Jessy Dalton
Willkommen in Purgatory
II: Keine Stadt wie jede Andere
Kaum bin ich an den ersten Häusern vorbeigefahren, werde ich auch schon gegrüßt. Freundlich hebt man eine Hand oder winkt mir zu, ein Mann im Rentenalter macht sogar bereitwillig Platz auf dem Gehweg, obwohl auf der Mainstreet locker ein Vierzigtonner rangieren könnte.
Ich lass die Fahrerscheibe herab und nehme meine Sonnenbrille ab. Das letzte was ich will, ist dass die Bewohner mich verwechseln und es am Ende heißt ich hätte vorgetäuscht einer ihrer Deputies zu sein, aber die Reaktionen ändern sich nicht.
Kann es wirklich sein, dass keine Schwein merkt, dass ich weder eine Uniform anhabe noch von hier bin, aber den verdammten SUV ihres Sheriffdepartments fahre?
»Hallo, Sie da. Darf ich Sie etwas fragen?«
Der Alte, der shon weiterschlurfen will dreht sich zu mir um. »Sicher, Lassie. Was willst Du denn wissen?«
Für einen Moment bin ich sprachlos, aber dann schiebe ich es einfach auf die lokalen Gegebenheiten.
»Wo finde ich denn hier den Sheriff?«
»Milton? Der ist jagen, wie jeden Tag.«
»Milton ist der Sheriff? Und er geht mitten in der Woche jagen?«
»Klar, Lassie. Joe kümmert sich ohnehin um alles. Guter Junge, auch wenn er 'ne Rothaut ist. Aber das weißt Du ja, fährst immerhin seine Karre.«
Ich blinzle mehrmals. Die Erfahrung hat mich gelehrt, nicht aus der ersten Begegnung auf die Geisteshaltung und Geistesgröße der Restbevölkerung zu schließen, aber lieber Himmel, ich hoffe wirklich, dass es ab hier steil bergauf geht. Kann es ja eigentlich nur.
»Äh. Ja. Ich habe den Deputy hinten liegen. Er ist schwer verletzt. Wo bringe ich ihn denn am Besten hin?«
Falls es ihn irgendwie verwundert, dass eine Fremde, ihren offensichtlich als kompetent geltenden Deputy herumkutschiert, dann zeigt er es nicht. Also nicht mal eine Spur.
»Das wäre dann Old Penny. Da hinten. Der Doc dürfte noch offen haben. Penny ist aber gerade nicht in der Stadt. Macht Hausbesuche draußen auf den Ranches. Aber Old Penny sollte da sein.«
Manchmal nützt es, in Verhörtechniken geschult zu sein. In manchen Fällen erahnt man aber sofort, dass weitere Informationen nur zu noch größerer Verwirrung führen. Also nicke ich dankend und folge dem Fingerzeig und biege von der Hauptstraße in die angegebene Seitenstraße ein.
Und siehe da, da steht es. Penelope Fontain, Dr. hum, Dr. vet, Coroner – Gerichtsmediziner.
Perfekt, von der Geburt über die Rindviehjahre bis zum Ableben, alles im Service inbegriffen.
Ich liebe Kleinstädte.
Inzwischen versinkt die Sonne hinter den Häusern und lange Schatten lassen das Städtchen zumindest in Teilen wie eine Kulisse aus einem Spätwestern wirken. Wenn jetzt gleich ein paar Viehtreiber mit Howdy, Jeeha und Bierdosen in den Händen um die Ecke bögen, wäre ich nicht sonderlich überrascht.
»Hey. Joe. Sind Sie wach?« Ich tätschle den wohl richtig als Ureinwohner eingeschätzten Deputy. »Meinen Sie, Sie können gehen?«
Er lallt etwas deliriös und ich übersetze das mit Nein und hoffe, dass ich kein Stammestabu verletze, indem ich ihn zu einer weißen Medizinfrau schleppe. Man ahnt es bereits: Was ich von Stämmen und ihren Bräuchen kenne, stammt aus Kino und TV, und ich meine keine Dokus. Schande, über mein ungebildetes Haupt.
