Beiträge von Tom Stark

    Kapitel 2

    Immerhin, mein Domizil steht noch.
    Manche würden wohl denken, der Südstaatenstiel wäre inzwischen etwas prätentiös, angeberisch, sogar protzig. Das mag wohl sein, aber als ich es damals errichten ließ, hat man als Mitglied meiner Schicht nun einmal so gebaut.
    Ich sehe, dass die zum Grundstück gehörenden Felder bestellt werden, also scheint zumindest da der Pachtvertrag weitergelaufen. Der Kanzlei Stanley&Sons wird auch genug dafür bezahlt, dass sie sich um die Verwaltung kümmert. Das Haus selbst sieht von außen auch nicht verkommen aus, auch wenn die weiße Farbe durchaus einen neuen Anstrich vertragen könnte. Aber der Garten erscheint eher wie ein Naturschutzgebiet als ein Platz, zum gediegenen Parlieren und Lustwandeln.
    Das werde ich auf jeden Fall mit gebotener Strenge anmerken müssen.
    Das Metalltor mit meinem Wappen, der Turm eines Magus in den Wolken, ist noch wie an dem Tag, als ich es höchstpersönlich entworfen und angebracht habe. Zufrieden bemerke ich die Aura des Schutzzaubers, der davon ausgeht. Sie ist kaum schwächer geworden. Ein Zeichen, dass der Zauber überaus solide gewirkt wurde – selbstredend! - oder er kaum in Anspruch genommen wird. Angesichts des offensichtlichen Mangels an frei praktizierter Magie, keine echte Überraschung.
    Das Tor selbst zeigt allerdings ernste Spuren von Verwitterung und Grünbefall.
    Hinter den hohen Büschen, den wild gewachsenen Bäumen und den überwucherten Wegen, wirkt mein Heim in der mittlerweile aufziehenden Dunkelheit vielleicht sogar wie ein Spukhaus.
    Ich öffne das Tor und muss die Schulter einsetzen, um es über den Boden zu schieben. Bewuchs mit tiefen Wurzeln krallt sich am Tor fest und ich muss es Stück um Stück nach innen zwingen, bis ich einen Spalt geschaffen habe, durch den ich durchschlüpfe.
    Auf meinem Grund und Boden atme ich durch.
    Heimaterde.
    Die Energiespeicher des Hauses sind zum Bersten voll und wie eine wohlig kühle Brise an einem schwülen Sommerabend, erfrischt mich der Manafluss. Meine Erschöpfung verschwindet, als wäre sie nie da gewesen. Ich kämpfe automatisch gegen die Euphorie, die sich oft als Machttrunkenheit übermütig auswirkt. Aber ich bin kein junger Adept mehr, der sich und der Welt in seinem Überschwang nach der Art präsentieren muss:
    Und nun sollen dienend Geister
    Wohl nach meinem Willen leben.
    Meine Wort’ und Werke
    Kenn ich und den Brauch,
    Und mit Willensstärke
    Wirk‘ ich Wunder auch.
    Frei nach einem großen deutschen Kundigen, der seine Erfahrungen aus der Lehrlingszeit, schön versteckt vor allen Augen, in seiner Poesie verarbeitet hat.

    Trotzdem würde mir ein zufälliger Beobachter ansehen, wie die Last vieler schwerer Monate, wenn nicht Jahre, von den Schultern genommen wird. Lästige, schlecht verheilte Verletzungen verschwinden und die dunklen Schatten des Erlebten, die wie lauernde Schakale um die Mauern meines Unterbewusstseins herumschlichen, fliehen panisch vor dem Licht, in dem meine innere Festung aufs Neue erstrahlt.
    Ein letzter Salut, eine letzte Erinnerung an die Familie, Freunde und Kameraden, die ich verlor und ich schließe dieses Kapitel meines Lebens und beginne ein Neues.
    Das mag herzlos sein, aber mit der vorigen Welt, muss ich auch sie zurücklassen. Wesen wie ich, müssen von Zeit zu Zeit die Brücken hinter sich abbrechen. Sonst werden wir von all dem eingeholt, was sich zwangsläufig ansammelt.

    Ich gehe beschwingt durch den verwilderten Garten, die Treppe hinauf, die schon lange nicht mehr gefegt wurde. Als ich meine Hand hebe, um nach der Eingangstür zu greifen, öffnet diese sich und zwei jungen Menschen, Kinder, sehen mich mit großen Augen an.
    Das Mädchen, ich schätze sie auf vielleicht Zwölf, schiebt einen aschblonden Jungen, vermutlich etwas jünger, mit entschiedener Bewegung, schützend hinter sich.
    Ihr rostrotes Haar steht wild in alle Richtungen und ihre grauen Augen verengen sich zu alarmierten Schlitzen. Sie reckt ihr Kinn entschlossen vor, eine Hand verschwindet in der Beuteltasche ihres ausgewaschenen Kapuzenwams und ballt sich dort zur Faust. Ich vermute ein Messer oder etwas ähnlich Kleines. Nichts, worüber ich besorgt bin.
    »Lassen Sie uns in Ruhe. Wir haben niemand etwas getan. Und hier will ja sowieso sonst niemand wohnen.«
    Ich stutze und muss lächeln. Was die beiden nicht sehen, ist die transparente Gestallt, die sich hinter ihnen manifestiert. Aeolfred, der Dschinn, Wächter meines Haus und meiner Geheimnisse, ist nach wie vor auf seinem Posten. Anders als die meisten meiner Standeskollegen, habe ich keine Wesen, die durch magische Bande in meine Dienste gezwungen sind. Ich habe Freunde, bisweilen Angestellte, meistens Partner. Vor- wie auch Nachteil dieses Arrangement ist, dass meine Anweisungen bei Bedarf neu interpretiert oder gar ignoriert werden. Ich schätze jedoch diese Flexibilität und Loyalität weitaus höher ein, als das sklavische Befolgen meiner Regeln. Was die Allermeisten nie verstehen, sehr zu meiner Betrübnis, ist, dass wahre Macht nur geteilt von Dauer sein kann. Auf einen Punkt konzentriert mag sie heller brennen, aber sie verzehrt sich dann selbst ebenso schnell.
    Wenn mein alter Freund also zugelassen hat, dass diese Kinder, mein, nein, unser gemeinsames Heim benutzen, bin ich mir recht sicher, dass ich seine Überlegungen vollumfänglich gutheiße.
    »Junge Dame«, antworte ich daher in meinem freundlichsten Tonfall, »Es liegt mir fern, Ihnen und Ihrem Kameraden ein Leid zuzufügen, aber Sie irren sich offensichtlich in zweierlei Hinsicht. Zum Einen wohnen Sie ja hier, und es scheint mir, dass das nicht gegen ihren Willen geschieht, zum Anderen ist dies hier auch mein Heim und ich gedenke, es wieder zu beziehen.«
    Sie wird einige Nuancen bleicher und der Junge hinter ihr wirft mir einen entmutigten Blick zu.
    Die Schultern des Mädchen sinken herab und ihre Faust lockert sich in ihrer Tasche.
    »Gut«, seufzt sie. »Dürfen wir noch unsre Sachen holen?«
    Ich lächle weiterhin. »Natürlich, doch darf ich fragen wozu?«
    Sie will sich schon wegdrehen, als sie den Sinn meiner Worte erfasst. »Sie werfen uns doch sicher raus, oder nicht?« Ein misstrauischer Blick trifft mich und ihre Hand wandert wieder zu der vermeintlichen Waffe in ihrer Tasche.
    »Bislang sehe ich weder die Notwendigkeit noch einen guten Grund dafür. Das Haus ist groß und hat weitaus mehr Zimmer, als eine einzelne Person benötigt. Und offensichtlich haben Sie mein Heim, in meiner nicht unbeträchtlich langen Abwesenheit, zu dem Ihrem gemacht. Die Vernunft gebietet es, bevor wir überstürzte Maßnahmen ergreifen, dass wir sehen, ob wir nicht unser Heim zu unserem gemeinsamen gegenseitigen Nutzen bewohnen können. Sollten sich dahingehend unüberbrückbare Differenzen ergeben, können wir fürderhin weitere Schritte ins Auge fassen.«
    Für einen Moment frage ich mich, ob ich mich vielleicht nicht klar genug ausgedrückt habe. Die Sprache seit meinem letzten Aufenthalt hat sich erwartungsgemäß weiterentwickelt und gerade die junge Generation ist zu allen Zeiten bekannt dafür, ihren eigenen Code zu elaborieren.
    »Sie sagen, wir dürfen bleiben?« Die junge Dame bringt es weitaus besser auf den Punkt, als ich es konnte. Ich bin oft so sehr auf die Präzision meiner Argumente bedacht, dass ich bisweilen ihre Kernaussage verwässere. Daher nicke ich respektvoll.
    »Ja, junge Dame, das ist wahrlich die Quintessenz meiner übertrieben langen Rede.«
    Sie wirft mir noch einen misstrauischen Blick zu, doch ich bemühe mich, aktiv friedfertig gastfreundlich zu sein. Natürlich ist auch dies keine Hypnose, lediglich die Übermittlung meines Willens.
    Nicht mehr ganz so misstrauisch, lockert sich ihre Haltung und auch der Junge entspannt sich sichtlich. »Danke, schätze ich. Aber warum reden Sie so geschwollen daher. Sie klingen ja wie ein Shakespeare-Typ aus den Britischen Podcasts.«
    Ich bin mir nicht sicher, ob nun ich verstehe, was genau sie meint. Diese Britischen Schalen-Zauber nach der Shakespeare-Tradition sind mir bislang jedenfalls nicht geläufig. Womöglich hat die Magie-Kunst in meiner Abwesenheit doch zu neuer Blüte gefunden?
    Sie gibt mir den Weg frei und ich betrete die Vorhalle, die anders als der Garten, in einem vorzeigbaren Zustand ist. Zwar liegen hier und da diverse Kleidungsstücke und Kartons mit … Dingen … herum und ein Turm flacher Schachteln mit der Aufschrift Joe‘s Pizza Factory stapelt sich angelehnt an die Statue meines geschätzten Freundes und Kollegen Isaac Newton, die schon immer das wuchtige Zentrum der Vorhalle einnahm. Aber alles in allem wirkt es nicht verwahrlost, nur … sehr bewohnt.

    Im Erdgeschoss hat sich offenbar das ganze Leben der beiden Kinde abgespielt. Die Küche zeugt von einigen Kochversuchen, immerhin scheinen Wasser und Gas weiterhin verfügbar. Strom hingegen muss ich erst wieder beantragen, hier haben meine anwaltlichen Verwalter wohl gedacht, da könnten sie einsparen. Der kleine Tafelraum neben der Küche, sonst der Aufenthaltsraum für das Personal, aber auch mich, wenn es keinen Anlass für den Saal oben gibt, ist zum Schlaf/Wohnraum umfunktioniert worden. Auf den beiden Chaiselongues liegen nun Decken verschiedenster Machart und muss ich erinnerungsschwanger lächeln, dass dort auch ein paar zu finden sind, die ich von meinen Reisen mitgebracht habe. Die Hopi-Decke, der elfische Bausch, die goldene Schafsfelldecke meiner griechischen Mentorin, die das Ding loshaben wollte, nachdem es so viel Unfrieden gestiftet hatte. Sogar dann hatte mir eine Weile ein Areskult nachgestellt, weil sie dachten, das Ding gehöre in irgendeinen Garten.
    Griechen und ihre Geschenke eben …
    Die Haushaltsräume und die Lagerkammern, sowie die Garderoben, scheinen weitgehendst unangetastet. Nur die Anzahl der Dosen mit langhaltbaren Lebensmitteln hat sichtlich abgenommen. Gut so.
    Die beiden Kinder verfolgen mich auf Schritt und Tritt und achten mit Argusaugen darauf, dass ich keine ihrer Sachen anrühre, aber mir geht es hauptsächlich darum, ob die diskreten Sigelia, die den magischen Schutz des Hauses und seiner Grundfesten gewährleisten sollen, noch intakt sind. Ich muss mir aber keine Sorgen machen. Es wird so wenig Magie in dieser Welt gewirkt, dass hier, jedenfalls vor den Nebelschleiern, mehr als genug zur automatischen Aufladung der Schutzzeichen vorhanden ist.
    Ich beende meinen Rundgang an der großen Treppe, die ins Obergeschoss führt.
    Beide mustern mich gespannt und ich ahne warum.
    Also setze ich mich erst einmal auf die dritte Stufe und neige den Kopf zur Einladung an sie, es mir gleichzutun.
    Zögerlich setzen die beiden sich, schauen heimlich wissend die Treppe hoch, wo Aeolfred, nur für mich sichtbar, ausharrt.
    »Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr Beiden mehrfach versucht habt, das Stockwerk da oben zu betreten? Erfolglos, ganz zweifellos.«
    Junge wie Mädchen starren mich mit offenem Mund an. »Wie können Sie das wissen?« Es ist das Erste, was ich von dem Knaben zu hören bekomme. Er taut angesichts eines Rätsels auf? Sehr gut.
    »Es ist mein Heim, Knabe. Und es ist mein Freund, der es übernommen hat, die Geheimnisse des Heims zu wahren und in Eurem Fall viel wichtiger, Euch vor ihren oft verderblichen Einflüssen zu schützen.
    Ich blicke die Treppe hinauf, nicke Aeolfred zu und der Luftdschinn wird nun auch für die Kinder sichtbar. Die Kinder springen auf, aber das Mädchen ist nicht halb so überrascht, wie ich angenommen habe. Interessant.
    »Das … hat uns immer hinab getragen, wenn wir auf die vorletzte Stufe kamen?« Der Junge lacht begeistert. »Wie cool ist das denn?«
    Ich zucke die Schultern: »Ich nehme an, so kühl es Aeolfred haben wollte.«
    Zwei Augenpaare schauen mich an, als hätte ich etwas sehr Seltsames gesagt. Kinder ...
    »Also, ihr habt jetzt Aeolfred kennengelernt. Seine Fähigkeit in menschlichen Lauten zu kommunizieren ist leider eingeschränkt, aber ihr werdet seine Laute bald gut genug interpretieren können, um euch zu unterhalten.«
    »Wie bei BB8 ? Coooool ….«
    Nun schaue ich den Jungen verständnislos an. Ich werde wohl eine Weile brauchen, mich in das aktuelle Jugendsprech hineinzufinden.
    Ich sitze weiterhin, während die beiden vor mir stehen. Ich sehe es dem Knaben an, dass er am liebsten die Treppe hochstürmen will, um mit dem Dschinn dieses BB8-Ding zu machen. Aber eines nach dem anderen, wird mir bewusst. Wenn ich die beiden hier bleiben lasse, übernehme ich, wohl oder weniger wohl, die Verantwortung für ihr Wohlergehen, körperlich, wie geistig. Ich unterdrücke ein Seufzen. Eben erst musste ich meine Ziehtochter zurücklassen und konnte mich mit Mühe davon abhalten, vor Trauer rasend, Rache zu nehmen. Ob ich diese Bürde erneut nach so kurzer Zeit, bereit bin zu tragen?
    Das würde wohl die Zeit zeigen. Ich gebe mir also einen Ruck und fasse die beiden ins Auge. Den hageren aschblonden Jungen mit den hungrigen Augen. Das Mädchen an der Schwelle zur Frau, mit der lebhaften Aura, die Donnersturm und fruchtbare Erde in sich in chaotisch harmonischer Weise vereint. Ganz klar, ein Hexenblut. Wie konnte mir das nur entgehen?
    Als sie sieht, wie ich sie anschaue, verblasst ihre Aura schrittweiße, bis sie nur noch einen magisch völlig inaktiven, charakterlich eher introvertierten Charakter anzeigt. Ich bin begeistert. Autodidaktische Auratarnung? Wie der Knabe, liebe auch Wunder und Rätsel.
    Ich lächle, aktiv einladend und offen, bereit für Freundschaft und Bruderschaft. Große Bruderschaft. Und nein, immer noch keine Hypnose.
    »Mein Name ist Carnovan. Und wie darf ich euch nennen?«

    Zum Geleit

    Manche Leute glauben, dass der Text im Buch des Schicksals von der ersten bis zur letzten Seite bereits geschrieben ist. Unabänderlich.
    Was für eine deprimierende Aussicht. Nichts, was man tut, ist mehr, als das sklavische Nachspielen eines Drehbuchs.
    Ich denke, hoffe sogar, dass der Text in jenem allumfassenden Buch, immer genau zu dem Zeitpunkt entsteht, in dem das Individuum ihn durch seine Gedanken, Handlungen, Gefühle und Absichten schreibt. Natürlich wird das Ganze so zu einem undurchschaubaren und komplexen Text. Kurze Sätze, die übereinander geschrieben wurden, die sich manchmal gegenseitig sogar fast auslöschen, werden abgelöst von langen Passagen, in denen kein bewusster Wille dem Text Pointen und Wendungen verleiht.
    Vielleicht gibt es sogar nicht einmal das eine Buch des Schicksals, sondern es sind unendlich viele, die zugleich entstehen und erst die Zeit vereint sie zu einem großen Gesamtwerk.
    Ich habe oft das Bild eines antiken Schreibers in griechischer Toga vor mir, der mit Federkiel und magischer Tinte das niederschreibt, was er gerade sieht und in dem Moment wird das, was sein könnte, also seine Version davon, zur Realität. Der Live-Reporter des Schicksals, wenn man so will.
    Und dann lächle ich bei dem Gedanken daran, dass jener Schreiber ich sein könnte, der sein eigenes Leben kommentiert.
    Ziemlich egozentrisch? Ja, durchaus.
    Aber den Verdacht eines zu kleinen Egos hat man mir gegenüber auch noch nie geäußert.


