Man hatte die schweren, hölzernen Tische in Form eines U
aufgestellt. An der schmaleren Seite vor Kopf saßen die sieben
Honoratioren der Burg, vor dem Wandteppich mit dem Wappen der Hohen
Feste, auf rot gepolsterten Sesseln, deren Lehnen und Kopfteile mit
aufwändiger Schnitzerei verziert waren.
An den langen Seiten hatte
man die einfacheren Würdenträger auf rot gepolsterte Sessel ohne
solche Schnitzereien platziert und ihr hatte man einen Holzstuhl in
die Mitte des freien Raumes gestellt, auf den sich Venia befangen
setzte.
Die beiden Wachen, die sie hierher gebracht hatten, stellten
sich zu ihren Seiten auf.
Gemurmel erfüllte die Luft.
„Du brauchst keine Angst zu haben, wir wollen dir nur ein paar
Fragen stellen!“, hörte sie Pollok sagen.
Sie entdeckte ihn vor
Kopf, wo er in der Mitte saß.
Fast hätte sie ihn nicht erkannt.
Ein dunkelblauer, spitzer Hut mit breiter Krempe verfremdete seinen
Anblick. Der Hut sowie das große, silberne Amulett, das auf seiner
Brust glänzte, wurden durch sein schmuckloses weißes Hemd und den
ebenso schmucklosen, dunkelblauen Umgang wirkungsvoll betont.
Ganz
offensichtlich hatte er nach Eliazars tragischem Ableben die Leitung
der hohen Feste übernommen, wenn auch mangels magischer Fähigkeiten nur vorübergehend.
Es irritierte Venia, einen nicht Magier
mit den Insignien zu sehen.
Ein Mann neben Pollok erhob sich, der reich verzierten Uniform nach
der Leiter der Wache.
„Wann hast du den Hüter zum letzten Mal
lebend gesehen?“, fragte er sie.
Das Gemurmel verstummte abrupt, es
wurde totenstill im Raum. Aller Augen ruhten auf Venia.
„Gestern
Abend, spät, nachdem ich die Räume des Herrn Pollok verlassen
hatte“, antwortete sie mit fester Stimme.
„Warum hast du
den Hüter aufgesucht?“
„Ich habe das Feuer in seinem Kamin
kontrollieren wollen.“
„War der Hüter wohlauf?“
„Ja.“
„Was
hat er gemacht?“
„Er saß an seinem Tisch und hat geschrieben.“
„Die ganze Zeit, während du anwesend warst?“
„Nein. Ein Bote
kam herein, um dem Hüter eine Nachricht zu bringen.“
Der Leiter
der Wache blickte einen einfachen Wachmann, der auf der langen,
linken Seite saß, auffordernd an.
„Ich habe zur dreiundzwanzigsten
Stunde einen Boten in die Burg gelassen“, bestätigte dieser.
Der
Leiter der Wache nickte zufrieden.
„Was geschah dann? Hat der Bote
dem Hüter ein Schriftstück überreicht?“
Venia schüttelte den
Kopf.
„Nein, nicht so lange ich anwesend war. Der Bote hat
gesprochen.“
„Was hat er gesagt?“
Venia biss sich auf die
Lippe. Es gehörte sich nicht für eine Dienerin, Gespräche zu
belauschen.
„Der Bote war sehr aufgeregt“, begann sie zögerlich.
„Er sprach von einer sich anbahnenden Katastrophe. Ich glaube, es
ging um eine Blutrache.“
„Er wird doch Namen genannt haben?“
Venia senkte den Blick zu Boden und spürte Hitze in ihr Gesicht
steigen.
„Er sagte, ein Alasthorn habe einen Jondaril umgebracht
und ein Jiron sinne auf Blutrache.“
„Weiter?“
„Der Hüter hat
mich danach verabschiedet.“
„Wie hat der Hüter die Botschaft
aufgenommen?“
„Er schien sehr beunruhigt.“
„Das glaube ich
aufs Wort“, schaltete sich Pollok ein. „Wenn die alte Feindschaft
zwischen dem Haus Weißenburg und den Alasthasiden wieder
aufflammt, wird das den Hüter natürlich sehr beunruhigt haben.“
„Ist der Bote noch in der Burg?“ Der Leiter der Wache sah fragend
durch die Reihe.
„Nein, Herr. Er ist zur vierten Stunde mit einem
frischen Pferd wieder abgereist“, informierte ihn der Wachmann.
„Hat ihm jemand ein Zimmer gerichtet?“
„Nein, Herr“, meldete
sich von rechts der Hausmarschall zu Wort.
„Er war also die ganze
Zeit beim Hüter?“, hakte der Leiter der Wache nach.
Niemand
vermochte ihm diese Frage zu beantworten.
„ Also verstehe ich dich
richtig, dass du den Hüter zum letzten Mal gestern Abend um die
dreiundzwanzigste Stunde lebend gesehen hast, und da war er wohlauf,
wenngleich beunruhigt?“, wandte sich der Mann erneut an Venia.
