Ich habe letztes Jahr noch Nona The Ninth von Tamsyn Muir beendet, Band 3 von The Locked Tomb. Da das mitten drin in der Story ist, ist eigentlich alles mögliche schon Spoiler ... Band 4 soll jedenfalls endlich kommen, jetzt, wo die Handlungsstränge wieder alle zusammengekommen sind. D: Das wird aber wahrscheinlich ein dicker Wälzer. Oh weh mir! Ich spüre die Winde des Winters wehen. Bitte erspare uns so ein Schicksal!
Ach die Odyssee, mein Jahresabschluss 2024. Wie bereits mal geschrieben die Versübertragung von Kurt Steinmann. (Die sei ausdrücklich empfohlen, das ließ sich 1) gut lesen und 2) war alles Zusatzmaterial sehr hilfreich.)
Was macht einen Text tiefsinnig oder qualitativ gut? Sind es Anspielungen auf andere, ältere Texte? Sind es Worte wie 'Tür', 'Licht' und 'Wohl', an denen hinten noch ein 'e' dran hängt? Sind es ambivalente Figuren? Komplexe Plots? Ist es eine Anklage unserer Gesellschaft? Ist es eine komplexe Sprache? Wiederkehrende Motive? Worauf ich hinaus will: Für sich genommen ist jeder einzelne Punkt Mumpitz, weswegen literarische Strömungen, die sich auf einzelne dieser Aspekte von Literatur versteifen, unweigerlich in Sackgassen führen.
Das Schöne an so alten Texten wie der Odyssee ist, dass viele literarische Anspielungen für normale Leser verloren gegangen sind. Die Sprache ist durch eine Übersetzung gefiltert - für die Leseerfahrung ist die meist entscheidend -, formale Gimmicks sind über die Zeit also verwittert. Was die Jahrhunderte überleben will, muss etwas Universelles ansprechen, zeitlos sein, von den Dingen handeln, die wirklich zählen. Da bleiben die Liebe, der Tod, Rache und Verrat übrig, die ganzen Klassiker eben. Es ist, als würde man einen Fantasyroman lesen, im besten Sinne. Die griechischen Götter sind ganz sicher keine direkten Allegorien für irgendwas, sondern immer auch einfach Götter. Und das ist auch gut so - reine Allegorien sind oft furchtbar langweilig.
Telemachos sehnt die Rückkehr seines Vaters herbei, der aus dem Krieg um Troja selbst nach 19 Jahren noch nicht zurückgekehrt ist und segelt ihm entgegen. Das Kind eifert den Eltern nach. Die Freier werben um Penelope und laben sich an Odysseus' Tieren. So kann das Zuhause auch in Not geworfen werden; ich jedenfalls finde das schon originell, trotz Klassikerstatus. Die Götter sind launisch und ungerecht, und doch muss sich Odysseus mit ihnen arrangieren - wer könnte solche Alltagsungerechtigkeiten nicht nachfühlen?
Dabei ist das keine leichte Kost. Allein die Tatsache, dass Odysseus Kalypsos persönlicher Lustsklave ist, bis sie ihn endlich freilässt, sollte einem zeigen, in was für einer gewalttätigen Welt diese Geschichte spielt, und dass in ihr Gewalt notwendig ist, weil andere sie ausüben, zeigt die Zyklopenepisode mit Polyphem. Der langatmig aufgebaute Freiermord setzt dem dann die Krone auf - das mag nicht die actionreichste zweite Hälfte der Literaturgeschichte sein, aber sie stellt eins klar: es ist offensichtlich leichter, ein Monster zu töten und dann fortzusegeln, als mit deinen Landsgenossen umzugehen, die dir nach dem Leben trachten. Am Ende ist der Mensch das schlimmere Monster.
Und wenn die Götter den Frieden wiederherstellen, grenzt das an ein Wunder. So könnte man einen realen, sicheren Frieden wohl auch betrachten.
Da vergibt man auch gerne mal die beiden Ausflüge in die Unterwelt. Beim ersten artet ein eigentlich gutes Kapitel in einen Zoorundgang aus, in dem viele irrelevante Büßer der Antike aufgezählt werden - da haben wir die Bezüge zu anderen Werken, nur leider in eher plumper Ausführung. Und im zweiten darf man als Leser noch einmal eine lange Zusammenfassung der Kapitel lesen, die man kurz zuvor bereits gelesen hat. Redundanz ist leider nicht immer die Mutter der Weisheit.
Teile von zwei Kapiteln können aber kaum den ganzen Rest ruinieren. Der Film von Christopher Nolan über die Odyssee kann kommen.