So, dann geht es hier mal wieder mit meinem Lieblingstrio weiter. Falls ich hier Blödsinn über Bolivien schreibe, weist mich gerne darauf hin. Ich habe zwar etwas recherchiert, war aber noch nie dort.
Weltreise
Die Autofahrt zum nächsten Flughafen erledigte Kandrajimo beinahe und da sich niemand vorstellen konnte, dass er in dem Zustand einen Interkontinentalflug überstehen würde, geschweige denn ins Flugzeug gelassen werden würde, blieben sie noch ein paar Tage in einem Hotel in der Stadt. Das gab Jonathan Niber auch noch ein wenig Zeit, sich an diese Welt und den Gedanken des bevorstehenden Fluges zu gewöhnen. Während Kandrajimo den ganzen Tag im Bett blieb und sich erholte, schleifte Tabea Jonathan in die Stadt und brachte ihm bei, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Sie war damit tatsächlich erfolgreich, auch wenn es noch seine Zeit brauchen würde, bis das Chaos einer Großstadt ihm keine Angst mehr einjagen würde.
Abends saß Tabea mit einem nagelneuen Laptop auf ihrem Bett und durchsuchte das Internet nach Informationen über den Standort des Tores. Kandrajimo beobachtete sie dabei stumm. Das Internet war eines der wenigen Dinge in dieser Welt, mit dem er so wenig anfangen konnte, wie Jonathan Niber mit Telefonen. Tabea hatte zunächst Informationen zu Bolivien gesucht und dann versucht, das Gebiet, in dem sich das Tor befand, ein wenig einzugrenzen. Es handelte sich um einen sehr abgeschiedenen Teil Boliviens, mitten im tropischen Regenwald. Das wunderte weder Tabea noch Kandrajimo, denn wäre das Tor an einem bevölkerten Ort gewesen, hätte man es bereits entdeckt. Tabea grenzte mithilfe von MacLyarks Tagebüchern die Position etwas ein und suchte dann nach Legenden, die möglicherweise das Tor erwähnten. Ohne Erfolg, sie würden es in Bolivien noch einmal versuchen, indem sie die Einheimischen nach Geschichten und Gerüchten fragten. Dann installierte sie ein Programm, mit dem sie die Landschaft von oben betrachten konnte, wie ein Vogel. Kandrajimo war fasziniert davon. Gemeinsam mit ihr suchte er das Gebiet mit den Augen ab, aber auch damit hatte sie keinen Erfolg. Sie sahen nichts als Bäume und besonders scharf war das Bild auch nicht.
„Du kannst mir nicht zufällig irgendwelche Spionage-Software besorgen?“, fragte sie Kandrajimo schließlich. „Irgendwas, mit dem man Zugriff auf Satelliten hat?“
„Frag mal in Norwegen nach“, meinte Kandrajimo. „Aber ich sehe deine Chancen als nicht so groß an, die meisten Länder mit Spionagesatelliten wissen nichts von unserer Welt und haben somit auch nur wenig Kontakt mit uns.“
„Warum nicht?“, fragte Tabea.
„Zu paranoid. Außerdem würden die die Wahrheit doch gar nicht verkraften.“
Kandrajimo schmerzte noch immer jede Bewegung. Trotzdem quälte er sich am Abend des zweiten Tages aus dem Bett und sagte Tabea, sie solle einen Flug buchen. Beim Gedanken an das Fliegen war ihm eigentlich nicht besonders wohl. Er war noch nie mit einem Flugzeug geflogen und der Gedanke behagte ihm nicht. Halbdrachen – jederzeit, aber Flugzeuge? Maschinen? Doch an eine Verschiebung wagte er in seinem Zustand nicht einmal zu denken. Und sie mussten endlich los. Wie lange war es her, dass Maja aufgebrochen war? Er zählte nach, es waren jetzt über zwei Wochen. Und seitdem hatten sie nichts von ihr gehört. Nichts.
Wäre Kandrajimo ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er sich eingestanden, dass sie keine Chance hatten, Maja wieder zu finden. Das Mädchen war auf sich allein gestellt. Aber Kandrajimo wollte sich das nicht eingestehen und er wollte alles geben, um Maja zu retten. Tabea war da schon nüchterner eingestellt. Sie hielt sich aber zurück und sagte nicht, was sie dachte. Stattdessen arbeitete sie konzentriert daran, die kleine Chance, die sie hatten, zu nutzen. Jonathan Niber hielt mit seiner Meinung dagegen nicht hinterm Berg. Für ihn war die Suche nach Maja vergebens, es ging ihm nur um das Auffinden eines neuen Weltentores.
Tabea buchte einen zeitnahen, jedoch fürchterlich teuren und sehr langen Flug nach Bolivien und sie brachen früh am Morgen auf.
Sie alle drei trugen Schwerter bei sich und es war nicht ganz unproblematisch, sie durch die Gepäckkontrolle zu bekommen, aber mit einer Kombination aus Zauberkreide und den Amuletten der Kamiraen gelang es.
In der Wartehalle klebte Jonathan Niber geradezu an der Fensterscheibe und sah den Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Er war beinahe wie ein kleines Kind.
„Hat er das beim letzten Mal auch gemacht?“, fragte Kandrajimo Tabea.
