Vor ein paar Stunden Utopia Avenue von David Mitchell beendet.
Utopia Avenue ist eine fiktive Band, die 1967 gegründet wird und verschiedenste Strömungen der damaligen Zeit miteinander vereint: Tasteninstrumente, Gesang - Elf Holloway, Folksängerin; Bass, Gesang - Dean Moss, hat einen R'n'B und Rock'n'Roll-Hintergrung; Gitarre, Gesang - Jasper de Zoet (ein Nachfahre von Jacob de Zoet, nach dem ein anderer Roman von Mitchell benannt ist), spielt virtuos in einer Liga mit Eric Clapton und Jimi Hendrix, und Schlagzeug - Griff Griffin, Jazzdrummer.
Protagonisten sind Elf, Jasper und Dean, wobei der Manager Levon und Griff auch jeweils ein Kapitel bekommen. Das Buch ist interessant strukturiert. Es gibt größere Kapitel, die nach den LP-Seiten der Alben benannt sind (bspw. "Paradise is the Road to Paradise, Side One"), mit einzelnen Kapiteln, die nach Liedern benannt und aus Perspektive des Songwriters erzählt sind.
Ähnlich wie "Der Dreizehnte Monat" sind es die Einzelepisoden, die die große Erzählung ausmachen - die Geschichte der Band eben. Ihre Gründung, ihre Sorgen, ihre Liebschaften, ihre Krisen, Drogen, Sex, die Ekstase der Liveshows, Abgründe der eigenen Sexualität, feministische Problematiken, Schizophrenie, echte und falsche Freunde - die Musikszene in ihrer ganze Pracht. Für einen Nerd wie mich ist das hier ein Fest gewesen.
Vor allem auch bei den ganzen Auftritten von Figuren wie David Bowie, Leonard Cohen, Janis Joplin usw.
Wahrscheinlich ist das ganze auch ein bisschen verklärt, aber man spürt, dass hier ein kurzes, aber goldenes Zeitalter eingefangen wurde.
Die Prosa war wieder angenehm einfach, kreativ und reich. Statt wechselnden Ich-Erzählern hat er sich für personale Erzähler entschieden, was vielleicht damit zusammenhängt, dass hier ca. alle 20 Seiten die Perspektive wechselt und nicht erst alle 100.
Ich bin auch sehr froh, dass nach dem Doppel von Die Knochenuhren und Slade House, die einen deutlichen Fantasy-Einschlag hatten, diese Elemente erstmal wieder in den Hintergrund treten. So sehr ich die auch mag, die realen Probleme und Sorgen der Figuren interessieren mich etwas mehr.
Bei all meiner Lobhubelei für Mitchell zeichnen sich für mich als Langzeitfan auch langsam die Muster ab und vielleicht auch die ein oder andere Schwäche.
Das ganze Buch ist sehr unterhaltsam. Das ist wichtiger als vieles anderes. Aber es fällt schon auf, dass viele der Figuren den gleichen Witz an den Tag legen. Öfter als mir lieb ist fühlen sich viele der Nebenfiguren damit irgendwie ähnlich an. Die sind sozusagen der Grundzustand. Nur Figuren, die ausdrücklich einen Grund dazu haben, sind deutlich anders. Vielleicht muss man mit seinen Statisten in einem Roman voller Figuren so verfahren?
Es fällt auch auf, dass es sehr viele One Liner gibt, die sich super zitieren lassen und dann natürlich tiefsinnig klingen. Solche One Liner haben dann eine "X ist wie Y, man tut es, um nicht Z tun zu müssen." Mitchell versteht sein Handwerk und sucht nach genau diesen Dingen, damit er seinen Lesern geben kann, was sie von Mitchell erwarten.
Das liest sich jetzt natürlich sehr negativ, aber mir fällt es ja nur deshalb so auf, weil ich diesen Autoren so bewundere. Auch furchtbar talentierte Künstler zeigen Licht und Schatten, wenn man ihnen analytisch auf die Pelle rückt. Terry Pratchett muss sich das auch von mir gefallen lassen. 
Ich habe dieses Buch auf Englisch gelesen. Wenn ich es jetzt mit A Game of Thrones vergleiche, dann ist Mitchells Stil deutlich flexibler und nahbarer, nicht so kühl distanziert wie der von Martin. Er ist aber auch deutlich britischer, was für mich viel Googlen bedeutet hat. Mit Urban Dictionary habe ich mir auch den Slang erschließen können und auf lange Sicht hat das positiv zur Erfahrung beigetragen.
Sehr sehr cool.
Leseempfehlung von mir, für Fans von Mitchell und Musikfans. Wer mit Pop/Rock/Psychedelia und Livemusik nichts anfangen kann, der würde mit diesem Buch vielleicht seine Schwierigkeiten haben. Irgendwann dieses Jahr kommt es bestimmt auch auf Deutsch raus. 