Mit gemischten Gefühlen
beobachtete Agatha Eckerharth das sich seinem Ende nahendem
Schauspiel. Der Riesenkrake hatte ganze Arbeit geleistet und das
Schiff wie ein übereifriger Holzfäller in seine Einzelteile
zerhackt. Trümmer und Fässer schwammen an ihr vorbei. Auf einem
Stück konnte sie noch den Namen des Schiffes lesen: Unsinkbar II.
Ich hätte sofort hellhörig werden sollen ...
Teilnahmslos betrachtete
sie von ihrem Ruderboot aus, wie die letzten Schreie verstummten.
Während der Kapitän von der Mannschaft verlangt hatte, das Schiff
zu verteidigen, hatte sie sich klammheimlich eines der Beiboote
geschnappt. Zusätzlich hatte sie die anderen Boote ebenfalls zu
Wasser gelassen. Überlebende, die sie nach dem Gemetzel wegen Verrat
ins Wasser werfen wollten, konnte sie nicht gebrauchen. Ein paar mehr
Wasserleichen, die das Boot für sie antreiben konnten, umso mehr.
Schließlich hatte sie das einzige ohne Ruder erwischt.
Sie seufzte und schlang
die Arme um die Beine. Solange sie sich still verhielt, sollte der
Riesenkrake sie nicht angreifen. Es gab ein interessantere Ziele.
Inzwischen stand auch das zweite Schiff unter Belagerung. Ihr Kapitän
musste gedacht haben, dass sie es mit dieser Verstärkung schaffen
konnten. Tja, leider hatte die Gegenfraktion auch Verstärkung
bekommen. Böse Zufälle gab es ... Manchmal bekam sie das Gefühl,
sie zog das Unglück magisch an. Erst eine inkompetente Crew, dann
die Sache mit dem Skorbut und jetzt das!
Vor
ihnen zogen die Tentakeln die letzten Überlebenden unter Wasser.
Verdammt, dachte
Agatha. Bei der
Rate wird am Ende keine Leiche für einen Zombie übrig bleiben, der
mich zur nächsten Insel paddelt ...
Es platschte und ihr
Blick fiel auf ihren Kater Wilmor, der sich den gefangenen Fisch mit
seiner Pfote ins Maul katapultierte.
Agatha stutze. Fisch?
Während zwei Riesenkraken fröhlich durchs Meer wüteten?
Sie besah sich den Fang
ihres Begleiters genauer, den er ihr mit stolzer Brust vor die Füße
warf. Es war Stockfisch.
Munter sprang Wilmor
wieder nach vorne, um mit seiner Tatze weitere Nahrung aus dem Meer
zu retten.
Agatha zog ihn zurück.
„Scheuch das Wasser nicht auf. Wir wollen nicht, dass die
Ungetüme auf uns aufmerksam werden, hörst du?“
Störrisch befreite sich
der Kater aus ihrem Griff, um wieder über den Rand des Bootes zu
spähen.
„Ich sagte, du
sollst das Wasser nicht aufscheuchen!“, fauchte
Agatha und rammte ihren Dolch in den Rücken des Katers.
Wilmor
maunzte empört. Abgesehen davon ging es ihm gut. Schließlich war er
ein Zombie.
Ein
lautes Brummen ließ sie innehalten. Das Geräusch schallte über das
Meer und brachte ihr Inneres zum Vibrieren. War das der Kraken? Das
Geräusch wiederholte sich in der Ferne, bevor die Antwort aus ihrer
Nähe erklang.
Überrascht
sah sie, wie sich der zweite Kraken von dem anderen Schiff zurückzog
und wieder ins Meer abtauchte. Was soll das? Reicht den beiden
etwa ein Schiff mit seiner Besatzung als Mahlzeit? Lasst mir
wenigstens eine Leiche übrig!
Suchend blickte sie über die Wellen. Trümmer, Fässer, Seile, ein
hässlicher Hut ... aber keine toten Matrosen. Stattdessen bemerkte
sie, wie sich das zweite Schiff nun in ihre Richtung bewegte. Eine
Stimme rief etwas vom Deck aus über den Ozean in ihre Richtung. Was
wollen die hier? Fracht plündern?