    Kapitel 1

    Man sollte meinen, Magier hätten es leicht. Sie schnipsen einfach mit den Fingern und die Realität springt durch den brennenden Reifen.
    Dazu habe ich zwei Dinge zu sagen.
    Erstens, ist die Realität ein störrisches Biest, sogar eine bissige Bestie, wenn man sie zu sehr reizt.
    Und Zweitens, fast noch wichtiger, wenn es so einfach wäre, würde es ja jeder machen.
    Oh, es gab schon viele, die es einmal versuchten.
    Einmal.


    Mit wachsendem Unmut ducke ich mich hinter der Theke des Diners und zucke bei jedem Jaulen eines Querschlägers zusammen, der mir dennoch viel zu nahe kommt.
    Dabei schießen diese Irren gar nicht auf mich. Im Gegenteil, versuchen die etwa ein Dutzend Schützen draußen, mehr oder weniger, und ein paar Cops hier im Diner, sich gegenseitig umzubringen. Mit absehbarem Erfolg, wie ich hinzufügen möchte, zumindest wenn man die Munition rechnet, die sie freigiebig überall hin verballern.
    Mit meinem konservativ eleganten Zwirn kann man mich gar nicht mit einem der Polizisten verwechseln, was die Schützen von der Straße freilich nicht davon abhält, immer mal wieder einen Feuerstoß in meine Richtung abzugeben, wenn ich meine Nase zu weit aus meinem Versteck strecke.
    Gerade pfeift ein Schuss knapp an meinem Ohr vorbei und ich kann den Schützen sehen, wie er sich schnell um die Ecke eines schwarzen Lieferwagens verzieht, als die Cops ihn mit Sperrfeuer zurücktreiben.
    Die Fenster des Diners bestehen inzwischen nur noch aus vereinzelten Glasteilen, die sich tapfer am Rahmen festklammern und die automatischen Feuerstöße erinnern mich an schlimme Zeiten in schlimmen Gegenden.
    Da wir gegen Abend haben und hier drin so gut wie jeder mit Marke und Pistole bewaffnet ist, scheint das Diner ein Feierabend oder Schichtwechseltreffpunkt der örtlichen Freunde und Helfer zu sein. Mit ihren Handfeuerwaffen und der zur Neige gehenden Munition, sieht es für uns nicht gerade rosig aus. Da bisher noch kein Polizist, absichtlich oder versehentlich, in meine Richtung geschossen hat, gestehe ich ihnen großmütig zu, dass sie zu meiner Fraktion gehören. Zwei Cops liegen reglos zwischen den Tischen und unter ihnen sammeln sich rote Pfützen an. Zwei weitere sind verletzt und wenn man ihnen nicht schnell hilft, gesellen sie sich bald zu ihren verstorbenen Kollegen. Ich kann der Polizei auch gar nicht böse sein, denn dieses Viertel, mein Viertel, ist normalerweise ruhig. Kein Grund für die normalen Cops, hier mit einem Krieg zu rechnen. Die ahnden Falschparker, Raser oder zwielichtige Kräuterhändler in den Parks, aber für einen Bürgerkrieg haben sie sich ganz bestimmt nicht gemeldet. Diese Art von Typ geht zur Army.
    Andererseits war ich eine ganze Weile weg. Wie lange genau, muss ich noch herausfinden. Ich bin ja gerade erst wieder angekommen und wollte mir ein typisch ungesundes Essen als kleines Willkommen gönnen. Fettige Burger, salzige Pommes und eine total überzuckerte Coffeinlimonade. Das ganze Paket. Zumindest für einen Moment, hatte ich die Illusion einer friedvollen Fressorgie.
    Aber das bringt mich auf eine Idee, wie ich die bösen Jungs - machen wir uns nichts vor, es sind ziemlich sicher hauptsächlich Männer und so gut wie keine Frauen - dazu bringen könnte, die Kurve zu kratzen.
    Also schnipse ich mit dem Finger. Doch, ehrlich. Für akustische Illusionen ist das meine bevorzugte Geste. Es ginge natürlich auch ohne, ich bin ja kein Druide, Hexer, Schamane oder eine andere Art von DIY-Amateur. Ich habe eine profunde Ausbildung. Aber auch ein Magier darf das, was er tut, mit seinem eigenen Sinn für Style oder Humor tun.
    Vom Ende der Main Street her sind nun Sirenen zu hören. Ich konzentriere mich etwas mehr und man kann schließlich drei verschiedene Sirenen unterscheiden, die sich mit überlappendem und zunehmendem Jaulen des Dopplereffekts nähern.
    Nun bin ich gespannt, wie wild die Typen sind, sich zusätzlich noch mit der Verstärkung anzulegen. Ich schätze die Chance dafür, irgendwo zwischen sehr wenig Teufel-Ja-Sicher und ganz viel Scheiße-Nicht-Heute ein.
    Ich behalte recht. Noch ein paar Salven, um den Rückzug zu decken und ich höre durchdrehende Reifen, als die Angreifer mit militärischer Präzision abrücken. Das würde ich im Hinterkopf behalten.
    Die Cops erheben sich langsam aus ihrer Deckung und einige laufen auf die Straße, um ihre vermeintlichen Kollegen auf die Flüchtenden zu hetzen. Wenn die Lage nicht so verdammt ernst wäre, würde ich ja über die fassungslosen Gesichter schmunzeln, als die Sirenen der offenbar unsichtbaren Fahrzeuge über sie hinwegrauschen und den flüchtenden Fahrzeugen noch bis zur Kreuzung nachfolgen, nur um dann schlagartig zu verstummen.
    Es ging mir nur darum, die Mörderbande zu verjagen, kein Grund noch mehr Kraft in die Illusion zu stecken. Denn mit jeder vergehenden Sekunde, mit jedem Bewusstsein, was sich fragt, WTF?!, beginnt die Realität, sich gegen mich aufzubäumen.
    Eine Illusion bei einer ganzen Bühnenshow vor fünfhundert Zuschauern, die das erwarten und darüber staunen wollen und gar nicht so genau wissen wollen, was der Trick ist? Kein Problem. Eine zehnsekündige Illusion gegenüber nur einem einzigen skeptischen Zweifler, gar nicht lustig. Die hohe Kunst ist, den Mittelweg zu finden.
    Es wäre natürlich viel einfacher, wenn jeder wissen würde, dass Magie echt ist, als nur ein weiterer Farbton der bunten Welt, in der wir hier leben dürfen. Aber das ist aus verschiedenen Gründen nicht der Fall. Vielleicht sollte ich sagen, noch nicht. Solange es sich aber nicht ändert, muss man kreativ sein, oder man landet auf Scheiterhaufen, in Irrenanstalten oder in Einrichtungen, die es offiziell gar nicht gibt.
    Ich schicke mich an, den verschreckten Zivilisten zu spielen und mich, scheinbar fertig mit den Nerven abzusetzen, aber seien wir mal ehrlich: Die Rolle nimmt mir niemand ab, der mich auch nur kurz kennt. Also mache ich das Nächstbeste und bitte Mildred, die Bedienung, die neben mir hinter der Theke Schutz gesucht hat, den Erste Hilfe Kasten zu bringen. Mit einem fragenden Blick hole ich mir die Erlaubnis ein, die Flasche Tequila unter Theke, sicher nur zum Privatverzehr gedacht, und alles an Servietten, was ich tragen kann, mitzunehmen.
    Neben dem ersten verletzten Cop, genauer, einer Polizistin, knie ich mich hin: »Miss, wenn Sie gestatten, werde ich mich um Ihre Verletzungen kümmern.«
    Die blonde Polizistin ist in Uniform, wie die meisten ihrer Kollegen und ihre Balken oder Streifen, ich habe mich nie wirklich für so etwas interessiert, scheinen mir etwas zahlreicher zu sein, als bei dem Cop bei ihr, der seine Hände auf ihre Schusswunden drückt. Ich registriere, dass er weniger Rangabzeichen hat, obwohl er deutlich älter ist, oder vielleicht ist in diesem Fall weniger mehr? Er mustert mich mit erfahrenen Augen und als sich unsre Blicke treffen, meine ich, ein Erkennen zu bemerken.
    »Sind Sie Arzt?« Die Polizistin schaut mich hoffnungsvoll mit ihren bemerkenswert blauen Augen an. Sie sieht jung aus, wobei ich ganz schlecht im Alter schätzen bin. Wenn im eigenen Dasein aus Jahrzehnten schließlich Jahrhunderte werden, verlernt man so Manches, was man gemeinhin für selbstverständlich hält.
    Ich zögere kurz. Bin ich Arzt? In dem Sinn, wie sie es versteht, ganz sicher nicht. Ihren Blinddarm entfernen oder eine neue Niere implantieren oder das richtige Medikament gegen Morgenübelkeit, damit kann ich nicht dienen. Aber ich kann Lebewesen heilen. Oder vernichten. Diese Münze hat zwei Seiten und ich kenne beide gut.
    Bevor ich eine ausweichende Antwort geben kann, dreistes Lügen ist mir zuwider, antwortet ihr älterer Kollege für mich. »Jen, ich meine, Lieutenant. Du bist in guten Händen. Ich kenne ihn. Auch wenn ich damals viel jünger war und er … keinen Tag gealtert scheint.
    Ich mustere ihn nun genauer. Dieser Blick, diese Art, wie sich seine Oberlippe verschiebt, als ob sein Gesicht sich nicht entscheiden kann, ob es grinsen oder schmollen soll. Oh, ich weiß! Der junge Johnny. Wollte der nicht zur Feuerwehr oder Astronaut werden?
    »Little Johnny Mitchell, stimmt‘s?«, meine ich halb ratend. Mitchell, Satchel oder Hatchet, irgend sowas war es doch.
    »Miskel, Sir. Das konnten Sie sich noch nie merken. Aber heute John, vielmehr Sergeant Miskel. Obwohl, Sie dürfen mich gerne John nennen.«
    Die Augen der blonden Lieutenant verfolgen unsren kurzen Dialog mit Interesse und für einen kurzen Moment vergisst sie sogar ihre Schmerzen, bis diese sich mit Macht zurückmelden. Ich sehe, wie sie sich versteift und ihre Augen immer glasiger werden.
    »John, nimm Deine Hände weg und hilf mir, ihre Uniform aufzuschneiden. Dann müssen wir das Blut, so gut es geht wegwischen. Ich muss ihre Verletzungen genau sehen können. Nimm von dem Tequila, um die Ränder der Wunden zu säubern.«
    Es gesellen sich zwei weitere Cops zu uns. Einer reicht uns den Erstehilfekasten von Mildred weiter. Dort haben wir eine Schere und ein steriles Skalpell, Desinfektionsmittel und Watte, was uns beim Säubern der Wundränder gute Dienste leistet.
    John stellt keine unnötigen Fragen und gemeinsam machen wir uns Werk. Er macht das nicht zum ersten Mal, das sehe ich sofort. Es ist die Art des Zögerns oder der Entschlossenheit, an der man erkennt, ob jemand schon einmal eine Kampfwunde versorgen musste.
    Als ich schließlich das ganze Ausmaß der Verletzungen ausmache, atme ich tief durch. Ersthelfermaßnahmen bis die Paramedics eintreffen, werden zu wenig sein. Schusswunden durch Kugeln sind zwar nicht ganz mein Fachgebiet, aber ob ein Bolzen oder eine Kugel eine Lunge durchschlägt und dabei eine der Hauptadern erwischt, ist vermutlich kein allzu großer Unterschied. Aber noch einmal, ich bin Heiler, kein Arzt, und schon gar kein Chirurg, also, was weiß ich schon? Aber ich sehe an ihrer schnell verblassenden Aura, dass die blonde Frau vielleicht noch zehn Minuten hat.
    Ich schaue fragend auf. »Wie lange, bis zum Eintreffen des Notarztes?«
    Der Cop, der uns die Notfallbox gereicht hat und uns nun wie eine Art Wache abschirmt, schüttelt bedauernd den Kopf. »Es gab eine Explosion am Stadion. Eine Gasleitung, heißt es. Viele Verletzte. Die meisten Krankenwägen und Kollegen waren dorthin unterwegs. Es kommt Hilfe, aber es wird noch dauern.«
    John schaut mich an, ich schaue ihn an. Ich sehe, dass er sieht, was ich sehe.
    »Bitte, Sir.« Sehr leise raunt er mir zu: »Sie können Sie retten. Ich erinnere mich noch gut an die alten Geschichten von Granny.«
    Ich verenge meine Augen.
    »Bitte. Sie ist wichtig. Für diese Stadt. Dafür, dass es nicht noch Schlimmer wird.«
    Noch schlimmer, soso. Wie es aussieht, war ich nicht nur lange weg, sondern zu lange.
    So sehr ich mich auf Ruhe und Frieden gefreut habe, so wenig werde ich das wohl so einfach bekommen. Aber nichts, was wirklich von Wert ist, ist jemals so einfach.
    »Gut.« Johns Schultern sinken erleichtert. Ich wette, er war bereit, mich notfalls zu packen und zu zwingen, seine Bosslady zu retten. Ein fruchtloser Versuch, sicher, aber der Gedanke zählt.
    »John, lenk Deinen Kollegen ab und tu alles, dass ich etwa fünf Minuten unbeobachtet arbeiten kann. Keine Ablenkungen, keine Gaffer und schon gar niemand, der mir in die Parade fährt. Wir haben nur einen Versuch.«
    John steht auf und nimmt seinen Kollegen am Arm. Er befiehlt ihm irgendetwas und einigen anderen in der Nähe ebenfalls. Die Gegend sichern, Anwohner beruhigen, nach der Verstärkung Ausschau halten, alles in der Art. Ich höre mit halbem Ohr hin und das solange, bis ich sicher bin, dass es nur noch meine blonde Patientin und mich in dieser kleinen Blase der Wirklichkeit gibt.
    Ich lege meine rechte Hand auf ihr Herz und die linke auf ihre Stirn. Wenn ich heile, muss ich Geist und Körper zugleich heilen. Diesen Unsinn, dass beides unabhängig voneinander besteht, glauben offenbar nicht einmal mehr die hiesigen Mediziner, auch wenn die Medizin hierzulande mehr Klassen hat, als eine durchschnittliche High-School. Zudem muss die blonde Frau spüren, wie sie heilt, es erkennen und annehmen. Es ist ein Prozess, so gar nicht ein Fingerschnipsen und ab die Post. Es geht nicht darum etwas, zu faken, wie man neuerdings wohl sagt. Würde sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ernsthaft an ihrer Heilung zweifeln, die Katastrophe wäre kaum abzuwenden.
    Sicher, man kann mit Magie jemandes Körper ohne dessen Einwilligung verändern. Das ist extrem schmerzhaft, sowohl für den Magiewirker als auch sein Opfer, denn genau das ist es dann. Ein Opfer. Es wäre nichts weniger als Folter und Vergewaltigung. Der Körper mag hinterher intakt sein, aber der Geist mit Sicherheit nicht.
    »Jen? Das ist doch ihr Name?« Ich beginne im Geist die Matrix zusammenzusetzen, die ihre Selbstheilungskräfte aktiviert. In der Literatur wird gerne von magischen Formeln gesprochen. Gemeint ist dabei meist, ein nettes, sich reimendes Sprüchlein, das brav aufgesagt wird. Ich würde eher meinen, es hat etwas mit hoher Mathematik, bildender Kunst und Willen zu tun. Vor allem Willen. Mein eigener Meister nannte es bei mir damals zwar Sturheit besiegt Talentlosigkeit, aber er war ohnehin nicht gerade ein einfühlsamer Pädagoge und schon gar kein Menschenfreund. Für einen Zwerg wäre das vermutlich auch zu viel verlangt.
    »Jennifer. Jen«, stellt sie sich nahezu stimmlos vor, aber ich kann es an ihren Lippen ablesen. Sie versucht ein tapferes Lächeln, aber ihr Atem geht rasselnd und es muss ihr vorkommen, als ob sie Wasser atmet.
    »Carnovan«, stelle ich mich vor. »Zu Ihren Diensten. Ich werde Ihnen jetzt helfen, sich selbst zu helfen. Aber sie müssen mitmachen, denn Ihre Verletzungen sind schwer.«
    »Wie?« Ihre Augenlieder beginnen zu flattern. Ich verliere sie jeden Moment.
    »Glauben sie daran, dass ihre Schmerzen weniger werden. Spüren Sie es. Ihr Atem geht leichter, der Druck auf der Brust lässt nach. Genau jetzt!«
    Für einen Moment fühle ich ihren Widerstand, ihre Skepsis. Es steht auf Messers Schneide.
    »Arbeiten Sie mit mir, Jen. Öffnen sie ihre wunderschönen blauen Augen. Sehen sie mich an. Vertrauen Sie mir.«
    Sie kämpft, öffnet ihre Augen. Unsre Blicke treffen sich, verschränken sich. Ich hypnotisiere sie nicht wirklich. Aber ich strahle aktiv maximale Zuversicht aus. Diesen Kniff wende ich schon so lange an, dass er ein Teil von mir geworden ist. Nicht wirklich eine Täuschung. Überzeugung. Ich weiß, wie gut ich bin. Und ich bin in manchen Dingen wirklich, wirklich gut, vielleicht sogar der Beste. Es ist nur Eitelkeit, wenn man sich etwas darauf einbildet. Aber es ist mein Wille und der schafft Fakten. Ich kann, nein, ich werde sie heilen.
    Ich fühle, wie sie sich entspannt. Sie lässt zu, dass meine Energie sich in ihr ausbreitet, als Supertreibstoff, den ihr Körper nutzen kann. Die leichte Verwunderung, dass es ihr tatsächlich mit jedem Atemzug besser geht, ist ganz normal. Damit kann ich umgehen. Dass die beiden Kugeln, die nicht wieder ausgetreten sind, durch das Heilfleisch wie Fremdkörper hinaus gedrückt werden hingegen, lässt die Realität wütend knurren. Ich knurre zurück. Noch ein wenig mehr. Durchhalten. Daran glauben. Nein, es wissen!
    Schließlich ist es geschafft. Ganz wiederhergestellt ist nicht, im Gegenteil, ihre Verletzungen sind immer noch schwer. Es wäre auch nicht zu erklären, wäre es anders. Es gibt nur einen gewissen Spielraum an Manipulation, den die Wirklichkeit einräumt, und den haben wir gerade noch innerhalb der Toleranzgrenzen ausgereizt. Gut, dass meine Patientin sofort mitgespielt hat. Unerwartet gut sogar.
    Ich entferne die rechte Hand von ihrem Herzen, schließe erleichtert die Augen und will die Linke von ihrer Stirn nehmen, fühle aber, wie ihre Finger meine ergreifen.
    »Magie, oder? Das war echte Magie?« Sie fragt zum Glück so leise, dass es sonst keiner mitbekommt.
    Ich öffne, die Augen, lächle, als ich ihre blauen Augen vergnügt funkeln sehe, als ob sie etwas bestätigt bekommen hätte, was sie immer vermutet hatte.
    »Ja, ein Aspekt davon.« Ich will zurückweichen, denn ihre andere Hand geht zu meinem Gesicht und streicht an meiner Nase entlang. Ihre Fingerspitzen sind rot, als sie ihre Hand zurückzieht. »Du blutest.«
    Das erklärt meine schlagartig einsetzende Erschöpfung und die bohrenden Kopfschmerzen. Aber es war nicht die Heilung. Die lief besser als erwartet. Es war meine Illusionssirene. Ich hätte sie einfach nicht quer durch eine Menge Cops jagen dürfen, die sich berechtigter Weise immer noch fragen, wo zur Hölle, die dazu gehörenden Fahrzeuge geblieben sind.
    Die Bestie der Realität hat schließlich zugebissen. Nur ein bisschen, zum Glück. Eine ernste Verwarnung. Vielleicht sogar eine gelbe Karte. Ich werde die nächste Zeit und bei den heute Anwesenden zurückhaltend sein müssen, sonst könnte ich mir durchaus einen länger währenden Platzverweis einfangen. Das ist gar nicht lustig. Ich weiß, wovon ich rede.


