Edmunds Stimme war kaum zu überhören, sodass Trevor umgehend zu ihm geeilt war, um Esther von einem Sturz ins Meer abzuhalten. Er legte sie an Deck, und Edmund wiederholte ihren Namen, um sie zu Bewusstsein zu bringen, aber es half nichts. Esther hatte sich mit ihren Schilden überanstrengt. Einen Zustand, den Trevor nur zu gut nachempfinden konnte. Aber selbst Edmund sah nicht mehr taufrisch aus. Seine Schulter war eindeutig ausgekugelt und trotzdem hatte er den Koch gerettet. Niemand hätte es ihm übelgenommen, wenn er losgelassen hätte.
Zäher Bursche …
„Bringen wir sie zu Nelli, schnell!“, brüllte Trevor, und Edmund nickte.
„Das wird das Beste sein!“
Trevor richtete sich auf und verzog schmerzhaft sein Gesicht. Seine Rippen wollte nicht gänzlich wie er. Er atmete tief durch, um den Schwindel zu vertreiben. Er musste nur noch einen kurzen Moment durchhalten, dann konnte er sich in seiner Kabine ausruhen …
Ausruhen …
„Geht es dir wirklich gut?“, fragte Edmund.
„Alles in Ordnung“, log Trevor. „Du solltest dich lieber um deine Schulter kümmern.“
Trevor schulterte Esther und hielt sie mit einem Arm fest. Den anderen brauchte er, um sich auf dem schwankenden Schiff irgendwo festhalten zu können. Dabei entgingen ihm die blutige Hand der jungen Frau nicht. Magie schien nicht nur irgendeine Art Hokuspokus zu sein, sondern forderte einiges von seinem Anwender. Vermutlich war nichts im Leben ungefährlich. Trotzdem schien Esther eine wirklich starke Magierin zu sein, die trotz ihres Status, nicht über ein paar Anstrengungen klagte. Nein, sie ging weit über ihre Schmerzgrenze hinaus. Aber warum tat sie das?
Trevor war es nicht anders gewohnt. Als verwaister Junge hätte er entweder verhungern können oder musste arbeiten. Er hatte viel gesehen. Alte Schiffe, in denen immer Wasser in den Quartieren stand. Füße, die wegen der Dauerfeuchtigkeit abfaulten, Krankheiten, Maden und Würmer. Ratten überall …
Das Piratenschiff war in weitaus besserem Zustand gewesen, auf dem er aufgewachsen war, was ihn anhielt zu bleiben, anstatt eine Flucht zu versuchen. Er konnte nicht wissen, dass die Mannschaft und Johnny irgendwann zu einer Art Familie wurden. Eine Familie, die er gegen seinen Willen verlassen hatte, weil er vermutlich für zu schwach gehalten worden war. Er verstand nicht, warum Johnny ihn gerettet hatte. Den anderen Männern hatte er gesagt, dass sie bleiben und kämpfen sollten. Nur ihn hatte er bewusstlos geschlagen und über Bord geworfen. Johnny war eine Art Vater für Trevor gewesen. Aber sicherlich nicht die Art, die ihm die Ehre verweigert hätte, mit seinen Leuten den Tod zu finden.
Trevor wankte zur Treppe. Obwohl Esther nicht sehr schwer war, spürte er zunehmend die Last auf seiner Schulter. Ihre Beine stießen immer wieder gegen seinen verletzten Oberkörper, was ihm den Schweiß auf die Stirn trieb.
Stell dich nicht so an! Das sind bloß Rippen!
Edmund öffnete die Tür und trat ein. „Nelli?“, rief er aus.
„Ich bringe Esther in ihr Zimmer …“, erwiderte Trevor und lief an Edmund vorbei, während dieser die Heilerin holte.
