Voriger Abschnitt.
Der Erkläriker (2/2)
II
Die beiden trotteten durchs Unterholz, während Doktor Dalia Dunkeldussel die drei Pflanzen beschrieb, die sie suchten. Obwohl die Blumen selten sein sollten, dauerte es nicht lange, bis sie die erste Blume gefunden hatten. “Sie wachsen nur in dieser Gegend”, erklärte Doktor Dunkeldussel. “Das macht diese Blumen so rar, schätze ich.” Die Rosenkranzrose wuchs an der Seite eines dicken Baums mit einem Kaninchenbau daneben. Ringsumher war der Boden licht und hell. Die Rose hatte keine besonders rosige Erscheinung, viel eher sah sie aus, als wäre sie aus Holz gehobelt worden, so braun gemasert waren Strauch und sogar Blüten. Statt Stacheln sammelten sich kugelige Auswüchse am Stängel, die an Holzperlen an einer Kette erinnerten.
Doktor Dunkeldussel nahm ihr Taschenmesser und schnitt damit einen Stängel mit Blüte ab.
Jemand atmete plötzlich laut ein. Sofort wirbelte das klitzekleine Kätzchen in die Richtung herum, und was sah es da? Ein Kaninchen krabbelte gerade wieder zurück in seinen Bau. “Auweia!”, rief es noch und dann war es fort.
“Was war denn das?”, fragte das klitzekleine Kätzchen. Es hatte ein mulmiges Gefühl, aber ein Kaninchen würde sie doch sicher nicht angreifen. Oder?
“Ich weiß nicht”, murmelte Doktor Dunkeldussel. “Machen wir lieber weiter.”
Bis sie die nächste Pflanze fanden, dauerte es eine Weile. Das klitzekleine Kätzchen versuchte, die Blumen an ihrem Duft zu erschnuppern. Leider kannte es viele Pflanzen nicht, und deswegen waberte eine Vielzahl von unbekannten Düften durch die Luft. Viele waren herb, aber einige auch süß, und genau diese stammten vielleicht von Blüten.
“Moment mal!”, rief das klitzekleine Kätzchen. “Heb mich mal hoch.”
Doktor Dunkeldussel runzelte die Stirn, aber zögerte nicht und hob es vor ihr Gesicht. “So?”
“Höher”, sagte es. “Noch höher. Höööher. So ist gut!”
Sie hielt das klitzekleine Kätzchen über ihrem Kopf.
“Da! Könnte es das sein?” Es streckte eine Pfote in die Richtung, aus der ein sanfter, süßer Blütenduft zu ihnen wehte. Dort schlang sich um einen Ast eine Pflanze. Es war leicht zu übersehen, aber ihre Stängel waren üppig mit glockenförmigen, farblosen Blüten besetzt, die das Licht ein wenig streuten.
“Gut gesehen!”, rief Doktor Dunkeldussel. “Das ist die Himmelshyazinthe! Eigentlich ist sie keine richtige Hyazinthe, aber ihre Blüten sind fast identisch geformt wie bei einer.” Sie setzte das klitzekleine Kätzchen ab, holte ihr Taschenmesser hervor und kletterte mit festem Tritt den Baum hinauf. Währenddessen wanderte dem klitzekleinen Kätzchen ein wohlvertrauter Geruch in die Nase. Konnte es das Kaninchen von eben sein? Das Kätzchen suchte, aber es war nicht zu finden, nur ein Kaninchenbau war ganz in der Nähe. Und nebenbei bemerkt — roch es da nicht schon seit einiger Zeit nach Eichhörnchen? Das klitzekleine Kätzchen sah nach oben. An einem Baum hing das Eichhörnchen in der Höhe und hielt dem Blick des Kätzchens stand — dann hetzte es den Baum hinauf, eilte von Ast zu Ast über andere Bäume und war verschwunden. Im Augenwinkel landete ein Spatz auf einem Zweig. Dem klitzekleinen Kätzchen war, als schaute er sich aufmerksam um. Es gab es nicht gerne zu, aber …
“Frau Doktor?”
… es fühlte sich beobachtet.