    »Du findest meine Augen also schön?« Ihre Stimme reißt mich aus dem Grübeln und trotz des Bedürfnisses, mich jetzt sofort in eine dunkle, sichere Höhle zurückzuziehen, muss ich grinsen.

    Für mich war es schon immer ganz einfach:

    delectare et prodesse.
    unterhalten und nützen.

    Wieviel Prozent wovon, ist variabel, aber kein Anteil darf 0,0% sein. (mein persönlicher Anspruch an mich selbst)
    Vielleicht das Ganze gewürzt mit einem bisschen Anstand und Verantwortung ..., obwohl ist im Nützen drin, oder?

    Einen Text nur für mich zu schreiben? Ist ok, aber dann ist er NUR für mich.
    Sobald ich ihn jemandem zum Lesen gebe, gelten oben genannte Grundsätze.

    Vielleicht ist das eine Lösung:
    Der Autor überlegt sich vorher, für welches Publikum er schreiben will und macht nicht gerade ein Schwangerschaftsplatter unter dem Titel "Was man bei einer Schwangerschaft wissen sollte?".
    Der Leser wiederum überlegt sich vorher, ob er zu dem Publikum gehört, für das der Autor schreibt.
    Es kann ja wohl für beide Seiten nicht zu viel verlangt sein, ihr Hirn einzuschalten, bevor man einfach irgend etwas unnötig Provokantes in seine Tasten hämmert oder sich genau in dem Themenbereich Literatur sucht, die einen auf die Palme bringt.
    (Ich kauf mir doch auch keine Bücher zur Anleitung für Homöopathie - Mist, hab ich mich jetzt irgendwie selbst getriggert ...)

    Mir selbst als Autor, käme eine Trigger-Warnung eher wie ein Eingeständnis vor, dass ich meiner Leserschaft unnötig schwere Kost zumute. Das empfände ich als schlechtes Handwerk meinerseits.
    Natürlich wird es sich nicht immer für jedes Individuum vermeiden lassen, dass unter vielem Anderen Gutem, auch etwas in einem Text steht, was einen irgendwie anspringt (oder Neudeutsch: anfasst ...brr...) Aber solange man nicht für eine superspezifische Leserschaft schreibt, kann man sein Publikum als Autor nicht vor allem (und in dem Fall sogar sich selbst) schützen. Zudem ist das auch eine Art Bevormundung, machen wir uns da nichts vor. "Das ist nichts für dich, also ..."
    Letztlich erschafft man ein Produkt, das nicht genau maßgeschneidert ist. Wir würden doch auch einen Turnschuhhersteller nicht verklagen, weil der superleichte, superschöne neue Schuh an genau meinem Fuß einfach nur Blasen verursacht?
    Was aber nicht heißt, dass man deswegen Schuhe mit Konstruktionsfehler herstellen darf, oder um mal ganz schnell aus meiner Metapher herauszukommen, dass man achtlos mit seinem Leser umgeht und ihm einfach alles zumutet.
    Dazu sollte es aussagekräftige Titel oder Klappentexte geben und Genres.
    Der Autor ist ganz klar verantwortlich für seinen Text. Man darf ja auch niemand verunglimpfen, gewisse Zeiten verherrlichen oder den Text von einem anderen einfach so klauen. Es gibt ja durchaus Regeln. An die sich ja auch (hoffentlich) mehrheitlich gehalten wird.

    Der Leser ist aber auch ganz klar dafür verantwortlich, was er sich zumutet. Wo kommen wir denn da hin, wenn man dem Leser generell erst einmal Inhalte vorenthält, weil gewisse Details ihn verstören würden? Klar, Jugendschutz usw, aber wir reden hier ja hoffentlich von erwachsenen, mündigen Lesern, sonst ist die Diskussion ohnehin hinfällig.
    Eine Ausnahme ist natürlich bewusste Irreführung, was gerade in der "Presse" ein echtes Problem ist. Aber man wird solche Textproduzenten kaum dazu bringen, einen fair vorzuwarnen. Eher warnen sie einen vor, man schaut gespannt und ist dann enttäuscht.

    Wenn man hier wirklich, wirklich ernsthaft Sorge um die psychische Stabilität tragen will, dann braucht es eben eine Art Leser-Schulung. Das heißt im Vorfeld muss man durch Familie, Schule, wegen mir auch die wenig greifbare "Gesellschaft", resilient genug gemacht werden, dass man auch mal einen Treffer aus Buchstaben (oder von einem Videoclip) abkann, und dann stark genug ist, den Text weg zu stecken und zulegen.

    Hat vielleicht wenig mit der Sache zu tun, aber als ich darüber nachgedacht habe, kamen mir die Bilder auf den Zigarettenschachteln in den Sinn. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob Warnungen bei den richtig schlimmen Fällen etwas bringen ...

    Verdammt.
    Ich bin vielleicht jetzt gerade zu euphorisch drauf, weil satt und zufrieden und mit der Welt ausnahmsweise für fünf Minuten im Reinen, aber ...


    Hätte dieser Post nicht eine Triggerwarnung gebraucht?
    Ich meine, mich hat das Wort Triggerwarnung getriggert.
    Was ist das überhaupt für ein blödsinniges Wort: Trigger!
    Klar, ich kenne es, aber allein schon der Anglizismus macht mich wütend, weil wie bei woke oder edgy, ich immer den Verdacht habe, da wird ein Zustand unter dem Deckmantel der Aufgeklärtheit in einem Maße thematisiert, das einfach nur auf die Macht der Aufregung setzt, weil es in seinem Gehalt schon so wenig ergiebig ist. Clickbaiting, gewissermaßen ... brrr .. noch so ein Begriff. Ein nettes Wort für: Leute mit einer übertrieben Überschrift anlocken. Lockvogelüberschrift. Honigfalle.
    Ist natürlich nicht so schmissig.
    Trigger, Brr. Getriggert.
    Also mich triggert allein schon Sprache. Nein, falsch, es bringt mich auf die Palme.
    Macht mich betroffen, regt mich auf, er-regt mich oder macht mich sogar wütend.
    Es drückt Knöpfe bei mir?
    ROTE KNÖPFE !!!

    Ok, ich rege mich nicht wirklich auf, also keine Panik.
    Das war nur, um auf einen Punkt hinzuarbeiten.
    Ich habe euch also quasi getriggert oder gebaitet? Gar nicht so ganz leicht, in diesem Dschungel den Weg zu finden.
    Worauf will ich also hinaus? Muss ich euch alten Hasen der Schreiberzunft wohl nicht weiter sagen, falls es aber doch wer im Klartext haben will:
    Triggern ist ziemlich genau das, was ich mit meiner Literatur will.
    Ich will die Leute wütend machen
    Ich will sie zum Weinen bringen
    Ich will, dass sie sich totlachen
    Ich will, dass sich ihren Dämonen stellen.

    In meinen Texten können also (TRIGGERWARNUNG) Spuren von Humor, Horror, Fantastereien, Spinnerein, Bosheiten, Gutmenschentum, Heldenhaftigkeit, Schurkenhaftigkeit, Sex und Zölibat, Homo, Bi und Poly enthalten sein.
    Und ja, es könnte auch mal sein, dass Tiere miteinander und Menschen durcheinander, Zwerge beieinander und sogar Menschen mit Zwergen ... Dinge tun.
    DINGE!
    Klar, niemals Elfen mit Zwergen, oder Pizza ohne Käse.
    Niemals! Und falls doch, dann bräuchte es echt eine fette
    Triggewarnung.

    Beinahe ein Hinterhalt

    »Dein Zahnstocher, mein wortgewaltiger, schwachbärtiger Freund, wird einen Ork eher zum Lachen als zum Weglaufen bewegen. Nimm doch einfach hier, meine wohlgepflegte Axt. Die erzeugt Furcht im Herzen der Feinde und Hochachtung in den Augen der Alliierten.«
    »Hochachtung? Mein verehrter, knurriger und wildbärtiger Compadre. Bei den meisten zivilisierten Völkern erntest du damit im bestenfalls einen mitleidigen Blick. Von hoher Achtung kann dabei gar keine Rede sein. Wenngleich ich die Akribie, mit der du deine Waffen pflegst aufs Vortefflichste loben will… «
    So ging es den ganzen lieben Tag. Krieger wie Fechter wurden nicht müde einander aufzuziehen und in freundschaftlichen Wettstreit ihre eigenen Vorzüge und Verdienste den vermeintlichen Nachteilen und Verfehlungen des Anderen gegenüberzustellen.
    Halana hörte schon gar nicht mehr hin. Die Frozeleien waren die ersten Monde sogar noch lustig, die nächsten immer noch unterhaltsam gewesen. Nun gehörten sie einfach zu den gewohnten Umgebungsgeräuschen.
    »Andere haben nervig immerfrohe Musikanten im Tross, wir zwei Freunde, die es nicht aushalten, auch nur mal eine Stunde in Stille ihre Freundschaft zu genießen. So hat jeder eben sein Päckchen zu tragen …«
    Die Halbelfe an ihrer Seite nickte grinsend. Fast überall wurden Frauen als geschwätzig und Männer als mundfaul beschrieben, ihre eigene Truppe hätte so manches altbackene Weltbild komplett umkrempeln können, in weit mehr als einer Hinsicht.
    Als die Geräuschkulisse plötzlich verstummte, reagierten die Gildenmagierin und die Waldläuferin ohne zu Zögern. Viel zu eingespielt war die Truppe und trotz der vorgetäuschten Sorglosigkeit war ihnen bewusst, dass sie durch Ork-Gebiet gingen.
    Salande glitt zwischen zwei große Büsche und spannte in wenigen Atemzügen ihren Elfenbogen mit so fließenden Bewegungen, die viele Jahre der Übung verrieten.
    Die Magierin wiederrum ging in die Hocke und legte ihre Linke flach auf den Boden, die Matrix für einen Wallzauber im Geiste formend.
    Der Zwergenkrieger schob sich schützend nach vorne, seinen Schild ebenso gewandt von der Schulter nehmend, wie die Halbelfe ihren Bogen. »Rooch?«, fragte er leise in seiner Muttersprache.
    Der Fechter zog bedächtig sein Rapier und hielt es etwa in Richtung des Weges auf einige mannshohe Felsen hintern denen der Weg eine Kurve machte. Ein passabler Ort für einen Hinterhalt.
    »… dein Schild hingegen ist so schwer, dass du mittlerweile aus dem Gleichgewicht kommst, wenn du ohne ihn gehst.« Hoicht fuhr fast ansatzlos mit seinem spöttelndem Geplappert fort. Nur seine Gefährten erkannten am Tonfall, dass er abgelenkt und angespannt war. »Vielleicht solltest du einen zweiten Schild als Reserve mitnehmen, und sei es, nur um deine schiefe Haltung zu korrigieren …«
    mit einem Blick verständigten sich die beiden Männer.
    Grötz rückte langsam vor, während der Südländer immer noch plaudernd sich auf die Seite des Wegs fallen ließ, die ihm von den Felsen Sichtschutz bot.
    Salande legte einen Pfeil ein und erhob sich halb. Sie war bereit. Zeit Fahrt aufzunehmen.
    Grötz ging in einen Sprint über und stürzte Schild voran die Axt locker in der Rechten auf die Kurve zu.
    Hoicht tauchte zur Seite weg und sprang behände über das Strauchwerk am Wegesrand und umrundete die Felsformation.
    DieHalbelfe rückte ebenfalls vor, den Pfeil einlegt, bereit auf alles zu schießen, was die Ecke kommen würde. Nur die Magierin kniete weiterhin. Entfernung war nur relativ. Symbolik und Vorstellungsvermögen waren weitaus entscheidender.
    »Erwischt, Compadres! Oh, wen haben wir denn da? Freunde, keine Gefahr, senkt die Waffen.«
    Sie hörten den Südländer und entspannten sich. Seine Stimme klang sanft, fast beschwichtigend.
    Der Zwerg kam als erster an, doch er schaute sich um, sicherte die Umgebung. Grötz, Sohn des Grotz mochte vieles sein, aber leichtsinnig war er nie gewesen. Sein langes Lebens trotz seiner Berufswahl bezeugte dies.
    »Kinder? Du hast uns wegen zweier Kinder in Alarm versetzt?« Weiteren Spott verkniff er sich, als er den armseligen Zustand der Kleinen bemerkte. Menschen, besonders Menschenkinder verstanden diese Art der Ruppigkeit oft als feindselig, während Zwerge aufgesetzte Freundlichkeit oft als elfische Doppelzüngigkeit auslegten. Götz sah sich nicht ganz unrecht als zwergischer Kosmopolit.
    Die Halbelfe und die Gildenmagierin kamen an und die beiden spärlich bekleideten und vor Dreck starrenden Kinder, Junge und Mädchen, vermutlich Geschwister, atmeten auf. Auch wenn die rabenhaarige Magierin mit den schwarzen Augen etwas von einer Todesfee hatte, war zumindest die blonde Halbelfe hübsch und hatte ein wirklich vertrauenserweckendes Lächeln. Zudem zeigte keine der Frauen mit spitzen Waffen auf die Kinder.
    Ein langer Blick Halanas erinnerte Hoicht an sein Rapier und, verbunden mit einer übertriebenen Verbeugung gegenüber dem Mädchen, ließ er die Waffe geübt elegant in der Scheide verschwinden und schwenkte seinen Fedora.
    »Meine Verehrung, holde Jungfrau. Verzeiht mein ungehobeltes Auftreten. Mich dünkte, Ihr wäret gar ein Ork. Ihr seid aber kein Ork, oder?« Er zwinkerte ihr zu und schon hatte er das Lächeln erreicht, was er erreichen wollte. Frauenherzen flogen ihm schon immer zu.
    Während die Gefährten Reservekleidung und Essen an die beiden Kinder ausgaben bekamen sie einen stockenden, lückenhaften und zeitlich schon antilinearen Bericht zu hören.

