Kapitel 2
Immerhin, mein Domizil steht noch.
Manche würden wohl denken, der Südstaatenstiel wäre inzwischen etwas prätentiös, angeberisch, sogar protzig. Das mag wohl sein, aber als ich es damals errichten ließ, hat man als Mitglied meiner Schicht nun einmal so gebaut.
Ich sehe, dass die zum Grundstück gehörenden Felder bestellt werden, also scheint zumindest da der Pachtvertrag weitergelaufen. Der Kanzlei Stanley&Sons wird auch genug dafür bezahlt, dass sie sich um die Verwaltung kümmert. Das Haus selbst sieht von außen auch nicht verkommen aus, auch wenn die weiße Farbe durchaus einen neuen Anstrich vertragen könnte. Aber der Garten erscheint eher wie ein Naturschutzgebiet als ein Platz, zum gediegenen Parlieren und Lustwandeln.
Das werde ich auf jeden Fall mit gebotener Strenge anmerken müssen.
Das Metalltor mit meinem Wappen, der Turm eines Magus in den Wolken, ist noch wie an dem Tag, als ich es höchstpersönlich entworfen und angebracht habe. Zufrieden bemerke ich die Aura des Schutzzaubers, der davon ausgeht. Sie ist kaum schwächer geworden. Ein Zeichen, dass der Zauber überaus solide gewirkt wurde – selbstredend! - oder er kaum in Anspruch genommen wird. Angesichts des offensichtlichen Mangels an frei praktizierter Magie, keine echte Überraschung.
Das Tor selbst zeigt allerdings ernste Spuren von Verwitterung und Grünbefall.
Hinter den hohen Büschen, den wild gewachsenen Bäumen und den überwucherten Wegen, wirkt mein Heim in der mittlerweile aufziehenden Dunkelheit vielleicht sogar wie ein Spukhaus.
Ich öffne das Tor und muss die Schulter einsetzen, um es über den Boden zu schieben. Bewuchs mit tiefen Wurzeln krallt sich am Tor fest und ich muss es Stück um Stück nach innen zwingen, bis ich einen Spalt geschaffen habe, durch den ich durchschlüpfe.
Auf meinem Grund und Boden atme ich durch.
Heimaterde.
Die Energiespeicher des Hauses sind zum Bersten voll und wie eine wohlig kühle Brise an einem schwülen Sommerabend, erfrischt mich der Manafluss. Meine Erschöpfung verschwindet, als wäre sie nie da gewesen. Ich kämpfe automatisch gegen die Euphorie, die sich oft als Machttrunkenheit übermütig auswirkt. Aber ich bin kein junger Adept mehr, der sich und der Welt in seinem Überschwang nach der Art präsentieren muss:
Und nun sollen dienend Geister
Wohl nach meinem Willen leben.
Meine Wort’ und Werke
Kenn ich und den Brauch,
Und mit Willensstärke
Wirk‘ ich Wunder auch.
Frei nach einem großen deutschen Kundigen, der seine Erfahrungen aus der Lehrlingszeit, schön versteckt vor allen Augen, in seiner Poesie verarbeitet hat.
Trotzdem würde mir ein zufälliger Beobachter ansehen, wie die Last vieler schwerer Monate, wenn nicht Jahre, von den Schultern genommen wird. Lästige, schlecht verheilte Verletzungen verschwinden und die dunklen Schatten des Erlebten, die wie lauernde Schakale um die Mauern meines Unterbewusstseins herumschlichen, fliehen panisch vor dem Licht, in dem meine innere Festung aufs Neue erstrahlt.
Ein letzter Salut, eine letzte Erinnerung an die Familie, Freunde und Kameraden, die ich verlor und ich schließe dieses Kapitel meines Lebens und beginne ein Neues.
Das mag herzlos sein, aber mit der vorigen Welt, muss ich auch sie zurücklassen. Wesen wie ich, müssen von Zeit zu Zeit die Brücken hinter sich abbrechen. Sonst werden wir von all dem eingeholt, was sich zwangsläufig ansammelt.