Doktor Dalia Dunkeldussel kletterte gerade vom Baum herunter. “Ist etwas?”
Das klitzekleine Kätzchen wusste nicht, wie es das ausdrücken sollte. “Ich weiß es nicht. Der Wald schaut uns zu, glaube ich. Lass uns bitte weitergehen.”
Sie nickte ernst. “Natürlich. Die letzte Blume sollte einfach zu finden sein. Die Teufelstulpe hat eine schwarze Blüte. Blätter und Stängel sind rot. Außerdem soll sie einen anfauchen, wenn man sich ihr nähert.”
“Auffällig”, dachte das klitzekleine Kätzchen. Das war gut.
Ihre Suche trieb die beiden tiefer in den Hirschwald, auf einem Trampelpfad entlang. Weit und breit war keine Lichtung zu erahnen, nur der ein oder andere Weg der Waldbewohner kreuzte ihren und durchzog die weite Halle aus Bäumen. Unter den Gerüchen, die dem klitzekleinen Kätzchen ins Näschen stiegen war das milde Aroma von Blaubeeren, der herbe Duft von Bucheckern und der Moder von alten Blättern und morschem Holz. Aber nichts erinnerte an Blütenduft. Und dann war da noch etwas anderes … Was war das?
Das klitzekleine Kätzchen blieb stehen, die Ohren gespitzt, und schnupperte.
“Ja, stehenbleiben …”, seufzte Doktor Dalia Dunkeldussel. “Ich glaube, hier sind wir ganz falsch.”
Ein strenger Geruch war das. Und jetzt fielen dem Kätzchen auch die Schritte auf, die immer lauter wurden. Hinter ihnen, auf dem Trampelpfad. Das klitzekleine Kätzchen wandte sich um. Kein Zweifel, das war ein …
“… Wildschwein”, murmelte es.
“Hast du etwas gesagt?”, fragte Doktor Dalia Dunkeldussel gähnend.
“Da kommt ein —“ Das klitzekleine Kätzchen riss die Augen auf. “ZUR SEITE!”
Das Wildschwein preschte mit voller Wucht auf die beiden zu, die Hauer auf Doktor Dalia Dunkeldussel gerichtet, offensichtlich gewillt, sie aufzuspießen. Sie warf sich zur Seite und landete zappelnd in einem Strauch. Das klitzekleine Kätzchen brachte sich mit ein paar zügigen Sprüngen hinter einem Baum in Sicherheit, aber das Wildschwein schien sich ohnehin nicht für es zu interessieren.
Während sich Doktor Dunkeldussel mühsam wieder aufrappelte, richtete sich das Wildschwein zu ihr aus. Es schnaufte.
Den Blick auf das Schwein gerichtet, stolperte Doktor Dalia Dunkeldussel ein paar Schritte rückwärts. In ihren Haaren hingen Zweige und einzelne Blätter. Die beiden Blumen waren etwas ramponiert. Da preschte das Wildschwein wieder auf sie los und Doktor Dalia Dunkeldussel warf sich ins Moos.
Das klitzekleine Kätzchen konnte nur in seinem eiskalten Entsetzen zuschauen … da fiel ihm etwas auf.
Doktor Dalia Dunkeldussel war wieder auf den Beinen, das Wildschwein würde gleich erneut angreifen, da rief das klitzekleine Kätzchen: “Du willst ihr doch gar nicht wehtun! Du wartest ja immer, bis sie wieder ausweichen kann!”
Das Wildschwein grunzte verdutzt.
Dalia ließ ihre Deckung fallen. “Das stimmt!”, rief sie. “Was ist hier los?”
“Sie haben dich, Willi!”, flötete jemand über ihren Köpfen.
Das klitzekleine Kätzchen hob den Blick zum Himmel: da flatterte der Spatz von vorhin.
“Sieht ganz so aus”, grollte das Wildschwein. Der Spatz landete auf seinem Kopf und zwei weitere Gestalten schnellten ihm zur Seite — ein Kaninchen und ein Eichhörnchen.
“Haut ab”, blaffte das Eichhörnchen. “Sonst setzt es was!”
“Haben wir was Falsches gemacht?”, fragte das klitzekleine Kätzchen.