Vorsichtig ließ Trevor Esther auf ihr Bett nieder, was wiederholt eine Welle des Schmerzes durch seinen Körper jagte. Das würde sicherlich eine Weile wehtun. Aber er hoffte, dass die Mannschaft zum größten Teil unversehrt war. Er schaute sich dann die Hand der Magierin an und setzte sich neben ihr Bett auf einen Stuhl. Er schätzte ihre Wunde so ein, dass sie gut verheilten würde, aber sicherlich nicht spurlos. Narben waren bestimmt etwas, das nicht gerne in ihren Kreisen gesehen wurden – vor allem an einer Frau. Bei Überfällen auf gut betuchte Schiffe, hatte er oft miterlebt, wie sich feine Herren davonstahlen, während ihre Frauen vor Angst erstarrt waren. Johnny hatte immer darauf geachtet, dass es nicht umgehend zu Kämpfen kam. Er mochte es auch nicht, wenn Menschen sinnlos starben. Allerdings hatte er sich oft den Spaß erlaubt, reichen Männern, die feige den Rückzug antraten, eine Lektion zu erteilen, in dem er ihnen die Kleidung wegnahm, sie zwang, die Kleider ihrer Frauen anzuziehen und sie somit bloßstellte.
Edmund schien nicht so ein Mensch zu sein, obwohl man es hätte von ihm erwarten können. Allerdings hatte Trevor noch nicht erlebt, dass er einer Konfrontation aus dem Weg gegangen war. Ganz im Gegenteil. Er hatte sich sogar mit dem größten der Mannschaft angelegt.
„Das fühlte sich unangenehm an …“, hörte Trevor Edmund sagen.
„Unangenehm? Das sollte schmerzen!“, erwiderte Nelli, die anscheinend zunächst Edmunds Schulter eingekugelt hatte.
Eilig kam die alte Frau herein, und Trevor machte ihr umgehend Platz. Musternd glitt ihr Blick auch über Trevor. „Eine Kiste, was …“, sagte sie, und Trevor lächelte gezwungen.
Edmund schien die Hexe auf den neusten Stand gebracht zu haben.
„Mir geht es gut, Oma. Esther ist wichtiger.“
„Das einzuschätzen, überlass mal mir, Bursche.“
Nelli untersuchte Esther, nickte hin und wieder, als würde sie sich selbst etwas erzählen und wandte sich dann den beiden zu. „Sie wird schon wieder. Sie braucht aber viel Ruhe. Wir sollten in den nächsten Tagen nicht erneut in einen Sturm geraten. Sie wird ihre Magie erstmal nicht sonderlich anwenden können, befürchte ich. Sie ist ausgebrannt wie eine alte Kerze.“
„Das ist … verständlich“, pflichtete Edmund Nelli bei. „Hauptsache, sie ist nicht allzu ernst verletzt.“
„Ich befreie sie aus ihrer nassen Kleidung, versorge ihre Wunden und setze einen stärkenden Tee auf.“
Das Schiff schwankte immer noch gefährlich hin und her. Nelli hatte sicherlich alle Hände damit zu tun, erstmal Esther zu versorgen.
„Können wir helfen?“, fragte Trevor, aber Nelli lachte.
„Ich denke, der Gräfin wird es nicht gefallen, wenn wir sie zu dritt aus ihrer Kleidung pellen.“
Umgehend lief Trevor rot an. „D… das meinte ich auch gar nicht. Ich meinte …“
„Jaja, du meintest …“, sprach Edmund grinsend dazwischen.
Trevor atmete tief durch. „Wir können den Sturm ab jetzt nur aussitzen. Ich wollte nur wissen, ob wir beim Tee oder den Verbänden helfen können.“
„Du ruhst dich aus!“, ermahnte Nelli den Formwandler. „Du siehst selbst aus, als seist du dem Tod näher als dem Leben. Wenn ich hier fertig bin, bist du an der Reihe. Du kannst dich selbst versuchen, von der nassen Kleidung zu befreien oder ich helfe dir dabei.“
„Oder ich …“, fügte Edmund hinzu. „Ich habe heute schon Schlimmeres gesehen als einen nackten Formwandler.“
Trevor wusste nicht, was Edmund meinte, aber an dessen Gesicht war zu erkennen, dass ihn irgendwas angeekelt hatte.
„Das bekomme ich noch allein hin, aber danke, Edmund.“
Trevor schaute alle Anwesenden an und lächelte dann. „Dann sollten wir uns wohl umziehen, bevor uns die Haut vom Fleisch fault …“
Er wandte sich der Tür zu und verließ das Zimmer mit Edmund zusammen. Zum Glück besaß er noch die gute Robe, die Edmund ihm gekauft hatte, sodass er diese anziehen konnte. Danach wartete er auf Nelli. Er wusste nicht, was sie bei gebrochenen Rippen machen wollte. Immerhin waren solche Verletzungen nichts Unübliches. Sie waren bisher auch ohne Hilfe verheilt.