»Hey, Doc. Doc Fontain?« Mein Rufen verhallt wohl ungehört. Also zapfe ich soviel wie nötig von meiner Natur an und hebe den großen Deputy im Feuerwehrtragegriff auf meine Schultern. Kann ihn ja schlecht am Kragen hinter mir herschleifen.
Gut, ginge schon, aber wie sähe das aus?
Ich stapfe zwei Stufen nach oben und stehe vor der Tür auf der ein Holzschild eingelassen ist:
Wer hier eintritt, wird wie ein Mensch behandelt.
Wem die Behandlung nicht passt:
Die Tür ist da, wo du gerade stehst!
Entzückend.
Ich stoße die Tür auf, die nicht verschlossen ist. Das ist witziger weise hier in diesen Regionen generell unüblich. Auf ungebeten Gäste zu schießen hingegen schon. Ich bevorzuge ja eine geschlossene Tür gegenüber einer vorgehaltenen Flinte, aber Jedem das Seine.
»Doc? Old Penny? Ich habe hier einen Schwerverletzten!«
Endlich bewegt sich etwas. Ich höre wie eine TV-Sendung stummgeschaltet wird, Judge Judy, wenn ich es richtig mitbekommen habe.
»Oh, wen haben wir denn da? Eine Rothaut, die eine andere Rothaut anschleppt?«
Von der Political Correctness der Hauptstadt ist man hier weiter entfernt als vom Mars, aber es klingt durchaus nicht unfreundlich.
»Du meine Güte, Joseph Blackfeather. Was hast Du wieder angestellt? Leg ihn bitte hier ab, Kindchen. Ganz langsam. Ich würde ja helfen, aber du hast genug Kraft für uns beide.«
Während ich den Deputy auf eine Behandlungsliege wuchte und versuche meine Verwandlung unter der Oberfläche zu halten, kann ich Old Penny sehen, wie sie routiniert an die Arbeit geht.
Doc Fontain hat sich ihr Old redlich verdient, denn die zierliche aber resolute Frau besitzt schon mehr weiße als graue Haare, die sie wohl auch vor Monaten zuletzt gefärbt hat. Ihr Gesicht besitzt dieses weiche, helle Weiß von Leuten, die sich der Sonne nur mit viel Lichtschutzfaktor aussetzen und auch sonst eher wenig im Freien arbeiten.
Nach einer kurzen Untersuchung, Augen auf Lichtreflexe, Stethoskop wegen Herzschlag und einem liebevollem auf die Wange tätscheln, komme ich mir vor wie bei einer Folge von M.A.S.H.
»Nett, dass Du ihn vorbeigebracht hast, Kindchen. Aber sobald es richtig dunkel wird, wird das schon heilen. Er hat das Blut von Koyote … oder Rabe. Kann mir nie den Unterschied merken. Jedenfalls, eine Nacht unter den Sternen und er ist wieder wie neu.«
Sie begutachtet noch einmal meinen Druckverband und nickt anerkennend.
»Wollen Sie ihn nicht wenigstens verbinden? Und was bedeutet, er hat das Blut von …?«
Ich habe zwar eine leise Ahnung, aber ich will wenigstens so tun, als ob nicht.
»Ach, Kindchen. Du bist wohl wirklich nicht von hier, dass Du das nicht weißt?«
Eine weitere, jüngere Frau, betritt das Haus durch einen anderen Eingang und ich höre sie rufen.
»Hey, Mum. Auf dem Highway habe ich einen Wagen mit DC-Kennzeichen gefunden. Du errätst nie, wem der gehört!«
Die ältere Frau zwinkert mir zu und ruft zurück: »Zehn Dollar, dass ich es errate.«
»Zehn Dollar? Du bist viel zu geiz …oh? Daher!«
Eine etwa halb so alte und einen Kopf größere Ausgabe von Doc Penny betritt das Behandlungszimmer, eine Arzttasche in der Hand, wie man sie in jeder Serie sofort erkennen würde.