Ich gehe beschwingt durch den verwilderten Garten, die Treppe hinauf, die schon lange nicht mehr gefegt wurde. Als ich meine Hand hebe, um nach der Eingangstür zu greifen, öffnet diese sich und zwei jungen Menschen, Kinder, sehen mich mit großen Augen an.
Das Mädchen, ich schätze sie auf vielleicht Zwölf, schiebt einen aschblonden Jungen, vermutlich etwas jünger, mit entschiedener Bewegung, schützend hinter sich.
Ihr rostrotes Haar steht wild in alle Richtungen und ihre grauen Augen verengen sich zu alarmierten Schlitzen. Sie reckt ihr Kinn entschlossen vor, eine Hand verschwindet in der Beuteltasche ihres ausgewaschenen Kapuzenwams und ballt sich dort zur Faust. Ich vermute ein Messer oder etwas ähnlich Kleines. Nichts, worüber ich besorgt bin.
»Lassen Sie uns in Ruhe. Wir haben niemand etwas getan. Und hier will ja sowieso sonst niemand wohnen.«
Ich stutze und muss lächeln. Was die beiden nicht sehen, ist die transparente Gestallt, die sich hinter ihnen manifestiert. Aeolfred, der Dschinn, Wächter meines Haus und meiner Geheimnisse, ist nach wie vor auf seinem Posten. Anders als die meisten meiner Standeskollegen, habe ich keine Wesen, die durch magische Bande in meine Dienste gezwungen sind. Ich habe Freunde, bisweilen Angestellte, meistens Partner. Vor- wie auch Nachteil dieses Arrangement ist, dass meine Anweisungen bei Bedarf neu interpretiert oder gar ignoriert werden. Ich schätze jedoch diese Flexibilität und Loyalität weitaus höher ein, als das sklavische Befolgen meiner Regeln. Was die Allermeisten nie verstehen, sehr zu meiner Betrübnis, ist, dass wahre Macht nur geteilt von Dauer sein kann. Auf einen Punkt konzentriert mag sie heller brennen, aber sie verzehrt sich dann selbst ebenso schnell.
Wenn mein alter Freund also zugelassen hat, dass diese Kinder, mein, nein, unser gemeinsames Heim benutzen, bin ich mir recht sicher, dass ich seine Überlegungen vollumfänglich gutheiße.
»Junge Dame«, antworte ich daher in meinem freundlichsten Tonfall, »Es liegt mir fern, Ihnen und Ihrem Kameraden ein Leid zuzufügen, aber Sie irren sich offensichtlich in zweierlei Hinsicht. Zum Einen wohnen Sie ja hier, und es scheint mir, dass das nicht gegen ihren Willen geschieht, zum Anderen ist dies hier auch mein Heim und ich gedenke, es wieder zu beziehen.«
Sie wird einige Nuancen bleicher und der Junge hinter ihr wirft mir einen entmutigten Blick zu.
Die Schultern des Mädchen sinken herab und ihre Faust lockert sich in ihrer Tasche.
»Gut«, seufzt sie. »Dürfen wir noch unsre Sachen holen?«
Ich lächle weiterhin. »Natürlich, doch darf ich fragen wozu?«
Sie will sich schon wegdrehen, als sie den Sinn meiner Worte erfasst. »Sie werfen uns doch sicher raus, oder nicht?« Ein misstrauischer Blick trifft mich und ihre Hand wandert wieder zu der vermeintlichen Waffe in ihrer Tasche.
»Bislang sehe ich weder die Notwendigkeit noch einen guten Grund dafür. Das Haus ist groß und hat weitaus mehr Zimmer, als eine einzelne Person benötigt. Und offensichtlich haben Sie mein Heim, in meiner nicht unbeträchtlich langen Abwesenheit, zu dem Ihrem gemacht. Die Vernunft gebietet es, bevor wir überstürzte Maßnahmen ergreifen, dass wir sehen, ob wir nicht unser Heim zu unserem gemeinsamen gegenseitigen Nutzen bewohnen können. Sollten sich dahingehend unüberbrückbare Differenzen ergeben, können wir fürderhin weitere Schritte ins Auge fassen.«
Für einen Moment frage ich mich, ob ich mich vielleicht nicht klar genug ausgedrückt habe. Die Sprache seit meinem letzten Aufenthalt hat sich erwartungsgemäß weiterentwickelt und gerade die junge Generation ist zu allen Zeiten bekannt dafür, ihren eigenen Code zu elaborieren.