Schützend duckte sie
sich, was bei der erhöhten Aussicht des Schiffes wohl kaum von
Nutzen war, um sich zu verbergen. Was soll ich tun? Soll ich auf
mich aufmerksam machen? Gut möglich, dass sie mich gefangen nehmen.
Oder in eine vollkommen falsche Richtung segeln. Verstecken kann ich
mich nicht, also ...
Ihr
Blick fiel auf das rote Pentagramm, welches sie als Vorbereitung für
eine Zombieerweckung bereits auf den Boden gemalt hatte, während um
sie herum der Kraken gewütet hatte.
„Mist“,
entfuhr es ihr und hastig
versuchte sie die Linien mit dem Ärmel ihres Hemdes wegzuwischen.
Auf keinen Fall durfte irgendetwas darauf hinweisen, dass sie eine
Nekromantin war. Die meisten Menschen reagierten eher ungehalten
darauf, wenn man die Toten wieder auf der Erde wandeln ließ.
Hastig tunkte sie den Ärmel ins Wasser und allmählich begann sich
die Farbe aufzulösen. Unterdessen kamen die Stimmen immer näher.
„Ooooooiiii,
lebt hier noch irgendwer?“
Idiot,
dachte sie, während sich das
Schiff immer weiter näherte. Lasst mich in Ruhe, ich
brauche eure Hilfe nicht. Es sei denn, ihr kippt plötzlich tot um,
um dann nach meiner Pfeife zu tanzen!
Hastig griff sie nach den bereits beschriebenen Fluchzetteln mit den
Zombiebefehlen und steckte sie hastig in die Tasche ihres Gürtels.
„Hey,
da drüben treibt jemand in einem Boot!“
Hastig warf Agatha sich ihre Weste über. Denn außerdem durften die
Neuankömmlinge nicht bemerken, dass sie eine Frau war, wenn sie als
Matrose dort anheuern wollte. Das brachte immer nur Probleme mit
sich.
Bereit
und gewappnet winkte sie dem Schiff zu. Eine Begegnung ließ sich
jetzt eh nicht mehr vermeiden. Was
sagen Menschen in so einer Situation?
„Hier
drüben! Hier drüben bin ich!“
Inzwischen
hatte sie das Schiff erreicht. Bei genauerer Betrachtung wollte
Agatha ihre Aussage wieder zurückziehen und lieber das Gegenteil
rufen. Dass Schiff, wenn es denn diese Bezeichnung verdiente, wirkte
eher, als wäre es aus alten Bauteilen notdürftig zusammengeflickt
worden. Ihr Rettungsboot mochte sehr viel kleiner sein, doch wirkte
es um einiges sicherer. Jetzt
gibt es kein Zurück mehr ...
Zwei
Männer lugten über die Reling und warfen ihr zwei Seile zu. „Hier,
befestige das an deinem Boot, wir ziehen dich hoch.“
Sie tat wie geheißen und
tatsächlich zog man sie hoch. Dabei erklang eine angefressene
Stimme: „Ein Überlebender soll das sein? Was hat der noch in
seinem Boot dabei? Ziegelsteine?“
Endlich
war das Boot oben und eine Hand wurde ihr gereicht. Sie gehörte zu
einem Mann mit langen braunen Haaren, der sie mit einem kräftigen
Ruck an Board zog. „Du hast Glück, dass wir gerade in der Nähe
waren. Gibt es noch weitere Überlebenden?“
„So
weit ich weiß nicht“, erwiderte Agatha wahrheitsgemäß. „Das
Ungetüm hat sie alle erwischt, bevor sie mein Boot erreichen
konnten. Nur ich und Wilmor haben es geschafft.“
Ihr
Retter kniff skeptisch die Augenbrauen zusammen, ging aber nicht
weiter darauf ein. „Gut, suchen wir weiter. Es können noch mehr
überlebt haben.“
Agatha
atmete auf. So weit so gut! Sie
bemerkte, dass außer den beiden Männern, die sie hochgezogen
hatten, auch zwei Frauen an Board waren. Eine, die nur etwas älter
als sie sein konnte und eine, die es definitiv war.
Gerade überlegte sie noch, ob sie sich mit ihrem wirklichen statt
ihrem männlichen Decknamen vorstellen sollte, als die Alte plötzlich
ausrief: „Gute
Güte, da steckt ein Dolch in deinem Kater!“