»Mum? Oh, Gott, ist das Joe? Waren das die Abotts?«
Die blonde Frau stürzt förmlich zum Deputy und wiederholt die Untersuchungen, die ich gerade schon einmal gesehen habe. Inzwischen traue ich mir zu, sie sogar selbst durchzuführen.
»Hm, keine Bisse in der Halsgegend, keine Klauenspuren auf der Brust. Nein, das war kein …«
Old Penny räuspert sich und Young Penny schaut fragend auf.
Der Blick der Seniorärztin fällt vielsagend auf mich, die ich mich still und bescheiden in eine Ecke gestellt habe und beobachte. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich Fan von Arztserien wäre, aber was hier abgeht, hat schon etwas von guter Vorabendunterhaltung.
»Ach komm schon, Mum. Sie ist Jaguar. Du musst nur etwas schräg auf ihre Stirn und ihre Wangen schauen.«
Ertappt fasse ich an mein Gesicht und versenke meine Natur etwas tiefer. Und das mir! Peinlich sowas.
»Die Rothaut ist wirklich nicht von hier!« Old Penny klingt zufrieden. »Jaguar ist aus Mexiko, oder?«
Nicht, dass mir meine Natur peinlich ist. Gar nicht. Ich bin es nur einfach nicht gewohnt, dass die Bewohner vor dem Nebel so offen darüber reden. Andererseits, vielleicht ist ein Landarztding?
»Brasilien«, trage ich zum Gespräch bei.
Old Penny nickt nochmal und zeigt auf mich, als hätte ich gerade für sie einen Preis gewonnen.
»Mum. Du kannst nicht zu Fremden Rothaut sagen. Sowas sagt man heutzutage nicht mehr. Das heißt jetzt indigen oder Ureinwohner.«
Die alte Frau winkt ab. »Ich wette, unsre Familie lebt schon länger hier als ihre. Wir kamen mit den ersten französischen Siedlern in die Hudson-Bay …«
Penny, die Jüngere winkt seufzend ab. »Man sagt es heute einfach nicht mehr. Es ist respektlos gegenüber ihrer Kultur!«
Die alte Dame furcht ihre Stirn und starrt ihre Tochter an. »Was steht an meiner Tür«
»Mum …«
»Was steht da?«
»Ich weiß, was da steht. Jeder in Purge weiß, was da steht.«
»Und? Habe ich jemals einen nicht wie einen Menschen behandelt, egal, ob er Haut, Fell oder Schuppen hatte? Ich behandle sogar die Abotts, immerhin bin ich ja die Gerichtsmedizinerin, Deinem Vater sei Dank, und quasi auch für sie zuständig!«
»Ja, Mum. Das soll auch kein Vorwurf …«
»Aber, liebe Pennywise Alberta Fontain, ich werde nicht anfangen, einen Schlumpf als Gartenzwerg zu bezeichnen. Wegen mir darf man mich Weißbrot, Bleichgesicht oder Kalkwand nennen, ist mir egal. Aber niemand schreibt mir in meinem eigenen Haus vor, dass ich eine Rothaut nicht Rothaut nennen darf.«
Ich hebe beide Hände, um das hier zu stoppen. Es ist mir natürlich nicht völlig egal, wie man mich nennt, aber mit Rothaut kann ich leben, auch wenn ich mit den meisten hiesigen Ureinwohnern wahrscheinlich weniger Gene teile, als die beiden weißen Damen hier. Aber das bin ich gewohnt. In Asien hält man mich für eine Europäerin, in Europa für eine Indigene und wenn man Joe hier fragt, sobald er wieder bei Sinnen ist, verortet er mich vermutlich nach Asien oder Hawaii. Der Segen von Großeltern aus drei Kontinenten.