»Sie sagen, wir dürfen bleiben?« Die junge Dame bringt es weitaus besser auf den Punkt, als ich es konnte. Ich bin oft so sehr auf die Präzision meiner Argumente bedacht, dass ich bisweilen ihre Kernaussage verwässere. Daher nicke ich respektvoll.
»Ja, junge Dame, das ist wahrlich die Quintessenz meiner übertrieben langen Rede.«
Sie wirft mir noch einen misstrauischen Blick zu, doch ich bemühe mich, aktiv friedfertig gastfreundlich zu sein. Natürlich ist auch dies keine Hypnose, lediglich die Übermittlung meines Willens.
Nicht mehr ganz so misstrauisch, lockert sich ihre Haltung und auch der Junge entspannt sich sichtlich. »Danke, schätze ich. Aber warum reden Sie so geschwollen daher. Sie klingen ja wie ein Shakespeare-Typ aus den Britischen Podcasts.«
Ich bin mir nicht sicher, ob nun ich verstehe, was genau sie meint. Diese Britischen Schalen-Zauber nach der Shakespeare-Tradition sind mir bislang jedenfalls nicht geläufig. Womöglich hat die Magie-Kunst in meiner Abwesenheit doch zu neuer Blüte gefunden?
Sie gibt mir den Weg frei und ich betrete die Vorhalle, die anders als der Garten, in einem vorzeigbaren Zustand ist. Zwar liegen hier und da diverse Kleidungsstücke und Kartons mit … Dingen … herum und ein Turm flacher Schachteln mit der Aufschrift Joe‘s Pizza Factory stapelt sich angelehnt an die Statue meines geschätzten Freundes und Kollegen Isaac Newton, die schon immer das wuchtige Zentrum der Vorhalle einnahm. Aber alles in allem wirkt es nicht verwahrlost, nur … sehr bewohnt.
Im Erdgeschoss hat sich offenbar das ganze Leben der beiden Kinde abgespielt. Die Küche zeugt von einigen Kochversuchen, immerhin scheinen Wasser und Gas weiterhin verfügbar. Strom hingegen muss ich erst wieder beantragen, hier haben meine anwaltlichen Verwalter wohl gedacht, da könnten sie einsparen. Der kleine Tafelraum neben der Küche, sonst der Aufenthaltsraum für das Personal, aber auch mich, wenn es keinen Anlass für den Saal oben gibt, ist zum Schlaf/Wohnraum umfunktioniert worden. Auf den beiden Chaiselongues liegen nun Decken verschiedenster Machart und muss ich erinnerungsschwanger lächeln, dass dort auch ein paar zu finden sind, die ich von meinen Reisen mitgebracht habe. Die Hopi-Decke, der elfische Bausch, die goldene Schafsfelldecke meiner griechischen Mentorin, die das Ding loshaben wollte, nachdem es so viel Unfrieden gestiftet hatte. Sogar dann hatte mir eine Weile ein Areskult nachgestellt, weil sie dachten, das Ding gehöre in irgendeinen Garten.
Griechen und ihre Geschenke eben …
Die Haushaltsräume und die Lagerkammern, sowie die Garderoben, scheinen weitgehendst unangetastet. Nur die Anzahl der Dosen mit langhaltbaren Lebensmitteln hat sichtlich abgenommen. Gut so.
Die beiden Kinder verfolgen mich auf Schritt und Tritt und achten mit Argusaugen darauf, dass ich keine ihrer Sachen anrühre, aber mir geht es hauptsächlich darum, ob die diskreten Sigelia, die den magischen Schutz des Hauses und seiner Grundfesten gewährleisten sollen, noch intakt sind. Ich muss mir aber keine Sorgen machen. Es wird so wenig Magie in dieser Welt gewirkt, dass hier, jedenfalls vor den Nebelschleiern, mehr als genug zur automatischen Aufladung der Schutzzeichen vorhanden ist.