„Ja,
Herr.“
„Und heute Morgen? Wie ging es ihm heute Morgen? Als seine
Dienerin ist es doch deine Aufgabe, gerade morgens die Kamine noch
mal anzuheizen, nicht wahr? Wie ging es ihm da?“
So ungefähr
musste sich eine Maus vor einer Schlange fühlen, dachte Venia und
erstarrte. Dann holte sie tief Luft.
„Ich war heute Morgen nicht in
seinen Räumen“, gestand sie kleinlaut.
„Du warst nicht in seinen
Räumen? Willst du damit sagen, dass du erst nach der elften Stunde
nach dem Hüter gesehen hast? Als du ihn tot vorgefunden hast, war es
das erste Mal, dass du nach ihm geschaut hast?“
„Ja, Herr.“ Die
Stimme versagte ihr beinahe.
Doch bevor sich der Leiter der Wache
weiter über die pflichtvergessene Dienerin auslassen konnte, bekam
Venia unerwartete Hilfe.
„Das war mein Verschulden“, sagte Pollok
freimütig.
Venia spürte eine große Erleichterung und sogar
Dankbarkeit.
„Dein Verschulden? Könntest du das bitte näher
erläutern, Herr Pollok?“
„Natürlich.“ Pollok lehnte sich
entspannt zurück. „Ursprünglich hatte ich für heute eine Reise
geplant. Deswegen war Venia von Morgengrauen an bis zu besagter
elfter Stunde ausschließlich mit meinen Belangen beschäftigt.“
„Und der Hüter?“
Pollok lächelte.
„Eliazar und ich hatten
bezüglich der Zahl der nötigen Dienerschaft sehr unterschiedliche
Auffassungen, die zu, sagen wir mal, einem kleinen Konflikt führten.
Bis vor fünfzehn Jahren war es üblich, dass ein Sohn aus gutem
Hause seine Dienerschaft in die hohe Feste mitbrachte. Doch vor
fünfzehn Jahren beschloss der Hüter plötzlich, diese Regelung zu
ändern. Fortan sollten alle Arbeiten nur von der hauseigenen
Dienerschaft erledigt werden. Damit würden mehr Kammern frei werden,
in denen er weitere zahlende Schüler unterzubringen gedachte, so
sein Argument. Meine eigenen zwölf Diener wurden nach Hause
geschickt, und fortan musste ich mir eine Dienerin mit ihm teilen.
Ihm als einem Mann einfacher Herkunft machte das ja nicht viel aus,
denn es gab keine Arbeit, die er nicht beherrschte. Für mich war die
neue Regelung allerdings ein fortwährendes Ärgernis.“
Er lächelte
noch breiter.
„Und diesen Ärger habe ich damit zum Ausdruck
gebracht, dass ich, wenn ich in der Feste weilte, die gemeinsame
Kraft immer sehr beansprucht habe. Der Hüter hat an so manchen Tagen
seinen Kamin selbst befeuern, sein Bett und seine Wäsche selbst
machen müssen. Zum Ausgleich war ich häufig auf Reisen, dann hatte
er die Dienerin ganz für sich. Es war eine Art Spiel zwischen uns,
das wir seit fünfzehn Jahren spielten. Ich konnte ja nicht ahnen,
dass es so tragisch enden würde.“
Der Leiter der Wache nickte
nachdenklich.
„Hast du von diesem Spiel gewusst?“, wollte er dann
von Venia wissen.
„Nein, selbstverständlich hat sie das in dieser
Deutlichkeit nicht gewusst“, meldete sich der Hausmarschall
ungefragt zu Wort. „Ich habe sie bei der Einweisung lediglich
wissen lassen, dass es ihr nicht immer möglich sein wird, den Hüter
in angemessener Weise zu versorgen und dass dieser damit zurecht käme
und sie sich nicht sorgen bräuchte. Allerdings wusste sie auch,
dass, sollten beide Herren nach ihr verlangen, der Hüter immer
bevorzugt zu behandeln ist.“
Endlich war der Leiter der Wache
zufrieden.
„Ist dir in der letzten Zeit denn irgend etwas
Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte er wesentlich freundlicher.
„Hat der Hüter sich anders verhalten als sonst? Hat er vielleicht
Fremde getroffen? Bedrückte ihn irgend etwas?“
Das erste, was ihr
spontan zu „ungewöhnlich“ einfiel, war das seltsame Zeichen, das
sie in Polloks Zimmer gesehen hatte, aber das hatte ja mit dem Hüter
nichts zu tun.
„Nein“, antwortete sie deshalb nach ein paar
Sekunden.
„Hat der Hüter öfter dem Alkohol zugesprochen?“
Venia
sah ihn völlig überrascht an.
„Nein, ganz sicher nicht. Ich habe
ihm nie etwas anderes als Tee gebracht, und ich habe ihn auch nie
etwas anderes trinken sehen.“ Der Leiter der Wache lächelte
mitleidig.