»Jaguar …«, versuche ich den eigentlichen Elefanten im Raum anzusprechen. Dann deute ich auf Joe. »Koyote?«
Die junge Penny, ich nenne die beiden ab sofort einfach nur noch Old Penny und Penny, lächelt wissend. »Ich kann mir vorstellen, dass man das in DC oder bei den Marshals diskreter als hier handhabt. Aber schätzungsweise jeder zehnte Einwohner hier hat superaktive Gene.«
»Superaktiv? Der Begriff ist mir neu.«
Sie zuckt die Schultern. »So nennt man es in der Wissenschaft. Hinter dem Nebel, Schleier, magisch, wie auch immer. In Purgatory leben die Normalen mit den Übernormalen, Seite an Seite, wenn man so will. Das geht noch auf die Gründung zurück. Damals hielten es die Leute noch für eine Strafe Gottes, daher auch der Stadtname.«
»Ich … verstehe. Und das geht? Einfach so? Es hat seinen Grund, warum die Welt hinter dem Nebel verborgen sein soll.«
Sie nickt. »Das wird hier auch jedem Kind beigebracht. Es gibt eine Art Übereinkunft. Kein Superaktiver setzt seine Kräfte gegen die Normalaktiven ein, dafür verlieren die außerhalb der Stadt kein Wort darüber. Das klappt mal gut, mal weniger gut, aber solange Leute wie Dad, der Stammesrat und die Abotts ein Auge drauf haben, kommen wir klar. Und bevor Sie fragen, ja ich habe auch einige aktive Gene von Dad geerbt. Ich kann Dinge sehen, die unter der Oberfläche liegen. Wenn ich also aus Versehen mal etwas ausplaudere, ist das nicht böse gemeint. Für mich ist es nicht immer offensichtlich, ob das was ich sehe, auch alle anderen sehen oder nicht.«
Ich bewege mich. »Äh. Ja. Schön. Wie dem auch sei. Ich muss noch meinen Wagen holen und will dann heute hier übernachten. Wenn der Deputy bis morgen wieder fit ist, werde ich weiter. Ich werde in San Diego erwartet und der Sheriff wird dann wohl auch von seiner Jagd zurück sein.«
Mutter und Tochter tauschen einen langen Blick.
»Also was das betrifft … meinen Sie, Sie könnten morgen noch kurz mit meinem Dad reden?«
»Ihr Dad?«
»Alwin Fontain III. unser Bürgermeister.«
»Alwin Fontain, wie der ehemalige Senator Fontain?«
Sie grinst. »Genau der.«
Ich seufze leise. Senatoren machen immer Ärger. Immer. Ohne Ausnahme. Aber ihnen davonlaufen, bringt nur noch mehr Ärger.
»Ich werde es einrichten. Wo kann ich für die Nacht unterkommen?«
»Ich bitte Sie, seien Sie unser Gast.«
Sie wohnen hier, mit ihrer Mutter?«
Penny lacht. »Wo denken Sie hin? Ich wohne mit Dad auf unsrer Ranch weiter draußen. Aber keine Sorge, ich hab einen eigenen Flügel.«
Flügel? Ranch? Wohl eher Anwesen.
Ich seufze nochmal.
»Ich hole meinen Wagen.«
»Warten Sie, ich fahre sie, dann können Sie mir auch gleich hinterherfahren.«
Ich werfe Joe einen letzten Blick zu. Tatsächlich, jetzt wo die Nacht hereingebrochen ist, scheint er mit jedem Atemzug kräftiger. Koyotenblut? Interessant.
»Gut. Gehen wir. Doc Fontain. Es war mir eine Freude.«
»Ganz meinerseits, Kindchen. Meine Güte, sind alle Marshals so höflich?«
Ich entkomme einer Antwort vorläufig, indem ich schnell auf die Straße trete.
I: Willkommen II: Keine Stadt