. „Das wird mich wahrscheinlich nicht weit bringen, oder?“
„Vögel?!“ Gembries´ Miene sagte alles. Verlegen strich sich der Junge die Haare zurück.
„Manche Adlige haben wohl Falkner“, räumte Gembries schließlich ein, „ aber an deiner Stelle würde ich nicht darauf bauen, damit für deinen Lebensunterhalt sorgen zu können.“
„Wo fahren wir eigentlich hin?“
„Ich muss zur hohen Feste, den Tod meines Onkels in den Amtsstuben bekannt geben.“
Dem Jungen klappte der Kiefer herunter.
„Zur hohen Feste? Ehrlich?“
„Ja.“
„Oh – das ist toll. Entschuldige, ich meine damit natürlich nicht, dass dein Onkel gestorben ist, dazu mein Beileid. Aber die hohe Feste wollte ich immer schon mal sehen. Der Nachbar von Muma hat mir viel über die alten Völker erzählt, ich habe seine Geschichten geliebt. Und jetzt darf ich die hohe Feste persönlich sehen. Ich bin so aufgeregt. Eine echte Zwergenburg! Warst du schon mal da?“
„Natürlich.“
„Und? Wie ist es da so?“
„Mach dir dein eigenes Bild, wenn wir da ankommen.“
„Hast du auch einen Magier gesehen?“
„Woher soll ich das wissen? Glaubst du etwa, die tragen ein Schild um den Hals, wo „Magier“ drauf steht?“
„Äh - nein. Jetzt, wo du es sagst … natürlich nicht.“
Gembries amüsierte sich sichtlich auf Alastairs Kosten.
„Doch, warte, einmal habe ich ganz sicher einen Magier gesehen.“
Die Züge des Jungen spiegelten Unsicherheit.
„Und wie hast du ihn als solchen erkannt? Hat er gezaubert?“
Jetzt lachte Gembries.
„Natürlich. Er hat alle Menschen in Kaninchen verwandelt, nur mich hat er nicht erwischt.“
Enttäuscht sah der Junge nach vorne.
„Ich hab ihn an den Rufen der Leute erkannt, die ihn gegrüßt haben. Es war nämlich der Hüter persönlich. Vielleicht hast du ja Glück, und er begegnet dir auch einmal.“
Das Strahlen kehrte in Alastairs Gesicht zurück, aber die Vorsicht blieb. Statt Gembries weiter auszuhorchen, begnügte sich der Junge damit, still vor sich hin zu träumen.
Insgeheim hatte Venia befürchtet, von Pollok schikaniert zu werden, damit sie ihre Arbeit nicht schaffte und er einen Grund zur Beschwerde hätte, aber dem war nicht so. Überhaupt schien er ihre Existenz ganz vergessen zu haben, nachdem der erste Besucher in sein Zimmer gekommen war.
„Guten Morgen, Pollok. Ich hoffe, deine Reise war erfolgreich?“
„ Und wie! Ich habe den fehlenden Teil gefunden!“
Obwohl sie die beiden Männer nicht sehen konnte, war deren Aufregung deutlich zu spüren. Eine Spannung lag in der Luft und ließ Venia erleichtert seufzen. Wer so auf die Entdeckung von Schriften fixiert war, würde nicht auf eine kleine, unbedeutende Dienerin achten.
„Ich werde die anderen holen“, hörte sie den Besucher mit leicht zitternder Stimme sagen.
Sie war gerade mit den Leuchtern fertig geworden und begann, sich um den Kamin zu kümmern, als sie mehrere Personen eintreten hörte. Niemand sprach.
„Mädchen? Es ist gut. Du kannst gehen. Ich werde nach dir läuten, wenn ich dich wieder brauche“, stand Pollok unvermittelt in der Türe.
Venia zuckte zusammen und schluckte das „aber“ herunter. Dass sie noch nicht fertig war, konnte er ja deutlich sehen. Sie nahm den Eimer mit der Asche aus dem Kamin auf, klemmte sich die schmutzige Bettwäsche unter den anderen Arm, knickste und verließ mit gesenktem Blick die Räume. Nur am Rande nahm sie die Gruppe der Besucher wahr.