Ich beende meinen Rundgang an der großen Treppe, die ins Obergeschoss führt.
Beide mustern mich gespannt und ich ahne warum.
Also setze ich mich erst einmal auf die dritte Stufe und neige den Kopf zur Einladung an sie, es mir gleichzutun.
Zögerlich setzen die beiden sich, schauen heimlich wissend die Treppe hoch, wo Aeolfred, nur für mich sichtbar, ausharrt.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr Beiden mehrfach versucht habt, das Stockwerk da oben zu betreten? Erfolglos, ganz zweifellos.«
Junge wie Mädchen starren mich mit offenem Mund an. »Wie können Sie das wissen?« Es ist das Erste, was ich von dem Knaben zu hören bekomme. Er taut angesichts eines Rätsels auf? Sehr gut.
»Es ist mein Heim, Knabe. Und es ist mein Freund, der es übernommen hat, die Geheimnisse des Heims zu wahren und in Eurem Fall viel wichtiger, Euch vor ihren oft verderblichen Einflüssen zu schützen.
Ich blicke die Treppe hinauf, nicke Aeolfred zu und der Luftdschinn wird nun auch für die Kinder sichtbar. Die Kinder springen auf, aber das Mädchen ist nicht halb so überrascht, wie ich angenommen habe. Interessant.
»Das … hat uns immer hinab getragen, wenn wir auf die vorletzte Stufe kamen?« Der Junge lacht begeistert. »Wie cool ist das denn?«
Ich zucke die Schultern: »Ich nehme an, so kühl es Aeolfred haben wollte.«
Zwei Augenpaare schauen mich an, als hätte ich etwas sehr Seltsames gesagt. Kinder ...
»Also, ihr habt jetzt Aeolfred kennengelernt. Seine Fähigkeit in menschlichen Lauten zu kommunizieren ist leider eingeschränkt, aber ihr werdet seine Laute bald gut genug interpretieren können, um euch zu unterhalten.«
»Wie bei BB8 ? Coooool ….«
Nun schaue ich den Jungen verständnislos an. Ich werde wohl eine Weile brauchen, mich in das aktuelle Jugendsprech hineinzufinden.
Ich sitze weiterhin, während die beiden vor mir stehen. Ich sehe es dem Knaben an, dass er am liebsten die Treppe hochstürmen will, um mit dem Dschinn dieses BB8-Ding zu machen. Aber eines nach dem anderen, wird mir bewusst. Wenn ich die beiden hier bleiben lasse, übernehme ich, wohl oder weniger wohl, die Verantwortung für ihr Wohlergehen, körperlich, wie geistig. Ich unterdrücke ein Seufzen. Eben erst musste ich meine Ziehtochter zurücklassen und konnte mich mit Mühe davon abhalten, vor Trauer rasend, Rache zu nehmen. Ob ich diese Bürde erneut nach so kurzer Zeit, bereit bin zu tragen?
Das würde wohl die Zeit zeigen. Ich gebe mir also einen Ruck und fasse die beiden ins Auge. Den hageren aschblonden Jungen mit den hungrigen Augen. Das Mädchen an der Schwelle zur Frau, mit der lebhaften Aura, die Donnersturm und fruchtbare Erde in sich in chaotisch harmonischer Weise vereint. Ganz klar, ein Hexenblut. Wie konnte mir das nur entgehen?
Als sie sieht, wie ich sie anschaue, verblasst ihre Aura schrittweiße, bis sie nur noch einen magisch völlig inaktiven, charakterlich eher introvertierten Charakter anzeigt. Ich bin begeistert. Autodidaktische Auratarnung? Wie der Knabe, liebe auch Wunder und Rätsel.
Ich lächle, aktiv einladend und offen, bereit für Freundschaft und Bruderschaft. Große Bruderschaft. Und nein, immer noch keine Hypnose.
»Mein Name ist Carnovan. Und wie darf ich euch nennen?«