    Spoiler anzeigen

    Mal sehen, was das wird ^^, ich schreib einfach drauf los.
    Habe vor, täglich morgens vor der Arbeit ein Kapitelchen als Handübung zu produzieren.
    Erwartet also kein ausgefeiltes Skript oder eine wasserdicht logische Handlung.

    dramatis personae (vorläufige Liste)

    Halana Agasta von Tann, Gildenmagierin
    Hoicht von Dorch, südländischer Fechter und Lebemann
    Grötz, Sohn des Grotz aka Flammbart Schädelknacker, Zwergenkrieger
    Salande, Halbelfe

    Gerohard von Gerold, Kommandant der Festung Sankt Gerold
    Marschall Asmus Siegesgern Arenfeld, verbannter kaiserlicher Heerführer
    Kampfschwester Leonberga, Priesterin der Kriegsgöttin
    Bruder Olof, Laienbruder im Heilerorden des Gütigen Gottes

    Svangerd, der Blutige , verbitterter Nordmann
    Rassak Kassai, Ork-Häuptling des Stammes der Stierschädel
    Brazzor Kupfermond, Ork-Schamane


    Festung Sankt Gerold


    Der grauhaarige Kommandant sah sorgenvoll noch Osten.
    Die Berichte der Späher waren allesamt besorgniserregend. Seine Späher waren natürlich nur Heideläufer, Fallensteller und Rauhändler gewesen, aber gerade als Rauhändler war ein sicheres Gespür für die Stimmung der wilden Völker überlebenswichtig.
    Als ihm also Hortwig Dreithaler, einer der Urgesteine für den Handel außerhalb der Zivilisation, mitgeteilt hatte, dass ihm die Orks zu aggressiv, die Oger zu wanderlustig und die Elfen noch unnahbarer als sonst erschienen und er fürs Erste hier seine Handelsfahrten einstellen würde, war das beinahe so, als hätten die Wachfeuer der Vorposten das Nahen einer Streitmacht angekündigt.
    Er sah über die hohen Mauern von Sankt Gerold, die breiten Zinnen und mächtigen Ecktürme. Eindrucksvoll, ja, aber weit eher dazu gebaut, die Bewohner der Feste drin als einen Feind draußen zu halten. Die Festung war vor jetzt schon sechshundertvierzig Jahren als Gefängnis und Exil für Leute erbaut worden, die das Kaiserreich loswerden wollte, ohne sie aufs Schafott zu schicken. Im Laufe der letzten hundert Jahre hatte sich dies gewandelt und Sankt Gerold war mehr ein Vorposten des Reiches geworden, bevölkert von einem vor Ort gewachsenen Menschenschlag, der in diesen Landen fern der Grenzen des Reiches existieren und gedeihen konnte. Zwar galt die Loyalität offiziell weiterhin der Kaiserin, aber wie sollte so eine Loyalität tief sein, wenn das Einzige, was die Kaiserin mit der Festung verband, die halbjährliche Versorgungslieferung und ab und an ein neuer, meist unfreiwilliger Neubewohner der Festung war.
    »Asmus Siegesgern Arenfeld«, murmelte Gerohard, dessen Familie die Festung nun in siebter Generation befehligte. »Ein Kriegsheld und militärisches Genie. Sie haben mir einen verdammten Kriegsheld aufs Auge gedrückt.«
    Was immer Siegesgern getan hatte, um den Unmut der Kaiserin zu erregen, es war ihm aber fast egal. Womöglich war der Feldherr einfach etwas zu erfolgreich und daher zu beliebt, kaiserliche Politik war hier oben im Norden noch undurchsichtiger, als sie es ohnehin war.
    »Ordonanz! Lasst den Marschall Arenfeld zu mir bitten. Ich habe das Gefühl, wir werden zwar bald weit mehr als nur ein Genie brauchen, aber wenn ich nicht mehr bekomme, nehme ich eben das, was ich habe.«

    Danke. Mir ist diese Story seit Donnerstag Abend im Kopf herumgespukt und sie musste raus. Es war wie ein Kreativ-Kondom, hat nix Anderes zugelassen.
    Betreffende Mitleser wissen vermutlich genau warum ^^

    Um jeden Preis
    von Tom Stark

    »Alle Aktionen sind von der Gilde dispensiert. Kollateralschäden sind abgesegnet und alle Kosten werden übernommen. Bringen Sie nur den Kunden rechtzeitig zu seinem Portal.«
    Diese Worte vor einem Job zu hören hatte Halana sich immer gewünscht. Sie könnte voll aufdrehen und einem Gegner so richtig die brennende Höllenscheiße ins Gesicht klatschen.
    Aber als sie ausgesprochen waren, blieb nur dieses miese Gefühl im Magen.
    »Um jeden f…king Preis? Was immer es kostet?« Die Magierin hatte ungläubig nachgefragt. Was hatte der Kunde nur gegen die Gilde in der Hand? Eine andere Erklärung konnte es gar nicht geben, warum die Gilde gegen grundlegende Gesetze verstieß. Genau aus diesem Grund gab es schließlich die Gilde. Um Magieeinsatz in vernünftigen Bahnen und Rahmen zu halten.

    Es war Mardi Gras in The Big Easy. Wobei heute für sie weder ein fetter Dienstag noch großer Leichtsinn angesagt war.
    Die Straßen waren gerammelt voll, die Leute sangen, tanzten, tranken und drehten ganz allgemein durch, allesamt irgendwie verkleidet. Ein buntes Chaos ohne sichtbare Struktur.
    Ein Alptraum für eine magische Leibwächterin wie Halana.
    »Bleiben Sie immer dicht hinter mir. Halten Sie sich notfalls an mir fest. Lassen Sie es auf keinen Fall zu, dass wir getrennt werden!«
    Sie gab noch weitere Anweisungen an ihren heutigen Schützling. An jedem anderen Tag wäre der Mann mit seinem silbergrauen Rauschebart, den Aristoteleslocken und vor allem, der schneeweißen Robe aufgefallen, wie ein weißer Rabe in einer Schar schwarzer Krähen.
    Vermutlich war das einer der Gründe, warum die Gilde zugestimmt hatte, den Druiden gerade heute vom Weg aus dem Reich der Winterkönigin zu seinem eigenen goldenen Hain durch diese Welt zu eskortieren.
    Das Portal aus dem Winterreich konnte aus sphärologisch unabänderlichen Gründen nie direkt zum Hain geöffnet werden, also blieb nur dem Umweg über andere Welten.
    Zudem gab es ein Zeitfenster von etwa einer Minute, in der das Portal zum Hain geöffnet werden musste.

    Halana fluchte zum dritten Mal innerhalb einer Minute. Gerade als sie das Haus verließen, musste auch noch eine dämliche Wagenparade stattfinden. Die Menschen drängten, nein, stapelten sich auf den Gehsteigen.
    »Dranbleiben!«, ermahnte sie den Druiden noch einmal. Seinen überheblichen Blick bemerkte sie zwar, aber beschloss ihn einstweilen zu ignorieren. Menschen waren in der magischen Welt nun einmal wenig geachtet. Scheiß drauf!
    Die Magierin schob sich energisch durch die Menge. Ihr eigener Aufzug erinnerte auch eher an eine KI-generierte Fantasy-Mischung aus Lederrüstung und Robe und zugegeben, ein paar Schnallen und Riemen waren vielleicht funktional unnötig, aber Symbolik ist in der Magie mindestens genauso wichtig wie Funktionalität. Und hier und heute fiel sie ohnehin nicht auf.
    An einer der wenigen funktionierenden Ampeln der Hauptstraße mussten sie warten. Auch an Mardi Gras mussten zum Beispiel Gastrobetriebe beliefert werden. Gerade an solchen Tagen.
    Halana lief schon los, als sie sah, dass die Plane eines LKWs hochgeworfen wurde ein Dutzend Männer und Frauen in Schwarz von der Ladefläche sprangen.
    AAC, Alien Affairs Commando. Natürlich, wer denn sonst!
    »Mir nach!«, brüllte sie zu dem Druiden zurück und versuchte in der Menschenmasse unterzutauchen.
    Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass die Schwarzanzüge sich aufteilten. Die wussten genau, wo sie waren und versuchten sie einzukreisen. Noch hatten sie keine Waffen gezogen und die anwesenden Nichtmagischen hielten alles für eine Show.
    Jetzt wäre es Zeit loszulegen, wusste Halana. Wenn sie jetzt eine Panik verursachte, könnten sie höchstwahrscheinlich entkommen. Und es würde fast zwangläufig zu Verletzten und Toten kommen.
    »Um jeden Preis …, scheiß drauf.« Sie schnaubte angepisst. Sie war eine verdammte Magierin. Anders als Hexen oder Zauberer, war sie eine Akademikerin, ein Profi. Zeit, wie eine zu handeln.
    Sie zog den Rauschebart in eine Seitengasse. New Orleans war eine traditionsreiche, alte Stadt, was gut war. Sie war zuletzt vor Katrina hier gewesen, aber man hatte zumindest den Stadtkern nahezu unverändert wieder aufgebaut. Daher kannte sie sich aus.
    »Laufen sie weiter bis zum Ende der Gasse. Dort geht es nach links in einen Hinterhof. Warten sie dort auf mich!«
    Sie hoffte, der Druide würde sich an den Empyrischen Pakt halten und keine Magie in einer fremden Sphäre einsetzen. Das konnte durchaus zu einer kataklystischen Katastrophe führen. Halana, war sich sicher, dass selbst die Gilde diesen Preis nicht zahlen wollte.
    Drei der Anzugträger kamen in die Gasse gestürzt und stoppten, als sie die Magierin sahen, die sie erwartete.
    »Die Gilde also? Aus dem Weg Magierin. Um Dich kümmern wir uns später.« Die Frau in Schwarz griff unter ihre Jacke und zog eine silberne Waffe, die wie eine Science Fiction Spielzeugpistole aussah.
    Halana schüttelte energisch den Kopf. »Wen glaubt Ihr eigentlich vor euch zu haben? Ich bin eine Magerin dritten Grades. Wollt ihr das wirklich?«
    Sie hob ihre Hände leicht an, in ihrem Geist bereits die komplexe Matrix formend, bereit den drei Anzugdeppen die Scheiße aus dem Leib zu zaubern.
    Die beiden Männer, welche die Frau flankierten reagierten. Sie sprangen nach links und nach rechts weg und zogen währen den Rolle am Boden ihre Waffen. Bei anderer Gelegenheit hätte Halana der Choreographie Respekt gezollt. Stattdessen ließ sie den Zauber frei und erwischte die Frau, die ihre Waffe gerade ausrichtete. Ihre Augen wurden groß und Agonie überzog ihr strenges Gesicht, als sie ihre Waffe mit einem Aufschrei fallen ließ ihre Hände gegen den Magen presste und dann mit einer Mischung aus Ekel, Unglauben und Geburtsschmerz allen angesammelten Harn und Darminhalt in Sekundenbruchteilen von sich gab.
    Die Scheiße aus dem Leib zaubern, meinte Halana durchaus wörtlich.
    Sie duckte sich noch rechtzeitig und warf sich zur Seite.
    Ein plasmablauer Strahl schoss über sie hinweg und der stählerne Müllbehälter, den sie sich als Deckung auserkoren hatte, starb einen grauenhaften Feuertod, als ihn die Entladung der Waffe des zweiten Manns traf.
    Halana formte die nächste Matrix, währen sie an der Wand zurückwich. Der mittlerweile weißglühende Mülleimer trieb sie zurück und gleichzeitig die vorrückenden Männer in Schwarz an die gegenüberliegende Wand.
    »Um jeden Preis, wie?« Halana sah zur Mauer. Hoffentlich waren da gerade keine Bewohner direkt Wohnungswand, aber ihr gingen die Alternativen aus. Sie würde hier keine Feuerbälle werfen oder hochenergetische Blitze beschwören. Den Stadtkern von N‘Orleans gerade zu Mardi Gras anzuzünden oder die mangelhaften Stromnetze zu überlasten war keine Option, die ein Gildenmagier ziehen würde. Magie sollte nützen, nicht schaden! Jedenfalls mehrheitlich. Wenn irgend möglich.
    Also ließ sie die Matrix frei und zog die Fassade des Hauses auf gut zwölf Metern Länge heraus und ließ sie über den schwarz tragenden Agenten einstürzen.
    Die Schreie und Alarme ausblendend rannte sie die Gasse hinunter und war erleichtert, dass der Druide vertrauensvoll im Hinterhof wartete.
    Der Timer ihres Smartphones gab das Bugle-Signal. Verdammten, noch zwei Minuten bis zum Zeitfenster! Sie warf einen Blick auf die GPS-Anzeige und schaute sich um. Sieben Meter nach Nordost wäre gut, aber sie brauchten eine freie Fläche. Ein Weltentor in einem Gebäude zu öffnen wäre … kataklystisch, wieder einmal. Halana erlaubte sich ein genervtes Lächeln. Sie hasste solche Superlative in der Werbung aus einem guten Grund. Die hatte doch gar keine Ahnung!
    »Dort oben, auf dem Hausdach. Sie haben noch drei Minuten. Rein ins Haus und die Treppe hoch. Bis aufs Dach. Los! Los!«
    Sie schob den Druiden alles andere als sanft zur Haustür, die natürlich verschlossen war.
    Keine Zeit mehr. Sie wollte gerade eine Matrix formen, welche das Türschloss in eine Dämonendimension verbannen sollte, als sie ein Plasmastrahl knapp verfehlte und wenigstens das Türproblem wegschmolz.
    »Rein, ich halte sie auf!«
    Sie wirbelte herum und formte die Matrix einer Energiebarriere. Energie mit Energie aufhalten, nicht gerade elegant und schon gar nicht effizient, aber um die B-Note würde sie sich später Gedanken machen.
    Ein weiterer Plasmastrahl schoss heran, zerfaserte aber am Energieschild. Heiß war er dennoch.
    Halana wich ins Haus zurück. Hoffentlich ballerten die Irren drin nicht herum. Plasma zündete diese Holzbauten ebenso schnell an wie jeder Feuerball.
    Sie hörte den Druiden bereits im zweiten Stockwerk.
    »Für so einen Rauschebart ist der ganz schön fit …«, murmelte sie und sprintete ebenfalls die Treppe hoch, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Etwas Hartes traf sie an der Schulter, prallte ab und kam auf den Stufen auf, als sie schon ein gutes Dutzend weiter war. Die Schockwelle traf ihr Bein noch, doch sie konnte sich festhalten. Durch den Rauch erahnte sie ihre Verfolger mehr, als dass sie sie sehen konnte.
    »Um jeden f…king Preis, ja?«
    Durch den Schmerz aufgewühlt geriet ihre Matrix ein wenig schlampig und energetischer als gewollt und so verschwanden nicht nur die Treppen der nächten sechs Meter sondern das ganze restliche Treppenhaus unter ihr in Schutt und Staub.
    »Verd …« Zum Glück hatte das niemand gesehen. Undiszipliniertes Hexenvolk oder skrupelloses Zaubererpack pfutschte so mit Magie herum, aber kein von der Gilde examinierter Magier.
    Sie brachten das letzte Stockwerk hinter sich und reichten endlich das Dach.
    Mit der Melodie von Dangerzone verkündete ihr Smartphone die letzten dreißig Sekunden. Aber das Dach war leer. Gut.
    Sie förderte den leuchtenden Portalstein aus ihrer Jackentasche und zeichnete die Matrix des Weltentors zum Goldenen Hain in die Luft und … es erschient prompt.
    Halanas Anspannung fiel ab.
    »Zu sagen, es war eine Freude, wäre gelogen, aber rein mit ihnen und auf Wiedersehen in, sagen wir frühestens 100 Jahren.«
    Der Druide schenkte ihr ein eigenartiges Lächeln und trat durchs Portal.
    Halana wollte sich abwenden, als sie ein Stoß traf.
    Eine Frau in Schwarz mit seltsamen Miniflügelchen an ihren Oberarmen warf sie beinahe um, als sie sich noch während der Landung auf die Magierin stürzte. Ein kurzes Handgemenge um die silberne Minipistole der Agentin entstand, das Halana mit einen entschlossen Griff und einem magischen Stromstoß gewann, der alle Gildennormen nicht nur ignorierte sondern geradezu annihilierte.
    Ein Tritt der Frau in Schwarz schleuderte sie durch das sich langsam schließende Portal.