„Ich frage dies, weil wir unter seinem Bett mehrere
leere Tonkrüge gefunden haben, die offenbar mit hochprozentigem
gefüllt gewesen waren, vermutlich Weinbrand.“
„Das kann nicht sein, ich habe doch auch
immer unter seinem Bett geputzt, da war nie etwas!“
„Vielleicht
hat ihn die Nachricht des Boten so aufgeregt, dass er in dieser Nacht
von seinen sonstigen Gewohnheiten abgewichen ist“, mutmaßte
Pollok. „Und dann ist er in seinem Zustand unvorsichtig geworden
und ist tief in die Keller gegangen. Wer weiß, was er dort zu finden
erhoffte. Jeder, der Eliazar kannte, weiß, wie sehr er den Zwergen
zugetan war, er war einer der größten Zwergenforscher, die je nach
dem Bann gelebt haben. Und da hat ihn dann der Fluch erwischt.“
Das
wiederum überzeugte den Leiter der Wache nicht auf Anhieb.
„Wie
erklärt du dir, dass er in seinem Bett versteinerte, statt auf immer
im Zwergenreich zu verschwinden?“
„Vergiss nicht, dass Eliazar
der mächtigste lebende Magier war. Vielleicht ist es ihm gelungen,
den Zwergenfluch zu verlangsamen, vielleicht hat er geglaubt, ihn
abgewehrt zu haben und ist in sein Bett gegangen, ohne jemandem zu
sagen, dass er selbst gewagt hatte, was er aus gutem Grund allen
Menschen immer strengstens verboten hat.“
Langsam nickte der Leiter
der Wache.
„Das könnte durchaus sein. Du kanntest ihn schließlich
besser als jeder von uns. Und ja, das hört sich plausibel an.“
Venia saß still auf ihrem Stuhl, froh, dass sie nicht mehr im
Zentrum des Interesses stand und gleichzeitig überzeugt, dass es
niemals so gewesen sein konnte, wie Pollok behauptete. Natürlich
kannte sie den Hüter nicht so lange und sicher auch nicht so gut wie
Pollok. Aber es war unvorstellbar, dass dieser alte, weise Mann
mitten in der Nacht mehrere Krüge Branntwein leerte und dann in die
verbotenen Keller torkelte. Nach mehreren Krügen Branntwein wäre er
eher an seinem Erbrochenen erstickt, als überhaupt noch über eine
Türschwelle zu kommen. Und überhaupt, die Räume des Hüters lagen
im sechsten Stock. Selbst ein junger Mann würde es nach mehreren
Krügen Branntwein nicht von dort in die Keller schaffen, von denen
die ersten drei sogar ganz normal genutzt wurden, so dass die Gefahr
noch tiefer liegen musste.
„Wir befinden uns jetzt natürlich in einer maximal unvorteilhaften
Situation“, hörte sie Pollok weiter sprechen. „Unser Hüter ist
tot, die anderen Magier über alle Lande verstreut, um den Erntesegen
zu geben. Eliazar war ein weiser und ein mächtiger Mann. Er hat viel
politischen Einfluss geltend gemacht … der nicht immer bei allen
auf Gegenliebe stieß. Mir ist unbehaglich bei dem Gedanken, was die
Nachricht von seinem Tode auszulösen vermag, zumal es noch Wochen
dauern wird, bis unsere Magier zurück sind, so dass ein neuer Hüter
gewählt werden kann. Wir befinden uns derzeit in einem Machtvakuum,
und wir sind angreifbar.“ Zustimmendes, besorgtes Gemurmel brandete
auf. Schließlich erhob sich ein älterer, dicker Mann am Kopf der
Tafel, der Venia völlig fremd war.
„Was schlägst du vor, Herr
Pollok?“
„Nun“, sagte Pollok und wieder verstummte die
Geräuschkulisse, „ich könnte meinen Vater bitten, uns ein Heer
zur Verfügung zu stellen, dass allen zur Abschreckung dienen soll,
die vielleicht Übles im Schilde führen, bis wir einen neuen Hüter
gewählt haben. Das würde uns noch nicht mal etwas kosten.“
Die
Zustimmung erfolgte mit Applaus und Klopfen auf den Tischen.
Venia
saß immer noch still und betrachtete den Bibliothekaren in seiner
neuen Rolle. Er war gut. Sie hatte ihn immer für eitel und
oberflächlich gehalten und darüber vergessen, dass er jahrelang die
rechte Hand des Hüters gewesen war und unter den Nichtmagiern die
höchste Position inne hatte. Vielleicht hatte sie ihm Unrecht getan.
Pollok reagierte auf den Beifall, in dem er seine rechte Hand auf das
Amulett der hohen Feste legte und sich verneigte. Damit zeigte er an,
der Feste dienen zu wollen.
Aber Venia sah etwas ganz anderes.
Sie
sah den Siegelring an seiner Hand.
Den gleichen Siegelring, den sie
am Morgen versteinert an Eliazars steinerner Hand gesehen hatte.