“Und ob!”, schimpfte das Eichhörnchen.
“Ihr pflückt seltene Blumen”, sprach das Kaninchen hastig.
“Aber”, antwortete das klitzekleine Kätzchen verwirrt, “wir machen das, um dem alten Erkläriker zu helfen …”
“Aha!” Das Eichhörnchen zeigte mit dem Finger erst auf das Kätzchen und dann auf Doktor Dunkeldussel. “Sie geben es zu! Sie stecken mit dem Alten unter einer Decke!”
Doktor Dunkeldussel trat vor, die Hände beschwichtigend erhoben. “Wir helfen ihm nur bei seiner Forschung.”
“Hasenköttel!”, rief das Eichhörnchen. Das Kaninchen schaute irritiert. “Ihr helft ihm höchstens, die letzten paar Exemplare dieser Blumen weiter zu dezimieren. Seltene Blumen sind selten, kapiert? Manche sagen auch vom Aussterben bedroht. Die Rose und die Hyazinthe sind noch besser dran, die werden es überleben, dass ihr euch einfach bei ihnen bedient habt, ohne zu fragen.”
“Fragen?”, platzte es aus Dalia heraus. “Entschuldigt mal, aber Pflanzen können ja nicht sprechen!”
“Uns fragen”, sprach das Eichhörnchen unbeeindruckt. “Natürlich können Pflanzen nicht sprechen, darum braucht es ja uns, die sie beschützen. Stellt euch mal eine Welt vor, in der die Eichhörnchen nicht sprechen könnten.”
“Oder die Schweine!”, warf Willi Wildschwein ein. “Nicht auszudenken, wie man uns schikanieren würde.”
“Und darum geht es uns”, sagte das Kaninchen. “Jemand muss die beschützen, die sich nicht wehren können.”
“Genau!”, rief das Eichhörnchen. “Wir werden nicht zulassen, dass noch eine einzige Teufelstulpe gepflückt wird. Euren Alten mussten wir verjagen, weil sonst nichts geholfen hat. Der hat einfach nicht zugehört! Und jetzt kommt ihr und macht den gleichen Mist! Ihr braucht es nicht zu leugnen, wir haben euch belauscht. Zieht Leine!”
Was für eine Ansage! Verdattert flitzte das klitzekleine Kätzchen zu Doktor Dalia Dunkeldussel. “Frau Doktor …”
“Ich weiß”, sprach sie, das Kätzchen kraulend und wieder mit einem Lächeln, das sie sicher Anstrengung kostete. Sie richtete sich auf und verkündete: “Wir wollen die Teufelstulpe nicht mehr pflücken. Und auch keine andere Blume.”
“Versprecht es!”, rief das Eichhörnchen.
Und die beiden versprachen es, was die Waldbewohner sichtlich beruhigte. Dennoch trat das Wildschwein mit erhobenen Hauern vor. “Geht jetzt besser. Und erklärt diesem Erkläriker-Kerl, worüber wir gesprochen haben.”
“Sind wir im Wald noch willkommen?”, fragte Doktor Dalia Dunkeldussel vorsichtig.
“Natürlich. Solange ihr die seltenen Blumen in Ruhe lasst und den Wald ordentlich behandelt.”
Da atmeten die beiden auf und verabschiedeten sich von den Waldbewohnern.
III
Als sie auf die Lichtung traten, saß der Erkläriker noch immer auf dem Baumstamm und notierte eifrig irgendetwas in einem Büchlein. Am Himmel sah das klitzekleine Kätzchen einen Habicht kreisen. Ob er auch zu den Beschützern der Blumen gehörte? Vielleicht wurde der Erkläriker von ihnen überwacht.
“Wir haben deine Blumen”, sagte Doktor Dalia Dunkeldussel und deutete auf die Blumen.
Der Erkläriker schaute auf. In seinen Augen leuchtete Freude über das unerwartete Geschenk. “Ihr habt das für mich auf euch genommen?”
“Ja”, rief das klitzekleine Kätzchen zu ihm auf. “Aber —“
“Die Zunft der Erkläriker wird es euch auf ewig danken!”