    Das güldene Leuchten das Hain umgab sie wie eine warme, wohlige Umarmung. Die Vöglein zwitscherten fröhlich, die Luft roch würzig und frisch und der Boden fühlte sich ganz besonders erdig an.
    »Gut gemacht, Magierin.« Er nahm ihr den Portalstein aus der Hand.
    Halana schaute verblüfft in das neutrale Lächeln des Druiden. Und auf den blitzenden Dolch, den er ihr unters Kinn hielt.
    »Du warst nützlich, ein gutes Werkzeug. Magie wirst du keine anwenden, um den Pakt nicht zu gefährden, also endet deine Nützlichkeit hier.«
    Ein Zucken um seine gnadenlosen Augen kündigte Halanas Ende an.
    Es gab einen Blitz und der Druide wurde gute drei Meter weggeschleudert, sein Messer verlor er bei der Landung.
    Entsetzt sah er auf das Brandloch in seinem Magen. »Du hast Magie gegen mich angewendet. Du hast den Pakt gebrochen …?«
    Halana hielt die kleine silberne Waffe hoch. »Keine Magie, Arschloch. Technik. Achja, behaltet den Stein. Ihr seid auf der Erde nicht mehr willkommen. Schönen Gruß von der Gilde, wir sehen von Vergeltung wegen des Angriffs ab, dafür sind wir nun quit.«
    Sie rollte sich durchs Portal und erreichte gerade noch das Dach, als das Portal sich schloss
    »It’s all over now, Baby Blue«, meldete das Smartphone das Ende des Zeitfensters.
    »Mal wieder in letzter Sekunde, wie?«
    Halana stimmte der Frau in Schwarz seufzend zu. Wie sie solche Superlative hasste. Es gab einfach zu viel davon in ihrem Leben.
    »Du hast den Druiden ganz schön erwischt.« Die Agentin reichte der Magierin die Hand, welche sich hochziehen ließ und ihr die kleine Pistole zurückgab.
    »Jepp, die kommen so bald nicht wieder und den Portalstein hat die Erde auch nicht mehr. Fürs Erste sollten wir vor dem Vollpfosten Ruhe haben. Ich hoffe, ich habe deine Leute nicht zu schlimm erwischt?«
    »Nah, alles gut. Die Mauer war schon fies, aber nicht unerwartet. Und Agent Saphire lässt Dank ausrichten, dass du uns vorgewarnt hast, nüchtern anzurücken. Dein Blitzkackzauber ist einfach obergemein. Nur der Elektroschock von eben, der war völlig unnötig.«
    Halana grinste. »Das war die Retourkutsche für die Schockgranate. Scheiße, mein Bein tut immer noch verdammt weh.«
    »Ah, sorry, ein neuer Kollege hat‘s übertrieben.«
    »Kein Ding.« Halana ließ sich dankbar den Arm um die Hüfte legen, damit die Agentin sie stützen konnte.
    »Inzwischen eine Ahnung, warum deine Führung diesen Deal mit den Druiden hat?«
    »Nah. Aber um jeden Preis? Es muss was wirklich, wirklich Gewaltiges sein. Der Erfolg sollte mich weiter an die Spitze bringen. Oder sie schmeißen mich raus.«
    »Du hast immer einen Platz bei uns.«
    Halana grinste. »Haha. Schwarz steht mir nicht und wer trägt heute noch Krawatte?«

    Wie heißt sie nun?

    gute Frage, ist vielleicht mondphasenabhängig ^^

    und, ja diese Story ist aus erzählt.
    Die Abenteuer von Kalid, dem Wächter stehen in einem DSA-Forum, was es vermutlich gar nicht mehr gibt (2010/2011). Das hier war ein unveröffentlichtes Kapitel, vermutlich weil wir ne Menge jugendlicher Leser hatten und ich verhindern wollte, dass die tugendhaften Knaben feuchte Träumen von sexy Werkatzen und die sittsamen Knabinnen ebensolche von feschen Stadtgardisten haben ... :whistling:

    nee, im Ernst, keine Ahnung, warum ich genau das Fragment über all die Jahre in meinen Daten-BackUps behalten habe.
    Der Allweise weiß es aber bestimmt.

    Ich räuspere mich und verscheuche die schlimmen Gedanken.
    »Was wurde als Omar?« Als ob das nicht allgemein bekannt wäre. Teil der Legende. Zuviel gewollt, Yasid?
    »Du Torfkopf. Er ist tot, das weißt du doch. Sein Bild hängt an der Veteranenwand! Viel wichtiger, was wurde aus der Frau, wie hieß sie?« Jenaira weißt ihn erstaunlich vertraut zurück. Die Beiden werde ich besser im Auge behalten.
    Ich nicke anerkennend auf die zweite Frage. Es ist selten, dass so junge Leute die richtigen Fragen stellen.
    »Das weiß ich leider nicht. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mich die folgenden Stunden für eine ganze Weile mit ganz anderen Gedanken beschäftigten. Ich weiß nur, dass sie sehr bald die Stadt verlassen hat. Zumindest das Viertel. Der Allweise gebietet zwar, dass man denen in Not beistehen soll, aber er verlangt nicht, dass man sein Leben aufgeben und ihnen nachrennen muss, wenn sie ihr Heil woanders suchen. Letztlich hat der Gütige uns den freien Willen gegeben, damit wir ihn nutzen und wer sind wir, dass wir seine Gaben übertreffen wollen?«
    »Aber heute seid Ihr Dabit, Herr. Es ist also gut ausgegangen, jedenfalls für euch.«
    Yasid das Schlitzohr wieder. Immer eine Schmeichelei durch die Hintertür. Die Anderen werden ihm bald alle aus der Hand fressen! Außer Janeira vielleicht. Ich habe eine Ahnung, wer da die Möhre hält und wer der Esel ist.
    »Meine Schicht war zu Ende und mein Partner war fort. Die dünne Mondsichel zeigte sich bereits am Himmel und dieses Mal folgte ich sehr bereitwillig dem Gebot meines ersten Earifs, einem alten Feldwebel aus dem Heer des Kalifen, der auf seine alten Tage sein Wissen an uns Wachrekruten weitergab: Wenn dein Dienst vorüber ist, geh nach Hause!
    Wie immer zu jener Zeit, ach, wie auch heute noch, erfüllte mich der Anblick meines Hausbootes mit Stolz und Zufriedenheit. Ich werde nie ein Haus mit eigenen Händen bauen, dessen bin ich mir gewiss. Der Allweise stattet uns mit verschiedenen Talenten aus, bei mir hat er wohl alles, was mit Werkzeug zu tun hat ausgelassen. Ich warte immer noch auf die Erleuchtung, wo er mir stattdessen Talent im Übermaß zugeteilt hat.«
    Pflichtschuldiges Gelächter. Natürlich ist Bescheidenheit die höchste Form der Arroganz. Ein echtes Laster meinerseits und kluge Leute bemerken das instinktiv. Der Allweise hat uns schließlich nicht alle als einfältige Narren erschaffen, wiewohl er erstaunlich vielen diese Bürde auferlegt. Warum, hat er mir ebenfalls noch nicht offenbart. Geheimnisvoll sind seine Wege. Zu breit und zu lang für die kurze Sicht der Menschen. Dennoch ist es uns erlaubt, sie auf unsre Weise zu erforschen.
    »Ich betrat mein Zuhause und genoss das sanfte Schaukeln. Vielleicht einer der Gründe, warum mich noch nie ein Meuchler im Schlaf aufgesucht hat, ist, dass nicht einmal eine Katze ein Boot im spiegelglatten Fluss betreten kann, ohne dass es wenigstens etwas schwankt und eine ganz kleine Welle ausgelöst wird.
    Ich lauschte dem Rückschlag der Wellen und der Klängen der Nachtschiffer, die ihre Lieder sangen, um so gehört und rechtzeitig gewarnt zu werden, bevor sie auf ein zur Nacht angelegtes Boot auffuhren. In einer solch großen Stadt wie unserer, endet der Warentransport auch nicht mit der Dunkelheit. Er wird nur viel langsamer und oft auch viel gefährlicher.
    Die Geschehnisse waren mir auf den Magen geschlagen, also verzichtete ich auf mein Abendmahl. Zu jener Zeit war ein einfacher Brei mit ein wenig Gemüse ohnehin das höchste der Gefühle. Mein ganzes Gold steckte im Hausboot und ich hatte wenigstens noch sieben Mal Sold zu bekommen, bis ich es vollends mein Eigen nennen durfte.
    Sofern ich meine Stelle überhaupt so lange behalten könnte. Omar war weitaus beliebter und sehr viel einflussreicher als ich. Aber darüber wollte mir nicht Gram werden. Wenn, dann schämte ich mich immer noch, dass eine Person in Not, sich eher vor mir fürchtete, als auf meine Ehre zu vertrauen. Auch wenn mir die Klugheit sagte, dass ich mir wenig vorzuwerfen hatte, so nagte es dennoch an mir.
    In mein Grübeln hinein bemerkte ich das sanfte Schaukeln meines Bootes.
    Ich war nicht mehr alleine.
    Normalerweise hätte ich nach meinem Knüppel oder nach dem zwischen den Regalen verborgenen Dolch gegriffen, aber meine Instinkte blieben ruhig. Meine innere Stimme riet, mir weder zu verschwinden noch aktiv zu werden, also wartete ich ab.
    Ein Wächter kommt oft in Situationen, in denen er viel zu wenig über die Lage weiß, oft genug belügt man ihn im Vorfeld sogar, weiß der Allweise, welchen Gewinn sich sogar Unschuldige sich davon versprechen! Was ihm aber immer bleibt, sind die Instinkte, die ihn schon jahrelang am Leben gehalten haben. Ich sage nicht, dass ihr nicht auf die Klugheit hören sollt. Doch wenn die Klugheit nicht weiter weiß, hört auf eure Instinkte.
    Ich wartete also. Und wartete. Und wartete noch etwas länger. Ich wurde beobachtet, soviel war ich mir gewiss. Beurteilt vielleicht, aber nicht verurteilt. Wie ein Pferdekäufer, der versucht zu entscheiden, ob das Ross vor ihm ein trittsicherer Bergsteiger oder ein windschneller Steppenläufer ist oder wie viel von Beiden ihm steckt.
    Die smaragdgrünen Augen, die plötzlich vor meinem Gesicht auftauchten, schienen das wenige Licht einzufangen und zurückzuwerfen. Sonnenrotes Haar mit dunklen Strähnen rahmte ein Frauengesicht ein, das zu hell war, um schon lange hier zu leben. Vielleicht eine Nordländerin, wenngleich von hier fast alles nördlich lag. Aus dem südlichen Regenwald kam sie ja wohl kaum.
    Viele Augenblicke lang sahen wir uns in die Augen. Ihr Blick war auf eine Art unmenschlich, raubtierhaft, doch zugleich so sehr menschlich, dass ich ihre tiefe Einsamkeit aber auch ihre Begierde deutlich erkennen konnte.
    Dann fühlte ich ihr Gewicht auf meinen Schoss und meinem Oberkörper, als sie aufhörte, mit allen Vieren abgestützt über mir zu schweben, wie eine Raubkatze, die sich jeden Moment auf ihre Beute herabfallen lässt.
    Durch ihre dünne, kurze Tunika, gerade eben noch als sittsam durchgehend, konnte ich ihr Verlangen
    deutlich an meiner Brust spüren.
    Es war schon wirklich lange her, dass mich eine Frau so angesehen hatte. Nein, so hatte mich überhaupt noch keine angesehen, kam ich schließlich zum Schluss. Ich war mir nicht sicher, ob ich Hauptgewinn, lohnende Beute oder schmackhaftes Opfer darstellte. Und es war auch egal.
    Ich bin in vielerlei Hinsicht ein sehr einfacher Mann, heute wie damals. Und wenn mich eine umwerfende Frau mit solch unverhohlenem Verlangen besucht, fallen mir einfach keine passenden Fragen ein. Ungeduldig Unpassende zuhauf, natürlich. Die Kunst ist, diese rechtzeitig davon abzuhalten, dem Gehege der Zähne zu entkommen.
    Also schwieg ich und saugte den Anblick der Unbekannten in mir auf, sorgsam darauf bedacht, meine Hände ins Laken gekrallt zu lassen, um keine unbedachte Bewegung zu machen. Bestiengeist, Ifrit oder liebeshungrige Nordländerin? Ich glaube an zweite Chancen, aber ich wollte verdammt sein, wenn ich den Allweisen hier um eine zweite bitten müsste, nur weil ich vorschnell handelte.
    Dann stießen unsre Nasen aneinander. Wie in einem Traum aus Neunundneunzig und einer Nacht, ging es mir durch den Kopf und sie lächelte.
    Kein Traum, guter Mann, starker Mann. Bin kein Traum.
    Konnte sie auch Gedanken lesen? Wohl eher war mein Gesicht ein offenes Buch.
    Ihre Lippen berührten meine Nase, ihre Zunge die Nasenspitze und fuhr zu meinen Lippen hinab. Ich begann zu zittern. Nicht aus Furcht, beim Allweisen, zuallerletzt aus Furcht!
    Sanft, unendlich sanft, erkundete die Zunge meine Lippen.
    Etwas in mir riss sich los und ich versuchte sie zu küssen, doch sie wich spielerisch zurück. Ich konnte Reißzähne in ihrem Mund sehen, oben wie unten. Doch ihr sinnliches Lächeln ließ mich das sofort beiseite schieben.
    Jagdzeit. Sehe meine Beute. Und dann warst du da. Der andere? Nannte sich Wolf, nannte dich Hund.
    Ihr Mund zuckte vor und stahl sich einen Kuss, bevor ich auch nur reagieren konnte.
    Das sage ich, dummer Wolf hat in seinem Leben noch keinen Streiflöwen erblickt und weiß es nicht besser.
    Etwas ermutigt von dieser Feststellung, hob ich meine Hände an, fasste sie vorsichtig an den Oberarmen. Ihre Haut war samtig aber nicht so weich, wie ich erwartet hatte. Harte Muskelstränge bewegten sich darunter und ich hatte nichts entgegenzusetzen, als sie ihre Finger in meine hakte und meine Hände neben meinen Kopf drückten. Mag sein, dass ich auch nichts entgegensetzen wollte. Manche Details erscheinen mir immer noch wie im Traum.
    Immer jage ich. Nehme, was ich brauche, was ich will. Dem Jaguar die Beute. Ich überrasche, unterwerfe und schlemme. Mein Wille lähmt, macht gefügig. Meine Opfer, meine Beute. Meins.
    Ich hielt die Luft an. Das klang doch ein wenig bedrohlich.
    Im Zwielicht des Mondes bildete ich mir ein, ein Fleckenmuster dicht unter ihrer Haut zu sehen. Wohl nur eine Täuschung der Schatten und ich hatte auch keine Gelegenheit darüber nachzusinnen.
    Heute jage ich nicht. Heute werbe ich. Unterwerfe nicht, biete mich an. Ich bin deine Beute, wenn du willst. Deine Dienerin, wenn du der Meister bist.
    Zu sagen, dass mein Mund trocken wie die Wüste wurde, beschreibt nur einen kleinen Teil meiner Gefühlswelt.
    Wer bist du? Was bist du? Was willst du von mir? – Natürlich hatte ich eine Ahnung, aber in diesem Fall wollte ich sicher sein. Wirklich sicher.
    Frau im Körper des Tiers, Tier im Körper der Frau. Wurden zusammengebunden. Mussten Eins werden.
    Mitfühlend drückte ich ihre Finger, fühlte die viel zu harten harten Nägel an ihren Spitzen. Ich zwang mich, nicht hinzusehen.
    Ich will dich fühlen. Will mich spüren. Durch dich, in dir, in mir. Die Menschlichkeit in ihrem Blick nahm wieder zu. Dann ließ sie meine Hände los und setzt sich auf.
    Diese Hände. Sie hob ihre vor meine Augen und ich meinte Reste zu erkennen. Reste von …
    Sie zerfetzen, weiden aus. Aber nicht bei dir. Nicht jetzt. Jetzt fühlen sie, sie bitten, sie ermutigen.
    Sie griff nach unten und ich kann nur sagen, was sie ergriffen und befühlten, wollte der Bitte nur zu gerne nachgeben und war überaus ermutigt.
    Lästige Dinge, wie Vorbehalte, Bedenken oder gar Ängste landeten mit einem Platschen im Fluss, als ich sie über Bord warf. Ich ergriff ihre Hüften und hielt sie, bis in Position war.
    Du bist vom Reitervolk. Ich reite dich und danach reitest du mich. Sag, dass mich reitest. Sag, dass du mich willst.
    Auf kulturelle Feinheiten, wie dass das Reitervolk die Besatzer waren und ich eher zu den Besetzten gehörte, verzichtete ich ebenso, wie auf Worte, die ich nicht hatte und die sie ohnehin nicht hören wollte. Stattdessen gab ich ihr soviel Kalid, wie ich konnte. Ihr Schrei, als wir die Pforte zum Paradies aufstießen, hatte wohl ebensoviel von einer Bestie wie von einer Frau und fragt mich nicht, welcher Teil erregender war. Es war wie ein Rausch, ein Sandsturm, die über uns hinweg fegte und uns verschlang.
    Als wir erschöpft aber zufrieden zusammenlagen, war der Fluss jedenfalls still. Sehr still.
    Keine Gesänge weit und breit und sogar das Gezeter der dominanten Tarischa, die sonst Abend für Abend ihren Ehemann lautstark, zur Unterhaltung der ganzen Nachbarschaft runterputzte, war nicht ein einziges Mal zu hören. Mag gut sein, dass wir ein wenig zu gut gehört wurden.
    Gegen Morgen wurde ich wach. Die Sichel des Mondes zeigte an, dass die Nacht in kaum zwei Stunden dem Tag weichen musste.
    Ich betrachtete das Wesen in meinen Armen, das entspannt und glücklich schlummerte. Ihr Kopf lag auf meinem Oberarm, leicht saurerer Speichel rann ihr in einem feinen Strom aus dem Mundwinkel.
    Schläfrig öffnete sie erst das eine, dann das andere Auge, aber ich erkenne ein Schauspiel, wenn ich eines sehe. Zu lange habe ich ein ähnliches Spiel mit einer Streunerkatze gespielt, die bei mir immer wieder unterschlüpfte, bis eines Nacht ein Krokodil sie zu fassen bekam.
    Bist du wieder bereit? Ihre Aussprache war schon viel deutlicher und sicherer. Als ob die Frau deutlich die Oberhand über die Raubkatze hatte.
    Ich lächelte. Lass es uns versuchen.
    Ja, ich war wieder bereit.
    Diesmal gingen wir es langsam an. Ich merkte, wie sie wollte, dass ich Spaß hatte, ich wollte es ebenso für sie und so fanden wir einen ausdauernden Rhythmus, der uns mal schläfriger mal lebendiger machte. Endlich kündigten sich die Paradiespforten an, lange, lange bevor wir sie öffneten. Es war kein Sturm, vielleicht die Andeutung eines Hauchs. Wie mit der Flussströmung, sanft, fast unmerklich glitten wir hindurch, im Einklang mit uns selbst, einander, der ganzen Schöpfung.
    Ich merkte kaum, wie sie ging.
    Selbst heute, gerade heute, denke ich, dass sie nur eben fortgegangen ist und jeden Augenblick zurückkommt.
    Ich liebe dein Geschenk und bringe es wohlbehalten zu dir zurück. Das waren ihre letzten Worte. Es dauerte viele Jahre, bis ich den Sinn begriff.«
    Ich ergriff die Tasse und leerte sie mit meinen Leuten zusammen, die ihre leerten.
    »Dabit, Herr? Was geschah jetzt mit Omar?« Yasid ist hartnäckig, das muss ich ihm lassen.
    »Ja, den haben sie Tags darauf gefunden. Irgendein wildes Tier muss ihn übel erwischt haben, so zerfleischt und ausgeweidet, wie er war. Und da ich nun der dienstälteste Earif war, müsst ihr mich heute als Dabit ertragen. Und jetzt genug gefaulenzt. Raus mit euch und beschützt unser Viertel. Wenn wir es nicht machen, tun es andere und ob wir das wirklich wollen, das lasst uns lieber nicht herausfinden.
    Die Männer gehen schwatzend und feixend. Ich nehme es ihnen nicht übel, wenn sie meine Erzählung für ein Seil aus Wüstensand halten. Nur Janeira zögert: »Dabit? Deine Liebste. Sie kommt wieder.«
    Wir sehen uns, wir schweigen und bevor das Schweigen unangenehm werden kann, folgt sie den Anderen.