„Nein, da saß er herum wie ein paralysiertes Eichhörnchen.“
„Scheint langsam aufzutauen, der Gute.“
Tabea lachte, ohne von ihrer Strickarbeit aufzusehen. Ja genau. Tabea strickte. Sie hatte sich außerdem das Haar zu einem Knoten gebunden sowie einen weiten, grauen Rock und eine beigefarbene Jacke überzogen. Es war kaum zu glauben, was diese Kleidung aus ihr machte. Plötzlich sah sie so alt aus. Tabea hatte ein altersloses Gesicht, aber von ihrem Wesen und ihrer Dynamik her hatte sie immer so jung auf Kandrajimo gewirkt. Und jetzt sah sie wie eine alte Oma aus, wenn auch nicht annähernd so alt, wie sie wirklich war. Kandrajimo betrachtete sie. Sie war ein seltsamer Mensch. Und sie konnte sich wirklich gut tarnen.
Er kaufte sich eine Zeitung, vergrub die Nase darin und versuchte, den absolut unscheinbaren Normalbürger zu mimen.
„Welche Sprache spricht man eigentlich in Bolivien?“, fragte er irgendwann. „Bolivianisch? Bolivisch?“
„Spanisch“, antwortete Tabea. „Unter anderem.“
„Oh. Und, sprichst du Spanisch?“
„Ja.“
Warum fragte er überhaupt. Tabea sprach viele Sprachen. In all den Jahren, die sie lebte, hatte sie viel Zeit gehabt, sie zu lernen.
Ihr Flug hatte Verspätung und Kandrajimo nickte auf seinem Sitz ein. Dann, zwei Stunden nach Plan, ging es endlich los. Der Start tat ihm gar nicht gut, er verkrampfte sich und bekam stechende Schmerzen im Kopf und in der Brust. Doch als sie erst einmal in der Luft waren ging es ihm wieder besser und er nutzte den fast 20-stündigen Flug (Tabea hatte einfach keinen schnelleren bekommen können), um sich zu erholen. Zwei Mal mussten sie den Flieger wechseln, dann kamen sie endlich an.
Als sie aus dem Flughafen traten, stand bereits ein Auto für sie bereit. Tabea hatte offenbar an alles gedacht. Es war ein altes, etwas rostiges und gut für das Gelände geeignetes Auto. Mehr konnte Kandrajimo nicht darüber sagen, er hatte keine Ahnung von Automarken. Na ja, er konnte noch sagen, dass es grün war.
Es war recht kühl und Kandrajimo war leicht schwindelig. Er lehnte sich gegen das Auto. Tabea beobachtete ihn, offensichtlich besorgt.
„Geht es?“, fragte sie.
„Mhm. Kann es sein, dass die Luft hier komisch ist?“
„Möglich. Wir sind in 4100 Metern Höhe. Das hier ist der höchstgelegene internationale Flughafen der Welt.“
„Aha“, nuschelte Kandrajimo. Er hatte das Bedürfnis, sich sofort hier weg zu verschieben, vielleicht an die Norwegische Küste. Oder irgendwohin, wo ihn ein warmer Kamin erwartete.
„Warum ist es so kalt?“, fragte er.
„Wie gesagt, wir sind sehr weit oben“, erklärte Tabea. „Außerdem befinden wir uns auf der Südhalbkugel der Erde. Hier ist gerade Winter.“
„Wie, hier ist Winter?“, fragte Niber. „Wie kann es hier Winter sein?“
Tabea seufzte, öffnete die Autotür und setzte sich auf den Fahrersitz. „Steigt ein, ihr beiden. Kandrajimo, du kannst schlafen, während ich deinem Boss Nachhilfe in Erdkunde gebe.“
„Er ist nicht mein Boss, zumindest nicht in dem Sinne. Wir Kamiraen sind gleichberechtigt, das solltest du am besten wissen, Tabea. Und sei nicht zu streng mit ihm, woher soll er wissen, dass hier Winter ist? In unserer Welt ist überall immer die gleiche Jahreszeit.“
Die Landschaft, durch die sie fuhren, war zunächst nicht besonders spektakulär, eher trostlos und karg, auch wenn der Blick auf La Paz hinab einfach nur umwerfend war. Die Stadt lag in einem Canyon 400 Meter unterhalb des Flughafens. Über ihr, aber noch unter den Betrachtern, schwebten flauschige Wolken. Der Anblick konnte einem geradezu den Atem rauben.
Sie brauchten fast drei Tage, um das Gebiet, in dem Tabea das Tor vermutete, zu erreichen. Es lag östlich der Anden und hier sah die Landschaft schon besser aus. Hauptsächlich bestand sie aus stark bewaldeten, sehr steilen Bergen. Die Temperaturen wurden wärmer und die Luft feuchter. Die Vegetation wandelte sich zu einem tropischen Wald. Die Straßen führten abenteuerlich nahe am Abgrund entlang. Kandrajimo und Niber konnten beide kaum hinsehen.
Doch jetzt ging die Suche erst richtig los. Sie zogen von Ort zu Ort und fragten nach den typischen Anzeichen eines Weltentores. Tabea übernahm die Befragungen der Ortsansässigen, denn sie war die einzige, die sich mit ihnen verständigen konnte. Sie fragte nach Legenden über andere Welten oder ähnlichem. Sie fragte, ob es irgendwelche rätselhaft Verschwundenen gab, oder, im Gegenteil, ob Leute hier unvermittelt aufgetaucht waren, die nicht hierher passen zu schienen und sich beim Anblick ganz gewöhnlicher Dinge, wie zum Beispiel Autos, irgendwie unnormal verhielten.
„So wie er?“, fragte ein Tankstellenbesitzer sie irgendwann und zeigte auf Niber. Er umkreiste gerade staunend die Zapfsäule. „Ehrlich gesagt finde ich euch alle etwas seltsam.“