Wäsche und Eimer brachte sie in die „Kammer“, einen großen, kahlen Raum direkt neben der Dienstbotentreppe, wo Abfälle, Schmutzwäsche und dreckiges Geschirr darauf warteten, vom Hausdienst abgeholt zu werden. Hastig eilte sie die endlose Treppe herunter, um ihren Warteplatz aufzusuchen.
Die Küche war so groß wie eine Halle und um diese Zeit so betriebsam wie ein Ameisenhaufen. Das Mittagessen stand an. Jetzt war keine Zeit mehr für loses Geschwätz, statt dessen schallten Anweisungen durch den Raum, untermalt vom Klappern des Geschirrs und dem Klingen des Bestecks.
Das „Mittagessen“ umfasste einen Prozess, der Venia jedes Mal Ehrfurcht abnötigte. Mehr als zweitausend Mahlzeiten wurden in dieser Küche jeden Tag zubereitet, allein achthundert Schüler mussten verköstigt werden. Scharen von Hausdienern begannen bereits, das Geschirr zum Eindecken in die elf Speisehallen zu bringen, die sich über die sechs Etagen erstreckten. Im Erdgeschoss war die kleinste Halle, dort aßen nur die Gäste, deren Zahl variabel war und den Köchen täglich aktuell gemeldet wurden. In den ersten vier oberen Etagen aßen die Schüler und Adepten in je zwei Hallen, in der fünften die Scholare und in der sechsten schließlich der kleine Kreis der obersten Häupter, einschließlich des Hüters selbst, in je einer. Erst, wenn die Hallen wieder abgeräumt waren, gab es für das Personal eine Mahlzeit im Gesindesaal, der zwischen Küche und Waschküche lag.
Doch ab heute war Venia kein Teil mehr des Küchenstabs. Flink eilte sie durch die hastenden Menschen zu ihrem neuen Platz, der Wand im rückwärtigen Teil der Küche.
Ein langes, an die Wand geschraubtes, glatt poliertes Brett ersetzte Tische, darüber hingen die Glöckchen, die durch einen Seilzug mit den einzelnen Zimmern verbunden waren. Manche Plätze hatten vier oder fünf Glöckchen, Venias Platz, an der äußersten rechten Ecke, nur zwei.
Venia setzte sich auf ihren Stuhl und wagte nicht, den Blick von den Glöckchen abzuwenden aus Angst, ihr Bimmeln würde in der allgemeinen Geräuschkulisse untergehen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie so manchen erstaunten Blick auf sich ruhen. Dass der Bibliothekar zurück war, hatte sich herumgesprochen und niemand hatte sie so früh hier unten erwartet.
Endlich gingen auch die etwas kleineren Gefäße mit dem Essen für den obersten Stock heraus, und die Küche wurde wieder ruhiger. Polloks Glöckchen bewahrte sie vor neugierigen Fragen.
Seine Zimmer waren leer, als Venia eintrat, der Herr war zu Tisch. Schon auf der Treppe war sie im Geiste nochmal alle Anweisungen des Hausmarschalls durchgegangen, und jetzt eilte sie sich, all die Dinge, die Pollok gemacht haben wollte, zu seiner Zufriedenheit zu erledigen. Unsicher, weil er immer noch nicht zurück war, ließ sie dann selbst ihren Blick kritisch über alles gleiten, Ihr fiel nichts auf, das sie übersehen haben könnte. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, er wäre selbst da gewesen und hätte sich zufrieden gezeigt.
Seufzend huschte sie aus seinen Räumen und begab sich erneut zur Bimmelbank, die jetzt gut besetzt war. Natürlich konnte dieses Personal nicht mit dem Gesinde essen, weil sie ja ihre Glöckchen bewachen mussten. Der Hausmarschall persönlich brachte ihr einen gut gefüllten Teller und machte den anderen damit klar, dass Venia in ihrer neuen Position unter seinem Schutz stand. Venia bedankte sich verlegen und aß. Für diese elenden Treppen würde sie viel Kraft brauchen.