    Epilog

    »Ada, ich bin zuhause!«
    Als würde man es nicht bemerken, wenn eine junge Frau, glücklich und unbeschwert über den Steg gehüpft kommt und voller Elan ins Boot springt.
    »Dem Allweisen sei Dank, dass du rufst, Kind, sonst würde ich noch zu Tode erschrecken!«
    Sie kommt herein, ganz meine wunderbare junge Tochter, ganz meine Ceya. Nunja, fast ganz, zumindest die Hälfte ganz.
    Wie immer, setzt sie sich auf ihr Bett am Boden zum Abendessen. Stühle kann sie nicht leiden. Umso besser, wir haben ohnehin kaum Platz für zwei und so gehört der Einzige ganz mir. Inzwischen macht sich das Alter immerhin so bemerkbar, dass vom Boden aufstehen ein wenig Gestöhne und Geächtze erfordert oder wenigstens den mitleidig hingestreckten Arm einer jungen Dame, die gerade eben noch ein kleines Kind war. Genau. War sie. Ich kann sie noch genau vor mir sehen:
    Das kleine Mädchen, gerade mal acht Sommer alt. Wie sie am Ufer steht, an der Planke, wo sie meinen Namen gerufen hat.
    »Ama hat gesagt du bist mein Ada. Bist du mein Ada?«
    Ich musste ihr nur in ihre smaragdgrünen Augen blicken, die das Sonnenlicht magisch zurückwarfen und auf das kupferrote Haar, das es in der ganzen Stadt mit Sicherheit kein zweites Mal gab.
    »Klar, ich bin dein Ada. Willst du an Bord kommen? Das ist unser Zuhause.«


    Epilog zum Epilog (Jahre später)

    »Meinst du sie kommt dieses Jahr?« Wie jedes Jahr an ihrem Geburtstag stellt Ceya diese Frage und wie jedes Jahr muss ich antworten: »Das wissen nur der Allweise und deine Ama. Aber uns ist es erlaubt zu hoffen und einen weiteren Teller zu decken.«
    Zehn Jahre, machen wir das inzwischen. Das Kleine Hausboot ist einem größeren gewichen. Das Gehalt eines Dabits, der sich nicht schmieren lässt, ist zwar nicht übermäßig üppig, aber wir kommen trotzdem gut zurecht. Und mit Ceyas unheimlichen Talent, ganze Rattennester und bissige Hunderudel nur durch ihre bloße Anwesenheit zu vertreiben, haben wir ein nettes Zubrot.
    Wie immer warten wir eine Weile mit Abendessen, ob sich unser drittes Familienmitglied vielleicht nur etwas verspätet und haben zugleich Zeit, uns von unsrem Tag zu erzählen.
    »Ich treffe mich gleich mit Alrik. Dann gehen wir mit den Freunden feiern. Du könntest diesmal auch mitkommen?«
    Ich lache und denke an das Männergespräch mit Alrik, als ich vor über einem Jahr sicher war, dass das Leuchten in seinen und Ceyas Augen nicht so schnell vergehen würde, wenn sie einander ansahen. Das Männergespräch fand am Fluss statt. Es drehte sich im Wesentlichen um Krokodile, die aus irgendwelchen Gründen lieber die Oberteile von Menschen fressen, sie so lange im Wasser herumschleudern, bis sie die Körper entzweigerissen haben und wie dann am Morgen die Leichensammler die untere Hälfte der Toten einsammeln mussten. Tote, die man nie identifizieren würde. Es war ein wirklich gutes Gespräch und unser Verhältnis danach von festem Vertrauen in Alriks innere Werte geprägt. Jedenfalls von meiner Seite aus.
    »Mit euch jungen Gazellen kann ein alter Hund wie ich nicht mithalten. Geht ihr nur.«
    Sie umarmt mich so sehr, dass ich ein Stöhnen unterdrücken muss. Sie hat ja gar keine Ahnung, wie kräftig sie ist. Irgendwann muss ich das ansprechen. Aber nicht an ihrem Geburtstag. Auf keinen Fall heute.
    »Du bist doch nicht alt, Ada und schon gar kein Hund. Ein Streifenlöwe!«
    Wie immer, gebe ich mein bestes Löwenknurren von mir, was sie zum Lachen bringt und dann knurrt sie zurück. Sie kann das so viel besser als ich.
    »Hab dich lieb, Ada. Bin vor Morgengrauen zurück!«
    Und schon ist sie weg.
    Ich genieße die Stille. Bald werden die Nachtsänger einsetzen. Die blöden Flusspferde werden brunftig röhren und mit ihren Kiefern klappern und die sanften Wellen, die leise gegen das Hausboot branden, werden nicht mehr zu hören sein.
    Da spüre ich Unruhe ins Boot kommen. Jemand ist an Bord gekommen.
    Ceya? Möglich, aber unwahrscheinlich. Sie ruft mich immer, wenn sie heimkommt. Immer.
    Vielleicht sollte ich meinen Säbel holen, aber meine innere Stimme schweigt und in all den Jahren hatte ich niemals Ärger mit Meuchlern. Den anderen Dabits fällt es schwer es glauben, aber ein ehrbarer Mann hat weniger Feinde und diese sind dann meistens auch, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ehrbar.


    Also warte ich. Und warte. Und warte noch etwas länger.
    Dann sehe ich in smaragdgrüne Augen, die das wenige Licht der Nacht einfangen und zurückwerfen.

    »Unwillkürlich suchte ich die Dächer über uns ab. Warum genau, war mir nicht klar, aber ich fühlte zu diesem Zeitpunkt genau, dass mein Lebensweg an eine Wegscheide gekommen war. Am Ende des einen Wegs, gerade noch außer Sichtweite, lag mein Grab.
    Dann fiel mir auf, dass Omar seine Tunika vorne sehr weit hochgeschoben hatte. Es war damals außer für die hohen Herrschaften nicht üblich, dass man bei der Arbeit Hosen trug. Bestenfalls ein Streifenrock oder ein Kilt war geduldet. Schlimmere Zeiten, schlimmere Sitten.
    Dann sah ich die junge Frau, die Omar mit festem Griff an der Kehle festhielt, während er mit seiner Rechten sein Gemächt in Stellung brachte.
    Omar, sprach ich ihn an. Omar?
    Mein Verstand wollte nicht annehmen, was meine Augen sahen.
    Geh weiter, Kalid. Geh einfach weiter, meinte er, nicht einmal sonderlich erschrocken, was kein Wunder war, meine Annäherung war ja nicht gerade leise gewesen.
    Omar! Ich trat näher und die aufgerissen Augen der jungen Frau blickten auf mich. Was mich mehr als alles Andere vorantrieb, war das Entsetzen in diesen Augen. Ich war ein weiter Peiniger für sie, nicht ihr Retter! Wie weit war es gekommen?
    Meine Narbe überm Auge hatte ich damals schon. Eine Torheit meiner Anfangszeit, die ich Dank Omar überlebt habe. Dennoch war es schon lange her, dass eine Frau mein Gesicht mit Begehren angeblickt hatte, aber nie, noch nie hatte ich solches Entsetzen ausgelöst.
    Ich hatte mich getäuscht. An beiden Wegenden lag mein Tod, denn in diesem Moment starb Kalid und ich, der heute vor euch sitzt, trat an seine Stelle.
    Lass. Sie. Los.
    Meine Stimme hatte diese tiefe Färbung angenommen, die sie heute hat. Bis dahin hat man mich zu Zeiten damit aufgezogen, dass ich wie ein Heranwachsender klingen konnte.
    Ich weiß, dass Hass keinen Platz im Herz des Gläubigen haben soll, denn wenn der Allweise uns stets Güte erweist, wie könnten wir einander anders begegnen, ohne den Vater aller Dinge zu schmähen und sein Verhalten töricht zu nennen?
    Doch in diesem Augenblick war ich wohl sein unvollkommenster Diener. Mein Wort darauf, hätte Omar sie nicht auf der Stelle losgelassen, ich hätte seinen Kopf mit meinem Knüppel so heftig geprügelt, bis er nur eine aufgeplatzte Masse aus Fleisch und Blut gewesen wäre.
    Sie ist doch nur eine Streunerin. Ein Flüchtling. Lungert hier nur herum. Keine Kupferzechine in der Tasche, nur eine Last für alle.
    Beinahe hätte ich mich auf ihn gestürzt. Du willst, sagen, kein Kupfer um deinen Schutz zu bezahlen! Und nun soll sie dich … anders … bezahlen …
    Meine Stimme brach vor Zorn und Omar wich schnell vor mir und der zusammenbrechenden Frau zurück.
    Und wenn es so wäre, Kalid? Was, wenn es so ist? Was man uns zahlt, ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Es ist unser Recht mehr zu …
    Recht? RECHT?! Es ist unsere Pflicht! PFLICHT, hörst du mich, Earif? Wir haben geschworen, GESCHWOREN, diejenigen zu schützen, die Schutz bedürfen. Es ist mir egal, ob du bei den Reichen die Hand aufhältst. Es ist mir egal, ob du mit den Gilden Abgaben vereinbart hast, damit du bei kleinen Diebstählen wegsiehst. Beim Allweisen, ich habe nie etwas gesagt, wenn du sie die reichen Besucher hast rupfen lassen, solange die dann nicht mittellos in der Gasse landeten und zu meinem Problem wurden. Aber sie hier. SIE? Sie hat nichts und doch nimmst du immer weiter? Was soll das werden? Wirst du dadurch reicher? Was gewinnst du hier? Ist dein Gesicht plötzlich nicht mehr hübsch genug, dass dir nicht ohnehin alle jungen Röcke nachlaufen? Was, Omar? Sag mir, was hast du hier zu gewinnen!
    Ich merkte wohl, dass ich mich immer mehr in Rage redete. Omar war in die Ecke gedrängt und hatte endlich seinen eigenen Schlagstock aus der Schlaufe gezogen.
    Du eitler Habenichts. Kleingeistiger Philosoph und Gutmensch. Predigst vom Allweisen und doch bin ich es, der dich davor bewahrt, von den Raubtieren gefressen zu werden. Hörst du, Kalid? Ich! Weil ich mit dem Wölfen heule, weil ich mit dem Rudel laufe, lassen sie dich verlausten Straßenköter in Frieden. Aber das hat jetzt ein Ende. Der Alte ist bald im Grab und dann bin ich der Dabit. Und eines sage ich Dir, Earif Kalid, dann gibt es in meiner Wache für einen bigotten Heuchler wie dich keinen Platz mehr! Und jetzt geh mir aus dem Weg, blöder Hund. Such dir jemand anderen an, den du selbstgerecht ankläffen kannst. Und viel Spaß mit deinem Lämmchen. Ohne meinen Schutz übersteht die nicht mal eine Nacht. Was machst du dann? Rennst in den Tempel und bittest den Allweisen um Verzeihung?
    Ich kenne die Gebote. Ich kenne sie genauso gut wie du. Und ich habe jene Gebote gefunden, nach denen ich lebe. Du. Bist. Nicht. Heiliger. Als. ICH!
    Er spie mir vor die Füße und stapfte davon.

    War ich eben noch voller Zorn, erfüllte mich nun tiefe Trauer. Ich hatte gerade einen Freund verloren, den ich vielleicht nie gehabt hatte, aber es tat trotzdem weh. Und noch mehr trauerte ich um Omar. Er hatte ein paar Gebote gefunden, die ihm behagten, die seine linke Art zu handeln rechtfertigen konnten. Dabei hatte er die weit zahlreicheren Gebote verloren, die ihn auf dem rechten Pfad hätten halten können.«
    Betroffen sahen mich meine Leute an. Sie hatten sichtlich damit kämpfen, meine Worte mit der Legende des edlen Omars in Einklang bringen. Eingedenk Omars nahm ich einen Schuck, möge der Allweise ihm im Jenseits den rechten Pfad erneut weisen und ihm eine weitere Runde unter den Lebenden gewähren, um sich vor den Augen des Allvaters dessen Güte als würdig zu erweisen.


    »Ich trat zu der jungen Frau, die kaum fassen konnte, was gerade geschehen war. Ungeschickt zog ich ihre Lumpen zurecht, wollte ihre Blöße bedecken, doch sie zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen.
    Nur ruhig. Ich tue dir nichts, versprochen. Der Allweise gebietet jenen beizustehen, die in Not sind. Gewähre mir das Privileg, seine Gebote durch den Dienst an dir zu befolgen.
    Ihr Zittern wurde weniger, so glaubte ich jedenfalls. Auch wenn es gegen die Vorschriften war, zog ich den Wappenrock des Fürsten aus und legte ihn ihr um.
    Ich bringe dich zu Leuten, die dich aufnehmen. Sie werden dir Kleidung geben und Obdach für eine Weile, und Essen. Und weil sie gute Leute sind, werden sie dir versuchen einen Weg zu weißen, den du gehen kannst, ohne deine Würde zu verkaufen und ohne Gefahr für Leib und Seele.
    Ihre Antwort war leise, kaum ein Flüstern. Warum sollten sie so etwas tun?
    Ich hob sie auf ihre wackeligen Beine. Falls nötig, würde ich sie tragen.
    Weil sie gute Menschen sind und die Gebote des Allweisen nicht nur kennen sondern auch leben. Sie würden wahrscheinlich auch so helfen, aber bisweilen muss man mit der Nase darauf gestoßen werden, was anständig ist und dass selbst der Allweise in seiner Güte einem nicht alles für immer durch gehen lässt. Vertrau mir. Es ist nicht weit.
    Sie nickte schwach. Und der andere Wächter?
    Meine Stimme war fest, nachdrücklich, ganz wie ein Vertreter des Fürsten und der Ordnung zu sprechen hatte: Omar? Um ihn wird sich gekümmert, mein Wort darauf.
    Wie, wusste ich selbst nicht so genau. Und wenn ich meinen Dabit gewaltsam ausnüchtern musste, ich würde dafür sorgen. Wenigstens diese eine Frau wäre in Sicherheit .
    Es ist wie der Allweise sagt: Hilfst du einem Menschen, hilfst du dir selbst. Hilfst du zwei Menschen, hilfst du der ganzen Welt.
    Zwei Steine, die man lostritt und die sich dann zur unaufhaltsamen Lawine vermehren.«


    Ich nehme die Tasse erneut hoch, noch einen oder zwei Schlucke. Und der beste Teil der Gesichte kommt erst noch. Ohne es zu wollen, stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht und ich bemerke erst an der Stille, wie man mich anstarrt.