“Das freut uns”, sagte Doktor Dalia Dunkeldussel. “Wir müssen aber klarstellen —“
“Man sehe sich nur die Rose an, in ihrer robusten, scheinbar verholzten Schönheit! Sie tarnen sich als tote Sträucher und sind damit nicht auf ihre Stacheln als Fraßschutz angewiesen. Ich glaube, einige Pflanzenfresser sind längst dahinter gestiegen, aber die Sträucher mit ihren harten Auswüchsen scheinen doch nicht so schmackhaft zu sein. Merkwürdig eigentlich, dass sich diese Pflanze noch nicht über diesen Wald hinaus ausgebreitet hat. Es ist wahrlich ein Rätsel, aber es spornt auch den Forschergeist an!”
Das hatte das klitzekleine Kätzchen befürchtet. Der Erkläriker hörte einfach nicht auf zu quasseln.
“Na ja, all diese Dinge geben mir noch tiefere Wertschätzung für die Pflänzchen. Das Wichtigste für mich ist aber freilich der … Geschmack.”
“Was?”, entfuhr es dem klitzekleinen Kätzchen.
Doch der Erkläriker achtete nicht darauf. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Blumen in den Mund zu stopfen und dabei genüsslich zu seufzen. Dann spuckte der Erkläriker die Kugeln aus, als wären es Melonenkerne.
Dem Kätzchen und Frau Doktor blieb der Mund weit offen stehen.
“Du sagtest doch, du brauchst sie für deine Forschung!”, kreischte das klitzekleine Kätzchen. Hilflos schaute es zu Doktor Dalia Dunkeldussel auf und was es sah, ließ es ein paar Schritte zurücktreten. Frau Doktor kochte, nein, es war schlimmer, sie kochte über. Die Hände zu Fäusten geballt, holte sie tief Luft.
Und der ganze Wald erzitterte.
***
In der alten Version kam es nicht zur Konfrontation mit dem Erkläriker, sondern das kK und DDD berieten sich über ihr Vorgehen mit ihm. Das finde ich für den Plot eher unbefriedigend, thematisch finde ich es aber etwas runder.
Ende der alten Version
Da atmeten die beiden auf und verabschiedeten sich von den Waldbewohnern.
Kurz bevor sie die Lichtung erreichten, auf der sie den Erkläriker und ihren Schrott zurückgelassen hatten, drängte sich dem klitzekleinen Kätzchen eine Frage auf.
“Was machen wir jetzt mit den Blumen?”
“Nun”, überlegte Doktor Dalia Dunkeldussel, “die Blumen haben sehr gelitten, als ich mich auf den Waldboden geworfen habe.” Sie hob die geknickten Pflanzen vor sich. Zumindest die Hälfte der Blütenblätter hing noch an ihnen. “Aber vielleicht bringen sie dem Erkläriker noch etwas.”
Das brachte das klitzekleine Kätzchen zum Grübeln. “Ist es eine gute Idee, sie ihm zu geben? Die Blumen sind doch gefährdet. Was, wenn er dann denkt, dass er einfach weiter gedankenlos Blumen ausreißen kann, wenn er immer sagt: ‘Das ist für die Forschung, ich darf das’?”
“Er ist ein Forscher, ich erwarte eigentlich, dass er versteht, wann so etwas richtig ist und wann nicht. Andererseits … wir haben ihn ja erlebt. Vielleicht hast du recht.” Doktor Dunkeldussel ging zu einem Strauch und versteckte die Überreste der Blumen darunter. “So. Wir erklären ihm natürlich trotzdem, was los war. Sonst lernt er nichts daraus.”
Das klitzekleine Kätzchen dachte an die Begegnung mit dem Erkläriker zurück, und wie er ihm nicht zugehört hatte. Es glaubte nicht, dass es so einfach sein würde, diesem Wesen irgendetwas zu erklären. “Und was, wenn er wieder nicht zuhört?”
“Hm!” Doktor Dalia Dunkeldussel lächelte, das erste Mal seit langem wieder völlig aufrichtig. "Dann mache ich diese unhöfliche Flitzpiepe ordentlich zur Schnecke!”