    ErWacht
    vom Tom Stark

    »Dabit (Hauptmann), Herr. Eine Geschichte der Altvorderen. Kommt schon, Herr. Ihr könnt so gut erzählen!«
    Da ich ein guter Dabit bin – höre ich jedenfalls, gerne über mich sagen – und an mir vermutlich ein brauchbarer Haimamud (berufsmäßiger Geschichtenerzähler) verlorengegangen ist, lasse ich mich natürlich breitschlagen.
    »Also schön. Zum einen weil ihr heute früh gute Arbeit geleistet habt und besonders Du, Yasid, sogar eine beachtliche Bestechung ausgeschlagen hast, ja, der Dabit sieht alles, vergesst das nur nie, und zum Anderen ist heute ein ganz besonderer Tag.«
    Meine Männer und die eine Frau, die ich sogar gegen etwas Widerstand in die Wache geholt habe, versammeln sich um mich.
    »Eine Ein-Tee-Geschichte, dann geht es wieder auf die Straßen. Die guten Bürger werden unruhig, wenn sie lange unser Wappen nicht sehen und die Gaunergilden haben auch ein kurzes Gedächtnis.«
    Pflichtschuldig wird gegrinst und gekichert, Yasid, der alte Honighändler lacht sogar kurz. Das jüngste Mitglied meiner Wache versteht es wirklich gut, mir Honig um den Bart zu schmieren, wenn ich nicht aufpasse, werde ich mit einfachen Waschen nicht auskommen, dann kann ich zum Barbier rennen. Vorlauter Lümmel! Wenn der es nicht in drei Jahren zu Earif (Unteroffizier) bringt, dann hänge ich meinen Schlagstock an die Wand.
    Ich halte Jenaira meine Teetasse hin. Jedem anderen wäre sie mit dem Hintern ins Gesicht gesprungen für meine Frechheit, sie nicht wie jeden anderen Mann in der Truppe zu behandeln. Tatsache ist jedoch, dass sie den perfekten Zeitpunkt kennt, wie lange man den Tee ziehen lassen muss und wie schnell man ihn einschenkt. Und ich warte nie sehr lange, bis ich den Jungs wieder nahelege, sich das abzuschauen. Nichts hält dein Leben so sehr in der Balance, wie ein perfekter Tee.
    Als sich alle anderen ihren Tee geholt haben, natürlich selbst eingeschenkt, die Privilegien des Dabit muss man sich eben verdienen, nehmen wir gemeinsam den ersten Schluck. Schon seit Jahren musste ich das nicht mehr anmahnen. Die Alten bringen es den Neuen bei. Einen guten Offizier erkennt man unter anderem daran, dass er verständliche Anweisungen selten zweimal geben muss.
    »Also dann.« Ich setze meine Tasse ab und sehe das heimliche Schmunzeln meiner Leute auch ohne hinzusehen. Sie kenne mich, ich kenne sie. Und sie wissen, wenn ich Ein-Tee-Geschichte sage, meine ich auch genau eine Tasse. Wie schnell der Dabit geruht, diese zu schlürfen, ist ganz allein Sache des Allweisen und des Dabits …

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    »Es ist auf den Tag, fast auf die Stunde genau 10 Jahre her, als ich als Earif im achten Jahr zusammen mit meinem Partner Omar auf Steife war. Er war Earif im neunten Jahr und hat mir fast alles beigebracht, was ich als Wächter brauchte und über die Gassen des Südvierteles wissen musste. Und ein paar Sachen, die ich wissen musste, die ich mich aber weigerte zu brauchen.
    Damals war das Südviertel noch ein wenig ärmer als heute, auch wenn es schon zwei wirklich Reiche und sogar einen aus dem Rat hier hatte. Aber wie heute hatten wir zum Großteil Handwerker, die gerade über die Runden kommen, so wie unsereins eben auch. Und natürlich hatten wir die Armen, die Obdachlosen, Heimatlosen, Flüchtlinge, Krüppel und jene, die vorgaben, es zu sein, um die Mildtätigkeit des Gläubigen auszunutzen.
    Denn wie der Allweise uns gebietet die Not seiner Geschöpfe zu linden, insbesondere jener, die uns in Form und Gestalt ähnlich geschaffen wurden, so warnt er uns auch vor jenen, die unsren Geist vergiften und unsere Sinne vernebeln, auf dass wir die Worte des Allweisen nur im egoistischen Sinne sehen und statt Ehre, Schande auf unser Haupt laden.«
    Ich nehme einen weiteren Schluck zu Ehren des Allweisen und meine Leute folgen mir. Natürlich tun sie das. Es sind gute, Leute, anständige Leute.
    »Omar, als der Ranghöhere, wies mich an, auf der Hauptstraße zu bleiben und pirschte sich in die Nebengassen, wie er es oft zu tun pflegte. Längst wusste ich, dass er nicht den Dieben und Meuchlern auflauerte, wie er es mich in meinen ersten Jahren glauben mache. Er besuchte seine besonderen Freunde, wie er sie nannte, um sich den wöchentlichen Obolus für seinen besonders aufmerksamen Schutz zu holen. Er hatte es inzwischen aufgegeben, mich an diesen, seiner Ansicht nach völlig legitimen, Nebeneinkünften zu beteiligen. Natürlich gedachte er so zu vermeiden, dass ich ihn beim Dabit anschwärzte, aber diese Sorge hätte er sich nicht machen müssen. Mein alter Damit hatte viele Vorzüge, der Allweise segne ihn dafür im Jenseits, aber er war ein Mensch mit Schwächen wie jeder von uns. Seine größte war vielleicht der Trunk, dem er sich schon zu frühen Morgenstunden hingab. So hatte er oft schon Augenblicke später vergessen, was man ihm berichtet hatte. Wir Earifs schmissen den Laden und das schien ganz gut zu gehen. Nur wenige Tote mussten morgens von den Leichensammlern in unsrem Viertel aufgelesen werden, vom kleinen Markt kamen kaum Beschwerden wegen Diebstählen und die wenigen Reichen residierten sicher in ihren Stadtpalästen, bei den Anderen war ohnehin nichts zu holen.
    Heute wissen wir natürlich alle, dass es eben nur gut schien. Den ersten unverdeckten Blick auf die Wahrheit erhielt ich an diesem Tag. Dem Allweisen hat es gefallen, an jenem Tage seinem unvollkommenen Diener die Nebelschleier vor den Augen zu zerreißen, auf dass er sehe, was er endlich sehen musste.
    Obwohl ich strikt dagegen war, mich zusätzlich für Dienste bezahlen zu lassen, für die ich bereits den Schwur vor dem Fürsten und dem Allweisen geleistet hatte, war mir bislang nicht Schlimmes widerfahren. Weder wurde ich Opfer von Schlägern oder einem verborgenen Dolch, noch wurde mein Hausboot angerührt, das ich in den Jahren mir vom Munde abgespart hatte. Natürlich lag das auch an Omar, der trotz alle seiner Fehler für mich da war. Er war weit davon entfernt, ein so achtenswerte Mitglied der Wache zu sein wie Ihr, meine Kameraden, aber auf seine Art war ein guter Partner, fast ein Freund. Bis er aufhörte es zu sein. Der Allweise möge in seiner Güte seine Verdienste zuvor höher anrechnen, als sein Vergehen an diesem Tag.«
    Ich nehme einen weiteren Schluck, diesmal folgen mir nicht alle sofort. Zu sehr hängen sie an meinen Lippen. Immerhin ist Omar ibn Jaffad ibn Mugdim auch heute noch eine Legende. Ein Mann aus reichem Haus, der trotzdem zur Wache ging. Ich habe dieser Legende nie widersprochen. Es gibt absolut keinen Grund Jaffed und seine Frau, noch Omar nachträglich in Verlegenheit zu bringen. Armut ist entgegen vieler Auffassungen keine Schande, auch nicht, wenn man zuvor reich war. Mir hingegen erklärt es mancherlei ungesunden Hang zum schnellen Gold meines alten Partners.
    »Es gibt aber noch etwas, was bei den Oberen, den Gilden und der Bürgern immer für mich sprach. Eine Stimme in mir sagte mir meist, wenn ich einen anderen Weg gehen sollte und den Allweisen entscheiden lassen soll, ob ich etwas höre, was mich zum Umkehren zwingt oder sie trieb mich an, meine müden Beine selbst in der letzten Stunde meiner Schicht zu schwingen, weil mein Glaube und mein Knüppel vor Ort gebraucht wurden. So war ich, mit der Hilfe des Allweisen, wie ich mir hoffe nicht nur einzureden, den wahrhaft Mächtigen zu selten auf ihre Sandalen gestiegen bin, damit sie davon wunde Füße bekamen, aber oft genug genau dann von Ort, wenn es wirklich nötig war. Glaubt es ruhig eurem alten Dabit: Auch die Strolche wissen es zu schätzen, wenn sie einen Ort haben, wo sie ihr müdes Haupt sicher zu Ruhe betten können und wenn ihre Töchter sich ungestört zum Gebet versammeln können. Denkt zu keinem Zeitpunkt, dass man uns nicht will, oder uns gar hasst, völlig egal was die Halbstarken an Wände und Brücken pinseln. Sie wollen uns nur dann nicht, wenn sie Unrecht tun und hassen uns genau dann, wenn wir sie bei ihrem Unrecht ertappen. Aber sind sie in Not, erschlagen zu werden, und die lauten Schritte einer Streife vertreiben ihre Angreifer, dann sind sie dankbar. Freilich zu stolz oder zu engstirnig, um uns das wissen zu lassen. Aber niemand von uns ist, hier, damit man ihm Statuen zu Ehren aufstellt, habe ich Recht?«
    Ich lasse ihnen das zustimmende Geraune und auch ihre geflüsterten Verwünschungen, ob des harten Loses eines Wächters. Dann trinken wir gemeinsam den nächsten Schluck. Ich merke, ich muss mich sputen, der Tee erkaltet merklich.
    »Diese innere Stimme schrie mich förmlich an, mich zwischen den Häuser hindurchzuzwängen und die Seitengasse zu erreichen. Damals war ich noch ein wenig schlanker und so holte ich mir nur ein paar Abschürfungen.
    Als ich endlich die Gasse erreichte, sah ich zuerst Omar. Er war etwas nach vorne gebeugt und hielt eine Person gegen die Wand gedrückt. Schon zückte ich meinen Knüppel, bereit meinem Kameraden hilfreich den Rücken zu stärken. Wo ein Strolch zu sehen ist, lauern drei in den Schatten, heißt es nicht zu unrecht. Deswegen gehen wir niemals – Nie! Mals! – alleine vor.«
    Allgegenwärtiges Nicken zeigt mir, dass ich verstanden wurde.

    Da fehlt ein "sind" und aus "der" mach "mehr" und schon ist es ein Satz sogar mit Sinn ... besser ich gleich mal aus.

    irgendwo auch ein zweischneidiges Schwert ist: Zum einen frage ich mich, ob Du das Tempo permanent halten kannst

    Ist mein normales Tempo ^^ , aber ich weiß, dass es vielen zu hektisch ist. Selbst wenn ich cozy schreiben will, empfinde oft nur ich es als langsam und gemütlich.
    Dabei lasse ich einfach nur konsequent das weg, was ich selbst bei spannenden Romanen ohnehin überfliege ...

    Auch nach all den Jahren und auch oder gerade weil ich ich weiß, dass ich weder die Energie noch den Skill dafür habe, träume ich von einem Roman in epischer Breite, wo ich meine Figuren außer den Menschen alle ihre Muttersprache sprechen lasse und man wie bei R2D2 aus den Fragen und Antworten den Protagonisten dennoch einigermaßen folgen kann. ABER die Sprache müsste echt sein und der Leser, der ganz genau mitmacht, sollte sie mit der Zeit erlernen können, wie Achmed Ibn Fadlan beim 13. Krieger.

    Naja, es ist ein Traum und wird wohl einer bleiben, außer ich such mir einen begnadeten Co-Autor, aber das wäre ja eine Zusammenarbeit über viele Jahre. Und dazu habe ich eine viel zu starke Meinung von meinem eigenen Geschreibsel ...:whistling:

    Super, dass es euch gefällt.
    Die Idee dahinter war die These aus dem wöchentlichen Discord-Literatur-Gehirnstürmer-Treff, dass man ja eine ganz, ganz (gaaaanz) knappe KG schreiben könnte. Die hier hatte etwa 500 Wörter und etwa 3,3k Zeichen, also unter den Mindestanforderungen.
    Aber um fair zu sein, habe ich alle Fantasy-Elemente rausgeworfen. Der finstere König auf seinem Thron aus Asche und Knochen, die untoten schwarzen Reiter auf ihren Dämonenpferden, die Feenritter auf ihren Einhorn-Pegassi und die engelhafte Königin die mit flammenden Schwert und den Posaunen von Chris Jericho (war doch der?) über den Turm aus verkohlten Schädeln und Obsidian kommt ...
    Vom tapferen, leicht bewaffneten Kobold-Läufer mit 7-Meilen-Stiefeln, der Nachrichten von der Belagerung der schwarzen Feste und dem Fall der Vampirkönigin in seinem Gepäck hat, ganz zu schweigen.
    Ist echt eine Menge Schönes, auf die Spitze getriebenes Screenplay verloren gegangen.

    Also mit Fantasy-Effekten wäre ich auch wieder um die 4000 Zeichen gelandet, mindestens.

    Experiment also so semi gelungen.

    Das Setting hab ich natürlich aus dem Klassiker Battle-Chess geklaut.
    (Wer sich erinnert, der Hüftschwung der stolzen Königin, oder der Bauer, der dem König in den Schritt tritt und ihm dann die Krone klaut .... ach ....)

    Des Läufers letzter Lauf
    Tom Stark


    Coureur le Blanc war schnell. Verdammt schnell.
    Mit seinen langen Beinen überwand der Feldläufer beinahe spielerisch große Strecken, aber er hatte eine Schwäche, wie ihm nur zu sehr bewusst war. Wenn er Haken schlagen, enge Kurven nehmen oder sich gar durch und über Hindernisse bewegen musste, tat er sich schwer.
    Ausgerechnet die eigene Spießbürgergarde hielt ihn dieses Mal in seinem Lauf auf.
    Ausgerechnet diese Emporkömmlinge aus dem Bauernstand mit ihren langen Spießen und ihren lächerlichen Morions auf ihren tumben Häuptern, eher Kanonenfutter, um die Belagerungstürme aufzuhalten, als echte Krieger.
    Sei es, wie es sei.
    »Lascht misch dursch, Sacre Cœur, isch musch sum Könisch. Esch drohet Danger!«
    Der Hauptmann der Bauerngarde musterte den bunten Gecken mit dem Speer abfällig. Er schien aus nichts als Beinen zu bestehen, diese Gerbille.
    »Isch darf niemand vorlassen, Monsieur. Ihre Majestät ist en Conversation mit der Königin, oh, la, la.« Dieser Cretin verdrehte tatsächlich die Augen anzüglich.
    Unerträglich!
    Der Feldläufer warf ungeduldig die Hände in die Höhe.
    »Aber siescht du nischt den Chevalier de Noir, wie er kommt über das Feld de Guerre geritten? Lasch misch dursch, Garson idiotique!«
    Der Hauptmann warf einen Blick in die angezeigte Richtung und erbleichte. Der Schwarze Ritter galoppierte wahrlich übers Schlachtfeld. Sein Ross nahm Anlauf und setzte über eine Abteilung Spießbürger, als wären sie nur ein Hindernis in einem Parcours und brach dann direkt hinter ihrer Reihe zur Flanke weg. Die dunkle Lanze des Verderbten zeigte direkt auf das Königspaar.
    Tapfer gab der Hauptmann seiner Abteilung den Befehl die Spieße zu senken und vorzurücken.
    »Ihr scheid des Wahnes, Monsieur! Altet fescht an le Formation!« Coureurs Rufen verhallte ungehört.
    Der schwarze Ritter lachte triumphierend. Er ließ sein Streitross, spöttisch den Wimpel an der Lanze präsentierend, an dem Spießbügertrupp vorbeitraben und bog sogar in ihrem Rücken ab, um sich in Stellung zu bringen, wohl gedeckt durch das Sperrfeuer des Belagerungstrum mit dem schwarzen Wappen des dunklen Herrschers. Herausfordernd deutete der berittene Schurke auf die Brust des Königs.
    Die Majestäten geruhten nach wie vor zu palavern und ahnten nichts von der Gefahr. Nur noch Momente trennten den schwarzen Ritter und seine Lanze davor, seine Majestät, Roi Blanc des Echecs, aufzuspießen.
    »Reine Blanche, meine Errin, meine Königin. Schützt euren Gemahl, rettet unscheren Errn!«
    Todesmutig nahm der Feldläufer seinen Speer fest und hielt auf den schwarzen Ritter zu. Er sah, wie die Armbruster im Belagerungsturm ihre Waffen spannten, wie sie anlegten.
    »Meine Pflischt ischt meine Ehr!«
    Er lief auf den Reiter zu, sprang ab und holte so weit aus, dass ihm das Schultergelenk schmerzte.
    Sein Speer flog und flog, durchschlug den Schild des Ritters, bohrte sich in die Brust seines Trägers und warf den schwarzen Reiter aus dem Sattel.
    »Pour le Roi!«, hauchte Coureur noch einmal triumphierend, bevor die Geschosse des schwarzen Turms in ihn einschlugen und sein Leben auffraßen.
    Der letzte Blick des Feldläufers galt seiner Königin wie sie ganz in weiß und strahlend der Gefahr gewahr wurde. Ihr güldenes Schwert leuchtete hell, als sie sich mit ihrer Leibwache auf den Belagerungsturm stürzte.
    »Ma Reine Radieuse!«, war sein letzter, stolzer Gedanke.

    JaguarEye100pxl.jpgJessy Dalton

    Willkommen in Purgatory


    II: Keine Stadt wie jede Andere

    Kaum bin ich an den ersten Häusern vorbeigefahren, werde ich auch schon gegrüßt. Freundlich hebt man eine Hand oder winkt mir zu, ein Mann im Rentenalter macht sogar bereitwillig Platz auf dem Gehweg, obwohl auf der Mainstreet locker ein Vierzigtonner rangieren könnte.

    Ich lass die Fahrerscheibe herab und nehme meine Sonnenbrille ab. Das letzte was ich will, ist dass die Bewohner mich verwechseln und es am Ende heißt ich hätte vorgetäuscht einer ihrer Deputies zu sein, aber die Reaktionen ändern sich nicht.

    Kann es wirklich sein, dass keine Schwein merkt, dass ich weder eine Uniform anhabe noch von hier bin, aber den verdammten SUV ihres Sheriffdepartments fahre?

    »Hallo, Sie da. Darf ich Sie etwas fragen?«

    Der Alte, der shon weiterschlurfen will dreht sich zu mir um. »Sicher, Lassie. Was willst Du denn wissen?«

    Für einen Moment bin ich sprachlos, aber dann schiebe ich es einfach auf die lokalen Gegebenheiten.

    »Wo finde ich denn hier den Sheriff?«

    »Milton? Der ist jagen, wie jeden Tag.«

    »Milton ist der Sheriff? Und er geht mitten in der Woche jagen?«

    »Klar, Lassie. Joe kümmert sich ohnehin um alles. Guter Junge, auch wenn er 'ne Rothaut ist. Aber das weißt Du ja, fährst immerhin seine Karre.«

    Ich blinzle mehrmals. Die Erfahrung hat mich gelehrt, nicht aus der ersten Begegnung auf die Geisteshaltung und Geistesgröße der Restbevölkerung zu schließen, aber lieber Himmel, ich hoffe wirklich, dass es ab hier steil bergauf geht. Kann es ja eigentlich nur.

    »Äh. Ja. Ich habe den Deputy hinten liegen. Er ist schwer verletzt. Wo bringe ich ihn denn am Besten hin?«

    Falls es ihn irgendwie verwundert, dass eine Fremde, ihren offensichtlich als kompetent geltenden Deputy herumkutschiert, dann zeigt er es nicht. Also nicht mal eine Spur.

    »Das wäre dann Old Penny. Da hinten. Der Doc dürfte noch offen haben. Penny ist aber gerade nicht in der Stadt. Macht Hausbesuche draußen auf den Ranches. Aber Old Penny sollte da sein.«

    Manchmal nützt es, in Verhörtechniken geschult zu sein. In manchen Fällen erahnt man aber sofort, dass weitere Informationen nur zu noch größerer Verwirrung führen. Also nicke ich dankend und folge dem Fingerzeig und biege von der Hauptstraße in die angegebene Seitenstraße ein.

    Und siehe da, da steht es. Penelope Fontain, Dr. hum, Dr. vet, Coroner – Gerichtsmediziner.

    Perfekt, von der Geburt über die Rindviehjahre bis zum Ableben, alles im Service inbegriffen.

    Ich liebe Kleinstädte.

    Inzwischen versinkt die Sonne hinter den Häusern und lange Schatten lassen das Städtchen zumindest in Teilen wie eine Kulisse aus einem Spätwestern wirken. Wenn jetzt gleich ein paar Viehtreiber mit Howdy, Jeeha und Bierdosen in den Händen um die Ecke bögen, wäre ich nicht sonderlich überrascht.

    »Hey. Joe. Sind Sie wach?« Ich tätschle den wohl richtig als Ureinwohner eingeschätzten Deputy. »Meinen Sie, Sie können gehen?«

    Er lallt etwas deliriös und ich übersetze das mit Nein und hoffe, dass ich kein Stammestabu verletze, indem ich ihn zu einer weißen Medizinfrau schleppe. Man ahnt es bereits: Was ich von Stämmen und ihren Bräuchen kenne, stammt aus Kino und TV, und ich meine keine Dokus. Schande, über mein ungebildetes Haupt.

    »Hey, Doc. Doc Fontain?« Mein Rufen verhallt wohl ungehört. Also zapfe ich soviel wie nötig von meiner Natur an und hebe den großen Deputy im Feuerwehrtragegriff auf meine Schultern. Kann ihn ja schlecht am Kragen hinter mir herschleifen.

    Gut, ginge schon, aber wie sähe das aus?

    Ich stapfe zwei Stufen nach oben und stehe vor der Tür auf der ein Holzschild eingelassen ist:

    Wer hier eintritt, wird wie ein Mensch behandelt.
    Wem die Behandlung nicht passt:
    Die Tür ist da, wo du gerade stehst!

    Entzückend.

    Ich stoße die Tür auf, die nicht verschlossen ist. Das ist witziger weise hier in diesen Regionen generell unüblich. Auf ungebeten Gäste zu schießen hingegen schon. Ich bevorzuge ja eine geschlossene Tür gegenüber einer vorgehaltenen Flinte, aber Jedem das Seine.

    »Doc? Old Penny? Ich habe hier einen Schwerverletzten!«

    Endlich bewegt sich etwas. Ich höre wie eine TV-Sendung stummgeschaltet wird, Judge Judy, wenn ich es richtig mitbekommen habe.

    »Oh, wen haben wir denn da? Eine Rothaut, die eine andere Rothaut anschleppt?«

    Von der Political Correctness der Hauptstadt ist man hier weiter entfernt als vom Mars, aber es klingt durchaus nicht unfreundlich.

    »Du meine Güte, Joseph Blackfeather. Was hast Du wieder angestellt? Leg ihn bitte hier ab, Kindchen. Ganz langsam. Ich würde ja helfen, aber du hast genug Kraft für uns beide.«

    Während ich den Deputy auf eine Behandlungsliege wuchte und versuche meine Verwandlung unter der Oberfläche zu halten, kann ich Old Penny sehen, wie sie routiniert an die Arbeit geht.

    Doc Fontain hat sich ihr Old redlich verdient, denn die zierliche aber resolute Frau besitzt schon mehr weiße als graue Haare, die sie wohl auch vor Monaten zuletzt gefärbt hat. Ihr Gesicht besitzt dieses weiche, helle Weiß von Leuten, die sich der Sonne nur mit viel Lichtschutzfaktor aussetzen und auch sonst eher wenig im Freien arbeiten.

    Nach einer kurzen Untersuchung, Augen auf Lichtreflexe, Stethoskop wegen Herzschlag und einem liebevollem auf die Wange tätscheln, komme ich mir vor wie bei einer Folge von M.A.S.H.

    »Nett, dass Du ihn vorbeigebracht hast, Kindchen. Aber sobald es richtig dunkel wird, wird das schon heilen. Er hat das Blut von Koyote … oder Rabe. Kann mir nie den Unterschied merken. Jedenfalls, eine Nacht unter den Sternen und er ist wieder wie neu.«

    Sie begutachtet noch einmal meinen Druckverband und nickt anerkennend.

    »Wollen Sie ihn nicht wenigstens verbinden? Und was bedeutet, er hat das Blut von …?«

    Ich habe zwar eine leise Ahnung, aber ich will wenigstens so tun, als ob nicht.

    »Ach, Kindchen. Du bist wohl wirklich nicht von hier, dass Du das nicht weißt?«

    Eine weitere, jüngere Frau, betritt das Haus durch einen anderen Eingang und ich höre sie rufen.

    »Hey, Mum. Auf dem Highway habe ich einen Wagen mit DC-Kennzeichen gefunden. Du errätst nie, wem der gehört!«

    Die ältere Frau zwinkert mir zu und ruft zurück: »Zehn Dollar, dass ich es errate.«

    »Zehn Dollar? Du bist viel zu geiz …oh? Daher!«

    Eine etwa halb so alte und einen Kopf größere Ausgabe von Doc Penny betritt das Behandlungszimmer, eine Arzttasche in der Hand, wie man sie in jeder Serie sofort erkennen würde.

    »Mum? Oh, Gott, ist das Joe? Waren das die Abotts?«

    Die blonde Frau stürzt förmlich zum Deputy und wiederholt die Untersuchungen, die ich gerade schon einmal gesehen habe. Inzwischen traue ich mir zu, sie sogar selbst durchzuführen.

    »Hm, keine Bisse in der Halsgegend, keine Klauenspuren auf der Brust. Nein, das war kein …«

    Old Penny räuspert sich und Young Penny schaut fragend auf.

    Der Blick der Seniorärztin fällt vielsagend auf mich, die ich mich still und bescheiden in eine Ecke gestellt habe und beobachte. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich Fan von Arztserien wäre, aber was hier abgeht, hat schon etwas von guter Vorabendunterhaltung.

    »Ach komm schon, Mum. Sie ist Jaguar. Du musst nur etwas schräg auf ihre Stirn und ihre Wangen schauen.«

    Ertappt fasse ich an mein Gesicht und versenke meine Natur etwas tiefer. Und das mir! Peinlich sowas.

    »Die Rothaut ist wirklich nicht von hier!« Old Penny klingt zufrieden. »Jaguar ist aus Mexiko, oder?«

    Nicht, dass mir meine Natur peinlich ist. Gar nicht. Ich bin es nur einfach nicht gewohnt, dass die Bewohner vor dem Nebel so offen darüber reden. Andererseits, vielleicht ist ein Landarztding?

    »Brasilien«, trage ich zum Gespräch bei.

    Old Penny nickt nochmal und zeigt auf mich, als hätte ich gerade für sie einen Preis gewonnen.

    »Mum. Du kannst nicht zu Fremden Rothaut sagen. Sowas sagt man heutzutage nicht mehr. Das heißt jetzt indigen oder Ureinwohner.«

    Die alte Frau winkt ab. »Ich wette, unsre Familie lebt schon länger hier als ihre. Wir kamen mit den ersten französischen Siedlern in die Hudson-Bay …«

    Penny, die Jüngere winkt seufzend ab. »Man sagt es heute einfach nicht mehr. Es ist respektlos gegenüber ihrer Kultur!«

    Die alte Dame furcht ihre Stirn und starrt ihre Tochter an. »Was steht an meiner Tür«

    »Mum …«

    »Was steht da?«

    »Ich weiß, was da steht. Jeder in Purge weiß, was da steht.«

    »Und? Habe ich jemals einen nicht wie einen Menschen behandelt, egal, ob er Haut, Fell oder Schuppen hatte? Ich behandle sogar die Abotts, immerhin bin ich ja die Gerichtsmedizinerin, Deinem Vater sei Dank, und quasi auch für sie zuständig!«

    »Ja, Mum. Das soll auch kein Vorwurf …«

    »Aber, liebe Pennywise Alberta Fontain, ich werde nicht anfangen, einen Schlumpf als Gartenzwerg zu bezeichnen. Wegen mir darf man mich Weißbrot, Bleichgesicht oder Kalkwand nennen, ist mir egal. Aber niemand schreibt mir in meinem eigenen Haus vor, dass ich eine Rothaut nicht Rothaut nennen darf.«

    Ich hebe beide Hände, um das hier zu stoppen. Es ist mir natürlich nicht völlig egal, wie man mich nennt, aber mit Rothaut kann ich leben, auch wenn ich mit den meisten hiesigen Ureinwohnern wahrscheinlich weniger Gene teile, als die beiden weißen Damen hier. Aber das bin ich gewohnt. In Asien hält man mich für eine Europäerin, in Europa für eine Indigene und wenn man Joe hier fragt, sobald er wieder bei Sinnen ist, verortet er mich vermutlich nach Asien oder Hawaii. Der Segen von Großeltern aus drei Kontinenten.

    »Jaguar …«, versuche ich den eigentlichen Elefanten im Raum anzusprechen. Dann deute ich auf Joe. »Koyote?«

    Die junge Penny, ich nenne die beiden ab sofort einfach nur noch Old Penny und Penny, lächelt wissend. »Ich kann mir vorstellen, dass man das in DC oder bei den Marshals diskreter als hier handhabt. Aber schätzungsweise jeder zehnte Einwohner hier hat superaktive Gene.«

    »Superaktiv? Der Begriff ist mir neu.«

    Sie zuckt die Schultern. »So nennt man es in der Wissenschaft. Hinter dem Nebel, Schleier, magisch, wie auch immer. In Purgatory leben die Normalen mit den Übernormalen, Seite an Seite, wenn man so will. Das geht noch auf die Gründung zurück. Damals hielten es die Leute noch für eine Strafe Gottes, daher auch der Stadtname.«

    »Ich … verstehe. Und das geht? Einfach so? Es hat seinen Grund, warum die Welt hinter dem Nebel verborgen sein soll.«

    Sie nickt. »Das wird hier auch jedem Kind beigebracht. Es gibt eine Art Übereinkunft. Kein Superaktiver setzt seine Kräfte gegen die Normalaktiven ein, dafür verlieren die außerhalb der Stadt kein Wort darüber. Das klappt mal gut, mal weniger gut, aber solange Leute wie Dad, der Stammesrat und die Abotts ein Auge drauf haben, kommen wir klar. Und bevor Sie fragen, ja ich habe auch einige aktive Gene von Dad geerbt. Ich kann Dinge sehen, die unter der Oberfläche liegen. Wenn ich also aus Versehen mal etwas ausplaudere, ist das nicht böse gemeint. Für mich ist es nicht immer offensichtlich, ob das was ich sehe, auch alle anderen sehen oder nicht.«

    Ich bewege mich. »Äh. Ja. Schön. Wie dem auch sei. Ich muss noch meinen Wagen holen und will dann heute hier übernachten. Wenn der Deputy bis morgen wieder fit ist, werde ich weiter. Ich werde in San Diego erwartet und der Sheriff wird dann wohl auch von seiner Jagd zurück sein.«

    Mutter und Tochter tauschen einen langen Blick.

    »Also was das betrifft … meinen Sie, Sie könnten morgen noch kurz mit meinem Dad reden?«

    »Ihr Dad?«

    »Alwin Fontain III. unser Bürgermeister.«

    »Alwin Fontain, wie der ehemalige Senator Fontain?«

    Sie grinst. »Genau der.«

    Ich seufze leise. Senatoren machen immer Ärger. Immer. Ohne Ausnahme. Aber ihnen davonlaufen, bringt nur noch mehr Ärger.

    »Ich werde es einrichten. Wo kann ich für die Nacht unterkommen?«

    »Ich bitte Sie, seien Sie unser Gast.«

    Sie wohnen hier, mit ihrer Mutter?«

    Penny lacht. »Wo denken Sie hin? Ich wohne mit Dad auf unsrer Ranch weiter draußen. Aber keine Sorge, ich hab einen eigenen Flügel.«

    Flügel? Ranch? Wohl eher Anwesen.

    Ich seufze nochmal.

    »Ich hole meinen Wagen.«

    »Warten Sie, ich fahre sie, dann können Sie mir auch gleich hinterherfahren.«

    Ich werfe Joe einen letzten Blick zu. Tatsächlich, jetzt wo die Nacht hereingebrochen ist, scheint er mit jedem Atemzug kräftiger. Koyotenblut? Interessant.

    »Gut. Gehen wir. Doc Fontain. Es war mir eine Freude.«

    »Ganz meinerseits, Kindchen. Meine Güte, sind alle Marshals so höflich?«

    Ich entkomme einer Antwort vorläufig, indem ich schnell auf die Straße trete.



    I: Willkommen II: Keine Stadt